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Von Thomas Mirow

Die Deutsche Nationalstiftung legt hiermit im zweiten Jahr Berichte zur Lage der Nation vor. Wir wollen damit erneut unseren Stiftungsauftrag erfüllen und zum Nachdenken anregen: über den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, über die Festigung unserer Demokratie, über den weiteren Weg Deutschlands in einem vereinten, freiheitlichen Europa.

Europas Demokratien sind herausgefordert wie lange nicht – im Innern und von außen. Über Jahrzehnte bewährte Erfolgsmuster haben an Überzeugungskraft verloren. Allenthalben ist Verunsicherung zu spüren.

In der Mitte der Gesellschaft, auch in Deutschland, machen sich Zweifel breit, ob unsere Demokratien schlagkräftig genug sind, um sich im globalen Wettbewerb der Systeme zu behaupten. Nicht wenige befürchten, unsere Verfassungssysteme könnten untauglich sein, um über grundlegende politische Weichenstellungen – etwa zur Bekämpfung der Klimakrise oder gefährlicher Pandemien – zügig zu entscheiden und diese dann auch umzusetzen. Andere halten im Zeitalter sozialer Medien das Prinzip der repräsentativen Demokratie selbst für nicht mehr zeitgemäß, sehen die Ära großer, stabiler Parteien als beendet an und setzen auf mehr direkte Demokratie, zum Beispiel im Wege häufiger Volksbefragungen. Viele verweisen auf tiefe gesellschaftliche Spaltungen: zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung, zwischen Arm und Reich, zwischen gut Informierten und einer – oft lautstarken – Minderheit, die Falschmeldungen Glauben schenkt, zu Verschwörungstheorien neigt und sich in selbstreferentiellen Echokammern einigelt.

Nicht zu übersehen ist: In zahlreichen Ländern »des Westens«, aber auch in anderen Teilen der Welt, in denen die Demokratie unaufhaltsam auf dem Vormarsch schien, haben sich autoritäre Kräfte zu gefährlich einflussreichen Parteien und Bewegungen formiert.

In Deutschland konnte eine rechtspopulistische, in Teilen rechtsextreme und demokratiefeindliche Partei in alle 16 Landesparlamente einziehen und in der abgelaufenen Legislaturperiode die größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag stellen. Vor allem die Wahlergebnisse in den östlichen Bundesländern sind besorgniserregend, auch weil sie die Bildung kohärenter, stabiler Regierungen nahezu unmöglich machen. Dem zugrunde liegt offensichtlich keine schnell vorübergehende Augenblicksstimmung. Auch wenn es nicht an AfD-Erfolgen im Westen mangelt – die Größenordnung der Unterstützung, die Qualität der gesellschaftlichen Verankerung unterscheiden sich doch signifikant. In ihrem jüngsten Jahresbericht zum »Stand der Deutschen Einheit« diagnostiziert die Bundesregierung »eine in den neuen Ländern … durchgängig skeptischere, distanziertere und auch kritischer ausgeprägte Grundeinstellung gegenüber Politik«.

Verunsicherung und Spaltungstendenzen in den Demokratien werden von außen verstärkt. Autoritär geführte Staaten nehmen auf vielerlei Wegen Einfluss, um demokratische Kräfte und Strukturen weiter zu schwächen: Regierungen werden mit billigen Krediten für große Infrastrukturprojekte gelockt, rechte Parteien demonstrativ hofiert, Internetplattformen und Fernsehkanäle als Propagandainstrumente missbraucht, mehr oder weniger verdeckt hoch komplexe Cyberattacken gestartet. Das Ziel: die Diskreditierung demokratischer Prinzipien sowie die Schwächung demokratischer Bündnisse und Zusammenschlüsse, insbesondere der Europäischen Union, um sich so Vorteile im geostrategischen Wettstreit der Mächte zu sichern. Dabei geht es um viel. Das kommunistische China, über Jahrzehnte auf seinen wirtschaftlichen Wiederaufstieg konzentriert, sieht sich heute auf dem Weg zu der führenden Macht des 21. Jahrhunderts. Russland geht es – ungeachtet seiner endemischen ökonomischen Schwäche – um eine zumindest partielle Rückgewinnung des mit dem Untergang der Sowjetunion verlorenen Weltmachtstatus. Und die von einem autoritär agierenden Präsidenten geführte Türkei spannt alle Kräfte an, um sich als starke Regionalmacht zu etablieren, im Mittelmeerraum, im Nahen Osten, im Kaukasus – bis hin zu Afghanistan.

Der einst für sicher gehaltene globale Siegeszug der Demokratie ist vielerorts zu einem abrupten Halt gekommen und andernorts angeschlagen. Die große, traditionsreiche Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika leidet seit Langem unter einer früher undenkbaren politischen Polarisierung und wurde durch den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 bis in ihre Grundfesten erschüttert.

Was also muss geschehen?

Demokratien ohne Demokraten können nicht bestehen. Ohne Verankerung in einer demokratischen Kultur, in einer demokratischen Zivilisation kann auf Dauer auch die beste Verfassung Recht und Freiheit nicht verlässlich schützen. Das Schicksal der Weimarer Republik hat uns das in Deutschland auf bitterste Weise gelehrt.

