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Ursula Berg

Graffiti-Weihnacht

Angefangen hatte alles am Abend vor Allerheiligen. Keiner hatte etwas gehört oder gesehen. Doch am nächsten Morgen waren die Menschen schockiert bei diesem Anblick. Der hohe Bretterzaun, der wegen Reparaturarbeiten seit Wochen das Kirchengelände umgab, war mit schaurigen Fratzen besprüht: absinthgelb, blutrot und giftgrün.

„Gestern war Halloween“, seufzte der Pfarrer. „Ich werde dafür sorgen, dass diese scheußlichen Graffitis schnellstens verschwinden.“

Wenige Stunden danach war der Zaun mit weißer Farbe überstrichen. Der Gemeinde gefiel es, den Sprayern leider auch. Sie kamen wieder. Ziemlich genervt beschloss der Pfarrer, mit einigen jungen Leuten nachts Wache zu schieben.

Es dauerte drei Nächte, dann erschien eine vermummte Gestalt. Sie trug eine große Tasche und packte hastig, nach allen Seiten witternd, mehrere Farbdosen aus. Lautlos kam der Pfarrer von der einen Seite, Leonie, Stefan und Philipp von der anderen. Da half dem Sprayer kein Sträuben und kein Leugnen. Doch anstatt die Polizei zu rufen, unterbreitete der Pfarrer dem Übeltäter einen Vorschlag. Manuel hatte nur die Wahl zwischen zwei Übeln. Er wählte den Vorschlag des Pfarrers, obwohl ihm nicht ganz wohl bei der Sache war.

Die kuriose Vereinbarung machte schnell die Runde. Gebannt schauten alle auf die Bretterwand. Widerwillig überpinselte Manuel alles weiß und begann am ersten Dezember die Wand von den Enden her landschaftlich zu gestalten. Jede Woche sollte das Gemälde so weit wachsen, dass am 24. Dezember die ganze Weihnachtsgeschichte zu erkennen wäre.

Manuel stöhnte. Die anderen Aerosol-Junkies würden ihn verspotten! Bisher war er in Sprayerkreisen eine Legende gewesen. Aber am helllichten Tag vor einer Kirche eine Wand zu besprühen, das war wirklich demütigend.

Gerade als er misslaunig seine Spraydosen einpackte, kamen der Pfarrer und Leonie vorbei. „Mit welcher Figur fängst du an?“, wollte der Pfarrer wissen.

„Keine Ahnung“, antwortete Manuel verdrießlich. „Solange mir keiner sagt, wie die Geschichte geht, kann ich gar nichts machen.“

„Aber du kennst doch die Weihnachtsgeschichte?“, wunderte sich der Pfarrer.

„Null Ahnung!“ Manuel zuckte gleichgültig die Schultern. „Bei uns zu Hause gab es an Weihnachten Essen und Bier. Und später, im Heim, sind wir ausgebüxt und in die Disco gegangen.“

„Nun, dann werde ich dir erzählen, wie die heilige Familie …“

An dieser Stelle mischte sich Leonie ein: „Lassen Sie mich das mal lieber erklären.“ Der Pfarrer nickte und hörte erstaunt, wie Leonie begann: „Du musst dir vorstellen, da war Maria, eine junge unverheiratete Frau, die ein Kind erwartete. Aber nicht von Josef, ihrem Verlobten.“

„Au weia“, grinste Manuel.

„Aber“, fuhr Leonie fort, „der Verlobte hielt trotzdem zu ihr.“

„Anständig von ihm“, nickte Manuel.

An dieser Stelle beschloss der Pfarrer stirnrunzelnd das Feld zu räumen. So hätte er die Weihnachtsgeschichte bestimmt nicht erzählt. Doch Leonie fuhr unbekümmert fort: „Weil damals eine Volkszählung stattfand, mussten Maria und Josef nach Bethlehem wandern. Es war sehr beschwerlich, vor allem für Maria. Total erschöpft kamen sie an. Aber kein Gasthof wollte ihnen ein Bett zum Übernachten geben.“

„Das ist heute auch nicht anders“, bemerkte Manuel verbittert. „Wenn du arm bist, hast du nirgendwo eine Chance. Keiner will dich.“

Leonie schaute ihn voller Mitgefühl an. Wie viele Enttäuschungen und Tiefschläge hatte er wohl im Leben schon verkraften müssen. Trotzdem fuhr sie munter fort und erzählte verständlich und lebensnah von der Geburt und der Krippe, von den Hirten und dem Engel und von den drei Weisen und ihren Geschenken.

Sie schaute Manuel dabei aufmerksam an.

„Konnte ich rüberbringen, was Weihnachten bedeutet?“, fragte sie ihn.

