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Philosophiegeschichte als Verflechtungsgeschichte
ОглавлениеGlobalität, Naturwissen und Kants Theorie der Menschenrassen1
Seit einigen Jahren werden in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften Ansätze diskutiert, die darauf zielen, den »methodischen Nationalismus« und den Eurozentrismus der verschiedenen Disziplinen zu überwinden. Postkoloniale Theorie, Verflechtungs- und Globalgeschichte sind dabei zu zentralen Bezugspunkten geworden, um zu rekonstruieren, inwiefern jene Entwicklungen, die der europäischen Moderne ihre spezifischen Konturen verliehen haben, von den kolonialen Verhältnissen Europas zur nicht-europäischen Welt geprägt sind.2 In der Philosophie sind diese Debatten und Problematisierungen jedoch bisher kaum angekommen.3 Im Folgenden soll daher anhand von Kants Theorie der Menschenrassen und den naturphilosophischen Überlegungen, die mit ihr verbunden sind, der Versuch unternommen werden, eine globalgeschichtliche Perspektive für die Philosophiegeschichte fruchtbar zu machen. Ausgehend von einer kurzen Skizze der Zusammenhänge zwischen Globalisierungsprozessen, Naturforschung und Naturphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, werde ich jene Texte von Kant analysieren, in denen er in den Jahren zwischen 1775 und 1788 mehrfach den Versuch unternimmt, den Begriff der Menschenrasse zu bestimmen. Ich zeige an diesen Texten, inwiefern Kant in einem global gewordenen Wissens- und Erfahrungshorizont operiert und gleichzeitig an dessen Konstitution mitwirkt. Vor dem Hintergrund der Kontroverse zwischen Kant und Georg Forster rekonstruiere ich dann in einem dritten Schritt die Bedeutung von Kants Rassenbegriff, der – wie ich ausführen werde – eng mit seiner Rekonzeptualisierung von Naturwissen verbunden ist. Daran anschließend zeige ich, inwiefern sich in Kants naturphilosophischen Überlegungen, die er im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft (1790) näher ausführt, die Konturen einer Wissenschaft vom Leben abzeichnen. Vermittelt über den Begriff der Rasse, so argumentiere ich, ist Kants naturphilosophische Intervention mit den Prozessen europäischer Expansion und Globalisierung um 1800 verbunden. Schließlich plädiere ich, von diesen Befunden ausgehend, dafür, auch Philosophiegeschichte als globale Verflechtungsgeschichte zu lesen und diskutiere einige methodische Fragen, die sich aus einem solchen Konzepttransfer ergeben.
Globalität, Naturwissen, Naturphilosophie
Vielfach ist darauf hingewiesen worden, dass die politischen, kulturellen und epistemischen Veränderungen, die am Ende des 18. Jahrhunderts innerhalb von Europa zusammentrafen, eng mit dem Ausgreifen auf nichteuropäische Gebiete verbunden waren, mit der kolonialen Expansion und dem dadurch hervorgebrachten neuen Wissen über ferne Territorien, über Menschen, Tiere und Pflanzen. Die Phase »erneuter Expansion, die sich«, so Immanuel Wallerstein, »ungefähr im Zeitraum zwischen 1733 und 1817 vollzog«, durchbrach die »im langen 16. Jahrhundert geschaffenen Grenzen«4. Sie begann, »riesige neue Gebiete in den Einflussbereich«5 der europäischen Weltwirtschaft zu inkorporieren und erweiterte zugleich den kulturellen Horizont der Europäer in ungeahntem Ausmaß. Dabei spielten die Forschungsreisen eine zentrale Rolle, die nun nicht mehr allein auf die Vermessung der Meere, der Küsten und Flüsse ausgerichtet waren, sondern Expeditionen ins jeweilige Landesinnere einschlossen. Es wurde üblich, auf jenen Reisen Wissenschaftler mitzunehmen. So nahm etwa der Mathematiker und Naturforscher Pierre-Louis Moreau de Maupertuis an der Lappland-Expedition von LaCondamine teil, der Botaniker Joseph Banks begleitete James Cook auf der ersten Weltumsegelung, Johann Reinhold Forster und sein Sohn Georg begleiteten Cook auf der zweiten. »In the second half of the eighteenth century, whether or not an expedition was primarily scientific, or the traveller a scientist, natural history«, so Marie Louise Pratt, »played a part in it«6. Dabei kam es im Laufe des 18. Jahrhunderts nicht nur zu einer enormen Akkumulation von Naturwissen, sondern vielmehr auch zu epistemischen Veränderungen, die die Form dieses Wissens selbst betrafen. Es wurden umfassende Klassifikationsmuster entwickelt, nach denen prinzipiell alle Pflanzen, Tiere und Menschen geordnet und eingeordnet werden konnten. Das Systema naturae von Carolus Linnaeus, das 1735 erschien, wurde schnell zum Bezugspunkt für die gesamte Naturforschung in Europa. Es schloss zum ersten Mal den Menschen – den Linné als »homo sapiens« bezeichnete – in die Klassifikation der Tiere mit ein. Das bedeutete, dass in der Folge Menschen genauso wie andere Lebewesen als »endemisch« betrachtet und klassifiziert werden konnten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrten