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WECHSELJAHRE TREFFEN AUF PUBERTÄT, TREFFEN AUF LOCKDOWN UND ERINNERN AN MAUERFALL

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Mit 25 Mutter, mit 50 Großmutter und mit 75 Urgroßmutter. So lief es wie ein zuverlässiges Uhrwerk bei meiner Großmutter, meiner Mutter und mir.

Mit 46, schon schiebe ich jetzt meine Enkeltochter im Buggy zum Wochenmarkt und muss aufpassen, nicht zu platzen vor Stolz, wenn sie Oma sagt.

Sie ist die Tochter meines Sohnes, den ich mit 25 bekommen habe.

»Warum kriegt man Kinder?«, fragt meine sechzehnjährige Tochter. Sie will einen vernünftigen Grund hören, aber mir fällt keiner ein. Mir fällt nur ein, dass ich damals, als mein Sohn geboren war, beschloss zu warten, bis ich das zweite Kind wieder genauso sehr wollen würde wie das Erste. Ich wollte die Erfahrung, das erste Kind zu bekommen, zweimal haben. Nach dreieinhalb Jahren war es so weit. »Warum ich das wollte, kann ich dir echt nicht sagen, nur dass es total dringend war.« Meine Tochter ist nicht zufrieden mit der Antwort. Momentan ist sie sowieso mit gar nichts zufrieden. Meine Antwort hält sie für so einen ausweichenden Mama-Text, den ich mir für komplizierte Fragen zurechtgelegt habe. Anstatt die Sache einfach mal klarzustellen, versuche ich nur irgendwie rüberzubringen: keine Ahnung, hab dich lieb.

Vielleicht spürt sie dieses tickende familiäre Uhrwerk ablaufen, wonach sie in neun Jahren dran wäre. »Was denkst du denn, warum man Kinder kriegt?«, frage ich. Im Gegensatz zu mir, muss sie nicht lange nachdenken: »Na, weil man nicht allein sein will.«

In Gesprächen mit Freunden hatten wir immer wieder Erklärungen fürs Kinderkriegen gefunden. Zum Beispiel das Bedürfnis Prioritäten zu setzen, um herauszufinden, was wirklich von Bedeutung ist im Leben. Aber, nicht allein sein zu wollen, erschien mir jetzt der dringendste Grund von allen. Aus dem Mund meiner sechzehnjährigen, im Homeschooling gefangenen Tochter war es jetzt auch der traurigste Grund. »Naja und man will wissen, wie es aussieht und ob es so ist wie man selber«, sagt meine Tochter noch.

Als ich mit 20 und mit 23 schwanger war, wurde mein Wunsch nach einem Kind nach zwei Fehlgeburten immer dringender. »Du musst deine Füße erstmal richtig in die Erde stecken, Mädchen«, sagte mir ein Heilpraktiker, »du bist ja selber noch gar nicht richtig angekommen«, und verschrieb mir einen Kräutertee, der mir offenbar half, Wurzeln zu bilden.

Aus blinder Verliebtheit wissen zu wollen, wie unser Kind aussehen würde, wäre 15 Jahre später beinahe nochmal ein Grund gewesen, als ich mich vom Vater meiner Kinder getrennt und meinen jetzigen Mann kennengelernt hatte. Glück vermehrt sich durch Teilung. Manchmal durch Zellteilung. Aber dafür waren meine Füße schon zu tief in der Erde. Dafür war ich schon zu sehr angekommen in der Welt, in der Gesellschaft und der Alltagsrealität. Zu vernünftig für so etwas Unvernünftiges wie Kinderkriegen.

Mein Sohn hatte die erste Freundin und langsam verschoben sich die Prioritäten. Ich wurde nicht mehr so sehr gebraucht, nicht mehr rund um die Uhr. Mein Körper gehörte wieder mir, wurde nicht mehr eruptiv beschlagnahmt. Mein Kopf durfte sich wieder eigene Gedanken machen, musste keine Kinderfragen mehr verstehen, die ja bekanntlich die kompliziertesten sind.

