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KARL R. POPPER Aufklärungsethos und kritische Rationalität
ОглавлениеVon KURT SALAMUN
1.1 Philosophieren in der Tradition der Aufklärung
Für Karl Raimund Popper (1901 – 1994), den Begründer der Denkströmung des Kritischen Rationalismus, war Philosophieren notwendig an ein Aufklärungsethos gebunden. Dieses Ethos trat schon in frühen Jahren zutage, als er noch als junger engagierter Lehrer an verschiedenen Schulen und Erwachsenenbildungsinstitutionen in Wien tätig war. Von Einsichten der Würzburger Schule der Denkpsychologie (Otto Selz u. a.) ausgehend, die ihm sein Doktorvater Karl Bühler – Popper schrieb bei ihm an der Wiener Universität die Dissertation ›Zur Methodenfrage der Denkpsychologie‹ (1927) – vermittelt hatte, bemühte er sich damals, falsche Methoden des Lehrens und Lernens ins allgemeine Bewusstsein zu heben. Durch Artikel in pädagogischen Zeitschriften wollte er seine Lehrerkollegen(Innen) über falsche Lehrmethoden aufklären, die auf unrichtigen Annahmen über das Erkenntnis- und Lernvermögen des menschlichen Geistes in der damaligen Assoziationspsychologie beruhten.
In späteren Denkperioden hat Popper seine Philosophie mehrfach explizit der Tradition der Aufklärung zugeordnet. So bezeichnete er sich selber einmal als einen „der letzten Nachzügler des Rationalismus und der Aufklärung“, der an die „Selbstbefreiung des Menschen durch das Wissen“ glaubt, „ebenso wie einst Kant, der letzte große Philosoph der Aufklärung, oder wie einst Pestalozzi, der die Armut durch das Wissen bekämpfte“.1 Wie sehr sich Popper in seinem Aufklärungsverständnis von Immanuel Kant beeinflusst sah, macht eine einleitende Bemerkung zur deutschen Ausgabe seines sozialphilosophischen Hauptwerks ›Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‹ deutlich. Dort heißt es: „Die Moral, die in diesem Buch implizite gepredigt wird, ist die, die Kant begründet hat – so gut sie der Verfasser eben versteht.“2 Poppers Wertschätzung für den Aufklärungsphilosophen Kant zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass er dieser Ausgabe den Text einer Rundfunkrede voranstellte, die er aus Anlass des 150. Todestages von Kant unter dem Titel ›Immanuel Kant: Der Philosoph der Aufklärung‹ gehalten hatte. Er würdigt dort Kant als einen Giganten des Geistes, der eine zweifache kopernikanische Revolution vollbracht habe: Erstens, als Kosmologe, Philosoph der Erkenntnis und der Wissenschaft, indem er die Vorstellung aufgegeben hat, dass der Mensch ein passiver Zuschauer ist, der darauf wartet, bis die Natur ihm ihre Gesetzmäßigkeiten aufdrängt.3 Zweitens, als Moralphilosoph, indem er den Menschen zum Gesetzgeber der Moral gemacht hat. „Kants Kopernikanische Wendung im Gebiete der Ethik ist in seiner Lehre von der Autonomie enthalten: […] Wenn wir dem Befehl einer Autorität gegenüberstehen, sind es doch immer nur wir, die auf unsere eigene Verantwortung hin entscheiden, ob dieser Befehl moralisch ist oder unmoralisch.“4
Es ist hier nicht der Ort, auf Poppers Kant-Verständnis näher einzugehen und dessen Adäquatheit zu prüfen. Es geht vielmehr darum, das Selbstverständnis von Popper als Aufklärungsphilosoph zu explizieren und auf das Aufklärungsethos zu verweisen, das seinem gesamten Philosophieren zugrunde liegt.
1.2 Die Idee von der Selbstbefreiung durch das Wissen und von der Notwendigkeit der Aufklärung über die Aufklärung
Konstitutiv für das Ethos der Aufklärung war seit je das Anliegen, Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen durch Vernunft zu fördern. Dabei sollte die kritische Reflexion der Vernunft vor keiner bisher unbefragt akzeptierten Autorität und keiner bisher undurchschauten Abhängigkeit Halt machen. Dieses Anliegen erweist sich aufs Engste mit der Idee verknüpft, dass Autonomie und Selbstbestimmung stets notwendig einen Akt der Selbstbefreiung durch Wissen bedeuten.
Die Idee von der Selbstbefreiung durch Wissen beinhaltet konsequenterweise auch die Forderung, dass die kritische Reflexion der Vernunft vor Implikationen und Folgen der Aufklärung, die zur Ausbildung neuer unbefragter Autoritäten und Abhängigkeiten führen, nicht Halt machen darf. Zu den gravierendsten Auswüchsen aufklärerischen Denkens gehört ein Phänomen, vor dem Popper immer wieder eindringlich gewarnt und das er auf den verschiedensten Gebieten kritisiert hat: Es ist dies die Selbstüberschätzung des Erkenntnis- und Vernunftvermögens oder die Anmaßung der Rationalität. Dieses Phänomen äußerte sich in der traditionellen Aufklärungsphilosophie in der Verbindung von vielerlei Heilserwartungen mit dem Vernunftbegriff, was Ernst Cassirer dazu bewogen hat, sogar von einer „Vernunftreligion“ in der Aufklärungsphilosophie zu sprechen.5 Im Zusammenhang mit apologetischen Überschätzungen des Vernunftvermögens kam es dabei immer wieder zur extremen Geringschätzung der emotionalen Triebkräfte im Menschen.
