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Einleitung – Personalentscheidungen und ihr Scheitern

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Andreas Fahrmeir

Personalentscheidungen, das klingt nach einem abstrakten, etwas trockenen Thema. Die Bilder, die einem zunächst in den Sinn kommen, haben in erster Linie mit Personalabteilungen, Aktenstapeln oder »[F]ace-to-screen-Interaktion mit den eingegangenen Lebensläufen«1 zu tun. Sie lassen an eigene Bewerbungsgespräche, Aushandlungen mit zuständigen Gremien und an eine spezialisierte Forschungsrichtung denken, die sich mit der Optimierung (vorwiegend betrieblicher) Personalentscheidungen beschäftigt und die in Foren wie der Zeitschrift für Personalforschung, dem International Journal of Selection & Assessment und zahlreichen weiteren Periodika verhandelt wird. Vornehmlich beschäftigen diese sich mit Arbeits- und Organisationspsychologie. Ohne Zweifel, Personalentscheidungen sind wichtig. Dazu passt das Klischee, dass »Mitarbeiter« das »wichtigste« oder »wertvollste« Kapital eines Unternehmens sind – zumindest wies Google am 16. April 2021 mehrere Tausend Seiten auf, auf denen sich große und kleine Unternehmen diese »Lebenslüge vieler Chefs« zu eigen machten.2 Gleichzeitig klingen derartige Texte sehr technisch, sodass Gesprächspartner beim Stichwort rasch einen etwas abwesenden Blick bekommen.

Das steht im Gegensatz zur Bedeutung, die immer wieder einzelnen Personalentscheidungen zugeschrieben wird: So schienen sich die Probleme der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die 2020/21 in den Insolvenzfällen Wirecard und Greensill Bank deutlich wurden, im Kern durch eine Neubesetzung des Leitungspostens beheben zu lassen, also mit dem Ersatz einer im Rückblick offenbar nicht richtigen Personalentscheidung durch eine bessere. Darin liegt gewiss ein Element der rhetorischen Personalisierung von strukturellen Entwicklungen, das leicht zu dekonstruieren ist: Je größer eine Organisation wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass eine einzige Person an Fehlentwicklungen alleine schuld sein kann – schon deshalb, weil sie gar nicht die Möglichkeit hätte, einen Überblick über alle Vorgänge zu haben.

Es steht aber auch im Gegensatz zu der Bedeutung, die Personalentscheidungen dann gewinnen, wenn sie im Widerspruch zu gesellschaftlichen Erwartungen stehen, etwa durch die Bevorzugung bestimmter Gruppen gegenüber anderen, die diese Diskriminierung nicht mehr hinzunehmen gewillt sind. Ein Beispiel ist die Diskussion darüber, wie man in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen (in der Wirtschaft, im Wissenschaftssystem, in der Verwaltung oder in der Politik) Geschlechtergerechtigkeit oder eine gerechte Verteilung von begehrten Positionen zwischen Gruppen, die durch ethnische Identitäten oder Zuschreibungen oder durch soziale Ungleichheiten definiert sind, erreichen kann. Eine Spannung, die in diesen Debatten oft, nicht zuletzt vor den zuständigen Gerichten, verhandelt wird, ist die zwischen einem System von Personalentscheidungen, das statistisch beschreibbare Ergebnisse hat, die Auffälligkeiten aufweisen und der Anforderung an jede einzelne Personalentscheidung, ausschließlich anhand klar definierter Stellenprofile und Leistungs- oder Qualifikationsnachweisen potenzielle Bewerberinnen und Bewerber zu identifizieren, um aus diesem Kreis den oder die Beste auszuwählen, ohne dass dabei unbedingt schon klar ist, wie sich diese Entscheidung statistisch auswirken wird. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um ein sehr modernes Problem zu handeln, das die Verfügbarkeit von Statistiken, allgemeine Gleichheitsvorstellungen und eine starke Verrechtlichung von Personalentscheidungen zur Voraussetzung hat.

