Читать книгу Spenglers Nachleben - Группа авторов - Страница 6

Geoffrey Winthrop-Young Kälte, Krieg und Katastrophen Martial-historiografische Anmerkungen
zu Spengler und Kittler

Оглавление

Dreißig kalte Parallelen

Vor zwanzig Jahren haben Michael Wutz und ich im Vorwort unserer Übersetzung von Friedrich Kittlers Grammophon Film Typewriter den Versuch unternommen, amerikanische Leser in die Mysterien der neuen deutschen Medienwissenschaften einzuführen. Ganz im Geiste jener französisch orientierten Theoriezeiten ging es uns in erster Linie um Pariser Anschlüsse: also um die Art, in der Kittler Michel Foucault lacanisierte, Jacques Lacan foucaultisierte und beide wiederum mit Anleihen bei der Medientheorie Marshall McLuhans und der Informationstheorie Claude Shannons anreicherte, was zur Folge hatte, dass Foucault und Lacan von ihren diskursanalytischen bzw. psychokybernetischen Köpfen auf ihre medientechnischen Füße gestellt wurden und die – damals noch nicht so genannte – German media theory sich als Erbe des – damals noch so genannten – französischen Poststrukturalismus in Szene setzen konnte.1 Dank Kittler gab es jetzt auf dem Umweg über Deutschland in Nordamerika French theory up to date.

Natürlich kann man weiter ausholen. War Kittlers Manöver nicht Teil eines deutsch-französischen Theorieschlagabtauschs, der in strukturalistische, existenzialistische und phänomenologische Vorzeiten zurückreichte? War es nicht eine selbstbewusste Umkehrung des bilateralen Theorie-Praxis-Gegensatzes, den Heinrich Heine einst an der funktionalen Äquivalenz von Kant und Robespierre festgemacht hatte? Jener räsonierte, dieser guillotinierte, aber beide über den Rhein hinweg auf analoge Weise. Was Deutschland, so das betagte Klischee, in den abgehobenen Domänen von Philosophie und Musik leistet, inszeniert Frankreich in praxisorientierter Barrikadenöffentlichkeit. Jetzt aber wurde in Deutschland der Anspruch erhoben, die esoterischen linksrheinischen Komplexitäten von Dekonstruktion und Diskursanalyse in den Klartext informationstechnischer Positivitäten zu überführen. Es war eine Form theoretischer Erdung, in der von Ferne der Erlösungsgestus aufblitzte, mit dem ein Jahrzehnt später amerikanische Hypertext-Theoretiker Roland Barthes und Jacques Derrida als etwas linkische Vorwegnahme digitaler Textverarbeitungspraktiken anpriesen.2 Kittlers Theorie, so schien es, verschrieb sich dem Motto von Heinrich Manns Untertan Diederich Heßling: »Sachlich sein, heißt deutsch sein.« Und war das nicht Teil des Untergangs der Theorie im Abendland? Der textzentrierten Kultur der französischen maître penseurs folgt die technikzentrierte zivilisatorische Spätphase in Gestalt deutscher Medienwissenschaftler.

Das war unterhaltsam, teilweise sogar schlüssig, aber nicht sonderlich originell. Nicht dass man dies bei Kittler hätte nachlesen können (er hielt geistesgeschichtliche Überblicke dieser Art für akademisches Boulevardtheater), da waren die Bücher von Norbert Bolz um einiges ergiebiger. Sehr viel interessanter erschien es uns, auf verborgene, wenn nicht gar verschwiegene Verbindungen Kittlers zu binnenländischen Theorietraditionen hinzuweisen. Die Nähe zu Martin Heidegger war offensichtlich, doch gab es nicht auch Bezüge zu anderen Größen der konservativen Revolution wie Ernst Jünger und Oswald Spengler? Wir haben das damals nur kurz angedeutet, und es ist dementsprechend überlesen worden. Hier folgt der Versuch, dieser Frage im Falle Spenglers noch einmal nachzugehen.

Was Heidegger betrifft, sind Einflüsse und Anschlüsse, Schulden und Verbindlichkeiten hinlänglich bekannt.3 Verdanken wir einem bekannten Frankfurter Wort zufolge Hans-Georg Gadamer die Urbanisierung der Heideggerschen Provinz, so bietet uns Kittler deren Mathematisierung. Freilich hatte dieses technisch aufgerüstete seinsgeschichtliche Andockmanöver ein Schrumpfen der vormals so prominenten französischen Verbindung zur Folge. Der hohen Wertschätzung Foucaults, die Kittler in seinem schönen Nachruf Ein Verwaiser bis ins Erotische steigerte, folgte zwei Jahrzehnte später der Bescheid, Foucault habe eigentlich immer nur an, mit und von Heidegger her gedacht. Was bleibt dann noch von Foucault? Nichts als die »lebenslange Umschreibung eines Heideggerwortes: Seinsgeschichte.«4 Damit kehrte Kittler konsequent zu den Fußnoten seiner frühesten Aufsätze zurück, in denen die Diskursanalyse von Les mots et les choses als Epiphänomen seinsgeschichtlicher Erkundungen erscheint. Kurzum, die French connection entpuppt sich als recht innerbadische Affäre. Paris liegt auf dem Feldweg von Freiburg nach Meßkirch, denn bei rechtem Licht besehen ist Paris immer schon eine Art Meßkirch-sur-Seine.

Der Fall Spengler liegt anders. Die Schwierigkeiten beginnen damit, dass trotz oder gerade aufgrund des großen Abstandes Vergleiche zwischen Kittler und Spengler auf den ersten Blick so leicht fallen. Derart viele Analogien und Ähnlichkeiten drängen sich auf, dass man ohne große Mühe dreißig von ihnen Revue passieren lassen kann: Sowohl Kittler als auch Spengler bieten (1.) mitteleuropäisch zentrierte Übergangs- und Umbruchsdiagnosen, denen zufolge eine vornehmlich durch kulturelle Produktion gekennzeichnete Phase von einer verstärkt technisch determinierten abgelöst wird. Während (2.) in jener Goethe symbolhaft überhöht im Mittelpunkt steht, zeichnet sich (3.) diese durch die Vorrangstellung eines bestimmten Berufsstandes aus, nämlich des Ingenieurs. Entscheidend ist (4.) die gleichermaßen programmatische wie polemische Entkoppelung von technischer Entwicklung und sozialem Fortschritt (eine von beiden Theoretikern zum Abschuss freigegebene Vokabel), die Jeffrey Herf in seiner gleichnamigen Studie als Kernstück des reactionary modernism beschrieben hat.5 Wer glaubt, dass es ab dem 19. Jahrhundert vornehmlich deshalb liberaler, demokratischer oder friedlicher zugeht, weil es wissenschaftlicher und technischer zugeht, läuft mit Scheuklappen durch die Welt. Diese irreversible Abfolge wird (5.) mit starker Zäsur-Emphase beschrieben, welche sich (6.) in beiden Fällen einer theorieprägenden Kontinuitätsphobie verdankt. Letztere ist (7.) eng verzahnt mit einem für beide kennzeichnenden Unbehagen am Fetisch der Kommunikation. Dass Spenglers Kulturen so wenig miteinander kommunizieren können wie Kittlers Aufschreibesysteme, hängt maßgeblich von ihrem historischen diskreten Status ab, woraus (8.) hervorgeht, dass die Ergründung dieser Gebilde bei ihren je eigenen ›seelischen‹ bzw. informationstechnischen Ermöglichungsbedingungen ansetzen muss. Was in einer Spenglerschen Großkultur bzw. einem Kittlerschen Aufschreibesystem gedacht und gesagt, besungen und berechnet werden kann, verdankt sich der Entfaltung seelischer Existenz- bzw. technischer Einschreibungsgestelle. Wichtig ist, dass diese Gebilde (9.) relativ plötzlich entstehen und (10.) ihre Evolution bestimmten Eigengesetzlichkeiten unterliegt (wir kommen darauf zurück).

Dies führt (11.) in beiden Fällen zur pikierten Rückfrage, die auch in Kittlers berüchtigten Habilitationsgutachten anklingt, was diesen Kulturpathologen das Recht gebe, sich so selbstbewusst über soziale Großgebilde zu äußern, von denen es heißt, dass man sie als Außenstehender nicht richtig verstehen könne. In beiden Fällen wird die Frage (12.) mit einer quasi Herderschen Volte beantwortet. Die suspekte Mischung aus Differenz und Gleichheit zwischen Kulturen oder Aufschreibesystemen wird nämlich von den Diskursgesetzen und Erkenntnisstrukturen derjenigen Gebilde festgelegt, in denen sich die Autoren bewegen, von denen aber (13.) vorausgesetzt wird, dass sie einen privilegierten Zugang zu Fragen dieser Art ermöglichen. Alle Kulturen Spenglers sind gleich, mit Ausnahme derjenigen, welche die Kriterien dieser Gleichheit bereitstellt, nämlich der eigenen faustischen. Die Abendländer sind, wie George Orwells Schweine, ein bisschen gleicher. Der Status der faustischen Kultur als primus inter pares entspricht dem Status des global erweiterten technisch zentrierten digitalen Aufschreibesystems Kittlers, was (14.) mit der Auffassung zusammenhängt, dass die faustische Kultur und deren kittlerianisches Pendant sich als erste und bislang einzige planetarisch ausgebreitet haben. Dadurch wird (15.) die Möglichkeit nicht nur eines Endes der Geschichte angedeutet, sondern auch (16.) das Ende jeglichen historischen Bewusstseins.

