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I. Begriffe und Begrenzungen 1. Urszene[n] der Intermedialität: Der Schild des Achill

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Urszene – Homer

Die Geschichte der Intermedialität beginnt mit Homer, dem ‚ersten Dichter des Abendlandes‘ (Latacz 1989). Der 18. Gesang seiner Ilias (die hoplopoiía) enthält eine Episode, die man als Urszene der Intermedialität bezeichnen könnte. Im Kampf um Troja ist ein Wendepunkt erreicht (ebd. 115–134). Achill, der sich im Groll gegen Agamemnon aus dem Kampf der Griechen gegen Troja zurückgezogen hatte, steht kurz vor der Rückkehr in die Schlacht. In Gesang 16 (v. 684–867) hatte sein engster Freund Patroklos in den Waffen des Achill gegen den getäuschten Hektor gekämpft und war gefallen. Die Waffen werden von Hektor erbeutet. Aus diesem Grund bittet Achills Mutter, die Meergöttin Thetis, Hephaistos „Schild und Helm zu geben und einen Panzer.“ (Homer 1975, 319, v. 458f.) Der Schmiedegott beginnt sogleich, den Schild zu fertigen: „Auf ihm machte er viele Bildwerke mit kundigem Sinn“ („poíei daídala pollà“; v. 481f.), die der Erzähler sogleich beschreibt (vgl. Becker 1995; Primavesi 2002). Es handelt sich dabei um „einen Rundschild, eine in seiner Zeit, dem 8. Jh. v. Chr., archäologisch belegte Form.“ (Simon 1995, 128) Der literarische Gegenstand lässt sich jedoch nur teilweise mit den historischen Objekten abgleichen, die uns die Homerische Archäologie erschließt. So fehlen etwa apotropäische Darstellungen (Gorgo Medusa als Schildbuckel), wie sie in historischer Zeit üblich waren. Analogien finden sich eher auf Gegenständen des täglichen geselligen Lebens, wie sie auch in der Homerischen Beschreibung begegnen (Fittschen 1973). Der Homerische Schild ist eine poetische Fiktion, die immer wieder bildliche Rekonstruktionen – wie die in der Encyclopédie – inspiriert hat (Abb. 1).

Beschreibung einer Beschreibung

Die eigentliche Beschreibung (Ekphrasis) besteht aus gut 120 Versen. Wir sehen dabei weniger die fertigen Bilder als ihre Verfertigung, den status nascendi. Damit ergibt sich eine doppelte Bewegung: Das Handeln bzw. Herstellen des Hephaist erzeugt Bilder, die wiederum nicht statisch, sondern bewegt erscheinen. Homer spricht gar nicht konkret von Bildern oder Kunstwerken, sondern generell von „daídala pollà“ („viele kunstvolle Gegenstände“), die er gestaltet und einfügt. Anders als phönizische Schilde, die aus Metall getrieben sind, besteht der Homerische aus „Einlagen verschiedener Metalle in die bronzene Außenfläche des Schildes.“ (Simon 1995, 129) Diese Einlagearbeiten sind Gegenstand der Beschreibung. Dabei wird immer auch Materielles betont. Signifikant und Signifikat werden gleichzeitig präsent gehalten. Auch der Schmiedegott hat dabei ein Vorbild, und zwar ein menschliches: den mythischen Handwerker Daidalos, der „einst in der breiten Knosos“ einen Reigen „für die flechtenschöne Ariadne“ (v. 591f.) gebildet hatte. Daraus ergibt sich eine doppelte Spiegelung, eine dreistellige Relation: Der Gott ahmt einen menschlichen Künstler nach und wird wiederum vom Sänger-Dichter, der ihm über die Schulter blickt, nachgeahmt. Was ist nun auf dem Schild dargestellt? Allgemein, so könnte man sagen, wird ein Bild des menschlichen Lebens in der Ordnung der Welt entworfen. Dies geschieht in konzentrischen Kreisen, wieder analog zur dekorativen Kunst des 8. Jahrhunderts (Simon 1995, 130). Zunächst werden Himmel und Erde geschaffen, dann zwei Städte, die eine im Frieden, die andere im Krieg – Spiegelung des Kampfes um Troja; sodann erscheinen Szenen aus der Landwirtschaft: ein Brachfeld und ein Königsgut, Weinberge, Rinderherden, schließlich eine Tanz- und Reigenszene. Der Vortrag des Textes durch den Dichter-Sänger (aoidós) und die Verfertigung des Schildes verlaufen parallel, werden zeitdeckend erzählt. Die einzelnen Bildsektoren werden durch refrainartig wiederkehrende Verben skandiert, die alle der Welt handwerklicher Produktion entstammen: er bildete, legte, setzte, ‚machte‘ darauf. Der spätere Begriff für dichten/Dichtung – poíesis – hat hier noch einen ganz konkreten Klang. Wie die Figuren aus dem Schild hervortreten, so treten die Bilder, vermittelt durch die Rezitation des Aöden, in der Imagination des Zuhörers hervor. Der unbearbeitete Schild wird zur Chiffre der tabula rasa der Imagination.