In neueren Aufklärungsphilosophien werden Anmaßungen des Vernunftvermögens in überzogenen Rationalitätsansprüchen deutlich, wie sie etwa Hypostasierungen einer technisch-instrumentellen, planerischen Vernunft oder einer Normen begründenden, praktischen Vernunft kennzeichnen. Popper umschreibt die programmatische Leitidee von der Selbstbefreiung durch das Wissen einmal folgendermaßen: „Die Idee der Selbstbefreiung durch das Wissen ist also nicht etwa dasselbe wie die Idee der Naturbeherrschung. Es ist vielmehr die Idee einer geistigen Selbstbefreiung vom Irrtum, vom Irrglauben. Es ist die Idee einer geistigen Selbstbefreiung durch die Kritik an den eigenen Ideen.“6
Diese Leitidee der Aufklärungstradition impliziert für Popper die Forderung, den Prozess der kritischen Reflexion und Selbstreflexion als niemals abschließbare Aufgabe zu betrachten. Aufgrund der Tatsache, dass mit jeder Lösung eines Problems unvorhergesehene Konsequenzen und nicht eingeplante Nebenfolgen verbunden sind, entstehen immer wieder neue Probleme, darunter auch Abhängigkeiten und Zwänge, die wiederum durch das kreative Erfinden und kritische Erproben neuer Problemlösungen gemildert oder beseitigt werden müssen. Dieser Prozess des kreativen Problemlösens, des Erkenntnisfortschritts durch Entwurf immer neuer Problemlösungshypothesen, ihre kritische Überprüfung und das Lernen aus Irrtümern und Fehlern (das Trial-and-Error-Verfahren), ist ein unabschließbarer Prozess. Er darf nicht um eines zum unbezweifelbaren Dogma stilisierten Wissens willen abgebrochen werden, das scheinbar eine absolut gesicherte Wahrheit und endgültige Gewissheit garantiert. Dass ein solches Wissen für das menschliche Vernunftvermögen letztlich unzugänglich bleiben muss, wird von Popper in seiner Erkenntnislehre, die er in mehreren Werken dargelegt hat, mit einsichtigen Argumenten deutlich gemacht. Popper hat die aufklärerische Intention der Selbstbefreiung durch das Wissen insofern konsequent weitergedacht, als es ihm im Besonderen darum geht, dass sich der Mensch in kritischer Selbstreflexion von überholten, allzu optimistischen Vorstellungen über das menschliche Wissen befreien soll.
1.3 Aufklärung in Bezug auf Überschätzungen der Vernunft in der Geschichtstheorie und der Sprachphilosophie
Zum Programm der Aufklärung im Rahmen von Poppers Philosophie des Kritischen Rationalismus gehört auch der Aufweis und die Kritik von Überschätzungen des Vernunftvermögens in der Geschichtstheorie und der Sprachphilosophie. Auf dem Gebiet der Geschichtstheorie wird besonders die Anmaßung kritisiert, der Mensch könne Gesetzmäßigkeiten, die den Geschichtsverlauf determinieren, entdecken und sei deshalb dazu imstande, langfristige und absolut sichere Voraussagen über den künftigen Verlauf der Geschichte abzugeben. Diese Auffassung nennt Popper „Historizismus“, er hat sie vor allem in dem Buch ›Das Elend des Historizismus‹ einer eingehenden Kritik unterzogen. Dass er den Titel dieses Buches in Analogie zum Titel einer Schrift von Karl Marx (›Das Elend der Philosophie‹) gewählt hat, weist schon darauf hin, dass er vor allem die marxistische Geschichtstheorie und deren Wissenschaftsanspruch kritisieren wollte. Popper definiert die historizistische Einstellung als „jene Einstellung zu den Sozialwissenschaften, die annimmt, daß historische Voraussage deren Hauptziel bildet und daß sich dieses Ziel dadurch erreichen läßt, daß man die ‚Rhythmen‘ oder ‚Patterns‘, die ‚Gesetze‘ oder ‚Trends‘ entdeckt, die der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen.“7
Ich kann hier nicht näher diskutieren, wieweit der Historizismus-Vorwurf, den Popper vor allem gegen Marx und die marxistische Geschichtstheorie erhebt, im Detail tatsächlich zutrifft. Sicherlich lässt sich gegen Poppers Kritik einwenden, dass bei den marxistischen Klassikern vereinzelt auch Elemente eines voluntaristischen Geschichtsdenkens anzutreffen sind, d. h. Feststellungen, die dem Menschen die Möglichkeit einräumen, die Geschichte nach seinem Willen zu gestalten. Andererseits lässt sich aber der stark deterministische oder mechanistische Grundzug, auf den Poppers Kritik abzielt, nicht wegleugnen. Er kommt u. a. in Feststellungen von Marx zum Ausdruck, dass das Ziel und die geschichtliche Aktion des Proletariats in der Organisation der bürgerlichen Gesellschaft „unwiderruflich vorgezeichnet“ sei, dass das Proletariat „seinem Sein gemäß“ etwas „geschichtlich zu tun gezwungen“ sein werde, dass die „kapitalistische Produktion […] mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation“ erzeuge, dass eine Gesellschaft „dem Naturgesetz ihrer Bewegung“ auf die Spur gekommen sei und dass er selber, Karl Marx, mit seinem Hauptwerk ›Das Kapital‹, das „ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“ beabsichtige.8
Die Überschätzung der Vernunft, gegen die sich Popper mit seinen geschichtstheoretischen Überlegungen wendet, äußert sich im historisch-politischen Denken noch in vielen anderen Auffassungen. Sie tritt ebenso in teleologischen Fortschrittsideologien zutage, in denen man die Geschichte unaufhaltsam auf ein positives Endziel zutreiben sieht, oder in geschichtlichen Zyklen- und Niedergangstheorien, in denen vorgegeben wird, ein bestimmtes Prinzip als letzte Ursache für die ewige Wiederkehr des Gleichen oder für die unausweichliche Entwicklung einer Gesellschaft in die Katastrophe endgültig erkannt zu haben. Aus der Sicht von Popper liegt allen historizistischen Doktrinen – seien sie nun gegen die Naturwissenschaften eingestellt oder an diesen orientiert – der überhebliche Anspruch der Vernunft zugrunde, in gewissen Entwicklungstendenzen und umkehrbaren sozialen Trends, die im gesellschaftlich-historischen Geschehen beobachtbar sind, gleich allgemeine und nicht umkehrbare Gesetzmäßigkeiten erkannt zu haben.
Neben dem Vorwurf, umkehrbare Tendenzen oder Trends fälschlich zu irreversiblen Gesetzmäßigkeiten hochzustilisieren, bringt Popper noch andere gewichtige Argumente vor, warum es eine Überschätzung der Vernunft bedeutet, wenn man meint, exakte, langfristige, rationale Prognosen über den künftigen Geschichtsverlauf machen zu können. Ein Argument betrifft die Ignoranz gegenüber einem Phänomen, das Popper den „Ödipus-Effekt“9 von sozialwissenschaftlichen Prognosen nennt. In der Methodendiskussion der Sozialwissenschaften ist dies als das Phänomen der „selfdestroying“ und der „self-fulfilling prophecy“ bekannt. Damit ist der Umstand gemeint, dass Voraussagen im gesellschaftlichen und historischen Bereich ein vorhergesagtes Ereignis insofern zu beeinflussen vermögen, als sie es überhaupt erst herbeiführen oder aber sein Eintreffen verhindern können.