Die Beobachtung konkreter Beispiele bringt aber ein ganz anderes Ergebnis zum Vorschein, und es zeigt sich, dass das Nachdenken über Personalentscheidungen und ihre Risiken keineswegs neu ist. Im Gegenteil: Wenn es um Posten geht, die von anerkannt großer Wichtigkeit sind, muss die Art und Weise, wie sie vergeben werden, Gegenstand von Reflexionen und Regeln sein. Die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen zeigen das eindringlich, gehören sie doch zweifellos zu den zentralen politischen Personalentscheidungen; als sie eingeführt wurden, lösten sie eine andere, für weniger erfolgreich befundene Methode der Personalentscheidung, nämlich die monarchische Erbfolge, ab. Dabei soll ein recht komplexes Verfahren Fehlentscheidungen vermeiden. Mögliche Kandidatinnen und Kandidaten müssen sich zunächst innerhalb ihrer Partei gegen Konkurrentinnen und Konkurrenten durchsetzen, bevor sie – theoretisch bereits auf Herz und Nieren geprüft und wahlkampfgestählt – gegen die Person oder die Personen antreten, die von der oder den anderen Parteien aufgestellt wurden. Um die unmittelbaren Emotionen der Wählerschaft zu moderieren und die abschließende Personalentscheidung davon zu lösen, wurde noch ein Gremium von Wahlmännern eingesetzt, dessen Bedeutung allerdings im Laufe der Zeit zurückging und das faktisch nur noch die in einzelnen Staaten erzielten Mehrheiten repräsentiert. Das System macht es wahrscheinlich, dass erfolgreiche Bewerberinnen oder Bewerber in aller Regel auf eine längere Karriere zurückblicken können und bereits ein hohes politisches Amt (Gouverneur:in, Senator:in, Bundesabgeordnete:r) innehatten, sodass ein Nachweis ihrer prinzipiellen Befähigung vorliegt.

Um die Folgen einer trotz allem möglichen Fehlentscheidung einzuhegen, sah bereits die Verfassung von 1789 vor, dass Kandidat:innen dank einer Altersschranke von 35 Jahren menschlich gereift und dank der Anforderung, »natural born citizens« zu sein, die seit mindestens 14 Jahren im Territorium der damals gerade erst gegründeten Republik lebten, keinen Loyalitätskonflikten ausgesetzt sein würden. Um das Risiko weiter zu minimieren, war die Gültigkeit der Personalentscheidung auf vier Jahre beschränkt, nach deren Ablauf sie durch eine erneute Wahl bestätigt oder revidiert werden müsste. Sollte es vorher trotzdem zu schweren Verwerfungen kommen, konnte eine Mehrheit der Abgeordneten des Repräsentantenhauses den Präsidenten anklagen, eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Senats ihn absetzen und bei Bedarf für die Zukunft von allen politischen Ämtern ausschließen. Man sieht: Die potenzielle Machtfülle des Amtes sollte durch Einschränkungen bei der Dauer und eine mögliche Sanktionierung für Fehlverhalten eingehegt werden. Als durch die vierfache Wiederwahl Franklin Delano Roosevelts deutlich wurde, dass die gewohnheitsrechtliche Beschränkung der Amtszeit auf zwei Wahlperioden nicht mehr ausreichte (und dass damit das Risiko stieg, dass ein alternder Präsident seinem Amt nicht mehr gewachsen sein würde), wurde diese Einschränkung 1951 durch Verfassungszusatz formalisiert. Und als schließlich unter dem Eindruck des Attentats auf John F. Kennedy und unter dem Eindruck des Kalten Kriegs die Frage diskutiert wurde, was geschehen sollte, wenn der Präsident noch am Leben, aber nicht mehr handlungsfähig war, wurde 1967 bestimmt, dass der Vizepräsident und eine Mehrheit des Kabinetts feststellen konnten, dass der Präsident nicht in der Lage war, seinen Aufgaben nachzukommen; um wirksam zu werden, musste diese Erklärung aber von zwei Dritteln des Kongresses bestätigt werden.