Abb. 1: Schild des Achill: Abbildung aus Diderot/d’Alembert: Encyclopedie ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers

Tradition

Innerhalb der Erzählung bildet die Schildbeschreibung bzw. -verfertigung einen bedeutsamen Ruhepunkt, der noch immer zu dem Urteil verführen mag, dass sie „aus analytischer Sicht […] als äußerlicher Zusatz erscheint.“ (Seeck 2004, 96) Homer schafft damit den Prototyp einer rhetorischen Form, die in den späteren antiken Handbüchern geläufig als ékphrasis (lat. descriptio) bezeichnet wird – und macht sogleich Schule. Der Hesiod zugeschriebene Schild des Herakles („scutum Heraclis“) folgt unmittelbar dem Modell Homers (Becker 1995, 23–31). Der römische Dichter Vergil (70–19 v. Chr.), T.S. Eliot zufolge der einzige ‚Klassiker Europas‘, schiebt im achten Buch der Aeneis (v. 625–731) die Beschreibung der Waffen des Aeneas ein und macht die Ekphrasis damit endgültig zum obligatorischen Bestandteil epischer Tradition (vgl. unten IV.3). In der Rhetorik wird die Ekphrasis seit der Spätantike zu einem fest umrissenen Unterrichtsgegenstand (Lausberg 31990, 544). Schon die antike Tradition ist nahezu unübersehbar. Im Mittelalter begegnen Ekphrasen in Vergilischer Tradition in der höfischen Epik (z.B. der Schild der Enite in Hartmanns von Aue Erec; vgl. II.2), mit der intensivierten Rezeption antiker Texte seit der Renaissance ist die Ekphrasis – in engster Auseinandersetzung mit Homer und Vergil – ubiquitär. Ekphrasis und Beschreibungskunst gehören zu den intermedialen Basisformen der europäischen Literatur (Boehm/Pfotenhauer 1995).

Der Schild nach dem Schild

So ließe sich entlang der Rezeption Homers eine kleine Geschichte der literarischen Wort-Bild-Beziehungen schreiben (Übersicht bei Willems 1989, 21–47). Ihr Wendepunkt liegt im 18. Jahrhundert. Lessing macht in seiner Schrift Laokoon (1766) darauf aufmerksam, dass Homer „nemlich das Schild nicht als ein fertiges vollendetes, sondern als ein werdendes Schild [malet].“ (Lessing 1990 [1766], 134; vgl. auch unten II.3) Damit wird die Homerische Ekphrasis zum Kronzeugen für Lessings These, wonach die Dichtung aufgrund ihrer konsekutiven (aufeinander folgenden) Zeichenstruktur nur „Gegenstände [darstellen soll], die aufeinander, oder deren Teile auf einander folgen“, wenn sie ihr Ziel – Anschaulichkeit, Täuschung, Illusion – erreichen will. Produktion muss daher in Performanz umgewandelt werden. Eine der bekanntesten (aber auch unerkanntesten) Auseinandersetzungen mit Homer liefert dann Schiller in seinem Lied von der Glokke (1799/1800). Der Wechsel von Handwerkerstrophen und Beschreibung (eines idealen Lebenslaufes in einer idealen Stadt) nimmt ein Strukturelement der Homerischen Schildbeschreibung auf und formt es im Lichte von Lessings Sukzessionsthese zu einer Allegorie der Dicht- als Handwerkskunst, der es auf die „feste Form“ ankommt. Wie bei Homer decken sich sprachliche Performanz und handwerkliche Produktion. Zeichen und Bezeichnetes stehen in einem „bequeme[n] Verhältnis“ (Lessing 1990 [1766], 116). Ein weiteres Beispiel bietet W.H. Auden, der in seinem Gedicht The shield of Achilles die Homerische Szene unmittelbar aufnimmt. Die Wendung ist jedoch paradox: Während Thetis die Szenen erwartet, die sich bei Homer beschrieben finden, gestaltet der desillusionierte Hephaist, „the thinlipped armorer“, Szenerien der Trauer, der Gewalt, der Enthumanisierung der modernen Welt: „Auden’S poem depicts the devastation of the twentieth century, embodied by war, propaganda, prison, camp, urban dereliction and individual alienation.“ (Emig 2001, 178)