Doch geht es dabei vorrangig nicht um eine abstrakte Wertedebatte. Demokratien werden umso stabiler sein, je besser es ihnen gelingt, die ganz konkreten Erwartungen der Gesellschaft an ein funktionierendes Gemeinwesen zu erfüllen. Bürger und Bürgerinnen registrieren sehr genau, ob die Regierung eine schlüssige Klimastrategie verfolgt. Ob sich in einer Pandemie das Gesundheitssystem bewährt. Ob es gelingt, Menschen so gut es geht vor Naturkatastrophen zu schützen. Ob Kriminalität und Terrorismus konsequent bekämpft werden. Ob die öffentliche Infrastruktur, auch im ländlichen Raum, berechtigten Ansprüchen genügt. Ob staatliche Verwaltungen bürgernah und zeitgemäß arbeiten. Ob ein Steuersystem effizient und gerecht ist. Ob das Rentensystem Altersarmut verhindert und Demografie fest ist. Ob bei der Zuwanderung die Balance zwischen eigenen Interessen und humanitärem Schutz stimmt und Integration im Alltag vor Ort funktioniert.

Vertrauen in die Kompetenz öffentlicher Institutionen und in die Unbestechlichkeit ihrer Repräsentanten ist das unentbehrliche Fundament für demokratische Stabilität. Politik und Verwaltung tragen dafür eine besondere Verantwortung. Aber auch alle anderen, die Wert auf ein freiheitliches Gemeinwesen legen, sollten wissen, dass die Vitalität unserer Demokratien immer wieder neu gestärkt werden muss: mit frischen, tauglichen Ideen und mit aktivem bürgerschaftlichen Engagement.

Davon handelt dieser Band: Wir haben führende europäische Köpfe – unter ihnen wiederum vier Mitglieder des Senats der Deutschen Nationalstiftung – gebeten, die Herausforderungen unserer Demokratie zu analysieren und durchdachte Empfehlungen für ihre Festigung zu formulieren.

Der Soziologe Armin Nassehi arbeitet in seinem Grundsatzbeitrag die Stärken der repräsentativen Demokratie heraus, die es zu bewahren gilt, und empfiehlt zugleich, durch zusätzliche interdisziplinäre Beratungsgremien »die Logik der Repräsentation« zu erweitern.

Laura Spinney, britische Autorin eines erfolgreichen Buchs über die Spanische Grippe zu Beginn des 20. Jahrhunderts, legt dar, wie Demokratien trotz ihrer oft langwierigen Entscheidungswege bei der Bekämpfung von Pandemien nicht hinter autoritären Regimen zurückstehen müssen.

Ottmar Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung argumentiert anhand konkreter Vorschläge, wie es in der Demokratie gelingen kann, die für eine Klimawende erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

Xiaoqun Clever, eine deutsche IT-Managerin, die als junge Erwachsene ihr Geburtsland China verlassen hat, ist überzeugt, dass die Demokratie die Digitalisierung braucht, und fordert, sie energischer zu nutzen.

Dennis Snower, viele Jahre Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel plädiert für eine drastische Neuorientierung unseres Wirtschaftssystems als Bedingung für die Erhaltung unserer Demokratie.

Ines Geipel, in DDR-Zeiten eine bekannte Leichtathletin und heute erfolgreiche Publizistin, setzt sich mit den Belastungen auseinander, die Jahrzehnte autoritärer Herrschaft für die Verankerung der Demokratie in Deutschland bedeuten.

Janusz Reiter, unserem Land seit Langem als polnischer Diplomat und Intellektueller eng verbunden, untersucht die komplexe Frage, warum das westliche Demokratiemodell auch in Mitteleuropa stark an Strahlkraft verloren hat.

Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, umreißt – gestützt auf ihre Erfahrungen im Freistaat Sachsen – den besonderen Beitrag, den Kunst und Kultur für eine freiheitliche Demokratie leisten können.

Gemeinsam ist allen Beiträgen die Überzeugung, dass auch Deutschland vor großen Veränderungen steht, die entschlossen angegangen werden müssen, sollen die Herausforderungen unserer Zeit bewältigt und unsere Demokratie nachhaltig gesichert werden.

Allen Autorinnen und Autoren danke ich herzlich für ihre wertvollen, gedankenreichen Beiträge, die überwiegend im Laufe des Frühjahrs 2021 verfasst wurden. Mein Dank gilt darüber hinaus Agata Klaus, der Geschäftsführerin unserer Stiftung, für die umfassende Betreuung des gesamten Projekts, der ZEIT-Stiftung für eine hilfreiche Förderung, unseren Partnern beim Murmann Verlag für ihre engagierte verlegerische Unterstützung und ganz besonders Christoph Bertram, der mit seinen konzeptionellen Ideen und seiner präzisen Redaktionstätigkeit maßgeblich zum Entstehen dieses Bandes beigetragen hat.

Mit Blick auf die Vielfalt von Meinungen zu einer gendergerechten Sprache hat der Herausgeber auf die Vorgabe einheitlicher Richtlinien verzichtet. Die Texte spiegeln auch insofern das individuelle Sprachgefühl der Autorinnen und Autoren wider.

Demokratie in Bedrängnis: Warum wir jetzt gefragt sind

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