Im Jahr 2016 war das Ergebnis des Wahlverfahrens insofern überraschend, als sich am Ende des Prozesses kein erfahrener Politiker durchsetzte, sondern der Unternehmer Donald J. Trump. Dieser war nicht zuletzt aufgrund einer Fernsehserie zu Personalentscheidungen in Unternehmen (The Apprentice) berühmt geworden, hatte aber noch kein politisches Amt innegehabt. Seine teilweise exzentrische Amtsführung gab zu Diskussionen Anlass, ob er nicht ein erster Fall für eine Anwendung des 25. Verfassungszusatzes von 1967 sei. Die Frage, ob er durch diplomatischen Druck die Wahlchancen eines – damals nur möglichen – Gegenkandidaten zu beschädigen suchte, führte um die Jahreswende 2019/20 zu einem ersten Impeachment-Verfahren, das mit einem Freispruch endete.

Vollends ungewöhnlich waren die Ereignisse um die erneute Personalentscheidung über die amerikanische Präsidentschaft 2020. Die Wahl, die offiziell am 3. November abgeschlossen war3, hatte ein klares Ergebnis: Beide Kandidaten, Trump und sein Gegner Joseph R. Biden, hatten historische Rekorde gebrochen und deutlich mehr Stimmen erhalten als die rund 70 Millionen, die 2008 für Barak Obama abgegeben worden waren. Allerdings hatte Biden deutlich mehr: circa 81 Millionen, während auf Trump circa 74 Millionen entfielen.

Anstatt, wie bislang üblich, die Niederlage anzuerkennen, zur Einheit aufzurufen und die Amtsübergabe vorzubereiten, bemühten sich Trump und seine Unterstützer zunächst, das Ergebnis mit über 60 Klagen juristisch anzugreifen – wobei Sidney Powell, eine Anwältin, die einige dieser Klagen einreichte, später angab, kein »vernünftiger Mensch« habe davon ausgehen können, ihre Behauptungen, Wahlbetrug beweisen zu können, seien ernst gemeint gewesen.4 Parallel zu den erfolglosen juristischen Unternehmungen verbreiteten Trump und seine Unterstützer eine bald als »the big lie«, die große Lüge, bezeichnete Geschichte. Sie verband die merkwürdige Behauptung, wer einen Stimmenrekord erzielt habe, könne nicht der unterlegene Kandidat sein, mit der Erzählung, eine große und zugleich völlig unsichtbare Verschwörung habe die Wahl »gestohlen«.5

Am 6. Januar 2021, dem Tag, an dem das Wahlergebnis formal bestätigt werden sollte, fand eine Massenveranstaltung vor dem Kapitol statt, bei der eine Reihe von Rednern, darunter der scheidende Präsident, dazu aufriefen, die Abgeordneten der republikanischen Partei auch kämpferisch zu unterstützen. Ein Teil des aufgebrachten und aufgewiegelten Publikums stürmte das zunächst nur schwach verteidigte Kapitol, wobei einige ankündigten, Vizepräsident Mike Pence, der inzwischen als Verräter an der Sache des Präsidenten galt, »aufhängen« zu wollen. Das Eindringen der Aufrührer zwang Vizepräsident und Kongressabgeordnete dazu, sich in Sicherheit zu bringen, änderte am Ergebnis aber nichts: Nachdem die Ruhe nach mehreren Stunden wiederhergestellt war, nahm der Kongress seine Sitzung wieder auf und bestätigte die Wahl Bidens.6

Die Episode macht deutlich, welches Potenzial Personalentscheidungen haben, Gesellschaften zu spalten – trotz aller Vorkehrungen. Gerade in einer Massendemokratie, in der im Prinzip alle Bürgerinnen und Bürger von allen Bürgerinnen und Bürgern in alle Ämter gewählt werden können, scheint das Risiko, dass eine Person über hinreichende Ressourcen verfügt, um sich einer Mehrheitsentscheidung (möglicherweise) zu widersetzen, wesentlich geringer zu sein als etwa in einer Monarchie, in der konkurrierende Prinzen mit Zugriff auf Teile des Militärs um die Erbfolge streiten könnten.