She [d.h. Thetis; J.R.] looked over his [Hephaistos’; J.R.] shoulder

For vines and olive trees,

Marble well-governed cities

And ships upon untamed seas,

But there on the shining metal

His hands had put instead

An artificial wilderness

And a sky like lead.

A plain without a feature, bare and brown,

No blade of grass, no sign of neighbourhood,

Nothing to eat and nowhere to sit down,

Yet unintelligible multitude.

A million eyes, a million boots in line,

Without expression, waiting for a sign.

(Auden 1955, 35)

Am Ende des Gedichts bricht Thetis, von dunkler Vorahnung erfasst, in einen Schrei aus („Thetis of the shining breasts cried out in dismay“). Auden betreibt eine „Mythenkorrektur“ (Emmerich/Seidensticker/Vöhler 2005), die Ekphrasis und Handlung eng koppelt. Wo bei Homer der Ausblick in eine Welt der Ordnung und Geselligkeit steht, entwirft Auden Szenerien, in denen die Gewalt allgegenwärtig ist. Sie erweisen sich am Ende als passend für den „Iron-hearted man-slaying Achilles“. Auch er wird nicht überleben.

Spiegelung und Potenzierung

Mit Homers Schild des Achill beginnt nicht nur die Geschichte der rhetorischen Ekphrasis, sondern auch die der Intermedialität. Das erste präjudiziert noch nicht das zweite. Gewiss: der Text (besser: das Wort) dient dazu, einen plastischen Gegenstand zu beschreiben. Dieser unterscheidet sich nicht von anderen in den Text ‚eingebetteten‘ Objekten, Körpern oder Gegenständen wie z.B. dem Zepter Agamemnons, die – wie schon Lessing bemerkt – bei Homer ihre „Geschichte“ (Lessing 1990 [1766], 121) und Biographie haben. Der Unterschied liegt im Objekt und seiner Funktion. Die Schildbeschreibung schafft einen Moment in der Handlung, der diese noch einmal in einen höheren Zusammenhang stellt und Gegenbilder menschlicher Gemeinschaft außerhalb des Ausnahmezustands Krieg entwirft. Wie Thetis bei Auden, so sieht der Zuhörer dem Erzhandwerker Hephaist (gespiegelt durch den Dichter/Sänger als Medium) über die Schulter. Der Akt der Hervorbringung wird potenziert in einer Art „mise-en-abyme-Struktur“ (Männlein-Robert 2007, 14): Die Dichtung zeigt die Produktion eines Artefaktes, auf dem nun – doppelte Spiegelung – erneut Sänger-Figuren als Zentrum der Gemeinschaft erscheinen. Dies gilt für die beiden auf dem Schild dargestellten Städte. In der ersten, in der „Hochzeitsfeste und Gelage“ gefeiert werden, erklingen „Flöten und Leiern“ (Homer 1975, v. 494); auch die Hirten in der zweiten, belagerten Stadt „ergötzten sich auf der Flöte“ (v. 526), während die Winzer im Weinberg „die schöne Linos-Weise“ anstimmen (v. 321). Wirkungsvoll am Ende der Beschreibung, in der Schilderung eines Reigens an einem waldichten locus amoenus, steht die Figur des Sängers als Mittelpunkt der Gemeinschaft. Die Szene hat ihre Entsprechung in Darstellungen des 8. und 7. Jhs. v. Chr, „denn Tänze waren ein bevorzugtes Thema der geometrischen Kunst.“ (Simon 1995, 126)

