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Vulnerabilität in Terrorangst und Radikalisierungsprävention

Bei einem Terroranschlag spüren Menschen besonders schmerzlich, wie sehr sie selbst und ihre Gemeinschaften (Familie, Gesellschaft, Religion, …) verwundbar sind. Die Vulneranz anderer Menschen und anderer Gruppen schlägt zu. Welche destruktiven, aber auch kreativen Auswirkungen hat ein solcher Machtzugriff auf eine Gesellschaft? Und was können Schulen tun, um eine Radikalisierung junger Menschen zu verhindern? Darüber denken die Psychologin Katharina Obens und die Fundamentaltheologin Hildegund Keul gemeinsam nach.

Katharina Obens

Vulnerabel für Radikalisierung? Sonderpädagogische Zugänge zur Radikalisierungsprävention

Wie wirken sich Terrorangst, die Furcht vor religiöser oder politischer Radikalisierung und „Homegrown Terrorists“ auf Intergruppenkonflikte aus? Wie kann sich aus Vulnerabilität Vulneranz (die Bereitschaft, andere zu verletzen) entwickeln? Und welche Vulnerabilitätsfaktoren auf psychosozialer Ebene sind für Radikalisierungsprozesse bedeutsam? Diesen Fragen geht das Forschungsprojekt „Radikalisierungsprävention in der sonderpädagogischen Lehrerbildung“ an der Humboldt-Universität zu Berlin nach. Im Rahmen des Projekts werden Studierende zum Thema Radikalisierung im Jugendalter ausgebildet. Zur Vorstellung des Projekts werden im Folgenden erstens Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Ängsten und Intergruppenkonflikten erläutert, die auf der Makroebene die Bedingungen für Radikalisierung darstellen. Zweitens werden individuelle Vulnerabilitätsfaktoren und psychosoziale Bedingungen von Radikalisierungsprozessen am Fall des heute 29-jährigen Max diskutiert, der sich in der Haft einer islamistischen Gruppe anschloss. Drittens wird die Frage diskutiert, was Lehrende in der Beratung von Eltern und im Unterricht tun können, um gegen eine Radikalisierung Heranwachsender vorzugehen.

1. Radikale Gruppen und die Vulnerabilität der Demokratie

Die Radikalisierung junger Menschen, die mit der Aneignung radikaler Ansichten wie der Ablehnung von Pluralismus, demokratischen Prinzipien und humanistischen Werten und Normen einhergeht, erfährt gegenwärtig viel Aufmerksamkeit. Diese Entwicklung kann vor dem Hintergrund gestiegener Anhängerzahlen islamistischer sowie rechtsextremistischer Gruppierungen nicht überraschen: Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes zählen die islamistisch-dschihadistische Szene auf der einen sowie neue Bewegungen der extremen Rechten auf der anderen Seite zu den am stärksten wachsenden radikalen Gruppierungen in Deutschland (Verfassungsschutzbericht 2017, 23). Radikale Gruppen versuchen, an gesellschaftliche Ängste anzuknüpfen, negative Emotionen zu mobilisieren und ethnische, religiöse oder nationale Zugehörigkeiten festzuschreiben sowie Hass gegen Andere zu schüren. Sie setzen dabei bewusst auf die Mobilmachung vulnerabler junger Menschen und suchen gezielt – auch über das Internet – nach deprivierten Jugendlichen, denen sie einen vermeintlichen Ausweg aus ihren Problemlagen anbieten.

Radikalisierungsprozesse entstehen so im Zusammenwirken von spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen (wie dem aktuellen Erstarken des Rechtspopulismus oder dem damaligen Ausruf des „Islamischen Staats“ im Juni 2014), Erfahrungen in der eigenen Biografie (u.a. Gelegenheitsstrukturen und Erfahrungen mit Peers), spezifischen Gruppenfaktoren und individuellen Auslösern (wie beispielsweise der eigenen unaufgearbeiteten familiären Vergangenheit: Köttig 2004). Vor diesem Hintergrund wird Vulnerabilität definiert als eine potentiell erhöhte Anfälligkeit, sich in Adoleszenzkrisen oder belasteten Familiensituationen sowie einem spezifischen makro-sozialen Kontext, radikalen Gruppen zuzuwenden. Vulnerabilitätssensible Pädagogik thematisiert demzufolge potentielle Verletzbarkeiten (Gefährdungen, die von radikalisierten Schülern und Schülerinnen ausgehen), will institutionelle Schwachstellen und Versäumnisse in der Radikalisierungsprävention reflektieren und entwickelt pädagogische Maßnahmen für betroffene Jugendliche/junge Erwachsene, die die Ausbildung einer manifesten radikalen Weltsicht verhindern sollen.

