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Die Bhagavadgita verstehen

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Die Bhagavadgita ist eine der wichtigsten heiligen Schriften der Hindus. Mit derselben Ehrfurcht und Anteilnahme wie etwa Christen die Evangelien, Muslime den Koran oder Buddhisten die Reden Buddhas lesen und sich zu Herzen nehmen, so lesen und hören Hindus die »Gita«. Im Bewusstsein der Menschen ist sie tief verwurzelt, aus ihrem Geist schöpfen gebildete wie analphabetische Hindus ihre Glaubensenergie und ihre spirituelle Ausrichtung, gleichgültig welcher Gruppe innerhalb des Hinduismus sie angehören. Mahatma Gandhi las jeden Tag einen »Gesang« aus der Gita; andere rezitieren sie in Gruppen in der Ursprache oder aus einer Übersetzung in eine indische Sprache. Oft hört man in den Tempeln die Bhagavadgita in einem litaneiartigen Singsang Vers für Vers rezitiert. Legt im indischen Parlament ein neugewähltes Mitglied den Schwur auf die Verfassung ab, legt es die Hand auf ein Exemplar der Bhagavadgita. In keinem gebildeten Haushalt fehlt eines.

Wer die Gita liest und in ihren Geist eintritt, kann ein allgemeines Verständnis dafür erlangen, wie Hindus denken und fühlen. Charakteristisch ist, dass die Gita kein Gesetzestext ist, kein philosophisches System beschreibt, sondern in achtzehn »Gesängen« einen Dialog zwischen dem Lehrer Krishna (einer Manifestation Gottes und Inkarnation von Vishnu) und dem Schüler Arjuna darstellt. In eindringlichen, beschwörenden, sich immer wiederholenden Versen erklärt der Lehrer seine Weltsicht und den daraus sich ergebenden Verhaltenskodex. Diese Weltsicht lässt sich rasch skizzieren, doch ist sie für jene, die sich erstmals mit hinduistischer Philosophie befassen, nicht immer unmittelbar nachzuvollziehen. Gott, Lebewesen und Natur sind eins und dennoch geschieden voneinander. Gott, oder das Göttliche, durchdringt seine Schöpfung, steht aber gleichzeitig darüber, ist mehr als seine Schöpfung. Gott ist das ungestaltete, unpersönliche Es, aber ebenso eine göttliche Person, ein Ich.

Dieses Schwingen von »Sowohl dies« zu »Als auch das«, das »Dies gilt und das Andere ebenso« ist einem verstandesmäßigen Zugriff auf die Welt, der klare Verhältnisse sucht, eher fremd. Schon das theologische Jesus-Verständnis von »Sowohl ganz Gott und ganz Mensch« erschließt sich dem Gefühl nur schwer. Indiens Bevölkerung jedoch schwelgt geradezu in »heiligen Paradoxien«. In der Gita belehrt Krishna seinen Schüler und Waffengefährten Arjuna über die göttlichen Geheimnisse. Krishna ist einmal persönlicher Gott, dann kosmischer Schöpfergott, dann ein Kriegsherr, der in die Schlacht fährt. Die Welt existiert auf zwei Ebenen: in der sinnenhaft erfahrbaren Wirklichkeit, der sogenannten maya-Welt, die jedoch nicht länger wirklich und belastbar ist, sobald der menschliche Geist diese Wirklichkeit transzendiert und sie von der göttlichen Sphäre aus betrachtet. Dann ist die Welt eine »Illusion«, eine Scheinwelt, weil nur das Göttliche wirklich ist. Sinnenhafte Erfahrung, die für westlich geprägte Menschen die Wirklichkeit begründet, ist also nur maßgebend, solange nicht das Göttliche erfasst und erfahren wird.

