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Pause von der Entfremdung

Anapausis und die Erlösungssehnsucht der Wüstenväter

Für P. Johannes Sauerwald OSB

„Was habt ihr denn sehen wollen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid?“ (Lk 7,24), fragt Jesus die Fans des Asketen, Propheten und Täufers Johannes. Ähnlich muss sich wohl fragen lassen, wer sich heute für die Wüstenmönche des frühen Christentums interessiert. Wandern wir lesend zu ihnen aus Neugier und Faszination für eine Zeit, „als die Religion noch nicht langweilig war“1? Es gibt ja genug Sensationelles zu bestaunen: ungestüme Radikalität, eine Askese, die mitunter Abenteuergeschichten produziert. Oder sind wir auf der Suche nach Anknüpfungspunkten für unsere eigene christliche Spiritualität, nach deren Quellen in der Tradition? Wir werden dann viele wirklich weise, seelenkundige, auch paradoxe Sprüche finden, die buddhistischen Weisheiten nicht nachstehen. Wir werden auch auf körperliche und seelische Selbstquälerei stoßen, auf Frauenfeindlichkeit und eine geradezu krankhaft anmutende Sexual-Phobie.

Vielleicht gehen wir aber auch forschend in die Wüste, um die Frage zunächst einmal an die frühen Einsiedler zu richten: „Was habt ihr denn sehen wollen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid?“ Was haben sie dort gesucht, was haben sie dort – wie man so sagt – „verloren gehabt“?

Ich bin bei dieser Nachfrage auf ein Wort gestoßen, dass vielfach variiert in den Sprüchen und Geschichten der Wüstenväter auftaucht: Anapausis (αναπαυσις, als Substantiv) oder anapauein (αναπαυειν, als Verb).2 Es scheint eine zentrale Rolle zu spielen bei dem, was die Väter in der Wüste suchten. Es bezeichnet auch das, was sie tatsächlich verloren hatten. Oft beschreibt es aber auch etwas, das sie vermeiden möchten oder sollen, vor dem sie geradezu fliehen. Das ist ein verwirrender, paradoxer Befund – und gerade deshalb eine heiße Spur auf der Suche nach dem, worum es diesen frühen Radikalen einer sich gerade etablierenden Christenheit ging.

Seine Ruhe haben wollen

Anapausis bedeutet so viel wie Ruhe.3 Es steckt ja unser Wort Pause darin, und auch in diesem schlichten Sinn wird Anapausis häufig gebraucht: als Unterbrechung von der Arbeit, als Ausruhen. Das Projekt der Einsiedeleien in der Wüste, also die Trennung von der „bürgerlichen“ Existenz, von den Siedlungen und ihrer Lebensweise, erscheint davon abgeleitet als eine große Unterbrechung der Normalität, wie das Betätigen einer Pausentaste, die den Gang der üblichen Geschäftigkeit stillstellt. Der Aufbruch in die Wüste ist eine Befreiungstat. „Die Freiheit, um die es in der Wüste geht, ist zunächst eine Freiheit von etwas.“4

„Ich möchte sorglos sein, wie die Engel sorglos sind, die nicht arbeiten, sondern ununterbrochen Gott dienen“, bekennt Johannes Kolobos am Anfang seines Weges ganz ungeschützt (I 128). Der Schritt „aus der Welt“ hinaus erfolgt also in der Sehnsucht nach einem engelgleichen Leben, das man sich sorglos und deshalb beruhigt vorstellt. Die Wüste ist für die Mönche „der Ort, wo die Seele sich finden kann, und noch stärker, wo sie ‚atmen kann‘“5, aufatmen, Luft holen. „Mönch werden“ wird in den Sprüchen mitunter einfach mit „Ruhe finden wollen“ gleichgesetzt (z.B. I 148). „Offensichtlich ist (…) die Absicht, Mönch zu werden bzw. sein zu wollen, mit der Suche nach Ruhe identisch.“6 Gelegentlich hat dies einen sehr greifbaren biografischen Hintergrund: Steuerflucht, Erbprobleme, Militärdienst, kriminelle Vergangenheit. Die gesuchte Ruhe ist durchaus nicht nur „spirituell“ gemeint.7