Auch heute noch sind die Fragen meiner Tochter kompliziert, obwohl wir einander viel nähergekommen sind, was den Intellekt betrifft. Auch die Arbeitsteilung im Haushalt funktioniert endlich. Aber wir entfernen uns in unseren Interessen und der körperlichen Nähe. Nur auf den Haaransatz lässt sie sich noch küssen und manchmal umarmen. Füße massieren, auch erlaubt.

Als meine Tochter 15 wurde, begann eine Pandemie und alles änderte sich. Als ich 15 wurde, gab es einen Mauerfall und alles änderte sich. Meine Mutter war in den Wechseljahren wie ich jetzt. Im Neuorientierungs-Chaos der Nachwendezeit hatten viele DDR-Mütter ihre jugendlichen Kinder vorübergehend komplett vergessen, und ich musste allein klarkommen mit der Freiheit, die bis dahin so begrenzt war in unserem kleinen sicheren Land, von dem ich meiner Tochter jetzt zu erzählen versuche: Damals, als es noch normal war, dass Frauen nicht erledigt waren, wenn sie ohne Ernährer Kinder bekamen, war es eine alberne Vorstellung, dass Mütter im Westen noch an den Herd gestellt wurden. Das kam mir so infantil vor wie ein Mutter-Vater-Kind-Spiel im Kindergarten. So war das doch zu Hause nicht wirklich, oder?

Als ich einen neuen Westberliner Schulfreund nach der Arbeit seiner Eltern fragte, nannte er nur den Job seines Vaters. »Und deine Mutter?«, fragte ich. Er sah mich irritiert an »Meine Mutter? Was soll sie arbeiten?« Unfassbar für mich, dass ein erwachsener Mensch nicht arbeitete. Offenbar hatte ich da irgendetwas ganz Entscheidendes nicht geschnallt.

»Hier, kauf dir mal was Schönes«, sagten immer mal wieder alte Westberliner Männer aus unserer neuen Bekanntschaft und drückten meiner stolzen starken Mutter gnädig einen Schein in die Hand, wie einem armen Kind. Die lachte nur und das verstand im Westen keiner. Geld schien plötzlich der höchste Wert im Leben zu sein. Das verstand im Osten keiner. Jedenfalls nicht gleich. Aber nach einer Weile dann doch und neuerdings haben wir es ja sogar so eingerichtet, dass ein Kind ein Privatvergnügen ist, wie ein Segelboot. Das verstehen jetzt endlich alle. Ich erkläre also meiner Tochter, warum ich nicht auf die Idee gekommen bin, erst nach dem Studium Kinder zu bekommen. Dass wir immer so wenig Geld hatten, lag nämlich vor allem daran, dass ich es nicht schnell genug verstanden hatte, mit dem Ernährer und dem Segelboot.

Stell dir vor, im Osten gab es von allem nur eine Sorte. Milch, Butter, Mehl, Rasierapparate, Schuhe für die Jugendweihe, da musste man überhaupt nichts selbst entscheiden. Unsere Autos waren aus Hanf und Kunststoff zusammengeklebt, und wir durften Kinder kriegen, so viele wir wollten, selbst wenn wir gar kein Geld hatten. Niemanden störte das. Unsere Segelboote mussten wir sowieso selber bauen.

Ich versuche zu beschreiben, warum eine Mangelwirtschaft ein cooleres Gemeinschaftsgefühl erzeugt als eine Überflussgesellschaft, und dann passiert es, dass ich meine geliebte friedliche, farblose Kindheit in diesem kleinen Land verkläre.

Am Herd zu bleiben, hätte meine Mutter zwar wahnsinnig gemacht, aber so richtig zufrieden habe ich diese Mutter auch nicht in Erinnerung. Sie hätte doch reisen wollen und ihre Klamotten gerne mal gekauft, anstatt sie immer selber nähen zu müssen.