Wie jede problematische oder als problematisch betrachtete Personalentscheidung provozierte auch diese Reaktionen, die das Risiko einer Wiederholung ausschließen sollten. Ein Ansatz war, das Problem zu personalisieren und Donald Trump per Anklage, Verurteilung und Disqualifikation von künftigen Ämtern den Weg zur Teilnahme an künftigen Wahlen zu verbauen – und damit zugleich eventuellen Nachahmern zu signalisieren, dass das Leugnen von Wahlniederlagen keine aussichtsreiche Strategie ist. Allerdings scheiterte dieses zweite Impeachment am 13. Februar 2021 an der notwendigen Zweidrittelmehrheit.7 Eine andere Lösung war, das Verfahren der Personalentscheidungen besser abzusichern, wobei zwei verschiedene Ansätze konkurrierten. Der demokratische Gesetzentwurf »HR-1« des 116. Kongresses sollte den Zugang zur Wahl erleichtern und damit – vermutlich – Wahlergebnisse noch eindeutiger machen, der andere (Vorhaben zur Wahlrechtsreform auf Staatsebene, wie sie zuerst in Georgia erfolgreich waren) die Identitätsprüfung von Wählenden verschärfen und den Zugang zur Wahlurne allgemein erschweren, um – so zumindest eine Begründung – die Integrität der Wahlergebnisse besser vor Verdächtigungen zu schützen.8

Diese Episode ermöglicht einige allgemeinere Beobachtungen. Erstens: Personalentscheidungen für begehrte, einflussreiche und/oder lukrative Positionen sind für Gesellschaften zentral; wenn sie scheitern, führt das zu fundamentalen Problemen, eventuell sogar zur Spaltung von Herrschaftsordnungen, Gesellschaften, Unternehmen oder Religionsgemeinschaften. Dabei kann das Scheitern verschiedene Dimensionen haben: Es kann die falsche Person ausgewählt worden sein – wie es bei einem Präsidenten, der nach Ansicht der Mehrheit des Senats zum Aufstand gegen die Verfassungsordnung aufruft, zweifellos der Fall ist. Oder das Ergebnis ist für die unterlegenen Kandidatinnen und Kandidaten und ihre Unterstützer nicht akzeptabel, weil sie entweder das Verfahren oder die Begründung der Entscheidung für eine und damit gegen mindestens eine andere Person nicht anerkennen. Personalentscheidungen finden daher immer in der Spannung zwischen der Notwendigkeit, eine Entscheidung zu begründen, und der Notwendigkeit, diese Begründung auch für die Unterlegenen akzeptabel zu gestalten, statt. Somit erweist sich die Stärke einer Personalentscheidung durch Wahl – durch die Einbindung der von ihr Betroffenen genießt sie besondere Legitimität – gleichzeitig als potenzielle Schwäche: Die Niederlage ist offensichtlich, öffentlich, durch Mehrheitsentscheid zustande gekommen und allenfalls dadurch gemildert, dass sie zeitlich begrenzt ist – allerdings eher für die Partei als für den konkreten Kandidaten.

Zweitens: Veränderungen gehen nicht immer (und vermutlich insgesamt eher selten) auf revolutionäre Umbrüche, Systemwechsel oder epochale Krisen zurück, sondern können sich leicht aus Einzelfällen ergeben. Diese sind zwar ihrerseits durch soziale, mediale, ökonomische, politische oder religiöse Entwicklungen mitgeprägt, aber sie weisen eine individuelle und damit kontingente Dimension auf. Diese zeichnet Personalentscheidungen insgesamt aus. Anders gewendet: Die Notwendigkeit, Personalentscheidungen zu treffen, zu kommunizieren und zu legitimieren bringt bereits an sich ein Element der Dynamik in historisches Geschehen – auch dann, wenn diese Kommunikation scheitert.