In dieser Spannung zwischen zwei Wirklichkeiten leben viele Menschen in Indien noch heute; dieselbe spirituelle Stimmung geht von dem erhabenen Gesang der Gita aus. Es ist offensichtlich ein ständiges Bedürfnis vieler, ihre oft leidvolle Lebenswirklichkeit zu transzendieren und die göttliche Wirklichkeit zu evozieren. Wenn plötzlich ein Bankangestellter an seinem Schalter stehend von spirituellen Erfahrungen erzählt, wenn eine Professorin in selbstverständlicher Weise von Gott Krishna oder der Göttin Kali redet, wenn sich ein Bauer auf seinem Feld auf die Hacke stützt und sagt: »Wir sind alle eins!«, als sei dies so selbstverständlich wie der Reis, der wächst – dann sind wir in der »Gita-Sphäre«, ohne natürlich schon den radikalen Forderungen des göttlichen Lehrers entsprechen zu können. Aber sie sind als Echo gegenwärtig.

Es kann hier nicht das Ziel sein, die Bhagavadgita philologisch zu analysieren. Den Text werde ich weder in seiner historischen Entwicklung darstellen, noch in seiner gegenwärtigen Gestalt religionsgeschichtlich untersuchen. Beides ist mehrfach kompetent geschehen; ich verweise zur Vertiefung auf die beiden letzten wichtigen Neuübersetzungen von Peter Schreiner und Michael von Brück (siehe die Literaturhinweise). Mir kommt es stattdessen darauf an, Nicht-Philologen und den nicht spezifisch an Indien und am Hinduismus interessierten Leserinnen und Lesern einen ersten intellektuellen und spirituellen Zugang zu einem der bedeutendsten Texte der Religionsgeschichte zu erleichtern.

Der Titel »Bhagavadgita« heißt übersetzt »Gesang« (gita) des »Erhabenen« (bhagavad). »Gesang« ist hier im symbolischen Sinn gemeint, als Kapitel eines Epos, das man, wie erwähnt, heute noch oft Vers für Vers im Singsang rezitiert. Mit dem »Erhabenen« ist Gott – hier spezifisch: Krishna – gemeint. Gott Krishna ist eine der Gestalten des großen indischen Epos Mahabharata, das in der altindischen Sprache Sanskrit verfasst ist. Eingebettet in das dramatische Geschehen, ist die Bhagavadgita ein sehr kleiner Teil dieses Epos. Das Mahabharata schildert mit zahlreichen Neben- und Unterhandlungen den Kampf zwischen zwei verwandten, doch verfeindeten Klans, den Pandavas (auch: Pandus) und den Kauravas (auch: Kurus). So charakterisiert, ist es also durchaus vergleichbar mit dem großen europäischen Epos, der Ilias, in der ebenfalls zwei verfeindete Gruppen gegeneinander kämpfen.

Das Geschlecht der Bharatas brachte drei Söhne hervor, von denen zwei in unserem Kontext wichtig sind. Der älteste, Dhritarashtra, wird, obwohl blind, der König des Reiches. Pandu ist der Vater der fünf Pandava-Brüder. Dhritarashtra zeugt hundert Söhne, von denen Duryodhana, der älteste, seinen Klan, die Kauravas, in der Schlacht gegen die Pandavas anführt. Der Haupthandlungsstrang des Mahabharata ist dieser Bruderkrieg, der eine komplexe Vorgeschichte hat. Die Pandava-Brüder und die Kaurava-Brüder sind gemeinsam aufgewachsen, doch haben die Kauravas die Pandavas immer wieder übervorteilt und ungerecht behandelt. Die Klans regierten schließlich ihr jeweils eigenes Königreich. Durch ihr unvorsichtiges Verhalten beim Würfelspiel verloren die Pandavas jedoch ihr Königreich und wurden von den Kauravas ins Exil geschickt. Auch nach zwölf Jahren in den Wäldern durften sie nicht in ihr Königreich zurückkehren. So kam es zu der epischen Schlacht zwischen den Klans, denen sich auf beiden Seiten zahlreiche Heere anschlossen. Krishna, mit beiden Klans verwandt, wurde Wagenlenker eines der Pandava-Brüder, Arjuna. Die Schlacht wird als Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse stilisiert, wobei das Böse keineswegs nur auf der Seite der Kauravas liegt. Viele Interpreten verlegen die Auseinandersetzung nach innen: Das Schlachtfeld ist das menschliche Herz; der Kampf wird zwischen den Stärken und Schwächen des Menschen ausgetragen.