2. Unsicherheit, Terrorangst und ihre Auswirkungen auf Intergruppenkonflikte und gesellschaftliche Radikalisierung

Welche Gruppen können als besonders vulnerabel für gesellschaftliche Ängste und damit häufig verbundene Einstellungsveränderungen – wie der Zunahme von sozialer Intoleranz – identifiziert werden? Die Jugendstudie „Generation what?“ zeigt auf, dass Kinder und Jugendliche nach Terroranschlägen umso schneller ihre Meinung zur Befürwortung kultureller Vielfalt ändern, je jünger und weniger gebildet sie sind (Schwartz et al. 2016, 19, 33). Die R+V-Langzeitstudie „Die Ängste der Deutschen“ stellt dar, dass Erwachsene in Deutschland vermehrt Terrorangst und Angstgefühle in Zusammenhang mit der instabilen Weltlage empfinden: Im Herbst 2016 fürchteten sich 73 % der Deutschen vor einem Terroranschlag, ein Jahr später 71 %. Erst im Jahr 2018 sank der Terrorangst-Wert wieder auf 58 %, dicht gefolgt von der Angst vor politischem Extremismus mit 57 % („Die Ängste der Deutschen im Langzeitvergleich“). Wie die aktuelle World Vision Kinderstudie demonstriert, macht die Terrorangst aber auch nicht vor den Kleinsten halt: 58 % der befragten Sechs- bis Elfjährigen gaben die Angst vor Terror als ihre stärkste Angst an (4. World Vision Kinderstudie 2017, 11). Etwas weniger sind es in der Jugendstudie: Dort steht die Angst vor Terror mit 31 % auf dem zweiten Platz. Den ersten Platz nahm mit 35 % die Angst vor gesellschaftlichen Unruhen ein. Terrorangst und Ängste vor sozialen Unruhen können – so schlussfolgerten die Autoren – zum Motor der Angst vor Zuwanderung werden (Schwartz et al. 2016, 19, 33).

Internationale Forschungen zu langanhaltenden Intergruppenkonflikten machen auf die ernstzunehmenden Folgen dieser Ängste aufmerksam: Empfinden Kinder schon früh eine Bedrohung durch Terrorismus oder gewalttätige Intergruppenkonflikte, hat dies eine erhebliche Auswirkung auf die Ausbildung von Stereotypen, die ohne Intervention langfristig bestehen bleiben können (Bar-Tal et al. 2017, 421f). So werden israelische Schüler und Schülerinnen (die häufigerem Raketenbeschuss und terroristischen Anschlägen ausgesetzt sind und in deren Folge Traumafolgestörungen aufweisen) im Rahmen eines Resilienztrainings neben Übungen zur Reduktion traumatischer Symptome auch in Übungen zur Reduzierung sozialer Intoleranz unterwiesen (Berger et al. 2016). Denn nach sozialpsychologischen Studien kann Terrorangst zu einer Zunahme von ethnozentrischen, xenophoben und antidemokratischen Einstellungen führen: Verschiedene Studien wiesen unter Terrorbedrohung vermehrt Vorurteile von Nicht-Muslimen gegen Muslime nach (Fritsche et al. 2006) sowie eine erhöhte Zustimmung gegenüber rechtsgerichtetem Autoritarismus (Jugert & Hiemisch 2005, 157). Terrorangst wird so zum Movens für die Entwicklung sozialer Intoleranz.