sich allerdings die Stimmen, die eine neuartige Systematisierung des Wissens über Lebewesen für notwendig hielten, welche über die Klassifikationen und Taxonomien Linnés hinausgehen sollte. Das artifizielle System Linnés sollte, so Georges-Louis Leclerc du Buffon, durch eine »natürliche Ordnung« ersetzt werden, die der »physischen Wahrheit« der Lebewesen in ihrem jeweiligen Milieu gerecht werde. Insgesamt begann sich zunehmend ein eigenständiger Bereich des »Lebens«, getrennt von dem der unbelebten Natur, herauszubilden. Die Rede war von einer »anderen Welt«, wie es Charles Bonnet ausdrückte, von »einer neuen Welt« so Felice Fontana, von »einem neuen Spektakel« (Abraham Trembley) oder – bei Maupertuis – von einer »neuen Natur«7. Diese Naturforscher »verband die Überzeugung, dass ein Teil des alten mechanischen Universums (die lebende Natur) […] eine andere, davon verschiedene Welt sei, deren Verständnis die Entstehung einer neuen Wissenschaft notwendig mache«8. Um 1800 tauchte dann zum ersten Mal die Bezeichnung »Biologie« für diese neue Wissenschaft auf. Das Auftauchen dieser Bezeichnung kann als Symptom für einen Prozess gelten, in dem die ältere Naturgeschichte schließlich durch eine Wissenschaft abgelöst wurde, »die das Leben, seine Funktionen und seine Geschichte unter vergleichender Perspektive betrachtete«9. Die globale Mobilisierung von Menschen, Tieren und Pflanzen im Kontext der kolonialen Expansion spielte dabei in praktischer und konzeptioneller Hinsicht eine zentrale Rolle. Denn, so Staffan Müller-Wille, »erst in den massenhaften Verpflanzungen, denen sich Lebewesen seit der frühen Neuzeit ausgesetzt [sahen], konnte so etwas wie eine autonome, das heißt von örtlichen Gegebenheiten unabhängige Reproduktionskraft der Lebewesen in Erscheinung treten«10. Das heißt, nur so konnten Reproduktionsprozesse des »Lebens« schlechthin als Gegenstand des Wissens konstituiert werden.11
An diesem Prozess der Formierung von Naturwissen zur Biologie hatte auch die Philosophie teil. Keineswegs standen die naturphilosophischen Reflexionen, die sich am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts häuften, den empirischen Forschungen und dem wissenschaftlichen Wissen feindlich gegenüber – wie es neukantianische Lesarten lange Zeit behaupteten.12 »Der Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft«, so der Wissenschaftshistoriker Dietrich von Engelhardt, war in den Jahren 1780 bis 1830 »eng und wirkungsvoll […]. Alle entscheidenden Philosophen der Zeit haben über das Verhältnis des Menschen zur Natur und über die Möglichkeiten der Naturerkenntnis in einem bislang nicht wieder erreichten Ausmaß nachgedacht. Ebenfalls, wenn auch nicht in diesem Umfang, haben sich Naturwissenschaftler um 1800 unmittelbar mit naturphilosophischen Entwürfen auseinandergesetzt«.13 Liest man also Naturphilosophien um 1800 vor diesem Hintergrund und setzt sie einerseits in ihre wissenschaftshistorischen Bezüge ein, andererseits in die Globalisierungsprozesse des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, zeigt sich, dass sie Teil einer doppelten Verflechtungsgeschichte sind: Verflochten in die epistemischen Transformationsprozesse, die die Ordnung des Wissens um 1800 betreffen, sind sie – im Sinne jener »entangled histories«, von denen die postkoloniale Theorie spricht – auch verflochten in jene Prozesse, in denen sich die europäische Moderne durch koloniale Begegnungen mit außereuropäischen Gesellschaften und Naturverhältnissen konstituiert. Dies soll im Folgenden am Beispiel von Kant aufgezeigt werden.
Die Konstitution von Globalität
Globalität ist eine zentrale Dimension in jenen Aufsätzen, in denen Kant den Begriff der Rasse entwickelt. Es handelt sich dabei erstens um den Text Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775), zweitens Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785) und drittens Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788). Der erste dieser Texte wurde zunächst als Ankündigung für Kants Vorlesungen zur Physischen Geographie abgefasst, die bereits seit Mitte der 1750er Jahre regelmäßig im Wintersemester stattfanden und im Sommersemester durch Vorlesungen zur Anthropologie ergänzt wurden. Der Text beginnt damit, dass Kant unter Bezug auf Reiseberichte einen in den Forschungsexpeditionen weltumfassend gewordenen europäischen Erfahrungshorizont aufruft. Kant zieht Beschreibungen von verschiedenen Forschungsreisenden und Missionaren heran, die im ausgehenden 18. Jahrhundert unter dem gebildeten Publikum zirkulierten. Dabei erstellt er eine Art globaler Kartografie der menschlichen Bevölkerungen. Anhand eines kategorialen Schemas von vier Rassen unternimmt Kant eine »Einteilung der Menschengattung«, das heißt eine Zuordnung der Bevölkerungen der verschiedenen Kontinente zu diesen Kategorien.