Die Mönche gehen also in die Wüste, um schlicht ihre Ruhe zu haben. Zuweilen wird auch die konkrete Wahl der Einsiedelei oder der Entschluss, sich einem erfahrenen Altvater anzuschließen, so begründet: „Ich habe eine solche Hoffnung, dass ich mich bei dir zur Ruhe bringe“, sagt dann etwa ein asketischer Anfänger (III 39).

Die Mönche wissen, dass mit dem Gang in die Wüste die Ruhe noch keineswegs erreicht ist – und durch die mönchische Lebensweise allein auch gar nicht erreicht werden kann. „Ich bin schon siebzig Jahre im Mönchsgewand, und noch keinen einzigen Tag fand ich Ruhe“, bekennt Abbas Theodoros von Pherme (I 113). Schließlich sind auch die Einsiedler nicht wirklich allein, sondern meist umgeben von anderen Einsiedlern. Das führt zu so viel Streit und Zwietracht, dass ein Bruder ausrufen kann: „Ich habe keine Ruhe, bis ich mich nicht gerächt habe.“ (I 285) Hier muss ein anderer Mönch seelsorgerisch dafür sorgen, dass der Bruder Ruhe findet vor seinen Rachegelüsten; wie es an anderer Stelle heißt: „Wirf von dir alle Verfehlungen und alles Böse, damit du Ruhe findest.“ (III 23) Denn die Ruhe ist auch die des guten Gewissens (III 41), sie hat mit dem Verhältnis zu den anderen zu tun: „Verachte niemanden, verurteile niemanden, verleumde nicht, dann gewährt Gott dir Ruhe.“ (III 41) Und weil dies so häufig nicht gelingt, sind auch Reue und Buße ein Weg zur Ruhe zurück: „Vertrau dich Gott an mit vielen Tränen, und du hast Ruhe.“ (III 55)

Pause machen

Wer also ausgezogen ist, um in der Wüste Ruhe zu finden, muss feststellen, dass sie auch dort nicht einfach da ist, sondern erst gefunden, hergestellt und erreicht werden will. „Eine Wüstenerfahrung (…) ist gleichbedeutend mit einer Reise ins Innere, auf der man doch immer wieder mit der Welt konfrontiert wird.“8 Die Existenz des Einsiedlers soll Ruhe von der Welt – im Sinne der profanen, „weltlichen“ Lebensweise – sein. Aber weil sie das dann doch nicht ist, weil „die Welt“ mit und in den Brüdern mitgezogen ist, gilt es, die Unterbrechung, die Pause nun in der asketischen Existenz einzuüben, zu praktizieren. Das bedeutet auch für die strengen Wüstenmönche, mitunter Pause zu machen, auch von der Askese und den geistlichen Übungen. Für frisches Wasser zu sorgen, kann anapauein heißen, also erfrischen, erquicken (I 185). Anapausis kann bedeuten, regelmäßig eine Pause vom Fasten zu machen und besser jeden Tag ein halbes Brot zu essen als nur jeden zweiten Tag ein ganzes (I 206). Auch das Mönchsein benötigt eine Pausentaste, welche das Geschehen zwischendurch anzuhalten vermag – und „aufhören“ oder „anhalten“ ist tatsächlich auch eine der gewöhnlichen Wortbedeutungen von anapauein.