Außerdem musste sie zusehen, dass der Staat sich ihrer beiden Töchter nicht zu sehr bemächtigte. Mit acht Wochen übernahm die Kinderkrippe die Erziehung, das Trockenwerden, die Pflichtimpfungen und fühlte sich auch gleich für die Bevormundung der Eltern zuständig. Wer in einer anderen Stadt studierte, hatte seine Kinder in der Wochenkrippe, wo es oft streng zuging. Die Großeltern waren noch jung und hatten ihre Arbeit.

Ich war aufgewachsen in einem Land ohne Hausfrauen, ohne Arbeitslose, ohne Obdachlose und ohne finanzielle Abhängigkeiten. Alleinerziehende Mütter waren nicht schlechter dran als welche mit Partnern. Kinderlosigkeit wurde eher mitleidig registriert, genauso wie die extrem seltenen Mütter und Väter, die sich gegen die gesellschaftliche Norm durchsetzten und doch Hausfrauen oder Hausmänner wurden.

Ich war zu unbekümmert, um zu verstehen, dass es nach der Maueröffnung anders lief. Eine Amerikanerin erklärte mir: Ein Kind ist ein Projekt für mindestens zehn Jahre. Da bist du raus. Das musst du dir erstmal leisten können. Ich verstand nicht, was sie damit meinte. Ein Kind, ein Projekt? Segelboot?

Meine gleichaltrigen Freundinnen hatten den Kapitalismus auch nicht gleich verstanden, und so folgten wir dem alten Uhrwerk und fingen mit Anfang zwanzig an, Kinder zu bekommen, als wären wir noch in der DDR. Waren wir ja auch. Bewegt hatten wir uns nicht. Während sich ringsherum alles bewegte, machten wir einfach, was unsere Mütter gemacht hatten.

»Wie lange wollen Sie dem Steuerzahler noch auf der Tasche liegen?«, fragte mich die Bearbeiterin des Arbeitsamtes. »Wenn Sie jetzt noch ein Kind kriegen, wird ihr Leben auch nicht einfacher. Sie können Ihrem Kind doch überhaupt nichts bieten!«

Was ich ihr in diesem Moment ins Gesicht hätte brüllen wollen, ist mir natürlich erst auf dem Heimweg eingefallen. Stattdessen steckte ich schockiert meinen Mutterpass wieder ein und versuchte den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken. »Ich will doch gar nicht, dass mein Leben einfacher wird, ich brauche eine Aufgabe! Und wenn meine Arbeitskraft hier nicht gebraucht wird, dann will ich wenigstens Kinder kriegen. Die brauchen mich. Und was ich ihnen bieten kann, das ist: EIN LEBEN!«

Ich fragte mich, ob die Beamtin ihre Sprüche in ihrer Ausbildung gelernt hat. Auf diesen Kampf war ich nicht vorbereitet.

Als »Sozialhilfe-Bedarfsgemeinschaft« brauchten Peter und ich eine Menge Freunde.

Meine Hauptaufgabe bestand, neben meiner geringfügigen Beschäftigung darin, für unsere Kinder alles, was Geld kostet, gebraucht, geborgt, geschenkt, getauscht und manchmal geklaut zu besorgen. Dem Vater der Kinder hatte die Wende auch einen Strich durch die Ausbildung gemacht. Er verdiente Geld, wo er konnte, manchmal reichte es, manchmal nicht.

Wenn meine Tochter zum Tanzkurs ging, den wir nicht bezahlen konnten, dann wischte ich danach die Halle. Wenn die Kinder im Oktober noch mit Sandalen rumliefen, fragte ich Freunde und Bekannte nach alten Winterschuhen. Das klappte nicht immer, dann steckte ich in der Kinderschuhabteilung die alten Schuhe ins Regal und die Kinder mit den neuen Schuhen in den Buggy. Wenn unsere Waschmaschine kaputt war, schleppten wir die Wäschesäcke so lange zu Freunden, bis sich jemand aus dem Bekanntenkreis eine neue kaufte und wir die alte bekamen. Wenn wir am Wochenende einen Ausflug machten und mit den Rädern in der S-Bahn aus der Stadt rausfuhren, hatten wir einen geschulten Blick für Kontrolleure und den richtigen Trick im richtigen Moment. 30 Euro für alle Tickets mit Rädern waren nicht drin.