»Zu der erstern [Rasse], die ihren vornehmsten Sitz in Europa hat«, so Kant, »rechne ich noch die Mohren (Mauren von Afrika), die Araber […], den türkisch-tartarischen Völkerstamm, und die Perser, imgleichen alle übrigen Völker von Asien, die nicht durch die übrigen Abteilungen namentlich davon ausgenommen sind. Die Negerrasse der nordlichen Halbkugel ist bloß in Afrika, die der südlichen (außerhalb Afrika) vermutlich nur in Neuguinea eingeboren […], in einigen benachbarten Inseln aber bloße Verpflanzungen. Die kalmuckische Rasse scheint unter den Choschotischen am reinsten, unter den Torgöts etwas, unter den Dsingorischen mehr mit tartarischem Blute vermischt zu sein, und ist eben dieselbe, welche in den ältesten Zeiten den Namen der Hunnen, später der Mungalen (in weiter Bedeutung) und jetzt der Ölöts führt. Die hindastanische Rasse […]«14.
In Kants Text häufen und vervielfältigen sich die Unterscheidungen und Bezeichnungen. »Die größte Schwierigkeit« besteht für ihn denn auch, wie er schreibt, darin, angesichts der »Mannigfaltigkeit der Rassen auf der Erdfläche«, einen »Erklärungsgrund« zu finden – nicht unbedingt für die Mannigfaltigkeit überhaupt, sondern für ihre spezifischen Formen und Verteilungen. Es bedarf, so Kant, einer Erklärung dafür, »dass ähnliche Land- und Himmelsstriche doch nicht dieselbe Rasse enthalten, dass Amerika in seinem heißesten Klima keine ostindische, noch viel weniger eine dem Lande angeborne Negergestalt zeigt, dass es in Arabien oder Persien kein einheimisches indisches Olivengelb gibt, ungeachtet diese Länder in Klima und Luftbeschaffenheit mit jenem Lande sehr übereinkommen«15. Indem Kant auf diese Art und Weise Klimata, geografische Lagen und Bevölkerungen vergleicht, konstituiert er sie als globale. Der Erklärungsanspruch, unter den Kant die verschiedenen Bevölkerungen subsumiert, situiert sie in einem globalen Zusammenhang. Dabei führt Kant zudem Prozeduren und Praktiken der kolonialen Mobilisierung von Menschen und der Neuzusammensetzung von Bevölkerungen an, wenn er von den »Verpflanzungen (Versetzungen in andere Landstriche)« und von den »Vermischungen« der Menschen in der Fortpflanzung spricht.16 Die Gewaltverhältnisse, in denen diese Praktiken stattfinden, bleiben dabei außer Acht. Vielmehr entwickelt Kant eine Kombinatorik der »Vermischungen«, die dem Castas-System, das in den spanischen und portugiesischen Kolonien die Verteilung von Rechtstiteln ausgehend von Unterschieden der Hautfarbe regelte,17 sehr nahe kommt: »Der Ostindianer gibt durch Vermischung mit dem Weißen den gelben Mestizen, wie der Amerikaner mit demselben den roten, und der Weiße mit dem Neger den Mulatten, der Amerikaner mit demselben den Kabugl oder den schwarzen Karaiben«18. Auch hierbei öffnet sich ein Horizont, in dem die diversen Bevölkerungen gleichzeitig als heterogen und transkontinental kommensurabel erscheinen.
Dabei artikuliert Kant, was in den Prozessen kolonialer Expansion, der Mobilisierung und Klassifikation von Bevölkerungen praktisch konstituiert wurde: eine eurozentrische Form von Globalität. Diese wurde um 1800 durchaus reflektiert. Georg Forster, der sich zu Beginn der 1790er Jahre Gedanken über die im Entstehen begriffene »neue Epoche« macht, schreibt zum Beispiel: »Der Zeitpunkt nähert sich mit schnellen Schritten, wo der ganze Erdboden dem europäischen Forschergeiste offenbar werden und jede Lücke in unseren Erfahrungswissenschaften sich, wo nicht ganz ausfüllen, doch in so weit ergänzen muß, daß wir den Zusammenhang der Dinge wenigstens auf dem Punkt im Äther den wir bewohnen, vollständiger übersehen können«19. Deutlich kommt bei Forster zum Ausdruck, dass also jene Perspektive, die auf »den ganzen Erdboden« gerichtet ist, und mit dem Anspruch einer lückenlosen Erfassung der Welt einhergeht, von einem spezifischen »Punkt im Äther«, Europa, ausgeht und auf ihn zuläuft.