An dieser Stelle müssen wir nachhaken, denn hier kommen folgenreiche Ängste des 19. Jahrhunderts zur Sprache. Immer wieder findet sich bei Spengler die Vorstellung, dass Geschichte ihre Energie aus dem Abarbeiten von Differenzen bezieht. Gibt es keine solche Differenzen, Gefälle oder Spannungen mehr, fehlt es der Geschichte am nötigen Treibsto ff. Das ist der thermodynamisch inspirierte Hintergrund der oben erwähnten Kommunikationsskepsis. Entspannung, Annäherung, gegenseitige Durchdringung und Angleichung, die gleichmäßige Verteilung von Informationen über vormals getrennte Systeme hinweg, also alles, was in der Hoffnung auf Frieden und Verständigung positiv bewertet wird, erscheint als entropisches Endzeitsymptom. Wo endet die vom Konflikt der Schulen und Orthodoxien vorangetriebene Philosophie? In Spenglers Morphologie. Und was ist das Endstadium dieser Morphologie? »[D]ie Auflösung des gesamten Wissens in ein ungeheures System morphologischer Verwandtschaften«,6 also eine aus kulturellen Endmoränen zusammengesetzte enzyklopädische Klaviatur, die an Hermann Hesses Glasperlenspiel erinnert. Gleiches geschieht auf politischer Ebene, wenn Völker und Nationen – vormals die »Kampfeinheiten im Strom der Geschichte«7 – in einem planetarischen Brei bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verschmelzen. Was Spengler über das Ende der apollinischen Antike schreibt, trifft auch auf unseren bevorstehenden abendländischen Abgang oder Abgesang zu:

In der römischen Kaiserzeit beginnt man sich allenthalben zu verstehen, aber eben deshalb gibt es nichts mehr, was in antiken Städten zu verstehen sich noch lohnte. Mit dem Sichverstehen-können hatte diese Menschheit aufgehört, in Nationen zu leben; damit hat sie aufgehört, historisch zu sein.8

Wenn alle miteinander reden können, hat man sich nichts mehr zu sagen. Die Wut des Verstehens erschafft eine Öde allgemeiner Verständigung. Freilich waren die »dummen Römer« – eine vom späten Kittler häufig benutzte Formel, die ihre Herkunft aus einem bekannten gallischen Dorf wohl kaum verleugnen kann – nicht in der Lage, ihr Abgleiten in die Geschichtslosigkeit zu verstehen, weil sie im Gegensatz zu uns Abendländern erst gar nicht dazu befähigt waren, ihre eigene Geschichtlichkeit zu erfassen.

Eben dieses Muster prägt bei Kittler die historischen Medienverhältnisse. Über allen Hardwarefetischismus hinaus war seine Medientheorie, wie die von Harold Innis, eine historisch organisierte Intermedialitätstheorie. Was ein Medium ist, was es leistet und bewirkt, kann letztlich immer nur in Bezug auf andere Medien bestimmt werden. Nur so kann erklärt werden, warum bei Kittler, als sei’s ein Stück von Walter Benjamin, ein neues Medium als technische Realisierung der von alten Medien geweckten Bedürfnisse erscheinen kann. Vor allem lassen sich nur so (und wiederum ganz wie bei Innis) die strategischen, wenn nicht gar martialischen Eskalationen erfassen, in der Medien einander zu übertrumpfen suchen, bis alle Differenzen in der Digitalität aufgehoben werden. Ab dem Zeitpunkt gibt es ja bei Kittler keine Medien mehr, so wie es bei Spengler im Zeitalter der abschließenden Morphologie keine autonomen Wissensformen mehr gibt:

In der allgemeinen Digitalisierung von Nachrichten und Kanälen verschwinden die Unterschiede zwischen einzelnen Medien. Nur noch als Oberflächeneffekt, wie er unterm schönen Namen Interface bei Konsumenten ankommt, gibt es noch Ton und Bild, Stimme und Text. […] – ein totaler Medienverbund auf Digitalbasis wird den Begriff Medium selbst kassieren.9

Was Marshall McLuhan als Erweiterungen der menschlichen Sinne pries, schrumpft bei Kittler zu Zugeständnissen an deren Inferiorität. Im digitalen Zeitalter gleichen die ›Medien‹ – je mehr Kittler man liest, desto nötiger werden die Anführungszeichen – heruntergekommenen Ex-Aristokraten, die sich auf ihren ehemaligen Landschlössern als Pförtner verdingen, um Besuchern den Zugang zur neuen digitalen Herrschaft zu erleichtern. Entscheidend ist, dass genau wie bei Spengler Entdifferenzierung an Enthistorisierung gekoppelt ist. Das Medienzeitalter, so die einschlägigen Formulierungen in Grammophon Film Typewriter, steht im Gegensatz zur der »Geschichte, die es beendet«10. Am nachgeschichtlichen Horizont – Wolfgang Ernst weist immer wieder darauf hin – wuchern die zeitkritischen Rekursionen und Verarbeitungsprozesse des digitalen Glasperlengestells: »Medien kreuzen einander in einer Zeit, die keine Geschichte mehr ist«11.

Es geht also nicht, um diesen Punkt noch einmal zu betonen, um die melodramatische Hanno-Buddenbrook-Geste, dass nach mir niemand mehr kommt und ich daher einen Schlussstrich unter die eigene Familien- oder Weltchronik ziehen kann – wenn auch Spengler in seinen privaten Aufzeichnungen genau diesen Gestus vollzieht.12 Es geht um den sehr viel bedenklicheren Umstand, dass nach mir niemand mehr kommt, der zu begreifen imstande wäre, was so ein Schlussstrich überhaupt bedeutet. In Odo Marquards tautologischem Kompositastil gesprochen, betreiben Spengler und Kittler Periodisierungsperiodisierungen. Es gibt eine Zeitspanne, die sich in Kulturstadien oder Episteme unterteilen lässt, doch ihr folgt etwas, das solchen Periodisierungen keinen Halt bietet. Es geht nicht um das Ende von history oder Geschichte, sondern um das Verenden (der Heidegger der Schwarzen Hefte würde hier von »Verwüstung« sprechen) von historiability oder Geschichtsbarkeit. Wir kommen im nächsten Abschnitt darauf zurück: ›Geschichtsbarkeit‹ ist die (nach Meinung mancher: kriegserzeugte) Verknüpfung von Erfahrbarkeit und Erzählbarkeit, aus der das historische Bewusstsein überhaupt erst hervorgehen kann. Genau das – so die melancholische These – geht dieser Tage zu Ende. Auf der Weltbühne wird nichts mehr aufgeführt, was das hoffnungslos verdummte Publikum als Geschichte begreifen könnte. History has left the building.

Und weiter. Beide flirten (17.) zuweilen mit einem martialischen Apriori. Kittlers mittlere, voraphroditische Schriften kreisen um die Bedingungen, die der (Medien-)Geschichte vom Krieg, dem Vater aller technischen Dinge, aufgezwungen werden. Es gibt hier markante Unterschiede, doch eine Parallele liegt auf der Hand: Der martialische Fokus hängt (18.) mit der Rolle der Weltkriege in den Biografien beider Theoretiker zusammen – dazu gleich mehr. Weiterhin findet sich bei beiden (19.) eine gleichermaßen ehrgeizige wie unabgeschlossene Alterserweiterung der Theorie in die Ur- und Frühgeschichte, die (20.) mit dem Anspruch auftritt, dort vieles entdeckt zu haben, was das Fassungsvermögen der zuständigen Experten übersteigt. Diese Erweiterung ist (21.) mit einer Tendenz zur Operationalisierung verknüpft. Wenn Spengler in den Fragmenten zur Frühzeit der Weltgeschichte die Religion nicht als »Glaube« oder »Theorie« versteht, sondern als Handlungs- und Technikengeflecht; wenn er betont, dass hinter dem oberflächlichen Gerede vom »Schiffbau« ein »ganzer Komplex von Erfindungen« einschließlich »Boot, Ruder, Anlegeplatz« steckt; und wenn er fordert, irreführende Großbegriffe wie »Viehzucht« zu streichen oder eine grobe, stoffbasierte Epochenbezeichnungen wie »Steinzeit« durch eine technikbasierte Sequenz aus »Schlag-, Hammer- und Schmiedezeit«13 zu ersetzen – dann ähnelt das der kulturtechnischen Wende in Kittlers Spätwerk, die erstarrte ontologische Begrifflichkeiten in beweglichere ontische Ensembles aufzulösen sucht. Beider Kulturkritik durchläuft zwei Phasen: eine erste, in der sie ihren Mitmenschen vorwerfen, nicht zu wissen, in welchem geschichtlichen oder epistemologischen Wald sie sich gerade befinden, und eine zweite, in der Leuten nicht minder vorwurfsvoll beschieden wird, dass sie vor lauter Wald die einzelnen Bäume nicht sehen. Wobei zu fragen wäre, ob sich wie bei Kittler diese Tendenz auch im Falle Spenglers einer Selbstanwendung der eigenen theoretischen Prämissen verdankt. Wie dem auch sei, all dies führt (20.) in beiden Fälle zu der berechtigten Frage, ob und inwieweit sich das Alterswerk – dessen Erscheinen sich (21.) zunehmend umfangreichen Nachlasserschließungen verdankt – mit den Prämissen früher veröffentlichter Werke noch vereinen lässt.