Das folgt auf einer ganz basalen Ebene daraus, dass die menschliche Lebens- und Schaffenszeit begrenzt ist, ohne dass sich diese Grenzen präzise voraussagen lassen. Personalentscheidungen müssen daher immer wieder unter Bedingungen wiederholt werden, die sich strukturell zwar ähneln können, die aber unterschiedliche Personen (oder dieselben Personen in unterschiedlichen Lebensphasen) betreffen. Weil zentrale Personalentscheidungen so wichtig sind, werden sie in aller Regel nach bestimmten Vorgaben gefällt; zugleich handelt es sich immer um Entscheidungen mit unabsehbaren und irreversiblen Folgen. Es geht nicht um eine Wahl zwischen bekannten Alternativen, und es geht nicht um etwas, das man einfach ungeschehen machen könnte: Auch eine erfolgreiche Kandidatur Hillary Clintons 2020 hätte die Folgen, die die Wahl Trumps 2016 hatte, nicht rückgängig machen können.

Personalentscheidungen sind historisch bislang vor allem in zweierlei Weise betrachtet worden, die auch einer verbreiteten aktuellen Sicht auf das Problem entsprechen: durch den Fokus auf Strukturen und im Rahmen einer Fortschrittserzählung. Die strukturelle Perspektive hebt hervor, dass Personalentscheidungen in aller Regel gesellschaftliche Ungleichheiten spiegeln. Meist entsprechen ihre Ergebnisse gesellschaftlichen Hierarchien, sodass Angehörige bestimmter Gruppen (des Adels oder der regierenden Partei[en], der Vermögenseliten, des männlichen Geschlechts, der Mehrheitsgesellschaft, der dominanten Religion) bei der Vergabe von Schlüsselpositionen bevorzugt werden oder überhaupt die einzigen sind, die für solche Positionen infrage kommen. Gesellschaftliche Umbrüche spiegeln sich somit in Personalentscheidungen (etwa durch den Aufstieg der Ministerialen, den Durchbruch des Bürgertums, die Zulassung von Frauen, die Öffnung von Ämtern für Migrantinnen und Migranten), und sie lassen sich durch die Forderung nach strukturellen Änderungen von Personalentscheidungen beschleunigen.

Diese Erkenntnis und Perspektive sind richtig, aber der Forschungsstand hat inzwischen eine solche Differenzierung erreicht, dass sie auch zum Alltagswissen gehören: Bereits unter den 17 Personen, die sich 2015/16 um die republikanische Präsidentschaftskandidatur bewarben, waren nur eine Frau, ein Afroamerikaner und ein Amerikaner indischer Abstammung; in der Endausscheidung konkurrierten drei Männer, die keiner »visible minority« angehörten. Das erklärt aber noch nicht, warum die republikanische Parteimitgliedschaft einen bestimmten Mann, der diese Voraussetzungen erfüllte, anderen Männern mit ähnlichen Voraussetzungen vorzog – und wie die Unterlegenen darauf reagieren würden. Interessant scheint die Perspektive auf Strukturen derzeit vor allem insofern, als die Frage, wann welche Gruppenzugehörigkeiten für wen in den Vordergrund treten, anders gewendet: bei welchen Eigenschaften in welchen Personalentscheidungsverfahren eine Unter- oder Überrepräsentation unproblematisch zu sein scheint und wann sie angegriffen werden kann, weitere Erkenntnisse verspricht – zumal sie für die aktuellen Diskussionen darüber, wann sie ein Maß für eine Erfolgs- oder Misserfolgsdimension von Personalentscheidungen bereitstellt, in hohem Maße relevant ist. Diese Perspektive setzt freilich voraus, dass sich Personalentscheidungen nicht als Einzelfall, sondern als Statistik beobachten lassen, also weniger anhand einer Kanzlerkandidat:innenkür als an der Aufstellung eines parteilichen Listenvorschlags. Das wiederum setzt voraus, dass analoge (oder als analog betrachtete) Personalentscheidungen hinreichend häufig fallen oder dass der Beobachtungszeitraum hinreichend lang ist.