Nun verbinden wir heute die Pause vor allem mit „Arbeit“. Ihr gilt ja unsere ganze Anspannung. Als Pause von der Arbeit dienen uns deshalb auch Entspannungstechniken. Für die Wüstenmönche sieht es geradezu umgekehrt aus: Ihre Hauptbeschäftigung ist das meditierende Sitzen, das Gebet, das Schweigen. Allerdings arbeiten sie auch, für ihren Lebensunterhalt und um nicht dem Müßiggang zu verfallen. Aber diese Arbeit soll gerade keinen hohen Eigenwert haben. Sie soll wie nebenbei ablaufen, soll „leicht von der Hand“ gehen9. So berichtet eine anonyme Geschichte davon, wie ein großer Alter sich die Arbeit jüngerer Brüder vorführen lässt: Seile flechten oder Binsenmatten oder Siebe anfertigen, all das heißt er gut, auch das Schönschreiben. Aber: „Für das Leinenweben habe ich nichts übrig, weil es geschäftig ist.“ (II 170) Offenbar ist diese Tätigkeit zu sehr auf das Produkt gerichtet und das Produkt zu wertvoll – so wird die Arbeit zum eigentlichen Zweck, sie absorbiert den Mönch, und damit auch seine Ruhe.

Der Mönch soll sich nicht an seine Arbeit verlieren, indem es ihm in der Arbeit um das Produkt geht. Er soll zur Welt der Dinge Distanz, ja Indifferenz gewinnen, um zu sich selbst zu finden. Die Arbeit der Mönche dient gerade ihrer Loslösung von der „Welt“. Deshalb werden in den Apophtegmata Pausen von der Arbeit nie Thema. Eher hat die Arbeit selbst Pausencharakter, ganz im Wortsinn unseres Leitbegriffs: weil sie ruhig sein soll.

Versacken

Doch nun die irritierende Gegenprobe: Anapausis ist an einer Vielzahl von Stellen ein deutlich negativ besetzter Begriff. Anapausis ist geradezu das, wovon der Mönch geflohen ist – und was er unter allen Umständen zu vermeiden hat, was er sogar „hassen“ (III 62) soll!

Zunächst einmal gibt es die falsche, satte, bürgerliche „Ruhe dieser Welt“ (I 166). Das kann die „leibliche Ruhe“ sein (I 232), oder auch „Gewinn und Ehre“ (III 43), also natürlich auch „Geld“, das bekanntlich beruhigt (III 51), aber auch die eigenen „Wünsche und die Selbstrechtfertigungen“ (III 45 f.). All dies wird in offensichtlich ablehnendem Sinn mit Anapausis identifiziert. Von ihr wendet der Mönch sich gerade ab. „Kennzeichen des zur wahren αναπαυσις führenden Weges ist der von Mühe und Entbehrung gekennzeichnete Anfang; wo das Gegenteil der Fall ist, handelt es sich um eine irdische, gewissermaßen teuflische Ruhe.“10

Da freut sich zum Beispiel einer, dass er die Leidenschaften überwunden hat: Er habe Ruhe gefunden und keinen inneren Kampf mehr. Doch Johannes Kolobos tadelt den selbstsicheren Bruder: „Geh und bitte Gott, dass der Kampf (wieder) zu dir komme, und die Not und Demut, die du vorher hattest. Denn durch die Kämpfe schreitet die Seele fort.“ (I 131) Ein anonymer Alter spricht paradox von einer Anapausis, welche das Anapauein verhindert: „Solange du mit Zufriedenheit (anapausis; d.h. die Ruhe, die satte Zufriedenheit) handelst, solange kannst du Gott nicht beruhigen (anapauo).“ (III 39) Hier schlägt die Rede von der Anapausis in einem Satz von der gewonnenen eigenen Ruhe zur verlorenen Ruhe um, die eigentlich die Ruhe Gottes selbst ist.

Dagegen hilft nur der erneute Aufbruch: „Wer Ruhe hat, lasse sie und ergreife den engen Weg.“ (I 250) In diesem Sinn gibt es nie Ruhe für die Mönche. Sie dürfen mit ihrem Bemühen, mit ihrem inneren Weg „nicht aufhören“ (I 295), und Aufhören heißt eben auch Anapauein. Die Mönche suchen die Ruhe – indem sie die (falsche) Ruhe fliehen. Aber was macht den Unterschied zwischen gesuchter und falscher Ruhe aus? Sicher lassen sich, wie gerade gezeigt, Faulheit und spirituelle Ruhe unterscheiden – aber ist dieser Unterschied immer sichtbar, äußerlich, phänomenal zu beobachten?