Der mit hellseherischen Fähigkeiten ausgestattete Wagenlenker Sanjaya schildert dem blinden König Dhritarashtra die Schlacht. Mit einem Zwiegespräch zwischen ihm und dem Erzähler Sanjaya beginnt die Bhagavadgita.


Der blinde König Dhritarashtra lauscht dem hellseherischen Sanjaya. Gouachemalerei, zwischen 1820 und 1840

Viele Episoden und Einlagen des Mahabharata diskutieren ethische, rituelle, spirituelle sowie gesellschaftliche Fragen. So repräsentiert das Epos das vielgestaltige Universum des Hinduismus in allen Facetten. Die Bhagavadgita wiederum ist in das sechste Kapitel des Mahabharata integriert, und zwar an einem entscheidenden Handlungspunkt.

Die Krieger der beiden Klans stehen sich auf Kurukshetra, einem Feld in der Nähe von Delhi, gegenüber. Sie blicken Auge in Auge. Auf der Seite der Pandavas warten Krishna und Arjuna auf ihrem von Pferden gezogenen Kriegswagen, den Bogen im Anschlag und bereit, jederzeit auf das feindliche Heer loszustürmen. In jenem Augenblick entdeckt Arjuna viele Verwandte auf der Seite der Kauravas, die er zu töten bereit sein muss. Er verzagt und ist willens, eher sich selbst den Tod zu geben, als seine engsten Verwandten umzubringen. Doch dann interveniert Krishna und verkündet seine Lehre. Er will Arjuna ermutigen, selbst gegen die eigene Familie Krieg zu führen, weil es sein dharma, sein Schicksal, gebietet.


Die epische Schlacht auf dem Feld von Kurukshetra. Auf dem linken Streitwagen befinden sich der Krieger Arjuna und Krishna, der als sein Wagenlenker auftritt. Auf der rechten Seite wird Karna abgebildet, der die Armee der Kauravas befehligt. Aquarell auf Stoff, ca. 1820

An dieser Stelle müssen mehrere Verständnishürden überwunden werden, bevor sich die Bhagavadgita verstehen und wertschätzen lässt. Die eine Hürde ist das Kastensystem. Der Hinduismus kennt vier Kasten in absteigender Reihenfolge: die Priester (Brahmanen), die Krieger, die Händler und die dienende Kaste. Ursprünglich übten die Mitglieder einer Kaste auch den Beruf ihrer Kaste aus. Dies ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr durchgängig der Fall. Längst nicht alle Brahmanen sind heutzutage Priester. Auch die Mitglieder der untergeordneten Kasten folgen durchaus nicht alle ihren der Kaste entsprechenden Berufen. Besonders in den Städten hat die Kaste allenfalls bei der Heirat noch Relevanz: Man soll innerhalb der Kaste oder Unterkaste heiraten. Außerdem wurde das Kastensystem offiziell abgeschafft, nachdem Indien 1947 politisch unabhängig wurde. Doch wirkt das Kastenwesen im Bewusstsein der Hindus nach und ist wichtig zum Beispiel bei politischen Wahlen, der Vergabe von Jobs und allgemein in der Gesellschaft für die Achtung (oder Verachtung) der Einzelnen.

Unserem Gefühl widerstrebt die Einteilung der Menschen in höhere und niedere Kasten. Früher gab es in Europa die verschiedenen Stände, heute überwiegt die demokratische Betonung auf Gleichheit. Doch die Lehre der Bhagavadgita beruht auf dem Fundament der Kastenhierarchie. Krishna sagt mit Nachdruck: Arjuna, du gehörst der Kriegerkaste an, also ist es dein Schicksal, Krieg zu führen. Deine Kasten-Bestimmung ist oberstes Gesetz.