Als Teilnehmer der zweiten Südsee-Expedition unter James Cook ist Forster dabei selbst ein Protagonist der Globalisierungsprozesse um 1800.20 Die Resolution, so der Name des Schiffes, kommt beladen mit »mehreren tausend Naturalien«21 nach England zurück. Was nicht in gegenständlicher Form transportiert werden kann, wird gezeichnet und beschrieben und also auf diese Weise dem europäischen Wissen und Imaginären zugänglich gemacht. In seinem Bericht Reise um die Welt (1777), der zwei Jahre nach der Rückkehr erschien, berichtet Forster zum Beispiel vom Kap der guten Hoffnung: »In dem Pflanzenreiche herrscht hier eine verwundernswürdige Mannigfaltigkeit. Ohngeachtet wir uns gar nicht lange allhier aufhielten, fanden wir dennoch verschiedne neue Arten […]. Das Thierreich ist verhältnismäßig ebenso reich«22. Ausführlich beschrieben wird zum Beispiel »eine Art wilder Ochsen, welche von den Eingebohrnen Gnu genannt werden« und von denen ein Exemplar »für die Menagerie des Prinzen von Oranien lebendig nach Europa verschickt worden ist«23. Im Innern von Afrika, in dessen »fast noch ganz unbekannten Theilen«, schließt Forster, gebe es zudem noch weitere »große Schätze für die Natur-Wissenschaft«24. Im Zentrum von Forsters Interesse steht allerdings das Wissen über die verschiedenen menschlichen Bevölkerungen. Es sei seine Absicht gewesen, heißt es im Vorwort zur Reise um die Welt, »die Natur des Menschen so viel wie möglich in mehreres Licht zu setzen«25. Dieses Interesse teilt Forster mit einer ganzen Reihe zeitgenössischer Wissenschaftler und Philosophen, die sich im 18. Jahrhundert mit Klassifikationen, Differenzierungen und Erklärungen für die Diversität innerhalb des Menschengeschlechts befassen. Er teilt dieses Interesse insbesondere mit Kant, mit dem er diesbezüglich eine schriftliche Kontroverse führen wird.
Mannigfaltigkeit und Ordnung: Der Begriff der Rasse
Kants Versuch, einen »Erklärungsgrund« für die globale Mannigfaltigkeit von Bevölkerungen zu finden, mündet in eine Definition des Begriffs der Rasse. Kant bestimmt einen Ausdruck, der in den zeitgenössischen Debatten zwar zirkulierte, aber weder einheitlich gebraucht wurde noch unumstritten war.26 Unter Bezug auf Buffons Begriff der Spezies, demzufolge sich eine solche dadurch auszeichnet, dass ihre Angehörigen miteinander fruchtbaren Nachwuchs zeugen können, sucht Kant nach einem Konzept, das es erlaubt, Unterschiede innerhalb einer Spezies zu artikulieren. Die begriffliche Innovation besteht dabei darin, dass Kant den Ausdruck »Rasse« mit dem der Vererbung verbindet. Damit verleiht er beiden eine neue Bedeutung, denn auch der Ausdruck »Vererbung« wurde vor Kant nur unspezifisch und zumeist im juristischen Kontext verwendet. Kant aber verleiht in seiner Verknüpfung von »Rasse« und »Vererbung«, wie nicht zuletzt Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille gezeigt haben, beiden Konzepten eine naturtheoretische Bedeutung.27 »Rasse«, so schreibt Kant, seien jene »Abartungen, d.i. erblichen Verschiedenheiten der Tiere, die zu einem einzigen Stamme gehören […], welche sich sowohl bei allen Verpflanzungen (Versetzungen in andere Landstriche) in langen Zeugungen unter sich beständig erhalten also auch in der Vermischung mit anderen Abartungen desselben Stammes jederzeit halbschlächtige Junge zeugen«28. Damit stehen nicht nur – in der Rede von Verpflanzungen und Vermischungen – Prozesse der globalen Mobilität von Menschen im Zentrum von Kants neuem Begriff. Mit dem Konzept des Stammes bzw. der Stammrasse führt Kant zudem eine universalistische Dimension ein, die durch den Begriff der Rasse zugleich in Frage gestellt und stabilisiert wird. Kant zufolge verhält es sich nämlich so, dass eine ursprüngliche Stammrasse – zu der die Europäer eine besondere Nähe aufweisen29 – sich in vier verschiedene Rassen ausdifferenziert hat. Kant geht davon aus, dass es in einem ursprünglichen Stamm »Keime« gegeben habe, in denen, wie es heißt, »die Anlagen zu aller dieser klassischen Verschiedenheit notwendig haben liegen müssen, damit er zu allmählicher Bevölkerung dieser verschiedenen Weltstriche tauglich sei«30.
An diesem Punkt, nämlich in Hinblick auf die Annahme einer gemeinsamen Abstammung aller Menschen, widerspricht Forster, der den Begriff der Rasse insgesamt für »entbehrlich« hält.31 Forster hatte in der Reise um die Welt zunächst mit klimatheoretischen Erklärungen für die Diversität menschlicher Bevölkerungen argumentiert, indem er zum Beispiel die Hautfarbe durch die Stärke der Sonneneinwirkung erklärte. Im Fortgang der Reise hatte er sich immer stärker von diesem Erklärungsmuster, das insbesondere auch Buffon bedient hatte, entfernt. Auf der Südsee-Insel Malekula trifft er nämlich auf Bewohner, die zwar unter klimatischen Bedingungen leben, die denen der anderen Inseln im Südpazifik vergleichbar sind, deren Bewohner aber dennoch in so gut wie jeder Hinsicht anders erscheinen. Dies bringt Forster zu der Auffassung, es müsse sich hier um zwei verschiedene »Stämme« handeln. Dabei nimmt er die im ausgehenden 18. Jahrhundert viel debattierte These der Polygenese auf, das heißt die These, dass die Menschengattung mehrmals an unterschiedlichen Orten entstanden sei. Auch Voltaire hatte diese Auffassung vertreten, deren Brisanz vor allem daraus resultierte, dass sie die Schöpfungstheologie radikal in Frage stellte.32 In dieser Linie behauptet Forster schließlich auch in Noch etwas über die Menschenracen (1786), jenem Text, in dem er gegen Kants monogenetische Auffassung argumentiert, es gebe zwei »Stämme«, nämlich den des »Negers« und den des »Weissen«. Unter Bezug auf die anatomischen Studien von Samuel Thomas Sömmering behauptet Forster, dass »der Neger sichtbarlich so wohl in Rücksicht äusserer als innerer Gestaltung weit mehr übereinstimmendes mit dem Affengeschlechte habe, als der Weisse«33. Gleichwohl, so führt er weiter aus, stehen beide »ganz nahe nebeneinander«34, da schließlich auch Schwarze zum Menschengeschlecht gehörten und dieses grundsätzlich von den Affen verschieden sei.