3. Vulnerabilitätsfaktoren für Radikalisierung im Jugendalter

Aber wer sind diese Menschen, vor denen sich die Gesellschaft fürchtet? Internationale Studien gehen von einem länderübergreifenden Einstiegsalter in radikalen Gruppen bei männlichen Jugendlichen von 14 bis 35 Jahren aus (Bouhana & Wikström 2011, 24; nach Friedmann & Plha 2017, 222). Die Jugend als „Zeitalter der Radikalität“ wirkt hier wie ein Katalysator für bereits in der Gesellschaft vorhandene Konflikte. Für die Sonderpädagogik erweisen sich aktuelle Ergebnisse der psychologischen und sozialwissenschaftlichen Radikalisierungsforschung als relevant, die vermehrt Radikalisierungsfaktoren diskutieren, die eine heterogene Gruppe betreffen: Jugendliche und junge Erwachsene in Krisen (Venhaus 2010), mit psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen (Friedmann, Phla 2017) und Diskriminierungserfahrungen (Kruglanski et al. 2014, 381). Hinzu kommen Jugendliche, die aus hoch belasteten Familien stammen oder delinquente Jugendliche, die sich unter den Bedingungen der Haft radikalisieren. Diese jungen Menschen stammen häufig aus autoritären oder vernachlässigenden Familien und haben früh traumatische Erfahrungen erlitten (Friedmann & Plha 2017, 229).

Rüssmann et al. wiesen zudem nach, dass eine Vulnerabilität für radikale Einstellungen mit einem ängstlich-vermeidenden Bindungsstil1 einhergeht (Rüssmann et al. 2010, 295f). Persönliche Krisen (beispielsweise ausgelöst durch den Tod von Angehörigen) können dann als Momente der kognitiven Öffnung wirken, in der Angebote radikaler Gruppen als neue Identitätsangebote genutzt werden (Kruglanski et al., 2014, 385). Hinzu kommen Identitätsprobleme, wie die Empfindung einer „doppelte[n] Nichtzugehörigkeit“ (El-Mafaalani & Toprak 2011, 18). In der neo-salafistischen oder rechtsradikalen Gemeinschaft erfahren jene Jugendlichen dann Aufwertung und Anerkennung und fühlen sich als Teil einer Avantgarde (Kiefer 2015, 42). Nach dem französischer Politikwissenschaftler Olivier Roy haben in vielen Radikalisierungsprozessen ideologische Aspekte eher sekundären Charakter. Er spricht – im Hinblick auf „Homegrown Terrorists“ – vielmehr von einer „Islamisierung der Radikalität“. Individuelles Verhalten und psychologische Aspekte (bspw. Gewaltfantasien) spielen demzufolge eventuell eine stärkere Rolle als Religion bzw. Ideologie in Radikalisierungsprozessen (Roy 2017, 20). Zur Darstellung der Bedingungsfaktoren für Radikalisierungen fehlt aber noch weitere empirische Forschung, u.a. Analysen der Radikalisierungsverläufe von Kadern.

4. Radikalisierungsprävention in der sonderpädagogischen Lehrerbildung

Was können wir in der Lehrerbildung tun, um pädagogisch gegen die Identitätsangebote radikaler Akteure vorzugehen? Vor dem geschilderten Hintergrund widmet sich das Berliner Forschungsprojekt der Entwicklung und Evaluation von Projekten der phänomenübergreifenden Primärprävention2 für Schüler und Schülerinnen in psychosozialen Problemlagen. Es sollen Konzepte und Praxiswissen aus der Pädagogik bei psychosozialen Beeinträchtigungen/ Pädagogik bei Verhaltensstörungen für diese heterogene Gruppe von Schülerinnen und Schülern nutzbar gemacht werden, die spezifische Vulnerabilitätsfaktoren analysieren und Bindungsverhalten oder psychische Störungen mitberücksichtigen. Dazu werden Seminare angeboten, die angehende Lehrende für diese Thematik sensibilisieren sollen. In diesen Seminaren nehmen die Studierenden eigene Praxisforschung vor und interviewen beispielsweise Experten aus Beratungsstellen oder ehemalige Salafisten/ Mitglieder der radikalen Rechten. Ziel ist die wissensbasierte Entwicklung schulischer Radikalisierungsprävention.

Das im Folgenden vorgestellte Fallbeispiel von Eileen Wachholz, Sebastian Knoll und Jantje Mundt entstand so auf Basis eines Interviews mit einem ehemaligen Häftling einer Berliner Justizvollzugsanstalt.