Die Zeit war ausgefüllt mit der Organisation des kleinsten Alltags, unser Leben funktionierte vor allem durch die Beanspruchung von Hilfe. Wir profitierten davon, in einer Gesellschaft zu leben, in der die meisten Menschen genug oder zu viel besitzen und gar nicht so ungern etwas abgeben, wenn es jemand wirklich braucht. Wir brauchten es wirklich.

Ich kannte Sozialhilfe-Familien, die ihren Status geheim hielten, weil es ihnen peinlich war, wenn die Schule wusste, dass Bücher und Klassenfahrten vom Amt bezahlt wurden. Das entsprach aber nicht meiner Art der Lebenslüge.

Die Briefe des Sozialamtes waren in militärischer Befehlsform formuliert, als sollte ich mich dafür schämen, dass ich nicht in der Lage war, mich umgehend, mitsamt der Kinder, in Luft aufzulösen.

Dann sah ich mich mit erschrockenem Blick im unendlichen Spiegel, mit einem Schrubber in der Hand im Tanzsaal stehen. Hatte ich einen Ablenkungstrick angewandt, um mich nicht als Verliererin sehen zu müssen?

Ich hatte daran geglaubt, dass es mit unterstützendem Umfeld und mit der Fähigkeit zur Improvisation in dieser Gesellschaft möglich sein musste, meinen Kindern mit genug Zeit und ohne Geld eine genauso gute Kindheit zu bieten wie mit Geld und ohne Zeit.

Es ging nicht. Und für alle anderen Sozialhilfe-Kinder, -Mütter und -Väter ging es auch nicht.

Der Kraftaufwand war riesig, was gerade dringend gebraucht wurde, konnte einfach nicht gekauft werden. Vieles bekam ich trotz meiner unerschütterlichen Hartnäckigkeit, alles ins Positive zu zwingen, einfach nicht hin. Obwohl eine Freundin die Kinder kostenlos homöopathisch behandelte, fehlte dann wieder das Geld für die Kügelchen.

Aber im Gegensatz zu Geringverdienern, die auch nicht Bio kaufen konnten, hatte ich Zeit mit den Kindern zu basteln, Weihnachtskalender zu nähen, Freunde auf dem Land zu besuchen, Bücher vorzulesen, sie mit guter Musik und guten Büchern und guten Filmen aus den Bibliotheken zu füttern und sie in die Schwierigkeiten unseres improvisierten Lebens einzubeziehen.

Solange es um die Kinder ging, störte mich die Parasitenrolle nicht. Wenn mir jemand vorwarf, dass man keine Kinder kriegen sollte, wenn man kein Geld hat, hielt ich das Argument dagegen, dass man es auch nicht tun sollte, wenn man lieber arbeitet, als sich mit seinen Kindern zu beschäftigen. Der Stolz, aus billigen Lebensmitteln Gutes gekocht zu haben, oder bei der Tanzaufführung zwischen den Eltern zu sitzen, die sich die 50 Euro Kursgebühr im Monat leisten können, oder meinen Sohn sagen zu hören: »Ist eigentlich nicht so schlimm, dass ich unechte Chucks habe«, hat mir als Antrieb gereicht, um weiterzumachen.

Ich wollte nie viel Geld brauchen müssen und das Kinderhaben als Selbstverständlichkeit ansehen, nicht als Belastung. Belastend war es aber für die Kinder, die immer wiederkehrenden Geldprobleme mitzukriegen. Dass wir uns so oft durchmogeln mussten, gefiel ihnen nicht.

Und was war mit dem Beruf, der Berufung, der so genannten Selbstverwirklichung?