Sowohl Forster als auch Kant schlagen also Einteilungen vor, die auf Kants Problem reagieren, eine Erklärung für die »Mannigfaltigkeiten der Rassen auf der Erdfläche«35 zu finden. Sie konstituieren eine Ordnung, durch die diese Mannigfaltigkeit von einem europäischen Standpunkt aus intelligibel wird. Dabei gilt, was Marie Louise Pratt mit Blick auf die wissenschaftliche Aneignung von Pflanzen und Tieren festgestellt hat, auch für den forschenden Blick auf Menschen: »One by one«, so Pratt, »the planet’s life forms were to be drawn out of the tangled threads of their surroundings and rewoven into European-based patterns of global unity and order«36. Kants Theorie der Menschenrassen hat sich dabei in Hinblick auf die Konstitution eines solchen eurozentrischen Ordnungsmusters als folgenreicher erwiesen als die von Forster. Kant hat nämlich mit dem Begriff der Rasse, der im Kontext eines genealogischen Denkens in Abstammungs- und Vererbungsrelationen auftaucht, nicht nur einen neuen Ordnungsbegriff hervorgebracht. Kant, so hat es Robert Bernasconi einmal formuliert, »contributed more than just the term ›race‹. He set a direction for future inquiries«37. Schließlich wird der Rassenbegriff bei Kant zum Ausgangspunkt einer Rekonzeptualisierung von Naturwissen und erscheint unauflöslich mit dieser verbunden.
Eine neue Form von Naturwissen
Grundlegender als die unterschiedlichen Positionen zur Mono- bzw. Polygenese waren denn auch methodische und erkenntnistheoretische Fragen, die Kant und Forster entzweiten. Gegen Kant, der von Reiseberichten behauptet hatte, sie hätten »bisher mehr dazu beigetragen, den Verstand […] zur Nachforschung zu reizen, als ihn zu befriedigen«38, rehabilitiert Forster das durch Beobachtungen und Erfahrungen gewonnene Wissen. Er zeigt nicht nur auf, wo Kant Reiseberichte falsch gelesen hat, sondern wendet sich insbesondere gegen dessen Anliegen, Begriffe, die die Beobachtung leiten sollen – wie zum Beispiel den der Rasse – vorab zu klären. »Wie vieles Unheil«, klagt Forster, »ist nicht von jeher in der Welt entstanden, weil man von Definitionen ausgieng, worein man kein Mißtrauen setzte, folglich manches unwillkührlich in einem vorhinein bestimmten Lichte sah, und sich und andere täuschte«39. Insgesamt aber verfehlt Forster mit seiner Kritik Kants naturphilosophischen Einsatz, der in der Unterscheidung von Naturbeschreibung und Naturgeschichte liegt. Forster zufolge sollte diese Differenz »als Theil eines Ganzen behandelt werden«40. Andererseits hält er, fast im gleichen Atemzug, eine Naturgeschichte in Kants Sinne überhaupt für unmöglich –»eine Wissenschaft für Götter und nicht für Menschen«41. Worum geht es?