Ein weiteres Argument, warum es aus Poppers Sicht unmöglich ist, langfristige rationale Prognosen über den künftigen Geschichtsverlauf abzugeben, hängt mit dem Menschenbild zusammen, das seiner Philosophie zugrunde liegt. Ähnlich wie Kant den Menschen als ein Wesen gesehen hat, das zwar in der Welt der Erscheinung der kausalen Naturgesetzlichkeit unterworfen, aber in der intelligiblen Welt frei ist, sich selber ein Sittengesetz zu geben und sich diesem Sittengesetz aus Achtung vor ihm zu unterwerfen, sieht Popper im Menschen ein Wesen, das über das determinierte physische und psychische Sein hinaus noch eine geistige Verwirklichungsdimension besitzt, in der er nie gänzlich berechenbar und reglementierbar ist. Popper hat in seiner Spätphilosophie eine Drei-Welten-Lehre (trialistische Ontologie) entwickelt, in der neben einer Welt 1 (der physikalischen Objekte) und einer Welt 2 (der psychischen Phänomene) noch eine Welt 3 (des objektiven Geistes) unterschieden wird.10 Was der Mensch in dieser Dimension des Geistes als Ergebnis seiner schöpferisch-künstlerischen Intuitionen in Zukunft hervorbringen wird, die kreativen Ideen, Hypothesen, Erfindungen, Kunstwerke usw., ist in der Gegenwart weder intuitiv vorauszusehen noch mit wissenschaftlichen Methoden voraussagbar. Da der Geschichtsverlauf entscheidend vom Zuwachs des Wissens, d.h. von den Erfindungen des menschlichen Geistes abhängig ist, dieser Zuwachs aber nicht exakt prognostiziert werden kann, ist auch der künftige Verlauf der Menschheitsgeschichte nicht wissenschaftlich prognostizierbar. Unbedingte Voraussagen darüber erweisen sich bei genauerer Betrachtung bloß als unwissenschaftliche Prophezeiungen. Einen Wissenschaftsanspruch können nur bedingte und jederzeit revidierbare Prognosen (Wenn-dann-Aussagen) erheben, wie sie in den Sozialwissenschaften (etwa der Ökonomie) immer wieder gemacht werden.
Eine folgenreiche Überschätzung der Vernunft sieht Popper auch im Denken über die Sprache gegeben. Er hat sie als sprachlichen „Essentialismus“ kritisiert. Damit ist die Auffassung gemeint, sprachliche Begriffe, etwa politische Begriffe wie ‚Gerechtigkeit‘, ‚Freiheit‘, ‚Staat‘, ‚Demokratie‘, müssten eine wahre, wesentliche oder eigentliche Bedeutung besitzen. Wenn man diese durch intensive wissenschaftliche Forschung oder eine geniale Vernunfteinsicht herausfinden könnte, wäre man dann ein für alle Mal im Besitz der Erkenntnis der „wahren Idee des Staates“, des „wahren Wesens der Gerechtigkeit“, der „eigentlichen Bedeutung der Freiheit“ oder des „wahren Wesens der Demokratie“. Diese Vorstellung ist aus der nominalistischen Perspektive von Poppers Aufklärungskonzeption falsch11, weil es keine ein für alle Mal gültigen, wahren Bedeutungen von sprachlichen Ausdrücken gibt. Wörter wie ‚Gerechtigkeit‘, ‚Freiheit‘ usw. werden wie andere theoretische Begriffe in unsere Überlegungen und Argumentationen eingeführt, um uns bei der Interpretation und Erklärung von moralischen und politischen Sachverhalten in der gesellschaftlichen Wirklichkeit behilflich zu sein und um normative Ziele vor Augen zu stellen, an denen es das praktische Handeln zu orientieren gilt. Ihre Bedeutung wird durch den Sprachgebrauch und durch Definitionen festgelegt und kann sich zumindest innerhalb gewisser Grenzen immer wieder ändern. Sie wird nicht von irgendwie gearteten ewigen und unveränderlichen Normgestalten oder Wesenheiten bestimmt, die „hinter“ diesen Wörtern stehen, wie dies platonistische Begriffsspekulationen nahe legen.
1.4 Die Kritik am Begründungs- bzw. Rechtfertigungsmodell der Erkenntnis
Popper geht davon aus, dass in vielen Wissenschafts- und Erkenntnisauffassungen längst überholte Modelle von Rationalität vorherrschen. Dies gilt sowohl für Auffassungen, die in der Tradition des klassischen Empirismus stehen, wie er von den englischen Empiristen Francis Bacon, John Locke und David Hume begründet wurde, als auch für Auffassungen in der Tradition des klassischen Rationalismus (Intellektualismus) von René Descartes. In beiden Denkströmungen wird ein Rechtfertigungs- bzw. Begründungsmodell der Erkenntnis nahe gelegt, das auf der Überzeugung beruht, es gebe ein absolut sicheres Fundament, eine letzte Instanz oder einen archimedischen Punkt, von dem aus man Erkenntnisse zureichend begründen, absolut rechtfertigen und ein für alle Mal als wahr erweisen könne. In der Tradition des Empirismus ist diese „letzte“ Rechtfertigungsinstanz die Sinnesbeobachtung, in der Tradition des Rationalismus die erfahrungsunabhängige Vernunfteinsicht. Die Vorstellung von einer letzten Begründungsinstanz für unser Wissens kommt zwar vielen tief in der Psychostruktur verankerten emotionalen Bedürfnissen entgegen, so vor allem dem Bedürfnis nach Gewissheit und dem emotionalen Streben nach Sicherheit in Erkenntnisbelangen. Sie führt aber andererseits zu einer für vernünftige Menschen unhaltbaren Situation, die der bedeutendste Vertreter von Poppers Philosophie im deutschen Sprachraum, Hans Albert, mit dem treffenden Terminus „Münchhausen-Trilemma“12 bezeichnet hat. Will man nämlich eine Erkenntnis sicher und zureichend begründen, hat man letzten Endes nur folgende drei Möglichkeiten, die sich gleichermaßen als unannehmbar erweisen: Man gerät mit der Begründung entweder, erstens, in einen unendlichen Regress, weil man jedes begründende Argument ebenfalls wiederum begründen muss, oder, zweitens, in einen logischen Zirkel, weil man im Argumentationsverfahren auf ein bereits vorgebrachtes Argument zurückkommt, oder man muss, drittens, das Begründungsverfahren an einem bestimmten Punkt willkürlich abbrechen. Letzteres bedeutet stets den Rekurs auf ein Dogma, denn es wird dabei eine bestimmte Instanz, sei es eine Sinneserfahrung, ein Evidenzerlebnis oder eine Vernunfteinsicht (z. B. der Sinnerfassungsakt einer vernehmenden hermeneutischen Vernunft), als letzte unhinterfragbare Wahrheitsgarantie hingestellt.