All dies wird (22.) oft im Duktus hypothermaler Hypermaskulinität vorgetragen. Was wären Spengler und Kittler ohne die ständigen Beschwörungen von Kühle und Kälte? Die Medientheorie Kittlerscher Prägung ist eine Neuauflage jener Verhaltenslehren der Kälte, die Helmut Lethen am linken und rechten Rand der Weimarer Nachkriegskultur ausgemacht hat. Nicht zufällig war ›Eiszeit‹ eine prominente Selbstbeschreibung der deutschen Jugendkultur des Jahrzehnts, in dem Kittlers theoretische Eiswüsten wuchsen. Seine Medientheorie gehört zum new cold der 1980er, in der viel Energie darauf verwendet wurde, sich von der wärmer gestimmten Intimitätskultur des vorangegangenen Jahrzehnts abzusetzen. Winter is coming. Auf die Dauer jedoch, so Hans Ulrich Gumbrecht, war Kittler »die Kälte der eigenen medienhistorischen Gegenwartsdiagnostik […] unerträglich belastend geworden.«14 Mit seinem Eintritt in ein griechisches Reich, in dem die Sonne über der Ägäis nie unterzugehen scheint, mutierte er zum Theoretiker, der aus der Kälte kam. Diese Hypothermik ist (23.) eng verbunden mit einem Unbehagen an grassierenden humanistischen Anfechtungen, die oft so verärgert denunziert werden wie die Symptome einer verschleppten Krankheit. Stil und Attitüde beider verdanken sich dem fortwährenden Kampf gegen ihre inneren Sozialkundelehrer mit ihren homo homini agnus-Beteuerungen.

Bei beiden ist (24.) viel von historischen variablen Manifestationen von Musik und Mathematik die Rede. Beide haben (25.) ein recht ambivalentes Verhältnis zur angloamerikanischen Domäne, so wie auch (26.) in beiden Fällen die englischsprachige Rezeption ein Gemisch aus Amputation und progressiver Entdeutschung darstellt, das sich mit herkömmlichen Rezeptionsmodellen nicht mehr einfangen lässt.15 Beide nehmen es (27.) mit ihren Zitaten nicht so genau, und beide legen (28.) eine ausgesprochene Anhänglichkeit an Friedrich Nietzsche an den Tag, die vor zuweilen peinlich wirkenden Identifikationen nicht zurückschreckt. Beide sind (29.) gebürtige Sachsen mit borussianistischen Neigungen: der eine lobt den preußischen Sozialismus, der andere das preußische Offizierswesen. Und schließlich (30.) schnappen beide wie verstörte Vierbeiner so emsig nach der Leine, die sie an Hegel fesselt, dass man nicht weiß, ob sie die Leine entzweibeißen oder eine bereits zerrissene mit ihren Zähnen zusammenhalten wollen.16

Diesen Parallelen ließen sich ohne große Mühe dreißig weitere hinzufügen, doch ebenso leicht fiele es, sechzig offensichtliche Unterschiede zu benennen. Und noch einfacher wäre es, viele dieser vermeintlichen Parallelen als billiges Gerede zu entlarven. Vergleiche zwischen Kittler und Spengler laufen Gefahr, sich denselben Vorwurf einzuhandeln wie Spenglers Kulturvergleiche. Allzu oft bestehen sie aus dem Abhaken von Oberflächenähnlichkeiten, die bestenfalls zu aphoristischen Knalleffekten führen. Trotzdem: Einige der Analogien haben Hand und Fuß (oder, eingedenk der höheren Raubtiermetaphorik des späten Spengler: Klaue und Pfote). Es geht anders als im Falle Heideggers nicht um Einfluss. Selbst wenn er nachgewiesen werden könnte, die schwammige Allerweltskategorie Einfluss genießt ohnehin schon zu viel Einfluss. Eher findet sich das, was Biologen konvergente Evolution nennen: also die Tatsache, dass sehr weitläufig miteinander verwandte Organismen – z. B. Haie, Delfine und Ichthyosaurier – unter ähnlichen Umweltbedingungen ähnliche Strukturen entwickeln. Dieser ähnliche Umstand, so meine Ausgangsthese, ist der oben erwähnte achtzehnte Punkt. Sowohl bei Spengler als auch Kittler haben wir es – keineswegs ausschließlich, aber doch in entscheidendem Maße – mit Kriegsverarbeitungstheorien aus der Verliererperspektive zu tun. Das umfasst weitere Ähnlichkeiten, die oben schon erwähnt wurden und in den nächsten Abschnitten vertieft werden sollen.

Ave Victi, vae victoribus

Die Dichtung vom Untergang des Abendlandes hebt an mit einem Trommelwirbel:

In diesem Buche wird zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.17

Es gibt in der Weltliteratur nur einen anderen Text, der bereits im allerersten Satz so nachdrücklich auf seiner einzigartigen Vorreiterrolle besteht: »Je forme une entreprise qui n’eut jamais d’exemple et dont l’exécution n’aura point d’imitateur.« Ob Rousseaus Selbstanpreisung zu Beginn seiner Confessions berechtigt ist, sei dahingestellt, Spenglers ist es sicher nicht. Spätestens seit den detaillierten Belegen von Hans Joachim Schoeps ist bekannt, wie sehr das von Spengler verpönte 19. Jahrhundert ihm in Gestalt von Karl Vollgraf, Ernst von Lasaulx oder Jacob Burckhardt bis in zeitliche und wörtliche Details hinein allerlei Vorgaben geliefert hat.18 An anderer Stelle hat sich Spengler mit Blick auf sein eigenes Nachzüglertum bescheidener geäußert: »Es gibt keinen wirklich neuen Gedanken in einer so späten Zeit.«19

Wichtiger ist die hegelianische Konjunktion von Nachzüglertum und Erkenntniszuwachs. Der absteigende Ast führt zu aufsteigenden Einsichten; die Eule der Minerva erkennt erst im letzten Sinkflug Dämmerung, Route und Ziel. Dieser von der Gnade der späten Geburt ermöglichte Überblick wird in dramatisch orchestrierten Passagen beschworen: »Wir, die wir noch Geschichte haben und Geschichte machen, erfahren an der äußersten Grenze der historischen Menschheit, was Geschichte ist.«20 Freilich darf Spenglers eschatophiles Pathos nicht darüber hinwegtäuschen, dass er weniger an der Beschreibung einer bislang unverstandenen Zukunft interessiert ist als an der Umschreibung einer bislang missverstandenen Gegenwart. Diese Gegenwart aber ist der Krieg.