Und eine dichte Menge stand rings um den lieblichen Reigen

Und ergötzte sich, und in ihrer Mitte sang der göttliche Sänger

Zur Leier, und zwei Springtänzer wirbelten unter ihnen

Als Anführer des Spiels in ihrer Mitte. (v. 603–606)

Dichter-Ideale

Dass Homer, der Dichter-Sänger, in solchen Bildern ein Ideal der Dichtung und des Dichters als Medium ‚guter‘ Ordnung zeichnet, ist unübersehbar (Moog-Grünewald 2001). Immer wieder finden sich in beiden Epen vergleichbare Szenen (Bannert 2005, 17–26): In der Ilias sehen wir Achill, wie er während seiner Kampfpause vom „Ruhm der Männer“ (kléa andrôn) singt (9, 189). Vor allem in der Odyssee finden sich mehrere Szenen, die Homers „Bild vom Dichterberuf und Gesang“ (Szlezák 2012, 197) illustrieren. In der Odyssee besingt der Sänger Demodokos am Phäakenhof die Eroberung Trojas durch die List mit dem hölzernen Pferd (Odyssee 8, 499ff.) und auf Ithaka sehen wir Phemios ein Lied für die Freier der Penelope vortragen (ebd. 22, 351–353). In der Schildbeschreibung begegnen sich beide Reflexionsfiguren: 1. die Spiegelung des eigenen Tuns auf der Ebene des Dargestellten, in den verschiedenen Aöden-Figuren des Schildes, 2. die performative Mimesis einer anderen ‚poietischen‘ Kunst. Denn hier „findet sich eine erste Reflexion auf die unterschiedlichen Darstellungsmöglichkeiten der bildenden Kunst und der Dichtung.“ (Männlein-Robert 2007, 14)

Einlegearbeit und Einbildungskraft

In der Auseinandersetzung mit dem materiellen Medium reflektiert sich „Poiesis als Mimesis des Seins, nicht des Scheins.“ (Moog-Grünewald 2001, 15) Dies geschieht in der Weise, dass die Beschreibung auffällig zwischen der Ebene des Produzierens und des Produzierten, des Signifikanten und der illusionären Qualität des Signifikats, zwischen materieller Realität und Imagination oszilliert. Die „Künstlichkeit des Kunstwerkes“ (Männlein-Robert 2007, 15) wird immer wieder betont. Auf der anderen Seite werden akustische Eindrücke suggeriert: Von Stimmen und Schreien, Geräuschen und Tierlauten, sogar von Instrumentalmusik aller Art ist mehrfach die Rede. Das Metall wird lebendig. Diese Verlebendigung ist jedoch nicht das (Hand-)Werk des Hephaistos. Es ergibt sich erst im intermedialen Zusammenspiel und dialektischen Umschlag vom Wort zum Bild und wieder zum Wort. Dies wird durch intermediale Potenzierung herausgearbeitet. Die Schildbeschreibung ist Mimesis der Performanz einer Mimesis. Homer wählt den Kunstgriff, „das Coexistierende seines Vorwurfs in ein Consecutives zu verwandeln.“ (Lessing 1990 [1766], 134) Darin unterscheidet er sich von Vergil, dessen Schildbeschreibung in der Aeneis ein „wahres Einschiebsel“ ist (ebd. 137), das den Fluss der Handlung sistiert statt weiterzutreiben (Robert 2013b). Dichtung verleiht dem Statischen Bewegung, dem Lautlosen Stimme, der Realität des Materials eine imaginäre Dimension, die das Wort dem (Hand-)Werk überlegen macht. Auf diese Weise wird die Schildbeschreibung lesbar als Allegorie des Rezeptionsprozesses selbst. Wie der Schild, so die Imagination des Zuhörers: Sie erst setzt die Szene in Bewegung, indem sie etwas „hin zu denkt“, wie Lessing schreibt (ebd. 32). Die Ein-Bildung des Schildes wird zur Analogie der Einbildungskraft. Die Schildbeschreibung setzt eine Theorie der Imagination voraus, die man proto-sensualistisch nennen könnte. Wie Hephaistos seinem Schild die Figuren einschreibt, so schreibt der Aöde sein Lied, das diese erste Einschreibung ist, der Einbildungskraft des Zuhörers ein.