Delinquentes, dissoziales und aggressives Verhalten von Kindern und Jugendlichen sind Problemkonstellationen, die in das Arbeitsfeld der Pädagogik bei psychosozialen Beeinträchtigungen fallen. Die Erziehung im Jugendstrafvollzug gestaltet sich folglich als sonderpädagogische Herausforderung (Tulke 2018, 51). Mittels eines biografisch-narrativen Interviews (Rosenthal 2002) wurde versucht, Bedingungs- und Vulnerabilitätsfaktoren für eine islamistische Radikalisierung des heute 29-jährigen Max (Name geändert) in der Haft nachzugehen. Die an die strukturierende Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) angelehnte Interviewauswertung der Studierenden wurde im Folgenden von der Autorin zusammenfassend reformuliert und ergänzt.

5. „Ja, ich war so einer, keine Familie, jeder wusste, ich hab’ nichts, wenn ich rauskomme“ – Fallbeispiel zur Radikalisierung in Haft

5.1 Bindungserfahrungen in der Kindheit

Max, im Berliner Stadtteil Kreuzberg als Kind deutscher Eltern aufgewachsen, erlebte nach der Trennung seiner Eltern die stationäre Unterbringung seiner Mutter in der Psychiatrie. Im Rahmen der Sorgerechtsverhandlung musste er im Alter von fünf Jahren eigenständig entscheiden, bei welchem Elternteil er leben wollte, und erlebte die Folgezeit mit seiner psychisch kranken Mutter: „War alleine mit meiner Mutter, die am Rad gedreht ist. Natürlich hab´ ich alles mit in die Schule genommen. Ich saß hinten, habe Faxen gemacht. Ich bin in der ersten Klasse rausgeflogen, musste die Schule wechseln.“

Max' Schwester, bis zur Trennung seine engste Bezugsperson, verblieb beim Vater. Es folgte eine problematische Schulkarriere mit sechs Schulwechseln und dem Besuch eines lerntherapeutischen Internats sowie eines Projekts für schuldistanzierte Kinder und Jugendliche. Die Erinnerungen an seine Kindheit offenbaren Anzeichen einer unsicher-vermeidend-desorganisierten Bindung zur Mutter (Crittenden 1995; sowie im vorliegenden Band Thomas Müller: Familien zwischen Bindung, Verstrickung und Verrat). Bereits mit sieben Jahre wurde er nächtelang alleine gelassen („Ich hatte kaum Kontakt zu meiner Mutter, weil meine Mutter sich natürlich nur für ihren neuen Mann interessiert hat“) und seine Mutter wurde ihm gegenüber gewalttätig („Meine Mutter ist ausgeflippt und hat mich mit Brockhaus (sic!) den Kopf eingeschlagen“). In seiner Wahrnehmung gab es nach der Trennung seiner Eltern keine Liebe und Zuwendung mehr („Da gibts keine Liebe, also brauchte ich auch keine Liebe erwarten“). Er wurde bereits früh delinquent und erfuhr in der Reaktion darauf widersprüchliches Erziehungsverhalten:

„Ich war klein, vier bis fünf. Hab unten bei Reichelt geklaut, Schokolade, dann gabs Ärger, nen Arschvoll und danach leckere Spaghetti Bolognese mit einem Salat, und ich konnte nicht essen, weil ich nicht sitzen konnte.“

5.2 Straftat und Konversion in der Haft

Im Alter von 18 Jahren wurde Max wegen versuchten Totschlags unter Drogeneinfluss zu knapp drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte mit 17 Jahren dem neuen Freund seiner Freundin – mit der er ein Kind hatte und eine Familie gründen wollte – vor der Haustür aufgelauert und ihn krankenhausreif geprügelt. Im Gefängnis ist er auf der Suche nach Gemeinschaft, denn „das Schlimmste, das es in der Haft nämlich geben kann, ist alleine zu sein, ohne jeglichen Schutz“. Das Moment der kognitiven Öffnung war demnach die Suche nach Schutz in der Gruppe, deren Anziehungskraft er folgendermaßen beschreibt: „Wenn du reinkommst, scheint alles erst mal super zu sein. Hast direkt Freunde, hast jemanden, an den du dich wenden kannst und kannst reden. Das hast du dann alles und es wirkt erst mal schön. Alles wird dir schöngeredet. Dann gehörst du halt dazu.“

Ein Zellennachbar brachte ihm den Islam nahe. Von ihm lernte er religiöse Rituale kennen, er führte in der Folgezeit die kleine und große Waschung durch, betete, aß kein Schweinefleisch mehr, fastete während des Ramadans. Er besuchte den muslimischen Gottesdienst mit dem Imam der Haftanstalt. Auch seine Sprache passte er der Gruppe an und sagte einfache Sätze auf Türkisch oder Arabisch.