Fragt man nach Gründen, warum Popper das Begründungsmodell der Erkenntnis ablehnt, lassen sich folgende anführen:
Erstens, diesem Modell liegt eine Offenbarungstheorie der Wahrheit zugrunde, die aus mythischen und religiösen Vorstellungsbereichen der Menschheitsentwicklung stammt. Dort war eine Auffassung von Wissen vorherrschend, in der sich sowohl die Idee der logischen Wahrheit, d. h. der Widerspruchsfreiheit von Aussagen, als auch die Idee der Prüfbarkeit der Wahrheit von Erkenntnisaussagen (welche Prüfverfahren man auch immer anwenden mag) noch auf das Engste mit der Idee der Gewissheit verknüpft findet. Darüber hinaus wird in diesen archaischen Wissensauffassungen zwischen der theoretischen Geltung einer Wahrheitsbehauptung und ihren Entstehungsbedingungen noch nicht unterschieden. Popper meint dazu, dass dabei immer wieder „die Frage nach der Wahrheit einer Tatsachenfeststellung auf die Frage nach ihrem Ursprung zurückzuführen“ versucht wird, sodass dann der Anschein entsteht, „daß es tatsächlich autoritative Quellen unserer Erkenntnis gibt“.13
Ein zweiter Grund, warum Popper das Begründungsmodell der Erkenntnis ablehnt, ergibt sich aus der Einsicht, dass es letztlich zur Dogmatisierung von Erkenntnissen und damit zum Beeinträchtigen des Erkenntnisfortschritts führt. Wenn einmal gewonnene Erkenntnisse aufgrund ihrer gesicherten Wahrheitsgarantie nicht mehr infrage gestellt und der Konkurrenz mit alternativen Hypothesen und Problemlösungsvorschlägen ausgesetzt werden, können sie nicht mehr verbessert und an geänderte Problemlagen angepasst werden.
Ein dritter Grund für die Ablehnung des Begründungsmodells der Erkenntnis hängt eng mit der politischen Aufklärungsintention und mit liberal-demokratischen Wertvorstellungen zusammen, die mit Poppers Philosophieren verbunden sind. Politische Weltanschauungen und Ideologien, die ihre Motivations- und Überzeugungskraft auf dem Anspruch eines absolut gesicherten Erkenntnis- und Wahrheitsbesitzes aufbauen, erweisen sich häufig mit elitären Erkenntnisansprüchen verknüpft, die nur zu oft mit autoritären Mitteln und gewaltsamen Methoden gegen Kritik verteidigt werden. Diese aufklärerisch-ideologiekritische Dimension von Poppers Philosophie kommt vor allem in seinem sozialphilosophischen Hauptwerk ›Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‹ zum Ausdruck, in der totalitäre Denkmuster am Beispiel der Philosophien von Plato, Hegel und Marx kritisch ins Bewusstsein gehoben werden.
2.1 Zur Konzeption der kritischen Rationalität
Dem klassischen Begründungsmodell der Erkenntnis stellt Popper die Konzeption einer kritischen und selbstkritischen Vernunft gegenüber. Er beruft sich dabei wiederholt auf Sokrates, nennt aber auch Xenophanes, Thales von Milet, Nicolaus Cusanus, Erasmus von Rotterdam und Kant als Vorläufer.
Von Xenophanes zitiert er wiederholt folgende Textpassage:
„Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen
Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche.
Selbst wenn es einem auch glückt, die vollkommenste Wahrheit zu künden,
Wissen kann er sie nie: Es ist alles durchwebt von Vermutung.“14
In dieser Passage sieht Popper bereits eines der Hauptcharakteristika seiner eigenen Rationalitätskonzeption deutlich ausgesprochen: Es ist dies die Fallibilitätsthese, d.h. die These von der prinzipiellen Fehlbarkeit und Irrtumsanfälligkeit des menschlichen Erkenntnis- und Vernunftvermögens. Eine unmittelbare Folge aus dieser These ist die Auffassung, dass jede Art von Erkenntnis immer nur als hypothetisch wahr, d. h. als verbesser- und überholbar anzusehen ist, und nie als in einem absoluten Sinne gerechtfertigt oder als endgültig gesichert und ein für alle Mal wahr.15 Damit ist nicht gemeint, wie dies oft fälschlich behauptet wird, dass es keine absolut wahren Erkenntnisse geben könne. Es wird damit nur die Fähigkeit des Vernunftvermögens bezweifelt, ein absolut gesichertes Wissen darüber erlangen zu können, ob z. B. eine bisher noch so gut bewährte wissenschaftliche Erkenntnis auch in Zukunft nicht revidiert werden wird.
Neben der Fallibilitätsthese ist für Poppers Rationalitätsverständnis die Idee der rationalen Kritik und des konsequenten Kritizismus zentral. Anstatt Erkenntnisse, Problemlösungsvorschläge, Überzeugungen usw. positiv zu rechtfertigen und auf möglichst sichere Gründe zurückzuführen, gilt es sie möglichst konsequent der Kritik auszusetzen. Nicht durch Berufung auf sichere Gründe und dogmatisierte Erkenntnisquellen, sondern nur durch kritische Prüfung und Diskussion können wir Fehler und Schwächen in unseren Erkenntnissen und Überzeugungen frühzeitig erkennen, sie eliminieren und damit unsere Erkenntnisse und Überzeugungen kontinuierlich verbessern. Hans Albert schreibt dazu einmal Folgendes: „Setzt man an […] die Stelle der Begründungsidee die Idee der kritischen Prüfung, der kritischen Diskussion aller in Frage kommenden Aussagen mit Hilfe rationaler Argumente, dann verzichtet man zwar auf selbstproduzierte Gewißheiten, hat aber die Aussicht, durch Versuch und Irrtum – durch versuchsweise Konstruktion prüfbarer Theorien und ihre kritische Diskussion anhand relevanter Gesichtspunkte – der Wahrheit näherzukommen, ohne allerdings jemals Gewißheit zu erreichen.“16 Aus der Sicht dieser Rationalitätskonzeption muss ein in einer Erkenntnisaussage behauptetes Wissen nicht durch Rückführung auf letzte Begründungsinstanzen gerechtfertigt werden, um als echtes und wahres Wissen akzeptiert zu werden. Es genügt, wenn es als hypothetisches oder „konjekturales Wissen“ (Vermutungswissen) gegenüber aller bisherigen Kritik standgehalten hat. Wenn es sich gegenüber ernsthaften logischen und empirisch-rationalen Widerlegungsversuchen als widerspruchsfreies und zuverlässiges Wissen erwiesen hat, kann es als vorläufig wahr akzeptiert werden. Hat es sich in verschiedenen Problemsituationen bei Problemlösungen bewährt, kann mit Recht angenommen werden, dass es sich dabei im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit um ein zumindest vorläufig zutreffendes und wahres Wissen handelt, das mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
Poppers Verzicht auf die Idee einer absolut gesicherten Wahrheitserkenntnis und einer möglichen Letzbegründung des Wissens bedeutet keineswegs die Preisgabe des Wahrheitsideals überhaupt. Er vertritt den Standpunkt eines erkenntnistheoretischen Realismus in Verbindung mit einer regulativen Idee der Wahrheit. Die absolute Wahrheit stellt aus seiner Sicht eine regulative Idee oder ein Annäherungsideal in den Erkenntnisprozessen dar. In Bezug auf die Wahrheitsfrage gilt es stets darauf zu achten, die Idee bzw. das Ideal der Wahrheit nicht mit dem Wahrheitskriterium, d. h. dem Feststellungsverfahren der Wahrheit von Aussagen, zu verwechseln.