Bekanntlich wurde der erste Teil des Untergang des Abendlandes in Erwartung eines deutschen Sieges in Druck gegeben. Die erhaltenen Briefe Spenglers belegen zu Kriegsbeginn großen Optimismus. Alle paar Wochen wird verkündet, dass der Krieg in ein paar Wochen gewonnen sein wird. Seine Zuversicht flaut ab Mitte 1916 ab und meldet sich erst im Gefolge der Ludendorff-Offensive wieder. Das Ende sei im Sommer oder Herbst zu erwarten, heißt es im Mai 1918, dem folge dann die »Abdankung der romanischen Nationen« und die Bildung »eines deutschen Protektorat[s] über den Kontinent (bis zum Ural!)«.21

An Spott und Skepsis fehlt es nicht. Der Großprophet kennt sich in seiner eigenen Zeit nicht aus; warum also soll man ihm trauen, wenn er extravagant über sie hinaus spekuliert? Die übliche Replik lautet, dass hier eine ungehörige Vermischung von Kurz- und Langzeitprognosen stattfinde. Es sei nicht Aufgabe der Klimaforscher, Auskunft darüber zu geben, ob es nächste Woche regnet; ob Spengler im Ganzen recht behalte, entscheide sich Mitte des 21. Jahrhunderts, nicht im Spätsommer 1918. Freilich ist das eine Scheindebatte, die am Kern der Sache vorbeigeht, denn die historische Frage, ob Deutschland den Krieg gewinnt, ist zweitrangig gegenüber der philosophischen Frage, ob Deutschland den Krieg versteht. Entscheidend ist das chiastische Verhältnis der Fragen zueinander. Die zweite, wichtigere kann nämlich nur dann so richtig positiv beantwortet werden, wenn die Antwort auf die erste Frage entsprechend negativ ausfällt. Es sind die Verlierer, die den Krieg besser verstehen – vor allem dann, wenn der sogenannte Krieg zur Beendigung aller Kriege, the war to end all wars, rückblickend zur bloßen Schlacht schrumpft, weil er sich als Oberflächenphänomen eines tiefer gelagerten, fortdauernden geschichtlichen Prozesses entpuppt. Wer aber geschlagen am Boden liegt, ist diesem Ab- und Untergründigen der Geschichte näher als ein aufrecht stolzierendes Siegerbewusstsein, das sich in der trügerischen Illusion wiegt, alles sei nach Plan abgelaufen. Wer spricht von Siegen? Verstehen ist alles. Und darin sind die Unterlegenen den Siegern überlegen.

Der anfängliche Erfolg von Spenglers Buch beruht mithin nicht zuletzt darauf, dass es sich um ein verlockendes Kommunikationsangebot für Verlierer handelt. Kriege erzeugen naive Gewinner und sentimentalische Verlierer, denn die Niederlage zwingt diese zu Reflexionsleistungen, denen jene sich zu entziehen können glauben. Die Lektüre dient der Einübung in die raffinierte Kunst (in der der zweifach besiegte Ernst Jünger ein beachtliches Geschick entwickelte), einen Krieg besser zu verlieren, als die Gegenseite ihn gewonnen hat.

Im deutschen Sprachraum wird dieses Besiegtentheorem oft im Anschluss an Reinhart Kosellecks Schlüsseltext Erfahrungswandel und Methodenwechsel diskutiert.22 Dieser Aufsatz hat für uns den Vorteil, dass er den Nexus von Niederlage und Erkenntniszuwachs mit dem oben angedeuteten Problem der Geschichtserfahrungsbedingungen oder ›Geschichtsbarkeit‹ verknüpft. Im Prinzip geht es Koselleck um eine anthropologisch fundierte Geschichte geschichtlicher Erfahrung, mit Hilfe derer sich die variable Verschränkung von Erfahrung und Historie erfassen ließe. Zu dem Zwecke wird ein dreischichtiges Erfahrungsmodell vorgeschlagen, das nicht von ungefähr an Fernand Braudels dreischichtiges Zeitenmodell erinnert. Es gibt erstens unmittelbare Erfahrungen, die aufgrund der plötzlichen Differenz zwischen Vorher und Nachher ein Novum anzeigen, zweitens mittelfristige Erfahrungen, die vorangegangene Erfahrungen bestätigen und dadurch erfahrungsstabilisierend wirken, und drittens langfristige Erfahrungen wachsender Andersartigkeit, aufgrund derer frühere Erfahrungen hinterfragt und modifiziert werden müssen. Der kurzfristigen Überraschung folgt die mittelfristige Wiederholung und schließlich die langfristige Entfremdung. Letztere ist ein Novum auf höherer Ebene, das zur »rückwirkenden Entdeckung einer ganz andersartigen Vergangenheit«23 führt. Kurzum, es gibt das Neue, sodann das aus der Wiederholung des Neuen entstehende Alte, und schließlich die Notwendigkeit, das Alte wiederum neu zu sehen.

Diesen Erfahrungsweisen korrespondieren drei Arten methodischer Verarbeitung: Aufschreiben, Fortschreiben und Umschreiben (trennbares Präfix, Betonung auf der ersten Silbe). »Das Aufschreiben ist ein erstmaliger Akt, das Fortschreiben akkumuliert Zeitfristen, das Umschreiben korrigiert beides, das Auf- und Fortgeschriebene, um rückwirkend eine neue Geschichte daraus hervorgehen zu lassen.«24 Trotz ähnlicher Formulierungen gibt es keine feste Zuordnung von Erfahrungsmodus und Darstellungsweise. Weder erschöpft sich die unmittelbare Erfahrung im bloßen Beschreiben eines kontingenten Ereignisses, noch ist die umfassende Revision akkumulierter Erfahrungen immer schon und ausschließlich eine Sache des Umschreibens. Hier kann man mit Blick auf Spengler und Kittler den Begriff der Katastrophe fruchtbar machen – und das übrigens analog zu der Weise, in der Karl Heinz Bohrer in einem ähnlichen Zusammenhang auf die Kategorie der »Plötzlichkeit« rekurriert.25 Die Katastrophe erlaubt den direkten Durchgriff von der obersten auf die unterste Ebene historischer Erfahrbarkeit, also von der unmittelbaren Erfahrung auf die Umwandlung langfristiger Erwartungsstrukturen. Nicht nur erfahre ich hier und jetzt, dass etwas Neues geschieht; hier und jetzt wird schlagartig klar, dass es immer schon anders war. Dieser Implosion der Erfahrungsebenen entspricht auf der Darstellungsebene das Vermischen von Beschreiben und Umschreiben. Man denke an Goethes Versuch, am Abend der verlorenen Schlacht von Valmy die trübe Stimmung unter den Koalitionstruppen durch die Versicherung epochaler Zeugenschaft anzuheben: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Ob das damals eine aufpäppelnde Wirkung hatte, darf bezweifelt werden. Entscheidend ist, dass Goethes unerhörtes Weltereignis durch den Ausblick auf eine neue Zukunft eine neue Vergangenheit hinter sich abschließt. Die Französische Revolution hat sehr viel weniger Freiheit und Brüderlichkeit in die Welt gesetzt als von ihr behauptet, von der Gleichheit ganz zu schweigen, aber einen durchschlagenden Erfolg kann man ihr nicht absprechen: die Erschaffung des – von ihr so genannten – ancien régime. Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, wodurch die alte rückwirkend anders erscheint. Und genau das geschieht auch in Spenglers Kurzschluss von Zukunftsprognostik und Gegenwartsdiagnostik. Angesichts der Katastrophe entdeckt man auf dem Umweg über eine neue, bislang unverstandene Zukunft eine neue, bislang missverstandene Gegenwart, die dementsprechend neu erfahren, beschrieben und im Sinne Kosellecks umgeschrieben werden muss.

Das Beschreiben ist also immer schon ein Umschreiben, wenn und weil die Umschreibung aus der Beschreibung eines unerhörten Zäsurphänomens besteht. Hier steckt eine signifikante rhetorische Ähnlichkeit zwischen Spengler und Kittler. Trotz aller stilistischen Unterschiede ist ihr präzeptoraler Zeigestockgestus – eine moderne Variante prophetischen Bänkelsängertums – identisch: Kittlers inflationärem Gebrauch von Ausdrücken wie ›einfach‹, ›einfach nur‹ oder ›nichts als‹, von seiner Markenzeichen-Vokabel ›selbstredend‹ ganz zu schweigen (ist nicht der gesamte Theoriebestand Kittlers eine einzige Umschreibung – nicht trennbares Präfix, Betonung auf der zweiten Silbe – dieses Wortes? Also die Beschwörung dessen, was keinerlei Interpretation bedarf, weil es sich selbst und sein technisches Arrangement darstellt, entbirgt, vollzieht und zur Sprache bringt) – all das entspricht Spenglers nicht minder inflationärem Gebrauch raunender Passivphrasen, dieses oder jenes weltgeschichtliche Datum sei ›noch nie‹ oder ›hier zum ersten Mal‹ entdeckt, erblickt, erkannt. Sowohl Kittlers selbstredender Klartext als auch Spenglers an Goethes gegenständlicher Denkweise geschulte physiognomische Optik inszenieren den unmittelbaren Durchblick auf ein tieferes, eigengesetzliches Level, welches die oberflächlichen Ereignis- und Meinungsebenen strukturiert. Dem tiefen Blick auf Form und Gestalt entspricht ein halbes Jahrhundert später der kalte Blick auf Gestell und Schaltkreis.26