oral poetry

Die intermediale Pointe dieser Kippfigur besteht darin, dass der Aöde dem Schmiedegott eine Leistung unterschiebt, die nur dem Gesang zukommt, die Fähigkeit nämlich, das starre Bild zu einer Szene werden zu lassen, die in dichter Folge optische und akustische Sensationen vermittelt: Das Gebrüll der Tiere, den rauschenden Fluss, das Bellen der Hunde, die Tanzweisen – im Extremfall auch: das explizite Schweigen des Königs (v. 556). Diese intensive Sinnlichkeit der Schildszenen unterstreicht, dass Homers Dichtung einer Welt der konstitutiven Mündlichkeit angehört. Ilias und Odyssee sind konzeptuell in dem verankert, was seit Milman Parry als „oral poetry“ bezeichnet wird (vgl. IV.1). Es gehört zum Selbstverständnis des Dichters, sinnliche Präsenz zu erzeugen, die von der Muse garantierte und vermittelte Erinnerung sinnlich-lebendig vor Augen zu stellen, sichtbar und hörbar werden zu lassen. Hier zeigt sich die Differenz zwischen faktischer und konzeptioneller Mündlichkeit: Dass sich der Dichter-Autor zur Konzeption seiner – für Verhältnisse der oral poetry – ungewöhnlich komplexen Epen der Schrift bedient hat, Homer mithin „am Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit“ steht (Szlezák 2012, 38), zählt inzwischen zu den festen Grundannahmen der Forschung. In der starken Form besagt dies, die Entwicklung der Schrift verdanke sich dem Bedürfnis, die Homerische Dichtung aufzuschreiben; in ihrer schwachen – und plausibleren – erscheint die Dichtung als „ein sekundäres Resultat der Einführung der Schrift.“ (Rösler 2011, 205) Raoul Schrotts These, der Sänger habe als Schreiber im kilikischen Karatape in assyrischen Diensten gestanden und die Ilias auf der intertextuellen Folie altorientalischer Epen sowie der Genesis verfasst (Schrott 2008), führt diese Tendenz, Homer einer Kultur der Schriftlichkeit zuzuschlagen, zu einem Extrempunkt: Die Epen werden auf eine postmodern gefärbte, auf Intertextualität und écriture bezogene Autorschaft verpflichtet. Lohnender scheint es, von den verschiedenen Phänomenen und Problemen der Intermedialität auszugehen: Ilias und Odyssee spiegeln nicht nur eine archaische mündliche Technik, sie reflektieren sie auch von der Warte eines neuen Mediums aus. Die Schildbeschreibung bestätigt dann McLuhans berühmtes Medienevolutionsgesetz (vgl. III.3), wonach der Inhalt eines Mediums immer ein anderes – und zwar: älteres – Medium ist: „Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen.“ (McLuhan 1992, 18)

Homer intermedial – Barbara Köhler

Die Geschichte der Intermedialität bleibt der Homerischen Urszene verbunden – bis heute. Der jüngste Versuch einer Relektüre Homers aus intermedialem Geist stammt von der Lyrikerin Barbara Köhler (geb. 1959). Ausgangspunkt ist die oral poetry-Thematik und die Medialität der Homerischen Epen, genauer der Odyssee. In ihrer Homer-Paraphrase Niemands Frau. Gesänge (2007) stellt sie die Homerische Frage neu, indem sie die Stimme Homers mit der eigenen kreuzt: „Sage mir muse Wer Es ist was Er wer Homer & warum ist Es wichtig.“ (Köhler 2007, 12) Nach Homer fragen heißt hier, nach der unterdrückten weiblichen Identität und Stimme fragen (Metzger 2009). Die Audio-Einspielung, die dem Buch beiliegt, lässt diese weibliche Stimme – die Stimme Penelopes („Niemands [d.h. Odysseus’; J.R.] Frau“) – durch die intertextuelle Transformation des Homerischen Textes erklingen (Knoblich 2010). Das Gewebe des Textes verschmilzt mit dem Gewebe des Leichentuches, das Penelope für ihren Schwiegervater Laertes webt, aber jede Nacht wieder auftrennt, um die versprochene Einwilligung in die Werbung der Freier hinauszuzögern. Es ist ein intertextuelles Spiel, das den Homerischen Prätext in ein Geflecht aus Anspielungen auf klassische Texte der Moderne (von Shakespeare bis Joyce und T.S. Eliot) bis hin zum Popsong verstrickt. Dieses Geflecht perspektiviert die Frage nach Gedächtnis und Andenken in genderkritischer Weise neu und bildet somit ein intertextuelles und intermediales „Gegenspiel“ (Köhler 2008) zu Homer. Die Künstlerin Andrea Wolfensberger wiederum hat in Zusammenarbeit mit der Autorin Videosequenzen erstellt („No one’s box“, 2007), die von der Rezitation der Autorin untermalt werden. Eine dieser Sequenzen, zum fünften Gedicht des Bandes („NAUIKAA: RAPPORT“), liefert die Illustration für das Cover des Bandes. Sie zeigt ein rot-weißes Schiff, das sich in der Dünung der Wellen auf und ab bewegt. Auch die Position der Kamera ist instabil; sie scheint selbst mit den Wellen auf und ab getragen zu werden. Diese Halt- und Ortlosigkeit entspricht der „Wellenbewegung der Stimme, die den Text fortträgt und von ihm fortgetragen wird.“ (Metzger 2009, 359)