„Viele nahmen sich jetzt schon die Gelegenheit zur Ruhe, bevor Gott sie ihnen gewährte“, sagt Abbas Theodoros von Pherme (I 116). Hier unterscheidet die Zeit zwischen richtiger und falscher Ruhe. Gelegenheit heißt im Original: Kairos – ein wichtiges Wort des Neuen Testaments. Kairos ist der gegebene, geschenkte, von Gott gewirkte richtige Augenblick, den es zu erkennen und zu erfassen gilt. Ihn eigenmächtig vorwegzunehmen, bedeutet, zu früh aufzuhören und eine Flucht vor der Berufung. Echte Ruhe ist nicht machbar: „Wenn wir der Ruhe nachjagen, flieht uns die Gnade Gottes, wenn wir (die Ruhe) fliehen, jagt sie uns nach.“ (III 45)

Dagegen zitiert Poimen einmal mit bewusster Freude an der Paradoxie einen Ausspruch des Presbyters Isidoros, nach dem die Mönche „der Mühe wegen an diesen Ort gekommen“ seien. Wenn die Brüder zu versacken drohen, dann möchte Isidoros wieder aufbrechen, „um wegzugehen, wo Mühe ist und ich dort Ruhe finde“ (I 233). Ruhe finden, wo Mühe ist: Das erinnert an den Vers aus dem (mittelalterlichen, klösterlichen) Pfingsthymnus Veni Creator Spiritus, wo es vom Heiligen Geist heißt: „In der Unrast schenkst du Ruh‘.“ Diese Ruhe wird also nicht nach oder zwischen der Unrast geschenkt, gerade nicht als Pause, sondern mitten darin, mitten in der Mühe. Darin wird sie erkennbar als Zustand, den wir nicht selbst herstellen, jedenfalls nicht eigenmächtig jederzeit herbeiführen können.

In diesem Sinne stehen bei Poimen zwei gegensätzliche Verwendungen von Anapausis betont in zwei Sprüchen gleich hintereinander: „Der (Eigen)wille, die Ruhe und die Gewöhnung daran werfen den Menschen nieder.“ (I 242) Das ist geistliche Selbstgefälligkeit. „Wenn du verschwiegen bist, wirst du die Ruhe haben an jedem Ort, wo du wohnst.“ (I 242) Das ist die stille Erwartungshaltung für das Geschenk der Ruhe, die sich überall einstellen kann, also auch, wo die äußeren Bedingungen denkbar schlecht dafür zu sein scheinen.

Was diese Sprüche in paradoxer Verkürzung ausdrücken, bringt eine Geschichte um Abbas Rhomaios in eine narrative Logik. Dieser Rhomaios – ein Römer also – stammte aus wohlhabenden Verhältnissen; die Geschichte nennt dies ruhige, also Anapausis-Verhältnisse. Hier steht unser Begriff schlicht für die bürgerliche Welt. Nachdem Rhomaios schon 25 Jahre in der Wüste lebt und ein berühmter Altvater geworden ist, besucht ihn ein anderer ebensolcher, der aber ein einheimischer Ägypter ist. Er ist verwundert über die recht komfortable Lebensführung des Rhomaios: Er hat einen Knecht, weiche Kleidung, Fell und Kopfkissen auf dem Strohsack, Sandalen an den Füßen. Und dann lässt er dem Gast auch noch ein Festessen mit Gemüse und Wein bereiten. Der Ägypter ist befremdet, am nächsten Morgen will er wieder davongehen, enttäuscht, weil er keinen asketischen Heroen gefunden hat. Doch Rhomaios verwickelt ihn in ein Gespräch. Darin vergleichen sie ihre Herkunft: Der Ägypter kannte auch im weltlichen Leben nur Armut, schlief als einfacher Arbeiter auf dem Acker, kannte kein Bad und trank nie Wein. Rhomaios dagegen lebte lange im Palast des Kaisers in Konstantinopel. Die Pointe: Rhomaios hat bei seinem Gang in die Wüste viel mehr aufgegeben, sein jetziges Leben unterscheidet sich viel radikaler von dem zuvor als bei dem armen Ägypter, der nie viel anders lebte als ein Wüstenmönch. Außerdem ist Rhomaios krank und braucht deshalb die kleinen Annehmlichkeiten.