Die zweite Hürde ist das Gebot des Kriegführens allgemein. Wir kennen den Hinduismus und den Buddhismus als Fackelträger der Gewaltfreiheit (ahimsa). Viele ihrer Heiligen und Denker haben Gewalt verdammt und eine Welt im Frieden gepredigt. Der tiefere Grund dieser Lehre ist die psychologische Maxime: Wer unter den Mitmenschen keine Gewalt übt, der kann auch in seinen Gefühlen und seiner Seele Frieden schaffen. Ebenso umgekehrt: Wer in seinem Innern Frieden schafft, der verliert die Aggressivität, um gegen Menschen zu kämpfen. Krishnas Lehre steht dem entgegen, obwohl auch er immer wieder betont, dass es der Menschen Pflicht sei, in ihrem Inneren Frieden, Ausgeglichenheit, Gleichmut zu suchen und zu erhalten. Dies ist eine von mehreren Unstimmigkeiten, mit der sich kritische Leser der Gita auseinandersetzen müssen.

Dieser heilige Text ist in seiner Geschichte unzählige Male interpretiert und für fast alle Ideologien eingespannt worden. Die »Sowohl-als-auch«-Flexibilität des Textes, seine historisch gewachsene Vielschichtigkeit, macht es Interpreten unterschiedlicher philosophischer und religiöser Standpunkte nicht schwer, »ihre« Deutung der Gita aus dem Text herauszulesen. So sah Mahatma Gandhi in der Gita einen Text der Gewaltfreiheit und die Bestätigung seiner eigenen Lehre der Gewaltlosigkeit.

Weiterhin, die Kriegsbereitschaft, ja, die Kastenverpflichtung zum Kämpfen und Töten, hat das ethische Gerüst der Gita außerhalb Indiens immer wieder einseitig erscheinen lassen. Die Möglichkeit, dem verfeindeten Brüderheer zu vergeben, der Wunsch, Barmherzigkeit zu üben, zeigt sich nirgendwo. Der große Europäer Albert Schweitzer hat die Bhagavadgita in seinem Buch Die Weltanschauung der indischen Denker scharf kritisiert.

Tatsächlich endet das Mahabharata mit der grausamen Ausrottung der Kaurava-Brüder. Vergebung und Barmherzigkeit sind jedoch nicht Haltungen, die etwa dem Christentum vorbehalten wären. Die theistischen Theologien des Hinduismus, etwa die vishnuitischen Theologien, kennen Gnade, Vergebung und Barmherzigkeit, was in zahllosen Liedern belegt ist. Auch im Verständnis der Menschen sind solche Haltungen lebendig.

Die Bhagavadgita schlägt einen anderen Weg ein. Auf der Ebene der praktischen Ausübung des Kastenethos bleibt, wie Krishna betont, der Kampf als einzige Lösung. Doch kann man diese Ebene weltlicher Pflichten, ohne dass sie ungültig wird, transzendieren. Hiermit lernen wir den spirituellen Lebensentwurf, den die Gita predigt, kennen.

In der Forschung wird angenommen, dass die Bhagavadgita nicht von einem einzelnen Autor aufgeschrieben wurde, sondern ihre Gestalt nach und nach von verschiedenen Autoren und durch mehrere Redaktionen erhielt. Der berühmte Indologe Helmuth von Glasenapp (1891–1963) notiert, dass »das Werk seinem Grundbestandteil nach nicht lange vor 300 vor Christus entstanden sein kann, später aber noch Zusätze und Erweiterungen, vielleicht auch Kürzungen erfahren hat.« Um 800 nach Christus hat die Gita »schon in der heutigen Gestalt und im heutigen Umfang bestanden«.