Um auf den martialischen Nexus von Krieg und Geschichte zurückzukommen – auf den kürzesten Nenner gebracht lautet Kosellecks Grundthese: Geschichte ist, wenn es anders kommt. Mit dem entscheidenden Zusatz allerdings, dass der Grad der Andersartigkeit nicht davon abhängt, wie lange vorher alles beim Alten geblieben ist. Der geschichtserzeugende Überraschungseffekt entsteht vielmehr durch das unerwartete Abweichen von bewussten Plänen, Projekten und Unternehmungen. Daher die nötige Ergänzung: Geschichte ist, wenn es anders kommt als geplant. Das klingt reichlich trivial, aber man muss sich vor Augen halten, was alles geschehen musste, um die Erklärung dessen, was auf kollektiver Ebene geschieht, aus der Domäne der Götter und anderer schicksalhafter Obrigkeitsinstanzen in den menschlich-politischen Zuständigkeitsbereich zu überführen. Die Emergenz der Historie – Günther Anders spricht vom Entspringen der Geschichte aus einem »geschichtsneutralen Zeitbrei«27 – ist an die Emergenz der Politik geknüpft, und es ist vor allem der Krieg, der diesen Knoten schürzt. Es plant ja niemand, einen Krieg zu verlieren. In den Leitbegriffen Kosellecks: Erwartung und Erfahrung treten in Kriegszeiten auf derart drastische Weise auseinander, dass es unumgänglich wird, ihre Differenz methodisch zu reflektieren. »Im Besiegtsein liegt offenbar ein unausschöpfbares Potential des Erkenntnisgewinns.«28

Hier melden sich Althistoriker zu Wort.29 Wenn Geschichte das ist, was anders kommt als geplant, so gilt, dass es nirgendwann und nirgendwo auf dermaßen euphorische wie katastrophale Weise anders als erwartet zugegangen ist als zwischen dem sechsten und vierten vorchristlichen Jahrhundert in Athen. Die Zeit, die Athen erlebt, gleicht der, die Thomas Manns Teufel seinem Klienten Adrian Leverkühn verspricht: »Große Zeit, tolle Zeit, ganz verteufelte Zeit, in der es hoch und überhoch hergeht – und auch wieder ein bißchen miserabel natürlich, sogar tief miserabel«, eine Mischung aus »Erleuchtungen, Erfahrungen von Enthobenheit und Entfesselung« einerseits und »Leere und Öde und unvermögende[r] Traurigkeit« andererseits.30 Es gibt Marathon und Salamis, das Silber von Laurion und das Parthenon; und dann gibt es die Belagerung mitsamt Pest, das Desaster von Syrakus und die Ankunft Lysanders. Die vom Sieg über die Perser befeuerte machtpolitische Hybris Athens, das in den schönen Worten Christian Meiers quasi über Nacht vom »Kanton zur Weltmacht« aufsteigt, stößt in der Auseinandersetzung mit Sparta auf die Nemesis des unkontrollierbaren Krieges, der so gänzlich anders verläuft als von Perikles geplant. Um Kosellecks Leitdifferenz von Erwartung und Erfahrung durch das dramatischere Begriffspaar Heinz Dieter Kittsteiners zu ersetzen: Hart im politischen Raum, und am härtesten im kriegerischen, stößt Machbarkeit auf Unverfügbarkeit. Und deswegen gibt es in Athen auch Herodot und Thukydides, die kriegsverstörten Patriarchen der Historiografie. Letzterer ist der modellprägende Typus des Verlierer-Historikers. Wie Spengler beginnt Thukydides seinen Krieg und seine Kriegsgeschichte mit großer Zuversicht, und analog zu Spengler sieht er sich gezwungen, hundert veraltete und kurzatmige Erklärungen, die Herodotus noch etwas wahllos aneinandergereiht hatte, über Bord zu werfen, um das Unerwartete auf eine neue, historiografisch komplexere Weise zu erfassen. Anders als Spengler ist Thukydides direkt beteiligt, nämlich als General auf der Verliererseite, der noch dazu von seiner eigenen Stadt ins Exil geschickt wird, weil er es versäumt, das mit Athen verbündete, belagerte Amphipolis rechtzeitig zu entsetzen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben mit der Auflage, Historiker zu werden.31

Und Kittler wäre nicht er selbst, hätte er das alles nicht auf die ihm eigene spitzbübische Weise nebenbei ausgeplaudert. In einem Gespräch über die rumänische Revolution,32 die seinerzeit unter Federführung Vilém Flussers als primär medial gesteuertes Ereignis rezipiert wurde, stellt Kittler die These auf, Nicolae Ceauşescu und seine Securitate seien derart auf Schreibmaschinen fixiert gewesen, dass ihnen das subversive Potential neuer Medien entgangen sei. »Die Securitate war altmodisch, sie hat von jeder Schreibmaschine einen Abdruck gemacht und gleichzeitig die Videokamera als revolutionäres Medium übersehen.« Weswegen, so Kittler, Rumänen in Ostberlin »geradezu tonnenweise«33 Videokameras kauften, sie nach Hause schmuggelten und mit großem Erfolg gegen das Regime einsetzen. Ob das den historischen Tatsachen entspricht, ist zweifelhaft. Hier geht es jedoch um die Grundthese, dass Machthaber sich im technologischen Bereich verhalten wie naive Kriegsgewinner. Ihr Blick ist rückwärtsgewandt, während die Revolutionen, von denen sie entthront werden, die neuesten Medien aufgreifen.

In diesem Zusammenhang springt Kittler von Ceauşescu und Timişoara zu Hitler und Stalingrad. So wie die polizeidienstliche Erfassung rumänischer Schreibmaschinen Ceauşescu zum Glauben verführte, er habe sein Land im Griff, so erzeugte die ständige telekommunikative Erreichbarkeit seiner Armeen bei Hitler den Eindruck, er habe den gesamten Kriegsraum unter Kontrolle:

Solange die Funkverbindungen noch stehen, ist der russische Schlamm auf einer bestimmten Ebene weg. Das erzeugt eine virtuelle Machbarkeit – zum grossen Schaden der Panzergruppen selbst. Feldmarschall Paulus war ja bis zum Zeitpunkt seiner Kapitulation noch telefonisch erreichbar.34

Und nun der Clou: Kittler behauptet nämlich – und ich bin noch auf keinen Text oder Sachverständigen gestoßen, der das bestätigen konnte –, dass niemand anderes als der junge Reinhart Koselleck für die technische Verbindung von Hitler zu Paulus zuständig war. Haut- bzw. hörernah erlebt Koselleck das Verenden der telekommunikativ beflügelten Hybris Hitlers in der unverfügbaren Steppe zwischen Don und Wolga. Se non è vero, è ben trovato: Als Parasit des militärischen Fernmeldewesen belauscht der zukünftige Historiker das kriegsbedingte Auseinanderklaffen von Erwartung und Erfahrung. Der Interviewer ist beeindruckt: »Das ist ja wirklich abgefahren […] Koselleck und General Paulus am Telefon … Das ist nun tatsächlich die perfekte geschichtsphilosophische Konstellation.« Darauf Kittler trocken: »Ja, so wird man Historiker.«35 Quod erat delirandum.

Hand und Mord: Zur heroischen Evolution

So wird man als Verlierer Geschichtswissenschaftler (Koselleck), Geschichtsmorphologe (Spengler) oder Geschichtsmythologe (Jünger) – und unter Umständen eben auch militärgeschichtskundiger Medienwissenschaftler. Was die Frage aufwirft, wie Kittler den Zweiten Weltkrieg umschreibt. Doch um ihn nicht in die Nähe von Leuten zu rücken, zu denen er nicht gehört: Umschreibung ist nicht gleich Revisionismus. Es geht wie bei Spengler um eine Ebenenverlagerung, im Verlaufe derer die Beschreibung einer vermeintlich tieferen Ebene mit der Umschreibung der von ihr abhängigen höheren zusammenfällt.

Ich habe an anderer Stelle näher ausgeführt, wie man die prekäre Rolle des Krieges im Oeuvre Kittlers vermittels eines Tripel-M Schemas analysieren kann: Der Krieg ist bei ihm Motor, Modell und Motivation.36 Motor, weil in den martialischsten Texten der Krieg die Medienentwicklung vorantreibt, und Modell, weil der Krieg auch als Muster und Analogie der Medienentwicklung fungiert. Der Krieg ist sowohl explanans als auch illustrans. Einerseits bestimmen Medien unsere Lage und der Krieg wiederum die Lage der Medien, andererseits bekriegen und überbieten Medien sich in quasi-martialischen Eskalationen, die – ›selbstredend‹ – in Kriegszeiten besonders deutlich hervortreten.