Am Ende dieser langen Erzählung fällt dann das Wort Anapausis gleich drei Mal kurz hintereinander: Nach einer kurzen Pause lädt Rhomaios seinen Gast zum Psalmengebet ein. Der bekennt nun: „Du kamst aus einer großen Ruhe (…) von viel Ehre und Reichtum in diese Niedrigkeit und Armut.“ (I 282) Aber Rhomaios selbst sagt von sich gerade umgekehrt: „Von der großen Bedrängnis der Welt kam ich zur Ruhe.“ (ebd.) Hier ist Anapausis in dreifacher Bedeutung: die schlichte Pause; die falsche weltliche Beruhigtheit; jene Ruhe, in welche die Mönche eingehen möchten.

Erlöst sein

Schulz und Ziemer unterscheiden in ihrer Untersuchung drei Dimensionen der Ruhe in den Apophtegmata11: (1.) Die Ruhe als geistlicher Zustand, (2.) als geistliche Praxis bzw. spirituelle Übung und (3.) als allgemeine Erfahrung. Die paradox-gegensätzliche Zuspitzung des Begriffs, die ich zu zeigen versuchte, wird so jedoch kaum erfasst. Vor allem aber geht das Bedeutungsfeld von Anapausis noch darüber hinaus. Die Ruhe als eigentliches Ziel und größtes Geschenk für die Mönche ist m.E. ein hoch aufgeladener Begriff – nahe dem biblischen Shalom bzw. dem Sabbat.

Ruhe ist, wie schon im ersten Abschnitt gezeigt, ein Wort für das Ziel, um dessen willen man in die Wüste geht. Ruhe ist oft der Inbegriff für die Verheißung, die auf dem mönchischen Weg liegt: „Habe die Gesinnung eines Fremdlings“, sagt Poimen, „und du wirst Ruhe haben.“ (II,21) Ruhe ist dann in der Wüste ein Wort für die Lösung, die man in inneren Kämpfen und in Auseinandersetzung mit den Mitmenschen erreicht. „Und er hatte Ruhe“ wirkt geradezu wie eine Formel für das Erreichen solch einer Lösung (z.B. I 102; I 277). Die kleinen Geschichten der Apophtegmata schnüren ja oft in großer Verknappung einen Konflikt-Knoten; löst er sich, bedeutet dies Anapausis. Das deutsche Wort Lösung ist deshalb für diesen Wortgebrauch sehr passend12: Die Anapausis bedeutet Gelöstheit, Loslassen – also vielleicht gar Er-lösung?

Zu fragen ist, inwieweit die Wüstenväter der christlichen Lehre von Rechtfertigung und Gnade gerecht werden, oder nicht doch eine Art Methodik der Selbsterlösung, der spirituellen „Anthropotechnik“ betreiben.13 Zweifellos sind die Wüstenväter in den Augen des Dogmatikers überwiegend „Pelagianer“: Sie glauben wohl an die Vergebung Gottes, aber dafür muss der Mensch erst einmal einen Anfang der Buße setzen und dann den guten Weg weitergehen. Das theologische Problem dürfte hier allerdings nicht in einer falschen Theologie, sondern in der Verweigerung gegenüber jeder nur theoretisch und spekulativ erscheinenden Theologie liegen. Die Wüstenväter sind Praktiker, sind geradezu Empiriker der Selbsterfahrung. Sie können mit der Verkündigung einer bedingungslosen und zuvorkommenden Gnade nichts anfangen, wenn es um die berühmte Grundfrage der Apophtegmata geht: „Was soll ich tun?“ Denn auch wenn ich theologisch davon ausgehe, dass schon diese Frage eine Frage aus Gnade ist, ändert das nichts daran, dass ich sie praktisch beantworten muss.