Ich gab Selbstverteidigungskurse an Grundschulen, arbeitete als Fotografin in Kitas, als Archivarin für einen Fotografen, als Sekretärin in einer Agentur, als Betreuerin für einen Rentner, nahm als Heimarbeiterin Aufträge an, war Verkäuferin, Kellnerin und unterrichtete Deutsch als Fremdsprache. Das Schreiben musste irgendwie dazwischen gequetscht werden. Ich schrieb in der S-Bahn, auf dem Weg von einem Job zum nächsten, oder in den 20 Minuten, während die Kartoffeln kochten.

Eigentlich wollte ich den Kindern nur ein unverbogenes Vorbild sein, wollte machen, was ich am besten konnte und am meisten wollte. Kinder kriegen unter anderem. Langsam musste ich feststellen, dass ich mich aber doch oft verbog. Für die Kinder habe ich gelächelt, wenn ich heulen wollte.

Die Erinnerungen daran, wie mein Sohn wochenlang jeden Tag vor dem Feuerwehrboot im Supermarkt saß, oder meine Tochter lieber ein gekauftes Faschingskostüm gehabt hätte als das, woran ich tagelang genäht hatte, oder mein täglicher Umweg, den ich nahm, um nicht am Ökomarkt vorbeikommen zu müssen, auf dem ich mir nichts leisten konnte, oder der letzte Tag eines Monats, an dem das Konto leer war, bis auf den einen Euro für den Einkaufswagen, wir nicht mal mehr Nudeln hatten und uns alle bei meiner Schwester zum Essen einluden, sollten irgendwann als Witz betrachtet werden. Das wird es hoffentlich nicht sein, was meine Kinder mir irgendwann vorhalten werden.

Vielleicht ist es gut, nicht zu wissen, was es sein wird, und sicher ist, dass sie sich auch an sehr viel Schönes erinnern werden. Wer nichts hat, dem kann man nichts wegnehmen, das kann dem Leben auch eine unbezahlbare Leichtigkeit geben.

Als sie geboren wurden, fing ich an, wirklich glückliche Momente aufzuschreiben, was zum Beispiel so aussah: »Aug. 05. Spaziergang abends im Feld bei Berlin mit den Kindern ins Korn gelegt, Peter auch guter Laune.«

Das sind trotz ihrer Unscheinbarkeit Dokumente, die mir zeigen, dass Glücklichsein nur bedingt mit Geld und Karriere zu tun hat. Im Westen dachte man, wir hätten in der DDR unter der Mangelwirtschaft gelitten. Aber woran es uns mangelte, das war nur der unnötige Luxus. Die Grundbedürfnisse: das bezahlbare Wohnen und Essen, das Recht auf Arbeit, ausreichende Freizeit und Erholung standen jedem zur Verfügung, ob er wollte oder nicht. Wer nicht zur Arbeit kam, bei dem klopfte nach drei Tagen die staatliche Fürsorge. Das Existieren war billig, der Luxus teuer. Seit der Wende ist es umgekehrt. Und das ist nicht nur für eine Gesellschaft ungesund, sondern besonders für unsere Umwelt.

Damals lebte ich als Studentin mit Peter, dem freiberuflichen Dramatiker, und mit unseren kleinen Kindern in existenziellen Schwierigkeiten, von denen man im Westen geglaubt hatte, so hätte man im Osten gelebt. Aber im Osten zahlte meine Mutter nur zehn Prozent ihres Einkommens für die Miete, im Westen zahlten wir plötzlich fünfundsechzig Prozent, während der Luxus tat, als wäre er billig zu haben. Ohne unsere Grundbedürfnisse bezahlen zu können, war es, als steckten wir in einem Sumpf, mit unerreichbaren, aber immer vor Augen gehaltenen Verführungen: Reisen, Geräten, Vergnügungen, alles billig und doch zu teuer, weil allein unser Wohnen und Essen jeden Monat nach dem letzten Cent verlangte.