Die Fortschrittserzählung geht davon aus, dass es im Laufe der historischen Entwicklung immer leichter wird, richtige Personalentscheidungen zu treffen, weil deren Folgen durch neue Erkenntnisse in den zuständigen Wissenschaften genauer vorausgesagt werden können. Dadurch, dass es gelungen sei, in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen Personalentscheidungen zu professionalisieren und »irrationale« Verfahren wie das Vertrauen auf die Abstammung, Losverfahren oder das Warten auf göttliche Zeichen durch »rationale« Vorgehensweisen wie Assessment-Center, Prüfungen oder Wahlen abzulösen, seien moderne Gesellschaften besser darin, die »besten Köpfe« zu identifizieren und sie den optimalen Aufgaben zuzuordnen. Wenn Probleme auftreten – die etwa in der Diskriminierung gegen bestimmte Gruppen oder in einzelnen Entscheidungen, die sich im Rückblick als Fehler erweisen, sichtbar werden können – dann ließen sich diese durch eine weitere Optimierung der Verfahren und ein stärkeres Vertrauen auf Expertinnen und Experten beseitigen. Allerdings scheint es schwieriger, den Erfolg oder Misserfolg bestimmter Personalentscheidungen zu validieren, als die strukturellen Ergebnisse zu analysieren; zwar kann man unter Umständen Verwaltungen vergleichen, die ihr Personal auf unterschiedliche Weise rekrutieren, indem man versucht, Kennzahlen für ihren Erfolg zu definieren, aber die Notwendigkeit, bei einem solchen Vergleich andere Unterschiede (Aufgabenbereiche, geografische Lage, besondere Herausforderungen etwa) herauszurechnen, macht ein solches Vorhaben sehr schwierig.

Dazu kommt, dass Formen der Personalentscheidung, die scheinbar überlebt sind, plötzlich wieder diskutiert und praktiziert werden können. So gewinnt das Losverfahren, das am ehesten eine strukturelle, implizite oder explizite Diskriminierung verhindern kann, bei der Besetzung zumindest quasi-politischer Gremien wie Bürgerforen neuen Zuspruch, während das (erbliche) Familienunternehmen bisweilen als Alternative zum zwar kompetitiv bestimmten, aber vielleicht allzu kurzfristig denkenden Manager gesehen wird.

Eine längerfristige historische Perspektive legt daher eine andere Sicht auf Personalentscheidungen nahe. Sie geht davon aus, dass Personalentscheidungen, zumindest solchen, denen eine besondere Bedeutung zukommt, immer bewusst und reflektiert getroffen werden. Zu Personalentscheidungen, für die das gilt, gehören mindestens Schlüsselfunktionen im Bereich der Herrschaftsordnung und Verwaltung, der Religion und – vermutlich in im Laufe der Zeit zunehmendem Maße – der Wirtschaft und der Wissenschaft. Dabei sind die Möglichkeiten, wie solche Personalentscheidungen erfolgen können, begrenzt: Historisch nachweisbar sind die Wahl, die Kooptation, das Los, der Wettbewerb, die Abstammung, die Beauftragung und das Vertrauen auf Zeichen, die im entscheidenden Moment die richtige Lösung erkennen lassen. Die Liste ist nicht frei von Überschneidungen – so kann die Kooptation auch als spezielle Form der Wahl betrachtet werden, bei der nur die Gruppe der gegenwärtigen Amtsinhaber wählt, und die Abstammung kann zugleich als Zeichen besonderer Auserwähltheit gedeutet werden.