Das bedeutet keineswegs, dass die Wüstenväter nicht um die Gnade wissen, und damit auch um die Erlösung, die man nicht selbst erwirken kann. Schließlich bedeutet „die Suche nach αναπαυσις im Grunde nichts anderes als die Suche nach Gott selbst“14, also nach dem schlechthin Unverfügbaren. In einer ungewöhnlich langen Gesprächseinheit mit Abbas Moses wird das regelrecht durchgespielt: Gottes Unverfügbarkeit und die menschliche Bereitung für sie. Auf die Frage eines Bruders: „Was hilft dem Menschen in jeder Plage?“, lautet dessen Antwort: „Gott ist die Hilfe.“ (I 196) Die dazu nötigen Haltungen sind Demut, Beweinen der eigenen Sünde, Gebet – und dann „hat er schnell Ruhe“ (ebd.). D.h. doch: Dieser unserer Öffnung zu ihm antwortet Gott mit seiner Hilfe, das Ergebnis ist dann die Anapausis. Doch das Gespräch nimmt noch eine zweite Schleife, denn der Bruder fragt nun über den Umgang mit den Fehlern untereinander. Die Antwort des Moses schärft das Evangelium ein: Nicht richten, niemand verachten, um dann in großer Feierlichkeit zu schließen: „Denn das ist der Friede. Tröste dich damit: Nur kurze Zeit ist die Mühe, ewig aber die Ruhe, durch die Gnade des Wortes Gottes. Amen.“ (I 197)

Hier kommt mit der Gnade, dem Frieden und der Ruhe eine eschatologische Qualität ins Spiel – es ist sogar von „ewiger“ Ruhe die Rede. Tatsächlich steht in der gelungenen mönchischen Existenz, zumindest im Ideal, die Zeit gleichsam still: Jahre und Jahrzehnte vergehen ohne äußerliche Veränderung, wie stillgestellt. Die Erfahrung der Ruhe ist „mit einem neuen Verhältnis zur Zeit verbunden“15. In der Anapausis wird so etwas wie Erlösung wirklich erfahrbar. Gewiss, die Anapausis steht unter eschatologischem Vorbehalt. Im Glauben der Wüstenväter wird sie erst in der Vollendung, jenseits des Todes endgültig realisiert. Die Wüstenväter glauben nicht an ein endgültiges Ende von Mühe und Versuchung in diesem Leben. Dennoch ist das, was sich erst im Reich Gottes realisiert, eine Erfahrung, die man in der Anapausis schon in diesem Leben machen kann.

In diesem Willen zur Erfahrung steckt etwas, dass ich das utopische Moment bei den Wüstenvätern nennen möchte. Es ist die Utopie des biblischen Sabbats. Der Philosoph Giorgio Agamben hat herausgearbeitet, dass die christliche Theologie diesen Sabbat, diese Ruhe Gottes (Gen 1), stets als letztes Ziel der Schöpfung festgehalten hat, obwohl sie in ihrer Vorsehungslehre und Heilsgeschichts-Theologie Gott als tätig in der Welt, ja geradezu als Regenten einer großen Heils-Maschine darstellt. Dennoch hat sie den Menschen letztlich als kontemplativ, als zur Ruhe bestimmt verstanden. Er sei das „sabbatische Tier par excellence“16. Diese sabbatliche Existenz ist das „messianische Leben“, auf das die biblischen Verheißungen deuten, und somit ist „Untätigkeit (…) die messianische Tätigkeit per excellence“17. In diesem Paradox der höchst tätigen, der kontemplativen Untätigkeit sieht Agamben ein utopisches Erbe des Abendlandes, indem hier der Mensch jenseits seiner Werke, seiner Arbeit, seiner Funktionen und Ergebnisse gedacht wird: „Die eigentliche menschliche Praxis ist die Sabbatruhe (…). Insofern sind Kontemplation und Untätigkeit metaphysische Operatoren der Anthropogenese.“18