In ihr verbinden sich im Wesentlichen drei von den schon damals ausgeformten philosophischen Richtungen. Der wichtigste Einfluss ist die Samkhya-Philosophie. Sie lehrt zwei ewige Prinzipien: prakriti, den Stoff, das Materielle alles Seienden, und purusha, die »Person«, das Geistige. Durch den Einfluss des Geistigen entfaltet sich die Materie, latent und ungeformt wie sie ursprünglich ist, zu dem Kosmos, den wir mit unseren Sinnen erfahren. Das geistige Prinzip ist die Energie, durch die die Materie in Bewegung gerät. In gleicher Weise entfalten sich die inneren Anlagen des Menschen von einer bloßen »Bewusstheit« zu Ichbewusstsein und Denkfähigkeit bis hin zur Erkenntnis und dem Handeln.

In der Gita ist ausführlich von den drei menschlichen Grundeigenschaften (gunas) die Rede, die im Zusammenspiel die Menschen zum Handeln antreiben. Sie sind das Ruhige, Ausgeglichene (sattva), das Unruhige, Feurige (rajas) und das Träge, Hemmende (tamas). Man kann sie mit den im europäischen Zusammenhang bekannten vier Temperamenten vergleichen. Jede Tat wird von allen drei Eigenschaften beeinflusst. Wichtig ist, dass rajas und tamas so weit wie möglich und notwendig unterdrückt werden, um sattva zu fördern und zur bestimmenden Eigenschaft jeder Tat werden zu lassen.

Der zweite wesentliche Einfluss ist die Yoga-Philosophie. Wir stellen uns unter Yoga im Allgemeinen körperliche Übungen vor, die unsere Fitness unterstützen. Darüber hinaus sind die Übungen jedoch ein Mittel, um auf die Emotionen und den Geist beruhigend und ausgleichend einzuwirken. Dies ist nur ein Zweig des Yoga, genannt Hatha-Yoga. »Yoga« hat eine breitere Bedeutung. Begrifflich heißt es Einigung (von verschiedenen Wesenheiten) oder Einssein – das deutsche »Joch« ist sprachlich damit verwandt. Philosophisch meint Yoga die wesentliche Ungeschiedenheit von Einheit und Vielfalt, von Gott und Welt wie auch die Einübung in diese Erkenntnis. In der Gita wird diese Vision des Gemeinsamen von solchen Polaritäten immer wieder durchgespielt. Wohlgemerkt, es geht eben nicht um sich ausschließende Gegensätze, sondern um sich ergänzende Polaritäten. Samkhya und Yoga ergänzen sich. Samkhya übt die Unterscheidung des Geistes von den materiellen Weltprinzipien ein, während Yoga die praktische Aneignung dieser Unterscheidung auf dem Weg der Konzentration und Versenkung verlangt.


Florale Ornamente zieren dieses Manuskript einer Bhagavadgita-Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert

Krishna versucht Arjuna davon zu überzeugen, den Kampf gegen das Heer der Verwandten zu wagen, indem er einerseits auf dessen Kastenpflicht hinweist, andererseits aber Verzicht und »Weltaufgabe« predigt. Hier rühren wir an den Kern des hinduistischen Ethos. Bis heute ehren Hindus Mönche und Nonnen als die Idealmenschen ihrer Religion – Menschen also, die die »Welt aufgegeben« haben. Sie heiraten nicht und leben außerhalb der Familie, einzig dazu verpflichtet zu lernen, den Objekten der Sinne nicht anzuhaften und gleichzeitig Versenkung oder Meditation oder Konzentration auf das Göttliche zu üben. Auch heute werden solche »Entsagende« verehrt und deren Lebensweg unterstützt.