2.2 Kritische Rationalität, das apriorische Hintergrundwissen und der „Mythos des Rahmens“
Poppers Skepsis gegenüber der Möglichkeit, eine Letztbegründung von Erkenntnissen zu erlangen, impliziert nicht notwendig die Preisgabe jeglicher Möglichkeit einer objektiven und wahren Erkenntnis. Seine Konzeption der kritischen Rationalität hat keineswegs das Abgleiten in Wahrheitsskeptizismus und Erkenntnisrelativismus zur Folge. Dies ist auch dann nicht der Fall, wenn man eine weitere erkenntnistheoretische Grundannahme von Poppers Rationalitätskonzeption in Betracht zieht. Es ist dies eine Annahme, die er schon in seiner frühen Denkentwicklung vertreten und in einer späteren Denkphase durch Erkenntnisse aus der Evolutionstheorie gestützt hat. Bereits in seinem frühen wissenschaftstheoretischen Hauptwerk ›Logik der Forschung‹ betont Popper in der Auseinandersetzung mit der Erkenntnis- und Wissenschaftsphilosophie des Wiener Kreises des Neopositivismus, dass es keine theorieunabhängigen Erfahrungen in Form von „reinen Sinneseindrücken“ geben könne, durch welche man wissenschaftliche Theorien endgültig verifizieren könnte. Jeder Mensch besitzt ein apriorisches Wissen in Form von angeborenen Erwartungen, das jeder auf Beobachtung beruhenden Erfahrung vorausgeht und diese immer schon imprägniert.17 Popper hat diese erkenntnistheoretische Position später metaphorisch das „Scheinwerfermodell“ der Erkenntnis genannt und sie vom sogenannten „Kübelmodell“ der Erkenntnis abgegrenzt. Damit will er nichts anderes sagen als Folgendes: Unser Erkenntnisapparat hat aufgrund von angeborenen Dispositionen und Erwartungen eine a priori eingebaute Aktivitäts- und Suchfunktion, die auf das Lösen von Problemen abzielt. Der menschliche Geist darf nicht als eine ursprüngliche „tabula rasa“ angesehen werden, in die sich zunächst vielfältige Sinneseindrücke einprägen, bevor es dann durch Assoziation und Wiederholung dieser Eindrücke zu verallgemeinernden Gedanken und Hypothesen kommt. Hypothesen sind immer schon als theoretische Selektionsmechanismen bei den Erfahrungsprozessen mitbeteiligt. Evolutionsbiologisch argumentierend, stellt Popper in dem späteren Buch ›Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf‹, mit dem er zum Mitbegründer der sogenannten „evolutionären Erkenntnistheorie“ wurde, fest: „Da alle unsere Dispositionen in gewissem Sinne Anpassungen an konstante oder langsam veränderliche Umweltbedingungen sind, kann man sie als theoriegetränkt bezeichnen, […] es gibt kein Sinnesorgan, in das nicht antizipierende Theorien genetisch eingebaut wären.“18
Diese Position könnte einen Erkenntnisskeptizismus und -relativismus zur Folge haben, wenn man damit die Auffassung verknüpft, dass der Mensch sein Leben lang im Bezugsrahmen der von angeborenen Dispositionen geweckten Vorerwartungen und Hypothesen befangen bleiben muss und dass seine gesamte Weltsicht davon strikt determiniert ist. Popper wendet sich entschieden gegen diese deterministische Konsequenz, er hat sie unter der Bezeichnung ‚Mythos des Bezugsrahmens‘ in einem gleichnamigen Büchlein einer ausführlichen Kritik unterzogen.19
Dieser Mythos manifestiert sich in gewissen kultur- und sprachrelativistischen Auffassungen, so etwa in der These, dass jeder Mensch in dem durch seine soziokulturelle Lebensform internalisierten Sprachspiel befangen bleiben muss und die Grenzen dieses Sprachspiels die Grenzen seiner Welt bedeuten, wie dies Ludwig Wittgenstein in seiner späteren Sprachphilosophie nahe gelegt hatte. Eine andere Variante dieses Mythos kann man in der These von einem lebensweltlichen Vorverständnis antreffen, das die Weltkonstitution jedes Menschen so determiniert, dass die verschiedenen Weltsichten inkommensurabel werden.
Derartige relativistische Auffassungen ignorieren die von Popper stets betonte Tatsache, dass wir mit unserem Erkenntnis- und Vernunftvermögen durchaus in der Lage sind, noch so tief verankerte Erwartungshaltungen und Vorurteile, auch wenn sie über die Sprache verinnerlicht wurden, immer wieder zu korrigieren. So vermögen wir sogar jene tief in unserer Psychostruktur verankerte Erwartung zu korrigieren, die Popper als eines der gravierendsten Vorurteile des menschlichen Alltagsverstandes bezeichnet hat, nämlich die Erwartung, überall in der Welt Regelmäßigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten vorfinden zu können. Auch diese Vorerwartung erweist sich nur zu oft als falsch. Aber wir lernen aus der Erfahrung falscher Realitätseinschätzungen und kommen durch ständige Korrekturen unserer durch die Evolution vermittelten Vorerwartungen, des lebensweltlichen Vorverständnisses, der emotionalen Begleitkonnotationen erlernter sprachlicher Ausdrücke usw. zu einem realitätsgerechteren, objektiven Wissen. Für dieses Wissen, das nicht selten im Gegensatz zu ursprünglichen Vorerwartungen steht, nehmen wir Wahrheit in Anspruch, solange es nicht widerlegt wird und solange es uns durch Problemlösungskapazität eine halbwegs zuverlässige Realitätsorientierung ermöglicht.