Gewiss hat die christliche Tradition den vollendeten Sabbat und damit auch die vollendete Kontemplation des Menschen, seine „beseligende Gottesschau“, stets ins Jenseits verlegt. Aber diese Anthropologie – zumal sie gespeist blieb von den messianischen biblischen Verheißungen, die keineswegs nur jenseitig reden – hat doch eine utopische Kraft für diese Welt: Sie begründet die Würde des Menschen jenseits seiner Nützlichkeit. Sie macht die Selbst-Erfahrung gelungenen Menschseins fest in einer Kontemplation, einer Ruhe, die nichts mehr will, als zu sein. Ist es nicht genau dies, wonach die Wüstenväter in ihrer radikalen Kur der Vereinfachung des Lebens streben?

Sich auf diese Erfahrung der Ruhe hinzubewegen, gilt alle asketische und spirituelle Mühe der Mönche, was ihrem Weg tatsächlich eine große Angestrengtheit, einen mitunter fast verzweifelten Ernst verleiht. So erzählt Abbas Petros: Als er den kranken Abbas Hesaias besucht, findet er diesen von Mühe gequält, er findet ihn in Todesangst. „Die Furcht vor jener sehr dunklen Stunde hält mich fest“, bekennt ihm Hesaias: „(…) wenn ich (vielleicht) vom Angesicht Gottes weggerissen werde. Dann gibt es niemanden mehr, der mich erhört, und auch keine Aussicht auf Ruhe.“ (III 21) Solche Höllenangst ist die große Schattenseite einer Spiritualität der Mühe um Vollkommenheit, so wie die Verzweiflung schon immer als Schatten der Utopie folgte. Denn Hesaias Angst entsteht nicht abstrakt aus der Drohung des Jüngsten Gerichts; sie entsteht vielmehr aus Angst vor jener (Todes-)Stunde, in der der Asket sich nicht mehr um die Erfahrung der Ruhe mühen kann, in der er sich Gott ganz überlassen muss – könnte da nicht die letzte Gottverlassenheit drohen?

Ich ahne, dass diese dunkle Seite die Geschichte aller asketischen und mystischen Spiritualität, jedenfalls im Christentum, begleitet. Sie entspringt gerade der utopischen Kraft, etwas von Erlösung realisieren, erfahren zu wollen, etwas vom „engelgleichen Leben“ schon auf die Erde zu holen. Doch andererseits: Wäre ein Glaube ohne solche utopische Kraft nicht erstarrt zu einem reinen Bewusstseinsinhalt, einem „glauben, dass“ und „glauben an“?

Positiv gewendet: Bezieht der christliche Erlösungs-Komplex seine Kraft nicht gerade aus der Verbindung des utopischen mit dem eschatologischen Moment, d.h. aus der Verbindung der tätigen Sehnsucht nach Erfahrbarkeit und dem Glauben, ja Wissen um das Jenseits aller Erfahrung? Ausgerechnet von jenem Abbas Hesaias, den wir gerade in seiner Todesangst erlebt haben, ist auch dieses umfassende Wort überliefert: „Die Liebe ist das Flüstern zu Gott verbunden mit unablässigen Danksagungen. Gott freut sich über die Dankbarkeit. Sie ist ein Zeichen der Ruhe.“ (III 70)


1 So der Untertitel des Buches von Hans C. Zander über die Wüstenväter (ders., Als die Religion noch nicht langweilig war. Die Geschichte der Wüstenväter. Köln 2004).