5.3 Radikalisierung der Gruppe

Die Gruppe, die zunächst auch durch den in der JVA tätigen Imam betreut wurde, radikalisierte sich zusehends. Vermehrt wurde der militärische Kampf gegen die Ungläubigen propagiert. Max gab an, dass zu diesem Zeitpunkt dschihadistische Verbrechen noch nicht so in den Medien präsent waren wie heute:

„Ja, die haben alle davon geredet, dass eines Tages erhebt sich der Islam und dann wirst du dein Schwert ziehen. Das steht auch richtig im Koran geschrieben. Dann wirst du dein Schwert ziehen und gegen alle Ungläubigen kämpfen. (…) Viele haben davon geredet, ich soll mich melden bei einem, wenn ich rauskomme. Ich muss an Allah glauben, mein Leben wird gut und so. Im Endeffekt wollen die nur einen dummen Deutschen finden, der sein Leben aufgegeben hat und der dann einfach in den Islamischen Staat geht. Die bezahlen dir den Flug und alles und dann musst du da kämpfen.“

Nach etwa einem halben Jahr der Zugehörigkeit meldeten sich aber bereits während der Haftzeit auch Zweifel, zunächst aufgrund von Spannungen mit einer anderen Häftlingsgruppe:

„War bestimmt ein halbes Jahr, in dem ich das sehr ernst genommen habe. Habe mich von allen anderen Gruppen sehr distanziert. Habe alle Bücher gelesen, die sie mir gegeben haben. Da hatte ich dann auch Stressmomente mit den Russen und so, weil die meinten, ich sei kein Deutscher mehr, ich verrate mein Land und so. Auf eine Art hatten die Recht und haben mich etwas wachgerüttelt.“

Als er mit dem Gedanken spielte wieder auszusteigen, bestärkte ihn ein älterer gläubiger Muslim in der Haftanstalt. In der Folgezeit empfand Max eine kognitive Dissonanz in Bezug auf die islamistische Weltsicht: Er nahm wahr, dass die Aussagen seiner islamistischen Mithäftlinge und das, was er selbst im Koran gelesen hatte, sich widersprachen und fühlte sich zunehmend von seinen Mitgefangenen unterdrückt.

„Da hab’ ich mich dann geknechtet gefühlt. Sie haben mir vorgeschrieben was ich machen soll: ‚Eines Tages, wir ziehen zusammen unser Schwert und köpfen die Ungläubigen. Wir werden alle Ungläubige töten’. Wo es mir dann auch klargeworden ist. O.k., auf eine Art sagt ihr im Koran, jeder Mensch soll leben, jeder Gott soll leben. () Aber irgendwann habich alles hinterfragt (). Also warum soll ich alle töten, die nicht dem Islam folgen?“

Der nach seiner Haftentlassung vollzogene Ausstieg gestaltete sich – ganz auf sich allein gestellt, ohne professionelle Beratung oder Begleitung – nicht unproblematisch: Nach der Entlassung erhielt Max ein Mobiltelefon, mit welchem er sich jeden Tag bei seinen Glaubensbrüdern melden sollte. Nach seinen Angaben fand er nur mit der Unterstützung eines Mitbewohners die Kraft, sich dieser Anweisung zu widersetzen. In der Folge thematisiert er die gewalttätige Antwort auf seinen Ausstieg von der Gruppe: „Zwei Jahre später, hab’ ich die auf der Straße getroffen, die waren zu viert und haben mies auf mich eingeprügelt.“ Er selbst fasst seinen Kontakt mit der islamistischen Gruppierung folgendermaßen zusammen:

„Ein halbes Jahr hab’ ich alles mitgemacht, dann hatte ich keinen Bock mehr. Ja, ich war ja so einer, keine Familie, jeder wusste, ich hab’ nichts, wenn ich rauskomme. Also er ist ganz, ganz alleine. Ohne Perspektive und Aussichten. Also lullen die einen ein und man glaubt alles, was die sagen. Und so einer geht dann in den IS. Und ich gehe davon aus, dass eine Menge, die in >JVA anonymisiert< waren, in den Krieg gezogen sind. Weil es war einfach. Du konntest dich schwer entziehen.“

5.4 Primäre Bindungserfahrungen als Vulnerabilitätsfaktor bei Radikalisierung

An Max ’Fall lässt sich das multifaktorielle Zusammenspiel zwischen Bindungserfahrungen, Jugenddelinquenz und der Suche nach Religiosität, Schutz und Geborgenheit in der Haft als sich bedingende Radikalisierungsfaktoren nachzeichnen. Aufgrund der unsicheren Bindung zu seinen familiären Bezugspersonen fiel es Max schwer, Bindungen zu anderen einzugehen und Anschluss zu finden. Seine soziale Isolation und der Kontaktabbruch zu seiner Familie in der Haftzeit sowie die Sehnsucht nach einer (religiösen) Gemeinschaft machte aus ihm eine leichte Beute für die Islamisten. Politische, ideologische und religiöse Gesichtspunkte traten dagegen zurück. Er macht zwar eine Offenheit für religiöse Ideenwelten deutlich. Den Prozess der Konversion, den er unter den Bedingungen der Haft begann, setzte er in Freiheit aber nicht fort. In Max’ Fall wurden durch die unsichere/ desorganisierte Bindung zu seinen Eltern keine reifen Abwehrmechanismen und nur unzureichend psychosoziale Kompetenzen aufgebaut. Seine durch Vernachlässigung und traumatische Beziehungserfahrungen ausgelöste Affektregulationsstörung wurde in seiner Kindheit schlicht mit der Vergabe von Ritalin „gelöst“. Die von ihm begangene Straftat kann so auch als radikale Antwort auf das Nicht-Aushaltenkönnen eines erneuten Verlassenwerdens durch die Mutter seines Kindes betrachtet werden. In der Haft fand er zunächst Sicherheit und Wertschätzung in der sich radikalisierenden Gruppe und konnte sein Selbstwertgefühl vorübergehend stärken.

Heute hat Max eine abgeschlossene Ausbildung, einen geregelten Tagesablauf und einen festen Arbeitsplatz. Er arbeitet daran, nicht rückfällig zu werden, und hat alle Verbindungen zu alten Bekanntschaften abgebrochen. Er berichtet in seinem Interview aber nicht von helfenden Angeboten von Lehrenden oder JVA-Bediensteten. Wie bereits in seiner frühen Kindheit, begegnete er seinen Problemen auf sich allein gestellt, ihm zur Seite stand kein „aufmerksamer Dritter“ (Werner 2005, 12). Die lebensgeschichtliche Analyse seines Falls ist so auch eine Dokumentation des Versagens von Justizvollzugsanstalten Anfang der 2010er-Jahre und bestätigt die Notwendigkeit einer sorgfältigen Reflexion der institutionellen Schwachstellen bezüglich der Radikalisierungsprävention.

6. Was können Lehrende tun?

Wie könnte der Beitrag der Sonderpädagogik zur Präventionsarbeit im Feld der Reflexion dieser neuen gesellschaftlichen Risiken und Ängste, der Resilienzförderung und Vulnerabilitätsanalyse aussehen? Was kann man in der Lehrerbildung tun, um den Identitätsangeboten radikaler Akteure an vulnerable junge Menschen wie Max etwas entgegenzusetzen? Zur Beantwortung dieser Fragen gilt es zunächst, die Parameter schulischer Primärprävention abzustecken: Die Wichtigkeit der schulischen Prävention gilt unter Experten als unbestritten (Ceylan & Kiefer 2013, 151). Trotzdem haben Lehrende im schulischen Umfeld einen begrenzten Handlungsspielraum, ihre Möglichkeiten sind nicht mit therapeutischen Maßnahmen zu verwechseln, sondern beziehen sich primär auf den Unterricht und das Elterngespräch. Bekommen Lehrende in der Schule Kenntnis von Schülern und Schülerinnen, die sich radikalen Gruppen anschließen oder als „lone wolfs“ über das Internet radikalisiert werden, ist zu empfehlen, sich an Beratungsstellen zu wenden. Nur in weitreichender Kooperation mit dem Elternhaus, der Schule, Therapeuten sowie speziellen Einrichtungen zur Ausstiegsbegleitung kann diesen Jugendlichen geholfen werden. Die bedrohliche Dimension radikaler Weltsichten erschwert es aber Praktikern, Gefahrenlagen realistisch abzuschätzen oder sich mit den Problemen von Jugendlichen auseinanderzusetzen, die in Gefahr sind, sich zu radikalisieren. Lehrende fühlen sich provoziert und schrecken nicht selten vor einer direkten Konfrontation zurück.