2.3 Zur Wertbasis der kritischen Rationalität
Mit dem „Ethos der Aufklärung“, das Poppers Konzeption der kritischen Rationalität entscheidend bestimmt, hängen eine ganze Reihe von Wertideen zusammen, die man als die Wertbasis seiner Philosophie des Kritischen Rationalismus bezeichnen kann. Dazu gehören moralische Werte und Postulate wie: Bereitschaft und Offenheit für Kritik; die moralische Pflicht zur Selbstkritik und zu dauerndem Lernen durch Fehlerkorrektur; permanentes Bemühen um Bewahrung oder Herstellung der größtmöglichen individuellen Freiheit, soweit dadurch die Freiheit anderer nicht beeinträchtigt wird; Anerkennung der Würde und Autonomie der menschlichen Person im Sinne der kantischen Ethik; Popper betont auch die Bedeutung der freien, persönlichen Meinungsbildung und verlangt als Voraussetzung dafür, dass Informationen in einer möglichst klaren und verständlichen Sprache formuliert sein müssen. Er würdigt in dieser Hinsicht Bertrand Russell als Vorbild und mahnt eine „sittliche Verpflichtung“ gegenüber der Sprache ein. Die Sprache darf „nicht als Mittel zum Selbstausdruck“ und zur gefühlsgeladenen individuellen Selbststilisierung missbraucht werden.20 Zur Wertbasis der kritischen Rationalität gehören weiters: das Toleranzprinzip, das Popper für eines der wichtigsten Prinzipien einer humanitären Ethik hält; das Prinzip des „negativen Utilitarismus“, das anstelle der Forderung nach Glücksmaximierung die Forderung nach Leidminimierung in den Mittelpunkt des praktischen Denkens und Handelns stellt; ein Verantwortungsprinzip, das die individuell zurechenbare Verantwortung und nicht die anonymisierte Verantwortlichkeit eines Kollektivsubjekts besonders hervorhebt; kritische Rationalität soll sich nicht zuletzt durch intellektuelle Bescheidenheit auszeichnen, als Gegensatz zu Anmaßungen des Vernunftvermögens. Es geht ihr keineswegs darum, wie Popper explizit schreibt, die „Allmacht der Vernunft“ zu propagieren und damit einem fanatischen Vernunftglauben, einem „Terror des Rationalismus“21 den Weg zu bereiten.
Was den allgemeinen Standpunkt in Wertfragen betrifft, schließt Poppers Rationalitätskonzeption jede Art von fundamentalistischer Wertebegründung aus, unabhängig davon, ob ein Gott und seine Offenbarung, die Natur, wie dies in Naturrechtstheorien der Fall ist, oder die Vernunft selber zu einem wertsetzenden Absolutum hochstilisiert werden.
Für Popper ist das Bemühen charakteristisch, weder einen naturalistischen Wertkognitivismus noch einen Wertrelativismus nahe zu legen. Es wird einerseits David Humes Einsicht in die Unableitbarkeit von Soll-Sätzen aus Seinsaussagen akzeptiert und das Prinzip des „kritischen Dualismus“22, d. h. der Nicht-Reduzierbarkeit von Wertungen auf Tatsachenerkenntnisse betont. Andererseits wird aber auch der Wertrelativismus und Wertdezisionismus abgelehnt. Popper zeigt mit seiner Konzeption der kritischen Rationalität, dass in der Wertediskussion ein Standpunkt vertretbar ist, bei dem die Sein-Sollen-Dichotomie unverwischt akzeptiert wird, ohne deswegen Werte, Wertentscheidungen oder letzte Wertstandpunkte in eine irrationale Dimension abzuschieben. Man kann Wertaussagen, seien es Werturteile, Empfehlungen oder Imperative, eine partielle kognitive Sinnkomponente zusprechen, weil sie in der Regel auch auf kognitiven Situationsdeutungen und einem gewissen Ausmaß an Sachwissen beruhen. Ändert sich die Situationsdeutung durch die Falsifizierung von Sachwissen, auf dem sie beruht, können sich auch Wertpositionen, Werturteile oder Imperative ändern, obgleich dies aus rein logischen Gründen nicht zwingend der Fall sein muss. Aus fallibilistisch-kritizistischer Sicht kann man Wertstandpunkte oder ethische Systeme als undogmatische Vorschläge zur Regulierung des praktischen Verhaltens auffassen, die in Bezug auf die Realisierbarkeit der in ihnen enthaltenen Forderungen sowie in Bezug auf die Konsequenzen, die aus ihnen folgen, rational diskutierbar und überprüfbar sind.
Ein primäres Ziel von Poppers Standpunkt in Wertfragen liegt in der argumentativen Stützung des Wertepluralismus. Die Entscheidung für einen Wertstandpunkt im Rahmen des Wertepluralismus ist seiner werttheoretischen Konzeption zufolge keine Willkürentscheidung. Sie erfolgt auf der Basis von Sachwissen und rationalen Überlegungen, obgleich dabei dem Sachwissen nicht jene zwingende Relevanz beigemessen wird, wie dies in kognitivistischen Positionen der Werttheorie der Fall ist. Das subjektive, nicht-kognitive Element jeder Wertentscheidung bleibt deutlich im Blickfeld. Dieses Element ist für Poppers Aufklärungskonzeption die Voraussetzung dafür, dass die Freiheits- und die Verantwortungsidee jenen zentralen Stellenwert einnehmen können, den er ihnen aus seiner liberalen Grundüberzeugung heraus zuspricht.
3.1 Kritische Rationalität und Gesellschaftsreform
Da Poppers Konzeption der kritischen Rationalität aufs Engste mit bestimmten gesellschaftspolitischen Vorstellungen verbunden ist, hat seine Philosophie auch eine gesellschaftliche und politische Relevanz: dies sowohl für die Kritik an autoritären und totalitären politischen Systemen und deren Rechtfertigungsstrategien als auch für die Legitimierung des politischen Systems der pluralistischen, parlamentarischen Demokratie. Popper hat von seiner Rationalitätskonzeption aus auch Überschätzungen der Vernunft im sozialphilosophischen, gesellschaftstheoretischen und politischen Denken kritisiert. Er sieht solche in der Gesellschaftstheorie und Politik vor allem in „holistischen“ Denkformen gegeben. Damit wird aus einer vagen Ganzheits- und Totalitätsidee heraus der Anspruch erhoben, eine „Gesellschaft als Ganzes“ erfassen zu können, und zugleich die Idee nahe gelegt, eine gesellschaftliche Veränderung sei nur sinnvoll, wenn sie möglichst radikal ist und die bestehende Gesellschaft als Ganzes verändert. In der jüngeren Gesellschaftstheorie und politischen Philosophie hat etwa Herbert Marcuse ein derartiges Konzept der Gesellschaftsveränderung vertreten.23 Holistische Vorstellungen in der Gesellschaftstheorie legen optimistische Erwartungen nahe, die nicht nur unrealistisch sind, sondern oft auch inhumane, totalitäre Folgen haben: so z. B. die Erwartung, man brauche die bestehenden Institutionen einer Gesellschaft nur durch eine radikale, gewaltsame Revolution niederzureißen, um eine neue, exakt geplante, humane Zukunftsgesellschaft errichten zu können. Popper wendet gegen die Idee der totalen Planung einer Gesellschaft und gegen die Idee des holistischen Sozialexperiments mit Recht Folgendes ein: (a) Trotz aller modernen technischen Hilfsmittel der Informationsspeicherung ist es unmöglich, das gesamte konstruktive Wissen, das zur Planung einer neuen Gesellschaft im großen Stil erforderlich wäre, in den Köpfen von Planungsexperten und Politikern zu zentralisieren; (b) eine noch so radikale Revolution vermag kein „soziales Vakuum“ zu schaffen, in das hinein man nach Plan eine ganz neue, ganz andere Gesellschaft errichten könnte; (c) mit jedem Eingriff in eine Gesellschaftsordnung treten neben den geplanten und voraussehbaren Veränderungen stets eine Fülle von nicht geplanten und nicht voraussehbaren Konsequenzen und Nebenfolgen auf.24 Je radikaler das Sozialexperiment, desto größer die Gefahr, dass damit schwerwiegende, nicht eingeplante und nicht gewollte Folgen verbunden sind.