„Weihnachten wird gefeiert zur Erinnerung an die Geburt eines Kindes. Also ist es ein richtiger Geburtstag.“

„Ja“, sagte Leonie. „Du hast es toll verstanden.“

„Du hast es auch toll erklärt“, grinste Manuel ungelenk. „Jetzt weiß ich, wie ich alles arrangieren muss.“

Die Idee mit der Graffitiwand fand allgemein großen Anklang. Manuel – gewohnt, allein und im Dunkeln zu arbeiten – fühlte sich schrecklich unwohl bei so vielen Zuschauern. Doch immer wieder ertappte er sich dabei, dass ihm die freundliche Umgebung gefiel. Da gab es tatsächlich Menschen, die seine Arbeit gut fanden und lobten.

Die Figuren gestaltete er detailverliebt. Maria geriet schön und zart. Josef, von kräftiger Statur, legte schützend seine Hand um ihre Schulter. Völlig selbstverständlich sprühte Manuel die Krippe samt Jesuskind ins Zentrum, obwohl er vor zwei Wochen noch nichts von diesem Kind gewusst hatte.

Das Graffitiwerk leuchtete herrlich farbenfroh in diesen trüben Tagen. Trotzdem konnte Manuel irgendwann nicht mehr weiterarbeiten.

„Warum nicht?“, wollte der Pfarrer wissen.

„Weil ich keinen Engel sprühen kann, wo doch jeder weiß, dass es keine Engel gibt. Niemand hat je einen gesehen.“

Der Pfarrer freute sich, dass der Junge die Weihnachtsgeschichte so ernst nahm und sich Gedanken darüber machte. Er sagte: „Du musst nicht unbedingt einen Engel mit Flügeln malen. Du kannst auch nur ein großes Licht in die Dunkelheit malen. Was uns der Text sagen will, ist, dass Jesus geboren wurde, um sein Wort auch den Menschen zu verkünden, die weit draußen leben – außerhalb der Gesellschaft, oft einsam und im Dunkeln. Außerdem gibt es sehr wohl Engel unter uns. Wenn ein lieber Mensch uns in einer schwierigen Lage hilft, dann sagen wir Du bist ein Engel. Und wir meinen: Dich hat Gott im rechten Augenblick geschickt, damit ich nicht verzweifle und einen Ausweg aus meinem Problem finde.“

Manuel nickte ernst. „Ich denke darüber nach.“

Einen Tag vor Heiligabend war das Kunstwerk fertig. Als Leonie vorbeiradelte, sah sie, wie Manuel seine Dosen einpackte.

„Was machst du über die Weihnachtsfeier­tage?“, fragte sie.

„Ich bin da, wo ich immer bin, in der WG bei meinen Kumpeln.“

„Hättest du nicht Lust, morgen in die Kirche zu kommen? Schließlich ist dies hier dein Werk. Anschließend könntest du zu uns nach Hause kommen. Es gibt Gänsebraten.“

„Und was sagt deine Mutter dazu, wenn du einen Sprayer mitbringst?“

„Sie ist einverstanden. Ich habe schon mit ihr gesprochen.“

Eine verwirrte Sekunde lang betrachtete Manuel sein Gegenüber. Machte das Mädchen sich lustig über ihn?

Leonie fühlte seine Unsicherheit. „Ich meine es ernst. Du bist ein netter Kerl, gar nicht so abgebrüht, wie du dich gibst. Meine Eltern würden sich freuen. Ich natürlich auch“, fügte sie hinzu und schaute ihm offen und freundlich ins Gesicht.

„Was müsste ich bei euch machen?“, fragte Manuel unsicher.

Leonie lachte herzlich. „Gar nichts. Wir gehen nach dem Gottesdienst nach Hause, zünden die Kerzen am Weihnachtsbaum an. Vater liest die Weihnachtsgeschichte und gemeinsam singen wir ein Weihnachtslied. Dann kommt die Bescherung und danach gibt es Mutters leckeres Essen in fröhlicher Runde.“

„Aber ich habe kein Geschenk.“

„Macht nichts. Vielleicht malst du etwas für uns? Ich meine malen, nicht sprühen. Mein Vater mag sein Garagentor nämlich lieber weiß!“

Jetzt lachte auch Manuel. Matt gesetzt von ihrer fröhlichen Art und ihren großen blauen Augen, versprach er: „Okay, ich komme.“

Am Heiligen Abend strebten die Gläubigen zur Kirche. Vorbei an dieser lebhaft bunten Weihnachtsgeschichte. Besonders beeindruckend fanden sie den Engel in einem hellen Licht, das den Hirten erschien. Zwar hatte der Engel keine Flügel, aber mit seinen großen blauen Augen kam er manchem auf wundersame Weise vertraut vor.

Die Umstände dieser gesprühten Weihnachtsgeschichte bewegten die Herzen der Kirchenbesucher sehr. Ein junger Mensch mit vielen eigenen Problemen hatte hier kreativ zum Ausdruck gebracht, was Christen in aller Welt glauben. Nämlich dass es einen gibt, zu dem sie mit all ihren Sorgen und Nöten kommen können, der sie tröstet und stärkt und ihnen durch seinen Engel verkündigen lässt, was dort leuchtend zu lesen war:


Das Weihnachtskamel und andere Geschichten

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