Was können Lehrende aber betroffenen Eltern raten, und wie können sie Jugendliche aus hoch belasteten Familien unterstützen? Zu diesem Zweck wird im Projekt der fachliche Austausch zwischen angehenden Lehrenden und Experten der Radikalisierungsprävention angeregt. Lehrenden empfiehlt beispielsweise der im Seminarverlauf interviewte pädagogische Mitarbeiter der Beratungsstelle Al-Manara, die religiöse Praxis junger Muslime nicht frühzeitig als Anzeichen von Radikalisierung fehl zu interpretieren. Betroffenen Familien rät er zunächst den alltäglichen Umgang miteinander zu entlasten, dazu sei es auch nötig, Streit zu religiösen Themen zunächst zu vermeiden. Er bestärkt aber auch Eltern, die sich aus Sorge um einen Beziehungsabbruch nicht trauen, ihrem Kind Grenzen zu setzen. ‚Haltlose‘ Bindungserfahrungen können unter Umständen auch durch Lehrende korrigiert werden. Eine sonderpädagogische Resilienzförderung für vulnerable Jugendliche, bei der die Beziehungsebene eine besondere Bedeutung erfährt, stellt deshalb aus der Perspektive der Resilienzforschung einen wichtigen Schritt dar: Der Lehrende als „aufmerksamer Dritter“ kann den Aufbau tragfähiger sozialer Strukturen und die Stärkung der Identitätsbildung des Jugendlichen unterstützen und so auch die Arbeit an der Lösung innerpsychischer Konflikte möglich machen.

Im Seminar erwerben die Teilnehmer und Teilnehmerinnen demzufolge Kenntnisse über wichtige psychosoziale Vulnerabilitätsfaktoren für eine Radikalisierung im Jugendalter, sie lernen, ihre unterrichtlichen Angebote konsequenter an der Lebenswelt der Jugendlichen auszurichten und eignen sich selbstreflexive Techniken zur Gestaltung einer tragfähigen Lehrer-Schüler-Beziehung an. Ziel ist es, Lehrende dazu zu befähigen, in der Schule eine Atmosphäre zu erzeugen, die den schulischen Austausch über Vulnerabilitäten bedingt durch Terrorangst, Radikalisierung und Diskriminierung befördert und somit einen Grundstein für ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Schülern / Schülerinnen und Lehrenden legt. Mit einem derartigen inklusiven Zugang zu diesen Themen können Lehrende im pädagogischen Setting einen wichtigen Vorreiterbeitrag auch für einen gesamtgesellschaftlichen Umgang mit der drängenden Herausforderung Radikalisierung leisten.

1 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Thomas Müller zu Thomas Müller „Familien zwischen Bindung, Verstrickung und Verrat“ in diesem Buch.

2 Die Präventionsforschung unterscheidet verschiedene Formen der Prävention: Die primäre oder universelle Prävention setzt auf die Reduzierung struktureller Risikofaktoren. Diese Art der Prävention erfolgt indirekt, ist langfristig ausgerichtet und arbeitet ressourcenorientiert (Glaser, Greul, Johansson & Münch, 2011, 16). Die sekundäre oder selektive Prävention richtet ihre Angebote an selektive Zielgruppen. Die Präventionsmaßnahmen zielen darauf ab, bereits vorhandene, problematische Erscheinungsformen nicht zu verfestigen. Die tertiäre oder indizierte Prävention hält Angebote für Menschen in manifesten Problemlagen bereit. Die Zielgruppe hat bereits die unerwünschten Entwicklungen durchlaufen (Johansson, 2012, 2).

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