Popper hält der holistischen Idee der totalen Planung und des radikalen Sozialexperiments das Konzept des „piecemeal social engineering“ entgegen. Er plädiert für eine vorsichtige, konsequente und schrittweise Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen, bei der es stets verantwortungsbewusst die möglichen Konsequenzen der geplanten Veränderungen in Rechnung zu stellen gilt. Was den Stellenwert von Ganzheitsideen im Rahmen dieses Konzepts betrifft, meint Popper: „Der Stückwerk-Ingenieur […] mag zwar seine Vorstellungen von der idealen Gesellschaft ‚als Ganzem‘ haben, […] aber er ist nicht dafür, daß die Gesellschaft als Ganzes neu geplant wird. Was immer seine Ziele sein mögen, er sucht sie schrittweise durch kleine Eingriffe zu erreichen, die sich dauernd verbessern lassen […]. Daher wird er nur Schritt für Schritt vorgehen und die erwarteten Resultate stets sorgfältig mit den tatsächlich erreichten vergleichen, immer auf der Hut vor den bei jeder Reform unweigerlich auftretenden unerwünschten Nebenwirkungen. Er wird sich auch davor hüten, Reformen von solcher Komplexität und Tragweite zu unternehmen, daß es ihm unmöglich wird, Ursachen und Wirkungen zu entwirren und zu wissen, was er eigentlich tut.“25
Gegen das Konzept des piecemeal social engineering ist oft der Konservativismus-Vorwurf erhoben worden, und zwar in dem Sinne, dass Poppers Plädoyer für gewaltlose und schrittweise politische Reformen letzten Endes eine Stütze für alle bestehenden Herrschaftssysteme bedeute. Es verhindere weitergehende gesellschaftliche Veränderungen und sei nur zur Korrektur von Symptomen sozialer Missstände geeignet, nicht aber zur Änderung der strukturellen Voraussetzungen solcher Missstände. Gegen diesen Vorwurf kann man einwenden, dass Popper das Konzept der gewaltlosen, gradualistischen Reformpolitik keineswegs dogmatisch vertreten und prinzipiell in allen politischen Konstellationen für geeignet gehalten hat. Vielmehr stellt er in Ausnahmefällen auch die Notwendigkeit von radikalen revolutionären Veränderungen und von politischer Gewaltanwendung in Rechnung. Solche Ausnahmefälle bilden der gewaltsame Kampf gegen eine Willkürherrschaft zwecks Errichtung eines demokratischen politischen Systems, in dem gewaltlose Reformen wieder möglich werden, sowie der gewaltsame Widerstand gegen revolutionäre Umsturzversuche zur Beseitigung eines pluralistischen demokratischen Rechtsstaates, mögen diese Versuche von außen oder von innen kommen.26
3.2 Kritische Rationalität und die politische Zielvorstellung der „offenen Gesellschaft“
Mit Poppers Konzeption der kritischen Rationalität ist ein Gesellschaftsideal verbunden, nämlich das einer „offenen Gesellschaft“. Sie ist das politische Orientierungsideal für den kritisch-rationalen Menschen, den Popper als Ideal des „eigentlichen Menschseins“ vor Augen hat. Das negative Kontrastbild zur offenen Gesellschaft bildet die „geschlossene Gesellschaft“. Mit dieser Konzeption verknüpft Popper mehrere Teilhypothesen, und zwar (a) die kulturgeschichtliche Annahme, dass die geschlossene Gesellschaft als primitive Stammesgesellschaft in einer bestimmten Periode der Menschheitsgeschichte tatsächlich existiert habe und die Menschheit durch eine kulturelle Revolution aus dieser Periode herausgetreten sei; (b) die These, dass es zwischen der Stammesgesellschaft und den totalitären Gesellschaften des 20. Jahrhunderts strukturelle Ähnlichkeiten gibt, sowie (c) die These, dass in der menschlichen Psychostruktur gewisse tief verankerte Bedürfnisse vorhanden sind, die totalitäre Denk- und geschlossene Gesellschaftsformen begünstigen. Was die kulturgeschichtliche Hypothese betrifft, liegt für Popper der weltgeschichtliche Einschnitt, mit dem die Menschheit aus dem primitiven Kulturstadium herausgetreten ist, im antiken Griechenland. Dort lebte unmittelbar vor und nach den Peloponnesischen Kriegen (431 – 421 u. 419 – 403 v. Chr.) jene „Große Generation“, die „einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit“ bewirkte und die Menschheit aus den geschlossenen Lebensformen der primitiven Stammesgesellschaft herausführte.27 (Popper nennt in diesem Zusammenhang Perikles, Sokrates, Thukydides, Sophokles, Demokrit, Herodot, Protagoras u. a.). Diese Generation vollbrachte die „Geburt der Zivilisation“ und begründete die Tradition des kritisch-rationalen Denkstils.
Zu den wichtigsten Merkmalen, die Popper mit der geschlossenen Gesellschaft verbindet, gehören: der „Glaube an magische Tabus“ sowie die Überzeugung, dass die bestehenden Sitten, Gebräuche, Institutionen und Herrschaftsstrukturen von Natur aus gegeben und unabänderlich sind. Der „Kollektivgeist des Stammes“28 dominiert, es gibt keine individuelle Freiheit, weil die Interessen der Einzelnen nur aus der Sicht des Kollektivinteresses des gesellschaftlichen Ganzen (des Stammes, der Horde) definiert werden. Die geschlossene Gesellschaft ist für die darin lebenden Menschen eine alternativenlose Gesellschaft.