In der Gita lehrt Krishna einen noch schwierigeren Weg. Wer in der Versenkung eine gewisse Tiefe erreicht hat, erlebt eine einigende Wirkung. Das heißt, Gefühle und Gedanken zerstreuen sich nicht an sinnlich erfahrbaren Gegenständen. Der Mensch spürt eine innere Konzentration, die sich im Bewusstsein einer äußeren, einer kosmischen All-Einheit widerspiegelt. Dieser Rückzug aus der Vielheit in die äußere und innere Einheit macht das absichtsvolle Handeln unter Menschen nicht leicht. Handeln kann zweierlei bedeuten. Einmal rituelle Verrichtungen, etwa Gottesdienste verbunden mit asketischen Übungen, oder das Handeln unter den Menschen. Krishna fordert Arjuna dazu auf, im Zustand der inneren Einigung zu handeln, ohne dabei aus dieser Einigung herauszufallen.

Rechtes Handeln bedeutet nach der Gita, zu handeln, ohne die »Früchte« dieses Tuns anzustreben und, sobald sie sich einstellen, ohne sie mit Ich-Gefühlen wie Stolz und Selbstlob zu belegen. Dies ist die berühmte Formel des nishkam-karma – ein Handeln, bei dem man die Ergebnisse der Handlungen nicht erwartet und nicht auf sich als handelnde Person bezieht. Weder ein Misslingen des Handelns noch ein Gelingen soll die Einigung des Menschen (zer)stören. Weder Stolz auf Erreichtes, noch Enttäuschung über nicht Erreichtes oder Misslungenes darf im Menschen aufkommen. Oberstes Prinzip ist, dass die Menschen ihre Pflicht tun.

Gegenwärtig befinden wir uns in einer paradoxen Situation. Begriffe wie »Verzicht«, »Askese« und »Verneinung« der Sinne sind in Europa verpönt. Mit Hilfe solcher und ähnlicher Worte können Meditationslehrer und Coachs in Achtsamkeit und ausgeglichenem Lebenswandel keine Interessenten mehr gewinnen. Als Reaktion auf und Opposition gegen eine lange Phase der Sinnenfeindschaft innerhalb des Christentums ist eine manchmal geradezu demonstrative Proklamation der Sinnenfreude die aktuelle Losung. Es muss darum erstaunen, dass Menschen aus dem christlich geprägten Westen jahrzehntelang nach Indien gefahren sind oder Inspiration bei indischen Weisheitslehrern, unter anderem bei der Bhagavadgita, gesucht und, teilweise, gefunden haben.

Warum wohl? – Gewiss, man spricht von einer Übersättigung, einem Überdruss gerade unter jungen Menschen, weshalb ihnen die Lehre von der Reduktion der Sinneseindrücke zur Hilfe kommt. Mehr noch ist es, meine ich, dieses Angebot, zu handeln und gleichzeitig »bei sich zu bleiben«, das anzieht. Diese Ausgeglichenheit im Innern und im Handeln können wir durch die wiederholte Lektüre der Gita entwickeln und festigen.

Weiterhin, wir werden uns bewusst, dass die Gita keine verneinende Botschaft verkündet, sondern eine erwiesenermaßen frohe. Die innere Einigung nämlich führt zu einer inneren Lösung und Befreiung, zu – wie Krishna verspricht – einem Bewusstsein der Freude und Glückseligkeit hier und jetzt.

Hinzukommt ein Element in der Bhagavadgita, von dem bisher nicht die Rede war: bhakti, die emotionale, verehrende Liebe zu einem persönlichen Gott. Oberflächlich betrachtet, mag sie sich nicht mit dem bisher beschriebenen Ideal, Gott durch Versenkung in unserem Inneren zu suchen, übereinstimmen. Doch wir lesen, dass Gott Krishna wieder und wieder darauf hinweist, dass Liebe und Hingabe an ihn, Krishna, zu Erlösung und Glückseligkeit führe. Krishna besteht darauf, dass in ihm selbst der Schlüssel zum geistigen Ziel zu finden sei. Der Gott, den die Menschen in ihrem Innern durch Versenkung, Meditation und Einigung zu finden trachten, dieser selbe Gott existiert auch außerhalb von ihnen als ein persönlicher Gott – und dieser Gott ist Krishna.