Kant hatte bereits in Von den verschiedenen Rassen der Menschen zwischen Naturbeschreibung und Naturgeschichte unterschieden. Letztere, die, wie es heißt, »fast noch gänzlich fehlt«, würde »die Veränderung der Erdgestalt, ingleichen die der Erdgeschöpfe (Pflanzen und Tiere), die sie durch natürliche Wanderung erlitten haben, und ihre daraus entsprungenen Abartungen von dem Urbilde der Stammgattung lehren. Sie würde vermutlich eine große Menge scheinbar verschiedener Arten zu Rassen ebenderselben Gattung zurückführen und das jetzt so weitläufige Schulsystem der Naturbeschreibung in ein physisches System für den Verstand verwandeln«42. Deutlich lehnt Kant sich hier an Buffons Kritik der artifiziellen, »schulmäßigen« Klassifikationen à la Linné an und favorisiert wie Buffon ein »physisches System«. Über Buffon hinaus führt er jedoch eine entwicklungslogische Perspektive ein. Die synchrone Naturbeschreibung, die, so Kant, den »Zustand der Natur in der jetzigen Zeit« zum Gegenstand hat, sei nämlich »lange nicht hinreichend, von der Mannigfaltigkeit der Abartungen Grund anzugeben«43. Sie kann, mit anderen Worten, keine Genealogien aufzeigen. Der Begriff der Rasse wird dabei als exemplarischer Begriff der Naturgeschichte eingeführt und zwar als Alternative zur Unterscheidung von Gattungen und Arten. »In der Naturbeschreibung«, so Kant, »da es bloß auf Vergleichung der Merkmale ankommt, findet dieser Unterschied allein statt. Was hier Art heißt, muss dort [in der Naturgeschichte] öfter nur Rasse genannt werden«44. »Rasse« ist also ein Begriff, der für Kant überhaupt nur im Kontext einer Naturgeschichte funktioniert, das heißt er funktioniert nur im Rahmen eines naturtheoretischen Denkens, das Entwicklungszusammenhänge – Fortpflanzung, Abstammung, Vererbung – in den Blick nimmt. Gegen Forsters Einwand, eine solche Naturgeschichte verliere sich in einer spekulativen Ursprungssuche und sei also unmöglich, betont Kant, dass es dabei nicht um die Suche nach ersten Ursprüngen gehe. Vielmehr ziele Naturgeschichte darauf, »den Zusammenhang gewisser jetziger Beschaffenheiten der Naturdinge mit ihren Ursachen in der älteren Zeit nach Wirkungsgesetzen, die wir nicht erdichten«, abzuleiten, also, »aus den Kräften der Natur, wie sie sich uns jetzt darbietet«45. Obwohl, wie Kant schreibt, eine Naturgeschichte in seinem Sinne nur erst im »Schattenrisse«46 existiert, zeichnen sich bei ihm deutlich die Konturen dieser neuen Form von Naturwissen ab.
Von zentraler Bedeutung ist dabei der Begriff des organisierten Wesens. Erneut betont Kant, wo er diesen Begriff in »Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien« einführt, dass im Zentrum seiner Überlegungen die Rekonstruktion von Fortpflanzungs- und Abstammungsprozessen steht. »Ich meinerseits«, schreibt er, »leite alle Organisation von organischen Wesen (durch Zeugung) ab, und spätere Formen (dieser Art Naturdinge) nach Gesetzen der allmählichen Entwicklung von ursprünglichen Anlagen […], die in der Organisation ihres Stammes anzutreffen waren«47. Kant führt an dieser Stelle das Konzept des Bildungstriebs von Johann Friedrich Blumenbach an, der damit organische Wesen im Unterschied zu nicht-organischen charakterisiert hatte. Blumenbach, mit dem Kant in den 1790er Jahren eine ausführliche Korrespondenz unterhielt, hatte in seiner Schrift Über den Bildungstrieb (1780; 1781), dargelegt, »dass in allen Geschöpfen vom Menschen bis zur Made und von der Ceder zum Schimmel herab, ein besonderer, eingeborner, lebenslang thätiger würksamer Trieb liegt, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann zu erhalten, und wenn sie ja zerstört werden, wo möglich wieder herzustellen«48. Dieser Trieb scheine »eine der ersten Ursachen aller Generation, Nutrition und Reproduction«49 zu sein. Damit hatte Blumenbach ein Prinzip formuliert, das es erlaubte, »die Systemebene der Organisation des Individuums mit der Ordnung der belebten Natur«50 zu verbinden. Dies erleichterte »die Übertragung der analytischen Methoden der Physiologie auf die bisher meist bloß deskriptive und klassifizierende Naturgeschichte – eine Übertragung, die eine Voraussetzung einer einheitlichen Wissenschaft vom Leben, einer Biologie, war«51. Blumenbachs Konzept des Bildungstriebs hat damit wesentlich zur Konstitution einer Wissenschaft vom Leben beigetragen.