Poppers psychologische These in diesem Zusammenhang geht davon aus, dass mit dem Verlassen der geschlossenen Gesellschaft in der menschlichen Psychostruktur ein Defizit beim Befriedigen grundlegender emotionaler Bedürfnisse entstanden ist. Der Mensch verliert das Gefühl der Geborgenheit in einem kollektiven Ganzen, das Gefühl der Sicherheit und das unbedingte Vertrauenkönnen in unbefragte Autoritäten und „natürliche“ Gesetzmäßigkeiten im Sozialbereich, auch das Gefühl der Gewissheit in Bezug auf geltende Sitten und Gebräuche wird erschüttert. Diese emotionalen Verluste sind der notwendige Preis für den Eintritt der Menschheit in die Zivilisation, in die Periode des kritisch-rationalen Denkens, in die humanitär orientierte, offene Gesellschaftsentwicklung. Der Mensch muss sie fortan als „Last der Zivilisation“29 ertragen. Diese psychologische Defizithypothese bildet die Grundlage für Poppers Argumentation, dass es jederzeit einen Rückfall in die geschlossene Gesellschaftsform geben könne. Allerdings nicht in die ursprünglich wilde Stammesgesellschaft – der Schritt in die Zivilisation aus dem harmonischen Naturzustand ist irreversibel –, aber in einen neuen Typus der geschlossenen Gesellschaft, welche den genannten emotionalen Bedürfnissen entgegenkommt, nämlich die totalitäre Gesellschaft.
Von den Leitideen und Postulaten, die Popper mit dem Begriff der „offenen Gesellschaft“ verbindet, ist die zentralste Idee wohl der Gedanke der institutionellen Absicherung größtmöglicher Freiheit für den Einzelnen. Dass man aber auch die Idee der Freiheit nicht mit einem Absolutheitsanspruch vertreten darf, macht Popper deutlich, indem er das „Paradoxon der Freiheit“ betont, d.h. den Umstand, dass schrankenlose Freiheit wiederum zu Willkür und Unfreiheit führt.30 Was den Staat betrifft, sieht Popper seine primäre Aufgabe wie andere liberale Denker im Schutz der individuellen Freiheit. Der Staat ist ein sozialtechnisches Instrument zur Schaffung von Gesetzen, Institutionen und Regeln, die dazu dienen sollen, Macht- und Herrschaftsambitionen von Einzelpersonen und Gruppen zu beschränken und zu kontrollieren, sodass größtmögliche Freiheitsspielräume für den einzelnen Bürger gewährleistet sind. Die Freiheit kann nicht ein Souverän garantieren, sondern nur eine Pluralität von Institutionen, Konventionen, Gesetzen und Regeln, die stets von Neuem auf ihre Aufgabe der größtmöglichen individuellen Freiheitssicherung geprüft werden müssen.
Die pluralistische Demokratie ist aus seiner Sicht die einzige Staatsform, die es ermöglicht, Machtgebrauch wirksam zu kontrollieren, Missbräuche hintanzuhalten und möglichst auszuschließen, dass „schlechte Politiker einen allzu großen Schaden anrichten“. Welche zentrale Bedeutung dabei der Rechtsstaatlichkeit zukommt, hat Popper im Vorwort zu einer Neuauflage seines gesellschaftstheoretischen Hauptwerks noch einmal hervorgehoben.31
Weitere wesentliche Komponenten des Konzepts der offenen Gesellschaft sind die Idee des politisch-weltanschaulichen Pluralismus und die Vorstellung von der friedlichen politischen Konkurrenz. Ähnlich wie Popper es in der Wissenschaft für notwendig hält, dass ein Theorienpluralismus gegeben ist und alternative Theorien und Problemlösungsvorschläge offen miteinander konkurrieren können, damit sich die erklärungskräftigeren Theorien durchsetzen und optimale Problemlösungen zu erzielen sind, hält er es im gesellschaftlichen Bereich für notwendig, dass verschiedene weltanschauliche Standpunkte und politische Parteien miteinander konkurrieren können, damit ein kontinuierlicher Fortschritt bei der Minimierung von Armut, Unterdrückung, Leid usw. erzielt werden kann.
Zwei wichtige Ideen des Konzepts der offenen Gesellschaft sind schließlich auch die Idee der institutionalisierten öffentlichen Kritik und die Idee der politischen Konfliktregelung durch kritisch-rationale Diskussion.32 Politische Entscheidungen dürfen keine Willkürakte und einsamen Beschlüsse von politischen Machtträgern sein, sondern sollen in öffentlichen, kritischrationalen Diskussionen, in denen die verschiedenen Parteien Kompromisse über die divergierenden Interessenlagen anstreben, so weit wie möglich vorbereitet werden. Die Möglichkeit zur vorhergehenden öffentlichen Diskussion und zur nachträglichen Kritik und Kontrolle von politischen Entscheidungen darf nicht vom Wohlwollen politischer Machthaber abhängen, sondern muss durch institutionalisierte Einrichtungen garantiert sein, wie sie z. B. Presseorgane darstellen, die nicht an parteipolitische Weisungen gebunden sind, oder staatliche Kontrollorgane, die dem Einfluss der politischen Machtträger entzogen sind.
Ich habe an anderer Stelle deutlich gemacht33, dass Poppers Verdienste um das politische Denken nicht zuletzt im ideologiekritischen Potential seiner Philosophie liegen. So besteht ein besonderer Wert seines sozialphilosophischen Hauptwerks ›Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‹ darin, dass es zahlreiche fruchtbare Anregungen und Richtlinien zur kritischen Prüfung von Weltanschauungen und Ideologien enthält. Diese Richtlinien können wertvolle Hilfsmittel sein, wenn es gilt, fundamentalistische Denkmuster und Dogmatisierungsphänomene im Kontext von Weltanschauungen und Ideologien zu durchschauen und schon frühzeitig vor autoritären, antidemokratischen Implikationen und totalitären Tendenzen solcher Weltanschauungen und Ideologien zu warnen. Damit tritt eine wichtige Aufgabe für eine demokratische politische Bildung ins Blickfeld, die im Kontext von Poppers Aufklärungsethos und seiner Konzeption der kritischen Rationalität ebenfalls eine zentrale Leitidee bildet.
Kurzbibliografie
Logik der Forschung (1934), 10., verb. Aufl. Tübingen 1994.
The Open Society and Its Enemies (1945); dt. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bde. I u. II, übersetzt von Paul K. Feyerabend (1958), 7., überarbeitete Aufl. Tübingen 1992.
Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge (1963); dt. Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, übersetzt von Gretl Albert in zwei Teilbänden, Tübingen 1994 und 1997.
Objective Knowledge. An Evolutionary Approach (1972); dt. Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, übersetzt von Hermann Vetter, Hamburg 1973.
Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1984.