Die Mythologie beschreibt Krishna in unterschiedlichen Phasen. Seine Geburt, die geheim gehalten wurde, weil ein mächtiger König nach seinem Leben trachtete, hat eine bemerkenswerte Parallelität zur Geburt Christi. Als lebhaftes Baby, unartig Honig naschend, verehren ihn viele Hindus. Seinen nächsten »Auftritt« hat Krishna als anmutiger Jüngling, als Kuhhirte, der auf der Weide Flöte spielend die Mädchen zu sich lockt, die am Abend erscheinen, um die Kühe zu melken. Die Mädchen, allen voran deren Anführerin Radha, verlieben sich in Krishna. Sie kommen und spielen und tanzen mit Krishna, doch bald entzieht er sich ihnen, um darauf an einem anderen Ort, im Wald oder am Flussufer, seine Flöte wieder erklingen zu lassen. Dieses erotische Spiel, seit Jahrhunderten in Tausenden von Liedern evoziert, ist als das Symbol für das Spiel Gottes mit der menschlichen Seele gedeutet worden. Als Nächstes erscheint Krishna als Wagenlenker, der in die Schlacht der Pandavas gegen die Kauravas zieht. Zum Ende schildert das Mahabharata den Tod Krishnas, den durch Zufall der Pfeil eines Jägers trifft.

Krishna gilt seinen Anhängern als eine Inkarnation des obersten Gottes Vishnu, der im Hindu-Pantheon als jener Gott verehrt wird, der die Welt erhält, das heißt, durch sein Wirken für deren Fortbestand sorgt. Eine seiner zehn Inkarnationen ist Krishna, der sich allerdings in der Bhagavadgita selbst als den höchsten Gott, der die Welt erschuf und erhält, offenbart. Eine solche Epiphanie Krishnas erleben wir im Elften Gesang: In Krishna ist alles enthalten, alle Welten, alle Geschöpfe, alle Sonnen und Sterne. Er umfasst sogar das Grauenvolle und Böse. Gott ist das Faszinierende und gleichzeitig das Erschreckende.

Arjuna, dem diese plötzliche Erfahrung von Krishna als Gott zuteilwird, erschaudert. Schließlich bittet Arjuna den Gott, wieder zu der ihm vertrauten menschlichen Gestalt als Freund und Waffengefährte zurückzukehren, den er liebend verehrt, vor dem er aber nicht erschaudern muss. Wieder beobachten wir die charakteristische Polarität: Krishna ist persönlicher Gott, aber dann auch das göttliche All-Sein.

Diese theistische Haltung der bhakti ist im Hinduismus am weitesten verbreitet. Gott als den Jüngling Krishna zu verehren, erscheint den Menschen »natürlicher«, als durch Yoga, nämlich die Verneinung der Sinneserfahrungen, zur inneren Einigung zu gelangen. Freude, Glückseligkeit, »Erlösung« von den Plagen des irdischen Lebens stehen am Ende beider Wege. Krishna verspricht sogar eine Überwindung der Wiedergeburt. Denn im indischen Verständnis ist Wiedergeburt letztlich nicht wünschenswert. Ziel ist, nicht mehr wiedergeboren zu werden, und sei es in privilegierten Umständen, sondern in dem göttlichen All-Sein Krishnas zu verlöschen, eins mit ihm zu werden.

Wenn ich anfangs von der Notwendigkeit sprach, den unmittelbaren, im Mythos vorgegebenen Handlungsgrund zu transzendieren, dann ist damit, zusammengefasst, gemeint: Wir lenken die Aufmerksamkeit auf unsere jeweils individuelle Pflichterfüllung im privaten und im gesellschaftlichen Leben. Das daraus sich entfaltende Handeln soll uneigennützig sein und aus Verehrung für den persönlichen Gott geschehen. Dieser Gott ist gleichzeitig Person und der Urgrund unseres Seins, ist All-Gottheit. Erlösung von der Wiedergeburt und Auflösung in Gott oder Glückseligkeit bei Gott sind Versprechen und Ziel.