2 Ich bin kein Philologe und kein Spezialist für die Alte Kirche, sondern systematischer Theologe mit einem systematischen Frageinteresse. Dankenswerterweise bietet die dreibändige Ausgabe der Apophtegmata Patrum von Erich Schweitzer in der deutschen Übersetzung stets den Hinweis auf den griechischen Originalbegriff bei uneindeutigen Zentral-Worten. So kam ich den hier entwickelten Thesen auf die Spur. Vgl. E. Schweitzer (Hrsg.), Apophtegmata Patrum. Teil I: Das Alphabetikon – Die alphabetisch-anonyme Reihe. Beuron 2012; ders., Apophtegmata Patrum. Teil II: Die Anonyma. Beuron 2012; ders., Apophtegmata Patrum. Teil III: Aus frühen Sammlungen. Beuron 2013. Zitiert werden die Apophtegmata stets aus dieser Ausgabe mit Band- und Seitenangabe.

3 Erich Schweitzer übersetzt es immer so, mitunter mit einem näher erklärenden Adjektiv. Wo im Folgenden das Wort „Ruhe“ auftaucht, ist es stets die Übersetzung von Anapausis; nur wo im Griechischen ein anderes Wort steht, wird dies vermerkt.

4 Vgl. G. Schulz / J. Ziemer, Mit Wüstenvätern und Wüstenmüttern im Gespräch. Zugänge zur Welt des frühen Mönchtums in Ägypten. Göttingen 2010, 132.

5 R. Roux, „ Vita Antonii“ des Athanasius aus der Perspektive des Resilienz-Begriffes, in: C. Sedmak / M. Bogaczyk-Vormayr (Hrsg.), Patristik und Resilienz. Frühchristliche Einsichten in die Seelenkraft. Berlin 2012, 31–52, hier: 48.

6 H. Holze, Anapausis im anachoretischen Mönchtum und in der Gnosis. Überlegungen zur Geschichte der frühen Christenheit Ägyptens, in: ZKG 106 (1995), 1–17, hier: 1.

7 Die spirituelle Ruhe wird in der Literatur meist mit dem Wort Hesychia verbunden – weil dies in der späteren byzantinischen Theologie in der Tradition des Herzensgebetes bei den „Hesychasten“ Karriere machte. In den Apophtegmata ist Hesychia jedoch keineswegs theologisch „aufgeladener“ als Anapausis gebraucht (was ich hier aus Raumgründen nicht näher nachweisen kann).

8 So M. Bogaczyk-Vormayr, in: C. Sedmak / dies. (Hrsg.), Patristik und Resilienz, 189 f. [s. Anm. 5].

9 So die schöne Erklärung bei Schweitzer II, 471.

10 H. Holze, Anapausis, 5 [s. Anm. 6].

11 Vgl. G. Schulz / J. Ziemer, Mit Wüstenvätern und Wüstenmüttern im Gespräch, 164–168 [s. Anm. 4].

12 Nicht zufällig kann anapauein mitunter auch als „befreien“ übersetzt werden; so Schweitzer in III, 52: David befreite (anapauo) Saul vom bösen Geist.

13 G. Schulz / J. Ziemer, Mit Wüstenvätern und Wüstenmüttern im Gespräch, 296 f. [s. Anm. 4].

14 So H. Holze, Anapausis, 4 [s. Anm. 6].

15 G. Schulz / J. Ziemer, Mit Wüstenvätern und Wüstenmüttern im Gespräch, 148 [s. Anm. 4].

16 G. Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Frankfurt/M. 2010, 293. Den Bezug zum Tier greift Agamben an anderer Stelle wieder auf, wenn er vom „Sabbat sowohl des Tieres als auch des Menschen“ spricht, zu dem auch die Versöhnung des Menschen mit seiner eigenen Animalität gehört (ders., Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt/M. 2003, 100). Dies respondiert genau auf die vielen Wüstenvätergeschichten, in denen die Mönche einvernehmlich mit wilden Tieren zusammen leben. S. dazu mein Wüstenväter-Kapitel Nackt unter Antilopen, in: S. Horstmann / T. Ruster / G. Taxacher, Alles was atmet. Eine Theologie der Tiere. Regensburg 2018, 168–183.

17 G. Agamben, Herrschaft, 297 [s. Anm. 16].

18 Ebd., 299.

Geist & Leben 2/2020

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