Kant knüpft an dieses Konzept an. Bei ihm ist allerdings nicht vom Bildungstrieb die Rede, sondern von einer »Grundkraft, durch die eine Organisation gewirkt würde«52. Diese Grundkraft gilt es erkenntnistheoretisch zu bestimmen. Kant geht davon aus, dass »organisierte Wesen« Entitäten sind, in denen alles »auf einander Zweck und Mittel ist«53. Er denkt die »Grundkraft«, die in diesen Wesen wirkt, entsprechend »als eine nach Zwecken wirkende Ursache«54. Wichtig ist dabei, was Kant dann kurze Zeit später im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft ausführt, nämlich dass es sich bei der Annahme von Zwecken im Bereich der organischen Natur um die Behauptung einer Denknotwendigkeit handelt. Kant behauptet nicht, dass »organisierte Wesen«, also Lebewesen, Systeme von Zweck-Mittel-Relationen sind, sondern dass sie nur unter Zuhilfenahme solcher Relationen erkannt werden können. Die Erkenntnis von belebter Natur muss ihm zufolge von teleologischen – im Gegensatz zu mechanischen – Grundannahmen ausgehen. Der Gegensatz von Mechanik und Teleologie, der im Zentrum von Kants Naturphilosophie steht, ist also kein faktischer, sondern ein rein erkenntnistheoretischer.55 So geht Kant schließlich davon aus, dass man im Bereich der Natur überhaupt nur im übertragenen Sinn von nach Zwecken wirkenden Ursachen sprechen kann. »Wir kennen dergleichen Kräfte«, schreibt Kant, »durch Erfahrung nur in uns selbst, nämlich an unserem Verstande und Willen, als einer Ursache der Möglichkeit gewisser ganz nach Zwecken eingerichteter Produkte, nämlich der Kunstwerke«56. Es handelt sich bei der Rede von der Zweckmäßigkeit in Bezug auf die organische Natur also um einen Vergleich. Die ästhetische Urteilskraft, die auf Artefakte gerichtet ist und die im Zentrum des ersten Teils der Kritik der Urteilkraft steht, stellt somit das Vorbild für Kants Konzept der teleologischen Urteilskraft dar. Gleichwohl ist dieser Vergleich wie jede Analogie auch durch ihre Grenze bestimmt. Kant behauptet nämlich gerade keine strikte Analogie zwischen Artefakten und Natur. Die »organisierte Natur« kann, wie er ausführt, nicht nach dem »Analogon der Kunst« gedacht werden – »denn da denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr«57. Die Naturdinge, um die es Kant geht, sind aber nicht gemacht, also von einem Produzenten hervorgebracht, sondern sie produzieren und reproduzieren sich selbst. Ein Ding als Naturzweck ist, wie es heißt, »von sich selbst« Ursache und Wirkung,58 das heißt es ist, wie Kant am Beispiel eines Baumes ausführt, durch Prozesse der Fortpflanzung, des Wachstums und der Regeneration oder Selbsterhaltung bestimmt. Kant arbeitet hier an der Konstitution eines neuen Gegenstandsbereichs von Naturwissen. Deutlich zeichnet sich dabei ab, was er eine »ganz andere Ordnung der Dinge als die eines bloßen Mechanism der Natur«59 nennt.
Auch wenn Kant auf diese Weise an der Formierung einer Wissenschaft vom Leben teilhat – er hat stets bezweifelt, dass das Wissen über die organische Natur die Form einer Wissenschaft annehmen könnte. Der Gegenstand der Naturwissenschaft beschränkt sich für Kant auf eine Körperlehre, die auf den Gesetzen der Mechanik basiert.60 Materie ist bei ihm grundsätzlich unbelebte Materie. Deutlich sind hier also dem, was kurze Zeit später den Namen Biologie erhalten wird, Grenzen gesetzt. Festzuhalten aber bleibt, dass die naturphilosophischen Überlegungen Kants in der Abkehr von der klassifizierenden Naturbeschreibung einer entwicklungslogischen Perspektive Raum schaffen, die mit Konzepten der Fortpflanzung, der Vererbung und der Abstammung operiert. Diese Perspektive nimmt ihren Ausgang von dem Versuch, mit dem Begriff der Rasse ein Ordnungsschema für die Diversität globaler Bevölkerungen zu etablieren. Auch wenn der Begriff der Rasse und die Prozesse kolonialer Globalisierung, die ihn am Ende des 18. Jahrhunderts auftauchen lassen, in den abstrakten naturphilosophischen Überlegungen der Kritik der Urteilskraft nicht mehr präsent sind, spielen sie dort dennoch eine Rolle. Sie gehören nicht nur zum historischen Apriori der Kant’schen Naturphilosophie, sondern sind auch immanent von konstitutiver Bedeutung.
Philosophiegeschichte als globale Verflechtungsgeschichte
Indem ich Kants Rekonzeptualisierung von Naturwissen im Ausgang von seiner Bestimmung des Rassenbegriffs rekonstruiert habe, habe ich versucht, deutlich zu machen, dass Kants naturphilosophische Überlegungen im Horizont der um 1800 entstehenden Form von Globalität situiert sind. Dabei ging es mir nicht zuletzt darum, an einem Beispiel aufzuzeigen, inwiefern sich philosophische Konzepte und Entwürfe als Elemente einer globalen Verflechtungsgeschichte lesen lassen.
Der Ansatz der Verflechtungs- bzw. der Globalgeschichte, der seit einigen Jahren in den Geschichtswissenschaften diskutiert und entwickelt wird, zeichnet sich durch das Unternehmen aus, die Geschichte der Moderne in einer nicht-eurozentrischen Perspektive zu schreiben. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit sind dabei vor allem Prozesse der Verflechtung, also des entanglement, zwischen der europäischen und der außereuropäischen Welt gerückt. Dabei ist, wie Shalini Randeria und Sebastian Conrad betonen, jedoch nicht davon auszugehen, dass im Zuge der modernen Globalisierung »alles und jeder im gleichem Maße, auf die gleiche Weise und zu jeder Zeit miteinander verbunden und entangled war«61. Vielmehr ermöglicht eine globalgeschichtliche Perspektive, wie sie schreiben, »den Blick auf die ungleiche Textur und Beschaffenheit der modernen Welt, die auch als Effekt differentieller Auswirkungen der kolonialen Begegnung auf unterschiedliche Bereiche des sozialen Lebens gelesen werden kann«62. Diese Offenheit für die verschiedenen Ebenen und Formen der Verflechtung macht es möglich, dass auch Philosophiegeschichte wichtige Impulse aus dieser Erweiterung und Dezentrierung der historischen Perspektive gewinnen kann. Auch die spezifischen Abstraktionen des philosophischen Diskurses können und müssen schließlich in den Blick genommen werden, wenn es darum geht zu analysieren, inwiefern »die kulturellen und sozialen Zusammenhänge der kolonialen Epoche […] in den Produkten der europäischen Wissensordnung ihre Spuren hinterlassen«63 haben.