Die Bhagavadgita hat in Europa einen Siegeszug ohnegleichen erlebt. Zum ersten Mal wurde sie in England übersetzt, und zwar von Charles Wilkins (1785). Die erste kritische Ausgabe im Original gab der Romantiker August Wilhelm Schlegel mitsamt einer lateinischen Übersetzung heraus (1823). Er wurde übrigens auf den ersten indologischen Lehrstuhl in Deutschland berufen, der von der Universität Bonn geschaffen wurde. Bedeutende deutsche Indologen und Religionswissenschaftler, wie Richard Garbe, Paul Deussen und Rudolf Otto, haben die Gita übersetzt.

Wie stark die Bhagavadgita auch in Deutschland in tiefere Schichten der Kultur hineingewirkt hat, mag Hermann Hesses Wertschätzung dieses Textes zeigen. Er nahm die Gita in seine Bibliothek der Weltliteratur auf und schrieb ein Gedicht zur Bhagavadgita, worin es heißt:

Krieg und Friede, beide gelten gleich,

Denn kein Tod berührt des Geistes Reich.

Ob des Friedens Schale steigt, ob fällt,

Ungemindert bleibt das Weh der Welt.

Darum kämpfe du und lieg’ nicht stille;

Daß du Kräfte regst, ist Gottes Wille!

Doch ob dein Kampf zu tausend Siegen führt,

Das Herz der Welt schlägt weiter unberührt.

Das Gedicht ist auf »September 1914« datiert, den Beginn des Ersten Weltkriegs. Hermann Hesse brauchte Trost und eine erste Orientierung, und fand beides in der Gita. Später würde er zu einer konsequenten Antikriegshaltung finden.

Die in diesem Band wiedergegebene Übersetzung in Reimform von Robert Boxberger (1836–1890) entstand 1870 und wurde von Helmuth von Glasenapp überarbeitet. Boxberger war, wie von Glasenapp berichtet, ein Erfurter Realgymnasiallehrer, der mit akademischen Arbeiten über Lessing, Schiller und Rückert hervorgetreten ist. Helmuth von Glasenapp kommentiert die Übersetzung Boxbergers so:

Es liegt im Wesen aller Lehrgedichte, daß sich in ihnen der Genius des Dichters nur in einzelnen Abschnitten voll entfalten kann, daß sich aber an vielen Stellen nicht immer das Lehrhafte mit den Forderungen der Poesie in Einklang bringen läßt. Bei einer Übertragung in eine andere Sprache wächst diese Schwierigkeit noch durch die gebotene Treue gegenüber dem Original und den Zwang des Metrums und des Reims. Es wird daher niemand erwarten können, daß die Übersetzung eines didaktischen Dialogs in allen seinen Teilen zugleich ein dichterisches Meisterwerk darstellt. Ungeachtet mancher Schwächen wird aber doch Boxbergers Wiedergabe dem Leser eine zureichende Vorstellung von dem Original vermitteln können, mag auch die Treffsicherheit des Ausdrucks und der Hauch des Weihevollen, die dem Urtext eigen sind, sich in unserer Sprache nicht voll übertragen lassen.

Trotz aller Kompromisse, die jede Übersetzung eingehen muss, ist Robert Boxbergers Version der Bhagavadgita volle 150 Jahre lebendig geblieben. Sie ist leicht fasslich, lädt durch ihre rhythmische und gereimte Sprache zum lauten Lesen oder Vorlesen ein und eignet sich besonders für einen ersten Zugang. Ihr ist zu wünschen, dass sie weiterhin ihre Leser und Leserinnen findet.

Santiniketan/Indien und Boppard am Rhein im Frühjahr 2021 Martin Kämpchen

Bhagavadgita

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