Nie war ich mir in der DDR so eingesperrt vorgekommen wie in diesem neuen Hochleistungsalltag, in dem wir weder stehen bleiben noch krank werden durften, weil das Nichtfunktionieren unsere Existenz bedrohte. Eine Anstellung bekam ich mit den kleinen Kindern nicht, arbeitete auf Rechnung, der Vater auch und wenn ein Kind Fieber bekam, mussten wir Geld borgen für die Miete.

Trotz allem schien Geld zu dieser Ehe nicht zu passen, und als das Geld kam, weil die Kinder größer wurden und uns mehr Zeit ließen, es zu verdienen, da ging die Liebe.

Fürs Reisen reicht es zwar auch jetzt nicht, denn auch der neue Mann ist aus dem Osten und hat eine Menge Kinder, aber endlich kann ich mich auf dem Ökomarkt sehen lassen.

Die Wiedervereinigung war damals positiv und mitreißend und unvermeidbar. Denn eine Mauer zu bauen, weil man erlebt hat, wie Menschen sich in Wahnsinnige verwandeln können, funktioniert offenbar nicht für die nächste Generation, die diese Maßnahme nicht mehr einsieht. Dem braunen Terror die rote Diktatur entgegenzusetzen, lässt sich als Lehre nicht vererben. Aber wie die DDR nach 1989 ausverkauft und geplündert wurde, daran war nichts Positives. Bis heute zirkuliert das Geld im Westen. Mein Sohn hat das schnell erkannt und lebt mit Frau und Kindern als Zimmermannsmeister in Schleswig-Holstein. Sein Uhrwerk geht ein paar Jahre vor. Er hat etwas Zeit übersprungen, um sich seiner älteren Freundin anzupassen. Eine Kindheit, die aus Improvisationen besteht, will er für seine Kinder nicht.

Meine Tochter will das auch nicht. Sie will dasselbe, was ich mit 16 wollte: Reisen, Shoppen, Ausgehen und Kultur konsumieren.

Für mich war das in ihrem Alter zum ersten Mal möglich. Endlich durften wir alle Filme sehen, alle Bücher lesen, jede Musik hören, jeden Radio- und Fernsehsender und wurden im selbständigen Denken nicht mehr nach Formeln geschult, endlich gab es Clubs, Kneipen und Kinos.

Die Pandemie ist nicht positiv und mitreißend. Sie ist traurig, lähmend und bitter. Meiner Tochter verschließt sich jetzt wieder, was sich für mich damals öffnete: Reisen, Shoppen, Ausgehen.

Zur Ablenkung beschäftigen wir uns mit dem Wohnen. Die hormonellen Gereiztheiten, die uns manchmal überwältigen, sorgen für mittlere Explosionen im Haushalt, in dem wir miteinander auskommen müssen, ob wir wollen oder nicht. Andererseits erhöhen Wechseljahre, die auf Pubertät treffen, auch das gegenseitige Verständnis für die unberechenbaren Gefühlsschwankungen.

An Zukunftsangst kann ich mich nach der Wende nicht erinnern, obwohl sie berechtigt gewesen wäre. Jetzt, während der Pandemie, ist die Zukunftsangst enorm. Was mich beruhigt, ist die Gewissheit, dass alle Großeltern zu jeder Zeit diesen Satz gedacht haben: Was sind das nur für Zeiten, in die meine Enkelkinder hier geboren wurden?

Die Sorge um das Seelenheil meiner Tochter lässt mich vor allem nachts in Panik verfallen. Und was ist mit dem Uhrwerk? Wird sie dem folgen, oder wird sie über die Zeiger springen und sich keinen ideologischen oder finanziellen Zwängen unterwerfen?

Jede Bewegung erzeugt eine Gegenbewegung. Vielleicht wird ja die negative Pandemie auch viele positive Folgen haben, genauso wie die positive Wiedervereinigung viele negative Folgen hatte. Was ich ihr wünsche, ist, dass sie ihre Kinder nicht aus Einsamkeit bekommt, sondern lieber aus übermütiger Verliebtheit und dem Bedürfnis, das Glück zu teilen.

Mutter werden. Mutter sein.

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