Wie nicht anders zu erwarten, hat Kittlers These vom martialischen Apriori der Medien ganze Heeresgruppen von sachlichen und empirischen Einwänden gegen sich aufgebracht. Die These ist – wie so manche andere aus seiner Feder – von brachialer Plakativität: Sie ist so wahr, dass sie auch dann wahr bleibt, wenn man sie auf den Kopf stellt, wobei es nach einer Weile schwer fällt, Köpfe und Füße voneinander zu unterscheiden. Das martialische Apriori der Medien vermischt sich mit dem medialen Apriori des Krieges. Lange bevor es zum Gemeinplatz der neuen media militarism studies wurde, hat Kittler darauf hingewiesen, dass Medienfortschritte im Kern Feinderkennungsfortschritte sind. Weder beginnt das erst mit Drohnen und kamerabestückten Lenkwaffen, noch geht es nur um Menschengegner. Van Leeuwenhoeks Mikroskop, um nur eines von unzähligen Beispielen zu erwähnen, erschließt unseren Sinnesorganen unzugängliche Kleinstwelten, und was entdecken wir dort? Allerlei gefährliches Gewimmel, das es zu bekämpfen oder als Waffe gegen andere Mikroskopbesitzer einzusetzen gilt. Medienerweiterung ist Kriegserweiterung. Marshall McLuhan und Carl Schmitt marschieren im Gleichschritt durch die Geschichte: Der Feind ist unsere mediale Expansion als Gestalt.

Stellt man in diesem Zusammenhang Kittler neben Spengler, so ergibt sich zunächst ein gegenläufiges Bild. Während in Kittlers zunehmend abendländisch proportionierten Altersprojekten der Krieg gegenüber der Liebe und den Göttern in den Hintergrund tritt, rückt in den zunehmend anthropologisch ausgerichteten Zettelkästen des älteren Spengler der Krieg immer mehr in den Vordergrund.37 Der Bismarck-Verehrer Spengler arbeitet an einer Realpolitik oder Realgeschichte der Seele: Was sich in Der Mensch und die Technik und den einschlägigen Notizen der Urfragen andeutet, mutet an wie eine martialische Fassung der Philosophischen Anthropologie. Spengler klingt zuweilen wie Helmuth Plessner oder Arnold Gehlen im Kampfanzug: Der Mensch ist der »freieste, schwächste, unabhängigste, sieghafteste Typus des Lebens«38, das »schwache Raubtier«, er »braucht widernatürliche Mittel – den Intellekt, [die Technik] – um die leibliche Stärke zu ersetzen, und diese Mittel vernichten ihn zuletzt. Kultur, das Künstliche, ist die Waffe des Schwachen gegen die Natur.«39 Das entscheidende Wort ist »Waffe«: Der Ausritt des ex-zentrischen Menschen aus der Natur wird als feindliche Wendung wider die Natur begriffen. Mensch sein heißt, der Welt »als Feind gegenüberstehen.« »Das Leben wird Krieg«,40 wenn nicht gar »ein endloses Morden.« Der Kern dieses Prozesses ist die Koevolution der Hand mit dem, was sie tötungsbereit umgreift: »Hand und Werkzeug entstehen gleichzeitig, bilden sich gegenseitig als eine einzige Waffe.«41

Spenglers Ausführungen über das gleichzeitige Entstehen von Hand, Gang und Haltung des Menschen lesen sich bisweilen wie eine martialische Version von André Leroi-Gourhans Hand und Wort. Analog zum heroischen Realismus (und zur heroischen Moderne Kittsteiners) entsteht hier eine heroische Evolution, welche die Rückführung der Technik in die Herkunft des Menschen unter der Voraussetzung gestattet, dass diese Technik wesentlich martialischer Natur ist. Wenn unsere Werkzeuge an der Menschwerdung mitarbeiten, dann vor allem in Form von Waffen. Man veredelt die Nicht-Festgestelltheit des Menschen, indem man ihn zum geschichtsfähigen Raubtier höherer Potenz erhebt.

Hier bestehen grundlegende Unterschiede zwischen Spengler und Kittler, der sich anthropologischen und evolutionären Fragestellungen dieser Art verweigert hat. Doch wie im Falle Heideggers drängt sich der Verdacht auf, dass die Abwehr auch deshalb so lautstark ausfiel, weil sie dazu diente, Ähnlichkeiten zu verdecken.42 Im Kern läuft die Grundthese von Musik und Mathematik darauf hinaus, dass Medien als Tatsachen und Begriff Sinn machen, weil diese Medien zuallererst Sinne machen. In beiden Fällen geht es um feedback-basierte Kulturtechniken der Hominisierung, oder, im Meßkircher Argot gesprochen, es besteht in beiden Fällen eine daseinsrelevante Verbindung von Medienperformanz und Seinsentbergungen. Ob es sich dabei um das Bekriegen von Neandertalern mit Faustkeilen oder das Besingen von Nymphen mit Kytharen handelt, ist zweitrangig. Gerüstetes Herausfordern oder gelassenes Hervorbringen beruhen gleichermaßen auf Medienvollzug.

Hier müssen wir nachhaken. In Der Mensch und die Technik betont Spengler, dass die Hand als »eine Waffe ohnegleichen in der Welt des freibeweglichen Lebens«

plötzlich entstanden sein [muss] im Vergleich zum dem Tempo kosmischer Strömungen, jäh wie ein Blitz, ein Erdbeben, wie alles Entscheidende im Weltgeschehen, epochemachend im höchsten Sinne. Wir müssen uns auch darin von den Anschauungen des vorigen Jahrhunderts lösen, wie sie seit Lyells geologischen Forschungen im Begriffe »Evolution« liegen. Eine langsame, phlegmatisch Veränderung entspricht dem englischen Naturell, nicht der Natur.43

Die Natur ist also ein recht deutscher Gegenstand. Artenvielfalt entsteht nicht, wie in Darwins »Aufstieg des Menschen vom Affen zum Engländer«44, aufgrund einer langsam und gleichförmig verlaufenden, uniformitaristischen Mikroevolution, sondern durch ›plötzliche‹ makroevolutionäre Sprünge. Die Erwähnung Charles Lyells dient dem Hinweis, dass es auch unterhalb von Menschenfüßen und Tierpfoten keineswegs friedlich und gemächlich zugeht. So wie Darwins Evolution der anglophlegmatischen Geologie Lyells aufsitzt, so beruht Spenglers Sicht auf einer dezidiert anti-uniformitaristischen Sicht der Erdentwicklung. Erdkatastrophen und Faunenschnitte gehen Hand in Hand: Erstere erkennt man anhand letzterer, eben weil letztere sich ersteren verdanken: »Aber wir könnten keine geologischen Schichten unterscheiden, wenn sie nicht durch Katastrophen unbekannter Art und Herkunft getrennt wären, und keine Arten fossiler Tiere, wenn sie nicht plötzlich auftauchten und sich unverändert bis zu ihrem Aussterben hielten.«45 Wir haben es bei Spengler letztlich mit einer in der deutschen paläontologischen Tradition häufig anzutreffenden Mischung aus Saltationismus, Orthogenetik und Typenlehre zu tun. Die Evolution verläuft sprunghaft und mit scharfen Brüchen; Entstehung und Entwicklung der diversen Taxa verdanken sich Eigengesetzlichkeiten oder »Entelechien«; und die Typen oder Taxa bleiben von Anfang bis Ende relativ stabil.

Meine vorläufige und sehr ausbaubedürftige These – die oben in der 9. und 10. Parallele angedeutet wurde – ist, dass Kittler diese im paläontologischen Zusammenhang sehr klar formulierte Denkform auf dem Umweg über Foucault mediengeschichtlich reproduziert. So wie Spengler sich im Untergang des Abendlandes beim Mutationsexperten Hugo de Vries und in späteren Jahren bei seinem Münchner Mitbewohner und paläontologisch versierten Verehrer Edgar Dacqué evolutionstheoretisch absichert, so greift Kittler auf Foucault zurück.46 Der Foucault von Les mots et les choses – dessen historischer Größe man gerecht wird, wenn man ihn als Revenant des großen Katastrophisten Cuvier erkennt – bietet eine Form der Chronotomie, in der als Alternative zur horizontalen Teilung Braudels die Geschichte vertikal zerschnitten wird.47 Damit wird nicht nur den üblichen Megasubjekten – Mensch, Subjekt, Säkularisation, Weltgeist, Proletariat, Differenzierung, Liberalismus – der nötige Zeitraum zur Entfaltung entzogen, im Verlaufe der für Kittler so attraktiven dramatischen Wechsel von Diskursdämmerungen und -morgenröten tauchen ›plötzlich‹ epistemische Raster auf, die, einmal in Gang gesetzt, nach den Eigengesetzlichkeiten eines historischen Apriori ablaufen und bis zu ihrem Aussterben relativ stabil bleiben. Dieser typologische angehauchte Diskurskatastrophismus Foucaults wird (›selbstredend‹ unter dem Einfluss der seinsgeschichtlichen Zäsuren Heideggers) von der Medienwissenschaft Kittlerscher Prägung technisch geerdet. Kein Wunder, dass auch Kittler mit Darwin wenig anfangen konnte: nichts lag ihm weniger als die scheinbar abgeschmackte Mischung von Kontinuitäts- und Einflussdenken. Damit setzt Kittler eine Linie fort, die man von Spengler und Jünger her kennt: politische Umbrüche, einschließlich der Kriegskatastrophe, werden in eine subpolitische, evolutionäre Basisabfolge verlegt, die zuerst biologisch, dann (wie bei Jünger) mit einer Mischung aus Technik und Biologie und schließlich technologisch beschrieben wird.