(Inter-)Medium und Geschlecht

Köhler setzt am Proöm der Odyssee an, in dem der Dichter die „Göttin“ bittet, Auskunft über den Helden und seine Fahrten zu erteilen. Muse/Mnemosyne ist eine Verkörperung des Gedächtnisses, der Erinnerung selbst. Bei Köhler werden die Geschlechterverhältnisse umgekehrt: Angerufen wird nicht mehr die Muse als Instanz des Erinnerns, sondern eine „maschine“, die ursprungs- und autorlos eine verschüttete Vergangenheit registriert und ihre disiecta membra bewahrt. Die Aufgabe des Aöden, Erinnerung zu stiften, geht auf die neuen Medien über. Wo bei Homer die männliche Stimme (des Aöden) zum Medium einer weiblich codierten Erinnerung (d.h. der Muse) wird, transportiert bei Köhler die weibliche Stimme eine männlich codierte Erinnerung (den Text Homers): „m/nemo sag – technik sag vers und sag zeile maschine READ ONLY MEMORY & vergisses vergiss diese sprache als eine als seine beherrschte.“ (Köhler 2007, 12) Die typographische Auszeichnung des Textes betont die Medialität des Erinnerns. Die serifenlose Courierschrift, aus der Tradition der konkreten Poesie stammend (vgl. V.1.), wirkt unpersönlich, autor- und stimmlos, sie mutet schon typographisch wie ein Computer- und Programmiercode an. Immer wieder ist im Text von Aufzeichnungsmedien wie CD-Roms („READ ONLY MEMORY“), Anrufbeantwortern, voice boxes die Rede. Es handelt sich um „reste von Stimmen“ (ebd. 15) ohne Körper. Diesem Gestus entspricht auch die Rezitationsstimme der beiliegenden Audio-Einspielung. Sie lässt Assoziationen zu, die zwischen dem Ältesten und dem Neuesten, zwischen archaischem Gesang und Maschinenstimme, schwanken. So wird das Leichentuch des Laertes, das von Penelope immer wieder aufgetrennt wird, um die Freier hinzuhalten, zur Allegorie des Textes, der als „Gewebeprobe“ verstanden wird (Köhler 2007, 24). Ebenso transformiert Köhler die Hadesfahrt (Nékyia) des Odysseus im elften Buch der Odyssee ein eine Medienallegorie. Das Kapitel „Hades: Projektion: Hades“ lässt die Unterwelt zum bluescreen werden, vor dem Homers Schatten als Simulacren wiederkehren (mit Anspielung auf eine US-amerikanische Popgruppe):

die welt in scherben im dreisekunden-takt wechselt die einstellung das blaue flackern über weisse wände DAS HIER EIN SCHAUPLATZ nurmehr leere blicke auf leben töten wie es anderswo geschieht & man es hier längst hinter sich hat nur den bildden blinden schirm die abschirmung der bilder aus denen alles hier gemacht ist & die keiner mehr sehn kann im blau der anhaltenden stund life’s but a walking shadow: HELL’S A BLUE BOX

figuren vor bewegten hintergründen auswechselbare talking heads (ebd. 37).

Einführung in die Intermedialität

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