Noch stets aber herrscht in der Philosophie eine eurozentrische Verengung vor. Insbesondere in der Philosophiegeschichte scheint sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Ausklammerung außereuropäischen Wissens vollzogen zu haben. »Die Idee, Philosophie habe in Griechenland begonnen« und sei ein europäisches Phänomen, kam, so Bernasconi, erst am Ende des 18. Jahrhunderts, in der damals einsetzenden Philosophiegeschichtsschreibung »zu ihrem vollständigen Durchbruch«64. Sie wurde im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zum konstituierenden Mythos des Faches und ähnelt darin den Ausschluss- und Segregationsprozessen in anderen Sozial- und Kulturwissenschaften, wie zum Beispiel der Geschichtswissenschaften, die auf einen methodischen Nationalismus festgelegt wurden.65 Dieser Prozess, so ist zu ergänzen, ging Hand in Hand mit der Disziplinwerdung von Philosophie, für die im Laufe des 19. Jahrhunderts die Abgrenzung von den Naturwissenschaften sowie von den sich formierenden Sozialwissenschaften immer bedeutsamer wurde. Die Einführung einer postkolonialen, globalgeschichtlichen Perspektive auf die Geschichte der Philosophie hängt daher aufs Engste mit der Infragestellung ihrer disziplinären Grenzziehungen zusammen.
Wie sich am Beispiel der Lektüre von Kants Theorie der Menschenrassen zeigt, lässt sich ein Zugang zu den globalgeschichtlichen Dimensionen nämlich erst gewinnen, wenn philosophische Konzepte historisch situiert und zugleich im Kontext einer Wissensgeschichte im umfassenden Sinne gelesen werden. Erst in der Wiedereinsetzung der Texte in die inter-diskursiven Bezüge, in denen sie entstanden, werden die jeweiligen Konturen der philosophischen Interventionen sichtbar. Die Einbeziehung von Wissenschaftsgeschichte in die Philosophiegeschichte erweist sich dabei als unabdingbar, um dem Textmaterial gerecht zu werden, das sich den disziplinären Zuordnungen des 19. und 20. Jahrhunderts entzieht. Schließlich geht es, um beim Beispiel zu bleiben, nicht darum, Kants Ausführungen zu den Menschenrassen zu skandalisieren – wofür seine Stilisierung der weißen Rasse, seine Bemerkungen über den schlechten Geruch der schwarzen Haut oder die Klassifizierung der Bewohner Nord- und Südamerikas als »unfähig zu aller Kultur«66 manchen Anlass geben mögen. All dies ist Teil des kolonialen Imaginären Europas, an dem auch Kant teilhat. Der Einsatz einer postkolonialen, globalgeschichtlichen Perspektive in der Philosophie liegt demgegenüber jedoch darin, die Texte als Eingriffe bzw. als theoretische Praxen zu begreifen, die Sicht- und Denkweisen auf spezifische Art und Weise hervorbringen. Um also die Reich- und Tragweite von konkreten philosophischen Einlassungen zur Globalität und kolonialen Machtverhältnissen zu bestimmen, muss einerseits gezeigt werden, wie und wodurch diese Texte aktiv an der Formierung und Transformierung einer epistemischen Ordnung und eines kulturellen Horizonts mitwirken. Andererseits muss gezeigt werden, inwiefern diese Einlassungen mit den abstrakteren Passagen und Texten der jeweiligen Autoren systematisch zusammenhängen und sich auch dort Spuren der Verflechtung finden.67
Dabei handelt es sich nicht um ein immanente, hermeneutisch ausgerichtete Lektüre, die einen ursprünglichen, zu verstehenden Sinn unterstellt. Ebenso wenig geht es um eine aktualisierende Lektüre, die Konflikte der Gegenwart zurückprojiziert oder umgekehrt nach Ansätzen einer besseren, »multipolaren« Moderne sucht, wie es zum Beispiel jüngst der Literaturwissenschaftler Ottmar Ette getan hat, der Alexander von Humboldt zu einem »Denker der Globalität« stilisiert, von dem er Anregungen »für die Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit«68 erwartet. Stattdessen könnte eine postkolonial-globalgeschichtliche Lektüre methodisch viel von der Geschlechterforschung in der Philosophie lernen, die inzwischen vielfältige Strategien der Rekonstruktion expliziter wie impliziter Bedeutungszusammenhänge entwickelt hat.69 Hier wie dort geht es nämlich nicht darum, eine neue, endgültige und bisher verborgene Wahrheit zu enthüllen, sondern darum, ausgehend von Fragen der Gegenwart philosophische Konzepte und Entwürfe einer kritischen Re-Lektüre zu unterziehen, um sich ihren Fallstricken zu entwinden. – Schließlich muss, mit Walter Benjamin gesprochen: »in jeder Epoche […] versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht sie zu überwältigen«70.