Das unheimliche Usedom

Damit sind wir beim heikelsten Kriegs-M Kittlers, der Motivation. Woher stammt seine Umschreibung? Welches Valmy gab den Ausschlag? Es beginnt mit einer Selbststilisierung Weimarer Provenienz. So wie Goethe zu Anfang von Dichtung und Wahrheit die Eminenz seines Zurweltkommens am 28. August 1749 an allerlei planetarischen Konstellationen abliest, so betont Kittler gleich im ersten Satz seiner autobiografischen Vignette Biogeographie die kriegsgeschichtliche Signifikanz seines Geburtsdatums, des 12. Juni 1943: »Ich […] geboren am Tag, als Lampedusa kapitulierte, in die Festung Europa also eine erste Bresche geschlagen war.«48 Ganz stimmt das nicht, denn die größere Mittelmeerinsel Pantelleria war im Zuge der Operation Corkscrew bereits tags zuvor besetzt worden. Doch geht es hier weniger um korrekte Daten als um passende Präpositionen: Kittler ist nicht während des Krieges geboren, sondern in ihn hinein – und die Frage drängt sich auf, ob er je ganz aus ihm herausgekommen ist, zumal er schon als Kind immer wieder in ihn zurückgestoßen wurde.

1953, 1954, 1956 und 1958 verbringt der junge Kittler die Sommerferien im Badeort Zempin auf Usedom. (Am Ende des letzten Urlaubes, an dem zum Erstaunen der Kinder der Vater teilgenommen hatte, setzt sich die Familie in den Westen ab.49) Biogeographie beschwört das Unheimliche von Usedom, das immer schon das Unheimliche des Krieges ist. Bereits während der Anfahrt erscheint im Abteilfenster die kleine DDR in bellizistischer Mehrfachbelichtung als Endkampfgebiet des vergangenen Zweiten und Erstkampfzone des anstehenden Dritten Weltkriegs. Usedom selbst entpuppt sich als Lokaltermin des militärtechnischen Weltgeistes, wo vergangene und zukünftige Kriege wörtlich auf der Straße liegen:

Denn dort, auf Usedom, begann die strategische Gegenwart. Unter einer Tarnkappe aus Vorpommern, Schilfdächern und Syberbergs Heimweh war jeder Waldweg zur Weltkriegsrollbahn ausgebaut. Betonplatten (wie auf den ältesten Bundesautobahnen) mit Asphalt verfugt und von den Bomben der Royal Air Force, eine ganze Sommernacht lang, auch noch kubistisch aufgeworfen. Dieser heiße, für Urlaubsdörfer seltsam aufwendige Beton trug jeden Morgen die Reichsbahner vom FDGB-Heim Zempin ihrem Ostseestrandkorb zu. Daß derselbe Beton auch Meilerwagen mit montierter V2 zum Prüfstand VII getragen und dasselbe Dorf Wernher von Brauns Privathaus gestellt hatte, blieb antifaschistisch stumme Vorgeschichte.50

Wäre der Begriff nicht so verschlissen, könnte man hier fast von einem Trauma sprechen, liefe man dabei nicht Gefahr, das Unheimliche mit dem Verheimlichten zu vermischen.51 Ganz so kryptisch versiegelt ist Usedom freilich nicht; einige Jahre später produzierte Kittler in einem not coincidentally englischen Interview Klartext:

[F]rom my early childhood, my mother often took me to the shore in East Germany where Hitler’s V2 rockets were developed during the Second World War. However, what fascinated me most about these sites and rockets was the fact that no one said a word about them. And yet the traces of this particular aspect of the German military-industrial complex […] were everywhere. And so I had to find my own explanation for this hidden part of history. But it was difficult to do so because it was almost forbidden to talk about the military-industrial complex in East Germany or even speak about the German side of the war effort more generally, and especially anything that touched upon the technological side.52

Die Umschreibung des Krieges beginnt mit einer Reaktion auf die staatlich verordnete Verheimlichung deutscher Kriegsleistungen auf technischem Gebiet. Das ist zum Teil »Techno-Patriotismus«53 und zum Teil Provokation, um – eine der anstößigsten Formulierungen Kittlers – von der »Auschwitztheoretischen«54 Kriegsanalyse abzurücken. Im Kern geht es jedoch wie bei Spengler um die Erschließung einer Kriegsebene, die allen nationalen, politischen und ideologischen événements unterliegt. Am Ende steht die pynchoneske Umschreibung des Krieges. Dass Kittler dem lebenden Schriftsteller Thomas Pynchon die Reverenz erwies, die er ansonsten toten Ingenieuren vorbehielt, verdankte sich der Wirkung von Gravity’s Rainbow als Antidot gegen ›antifaschistische‹ und sonstige Schweigegebote. Denn was ist der Zweite Weltkrieg im Roman? Wenig Politik, dafür umso mehr Paranoia und vor allem viel Industrie und Technik:

[T]his war was never political at all, the politics was all theatre, all just to keep the people distracted … secretly, it was being dictated instead by the needs of technology […] The real crises were crises of allocation and priority, not among firms – it was only staged to look that way – but among the different Technologies, Plastics, Electronics, Aircraft, and their needs which are understood only by the ruling elite.55

Was die Eliten (als seien sie Verlierer) bestenfalls verstehen, aber nicht lenken, ist der Krieg als beschleunigte Technologieproduktions- und -transferphase. So wie bei Jünger der Erste Weltkrieg die Emergenz einer planetarischen evolutionären Gestalt anzeigt, so indiziert bei Kittler der Zweite Weltkrieg die Emergenz eines globalen infrastrukturellen Gestells, das aus der kriegsbedingten Fusion deutscher Raketen- und alliierter Atom- und Computertechnik besteht. Der Krieg zwängt zusammen, was zusammen gehört: nuclear payload, computer-based self-directed guiding technology and missile-based delivery system. Das Zwanzigste Jahrhundert ist mithin eine ménage à trois aus Los Alamos, Bletchley Park und Peenemünde/Mittelbau-Dora, die auch dann erfolgt wäre, wenn die andere Seite den Krieg gewonnen hätte – so wie ein deutscher Sieg im Ersten Weltkrieg den Abstieg der faustischen Kultur in die unvermeidliche cäsaristische Maschinenendphase nicht hätte aufhalten können. Wer diese technotektonische Ebene verkennt und stattdessen den Krieg an den (Selbst)Beschreibungen von vermeintlichen Oberflächenévénements festmacht – Land A überfällt Land B, um Ideologie X zu besiegen oder Rohstoff Z zu ergattern –, ähnelt den Urlaubern von Usedom, die auf ihrem Weg zum Strandkorb keinen tieferen Blick haben für kubistisch zerbombte Betonplatten. Vielleicht wird Geschichte nicht mehr auf den Straßen gemacht, aber sie lauert immer noch darunter. So schnell – um einen Lieblingsdichter Kittlers zu zitieren – wird man das alte Reptil nicht los.

1 Winthrop-Young, Geoffrey u. Wutz, Michael: Friedrich Kittler and Media Discourse Analysis, in: Kittler, Friedrich, Gramophone, Film, Typewriter, Stanford 1999, xi-xxxviii.

2 Zu diesem Erlösungsgestus vgl. Winthrop-Young, Geoffrey: American Kittler: Glossen zur Anschlussfähigkeit, in: Tumult, #50 (2012), 153–161.

3 Gumbrecht, Hans Ulrich: Mediengeschichte als Wahrheitsereignis. Zur Singularität von Friedrich A. Kittlers Werk, in: Kittler, Friedrich, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht, Frankfurt a. M. 2013, 396–422; und Mehring, Reinhold: Mathematikvergessenheit. Friedrich Kittlers Revision von Heideggers Seinsgeschichte, in: Neue Rundschau, #127/3 (2016), 102–121.

4 Kittler, Friedrich: Short Cuts, Frankfurt a. M. 2002, 39. Siehe auch Kittler, Friedrich: Heidegger und die Medien- und Technikgeschichte, Oder: Heidegger vor uns, in: Thomä, Dieter (Hrsg.), Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, 500–504.

5 Herf, Jeffrey: Reactionary Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984.

6 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1972, 553.

7 Spengler, Oswald: Frühzeit der Weltgeschichte. Fragmente aus dem Nachlass, hg. v. Anton Mirko Koktanek, München 1966, 133.

8 Spengler: Untergang, 763, Hervorhebung i. O.

9 Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, 7 f.

10 Ebd., 33.

11 Ebd., 177.

12 »Es war eine Zeit der Kultur: man las und dachte (Reclam, Insel, Kunstwart), heute kennt man nur Fußball und Saalschlachten. Amerikanismus. Damit war ich der letzte einer Reihe. Eine neue fängt nicht mehr an.« Spengler, Oswald: Ich beneide jeden, der lebt. Die Aufzeichnungen »Eis heauton« aus dem Nachlaß. Mit einem Nachwort von Gilbert Merlio, Düsseldorf 2007, 14, Hervorhebung i. O. Man beachte, wie selbst die »Zeit der Kultur« nicht an den betriebsüblichen Autorsignifikanten festgemacht wird, sondern an Verlagen: Insel und Reclam statt Goethe und Schiller.

13 Spengler: Frühzeit, 48.

14 Gumbrecht: Mediengeschichte als Wahrheitsereignis, 410.

15 Vgl. zu Spengler: Gasimov, Zaur u. Lemke Duque, Carl Antonius: Oswald Spengler als europäisches Phänomen. Die Kultur- und Geschichtsmorphologie als Auslöser und Denkrahmen eines transnationalen Europa-Diskurses, in: Oswald Spengler als europäisches Phänomen, hg. v. Zaur Gasimov und Carl Antonius Lemke Duque, Göttingen 2013, 7–14; und zu Kittler: Winthrop-Young, Geoffrey: The Kittler Effect, in: New German Critique, #132 (2017), 205–224.

16 Zu Hegel/Spengler vgl. Engels, David: »Ducunt fata volentem. Nolentem trahunt.« Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus, in: Ders. (Hrsg.), Von Platon bis Fukuyama. Biologistische und zyklische Konzepte in der Geschichtsphilosophie der Antike und des Abendlandes, Brüssel 2015, 243–279; zu Kittler/Spengler vgl. Steinfeld, Thomas: Diskursive Handgreiflichkeiten. Friedrich A. Kittlers Geschichtsphilosophie der Medientechnik, in: Merkur, #43:5 (1989), 429–434.

17 Spengler: Untergang, 3.

18 Siehe Schoeps, Hans-Joachim: Vorläufer Spenglers. Studien zum Geschichtspessimismus im 19. Jahrhundert, Leiden/Köln 1953.

19 Spengler, Oswald: Reden und Aufsätze, hg. v. Hildegard Kornhardt, München 1937, 68.

20 Spengler: Untergang, 612.

21 Spengler, Oswald: Briefe. 1913–1936, in Zusammenarbeit mit Manfred Schröter hg v. Anton Mirko Koktanek, München 1963, 97.

22 Koselleck, Reinhart: Erfahrungswandel und Methodenwechsel, in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003, 27–77.

23 Ebd., 41.

24 Ebd.

25 Siehe (mit Bezug auf Spenglers Paläontologie) Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981, 49.

26 Es ist kein Zufall, dass »Beschreibung« in der berühmtesten Kittler-Sentenz auftaucht: »Medien bestimmen unsere Lage, die (trotzdem oder deshalb) eine Beschreibung verdient.« (Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, 3.) Mit der Beschreibung der Lage wird umgeschrieben, was man bislang für »unsere Lage« hielt. Wobei es auch kein Zufall ist, dass der nachgeordnete Relativsatz sowohl von Kittler-Gegnern als auch von Kittler-Jüngern oft ausgelassen wird. Beide Parteien haben Schwierigkeiten mit dem »trotzdem«.

27 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, 273.

28 Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel, 77.

29 Z. B. Meier, Christian: Sieger, Besiegte oder wer schreibt die Geschichte?, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2009), 125–148.

30 Mann, Thomas: Doktor Faustus, Frankfurt a. M. 1990, 309.

31 Wo vom Zusammenhang von Krieg, Erfahrung und historischer Selbstvergewisserung die Rede ist, stößt man zwangsläufig auf Benjamins Diagnose der Erfahrungsverarmung in den technologisch entfesselten Massenschlachten des Ersten Weltkriegs. Man könnte die These aufstellen, dass die zwei großen Doppelkriege – Perserkrieg und Peloponnesischer Krieg einerseits, die zwei Weltkriege andererseits – die Buchenden geschichtlicher Erfahrbarkeit darstellen.

32 Kittler, Friedrich u. Rau, Milo: So wird man Historiker, Ein Gespräch zwischen Milo Rau und Friedrich Kittler über die rumänische Telerevolution, die unterschwellige Kraft der Bilder und Reinhart Koselleck in Russland, in: Rau, Milo et al. (Hrsg.), Die letzten Tage der Ceauşescus: Materialien, Dokumente, Theorie, Berlin 2010, 143–152.

33 Ebd., 144.

34 Ebd., 152.

35 Ebd.

36 Siehe Winthrop-Young, Geoffrey: De Bellis Germanicis: Kittler, the Third Reich, and the German Wars, in: Cultural Politics, #11:3 (2015), 361–375; und Ders.: Kittler and the Media, Cambridge 2012, 129–143.

37 Zum Zusammenhang von Krieg und Kittlers Göttern vgl. jetzt auch Berz, Peter: Kittlers Schriften. Kittlers Götter, in: Kittler, Friedrich et al. (Hrsg.), Götter und Schriften rund ums Mittelmeer, München 2017, 19–69.

38 Spengler, Oswald: Urfragen. Fragmente aus dem Nachlass, unter Mitwirkung v. Manfred Schröter hg. v. Anton Mirko Koktanek, München 1965, 217.

39 Ebd., 344 f.

40 Ebd., 225.

41 Ebd., 275.

42 Vgl. Großheim, Michael: Heidegger und die Philosophische Anthropologie (Max Scheler. Helmuth Plessner, Arnold Gehlen). Von der Abwehr der anthropologischen Subsumtion zur Kulturkritik des Anthropozentrismus, in: Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, a. a. O., 335–339.

43 Spengler, Oswald: Der Mensch und die Technik, Paderborn o. J., 32, Hervorhebung i. O.

44 Spengler: Urfragen, 343.

45 Ebd.

46 Vgl. die einschlägigen Passagen in Spengler: Untergang, 591–593. und Ders.: Urfragen 217–225 u. 236–239. Es ist kein Wunder, dass Dacqué bei Thomas Mann unter dem Namen Egon Unruhe in den katastrophenseeligen Diskussionsrunden des Münchner Sixtus Kridwiß-Kreises auftaucht. Vgl. hierzu Dierks, Manfred: Die Figur des Dr. Unruhe im Kridwiß-Kreis und die »neue Wissenschaft« nach dem Kriege, in: Detering, Heinrich et al. (Hrsg.), Thomas Manns »Doktor Faustus« – neue Ansichten, neue Einsichten, Frankfurt a. M. 2013, 133–151. Überhaupt bedarf der gesamte paläontologische Zusammenhang bei Spengler bis hin zu Otto Schindewolf, dessen Typostrophentheorie fast wie eine Übertragung kulturmorphologischer Prinzipien auf die biologische Artenentwicklung erscheint, einer genaueren Untersuchung.

47 Braudels Dreizeitenschema – das lässt sich unter anderem seiner berühmten Antrittsvorlesung am Collège de France entnehmen – stellt auch den Versuch dar, die Katastrophe der französischen Niederlage von 1940 zu verarbeiten. Siehe Braudel, Fernand: Leçon inaugurale faite le vendredi 1er décembre 1950, Collège de France, Chaire d’histoire de la civilisation moderne, Paris 1951; vgl. ferner Harris, Olivia: Braudel: Historical Time and the Horror of Discontinuity, in: History Workshop Journal, #57 (2004), 161–174. Sehr erhellend in diesem Zusammenhang Raulff, Ulrich: Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt a. M. 1995, 15–30.

48 Kittler, Friedrich: Biogeographie, in: Hörisch, Jochen (Hrsg.), Mediengenerationen, Frankfurt a. M. 1997, 90–97.

49 Mit Dank an Susanne Holl für die Informationen.

50 Kittler: Biogeographie, 91.

51 Zum kaum je erörterten Komplex Holocaust-Kittler-Trauma siehe Pinchevski, Amit: The Audiovisual Unconscious: Media and Trauma in the Archive for Holocaust Testimonies, in: Critical Inquiry, #39 (2012), 142–166.

52 Armitage, John: From Discourse Networks to Cultural Mathematics. An Interview with Friedrich A. Kittler, in: Theory, Culture & Society, #23: 7/8 (2006), 25 f.

53 Gumbrecht: Mediengeschichte als Wahrheitsereignis, 406.

54 Kittler, Friedrich u. Banz, Stefan: Platz der Luftbrücke. Ein Gespräch, Berlin 1996, 9.

55 Pynchon, Thomas: Gravity’s Rainbow, New York 1987, 521.

Spenglers Nachleben

Подняться наверх