Welche Methoden der Personalentscheidung wann zum Einsatz kommen, hängt offenbar nicht nur von der politischen Verfassung ab. Man kann eine Präferenz von Republiken für Wahl, Los und Wettbewerb, von Monarchien für Abstammung und Beauftragung vermuten, wird aber rasch feststellen, dass das nicht in jedem Fall zutrifft. Offenbar spielt eine ebenso große Rolle, um welche Art der Schlüsselpositionen es geht. Das liegt daran, dass unterschiedliche Modi der Personalentscheidung unterschiedliche Aspekte betonen: die Kooptation die besondere Kompetenz der Auswählenden, die allgemeine Wahl die Legitimation durch breite Partizipation der von einer Entscheidung Betroffenen, das Los die Gleichheit, der Wettbewerb die Leistungsfähigkeit, die Beauftragung die Hierarchie. Die Abstammung wiederum kombiniert ein Vertrauen auf eine – möglicherweise transzendental gedachte – Erbschaftsordnung mit dem Wunsch, Personalfragen nicht thematisieren zu müssen. Zugleich ist kein Verfahren gegen Kritik immun oder vor Problemen gefeit: Bei Wettbewerben lässt sich über die Kriterien der Leistung und Leistungsbewertung diskutieren, beim Los über den Ausschluss jeder Abwägung der Eignung, bei der Beauftragung über die Kompetenz derer, die beauftragen, bei der Kooptation über die Verfestigung von Strukturen. Selbst die Abstammung beseitigt das Moment der Unsicherheit nicht: Abgesehen von der Frage, ob es sich um eine legitime Abstammung handelt (die in manchen Erbmonarchien die Tradition einer öffentlichen, in Gegenwart wichtiger Zeugen ablaufenden Geburt, die den Tausch von Kindern verhindern sollte, zur Folge hatte) und wie verschiedene Erbansprüche gegeneinander zu gewichten sind, überlässt sie den Zeitpunkt eines Amtsübergangs letztlich dem Schicksal – und auch das hat das Potenzial, »eine Nation zu destabilisieren«.9

Der Eindruck, der sich bei einer längeren historischen Betrachtung über verschiedene gesellschaftliche Kontexte – neben der Politik sind das hier Kirche, Verwaltung und Unternehmen – aufdrängt, ist daher weniger der einer stringenten Modernisierung, sondern einer unterschiedlichen Kombination von Methoden der Personalentscheidung, die jeweils strukturelle oder akute Probleme lösen sollen, die aber unweigerlich andere Probleme generieren und daher durch neue Formen der Personalentscheidung abgelöst werden. Dabei kann diese Lösung darin bestehen, Formen der Personalentscheidung in anderer Weise zu kombinieren. Personalentscheidungen verbinden sich in aller Regel mit vorgegebenen oder typischen Karrierewegen, in deren Verlauf sich Individuen mit unterschiedlichen Auswahlverfahren konfrontiert sehen können. So kann ein im Losverfahren vergebener Studienplatz die Voraussetzung für die Zulassung zu einem wettbewerblichen Examen sein, das seinerseits eine besonders günstige Ausgangsposition für den Eintritt in ein Unternehmen darstellt, dessen Eigner die betreffende Person schließlich mit einer wichtigen Aufgabe beauftragt. Die Geburt in eine politisch prominente Familie kann – wie etwa bei Justin Trudeau oder George W. Bush – ein Baustein einer Karriere sein, die bei einer Personalentscheidung durch Wahl eine besonders günstige Ausgangsposition zur Folge hat.

Die Lösung kann ferner darin bestehen, Personalentscheidungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen unterschiedlich zu strukturieren und etwa – wie in der Bundesrepublik heute – im politischen Bereich die Wahl, in der Wirtschaft die Beauftragung, in der Verwaltung und Justiz den Wettbewerb und zumindest in Teilen des Wissenschaftssystems die Kooptation zu präferieren, während Abstammung und spontanen Zeichen zumindest keine formelle Rolle zukommt und das Los nur zum Einsatz kommt, wenn andere Methoden nicht zur Entscheidung geführt haben (etwa bei Stimmengleichheit nach einer Stichwahl).

Zwar wird in allen Bereichen gleichermaßen die Notwendigkeit, geeignete Personen für bestimmte Ämter zu finden, betont, aber diese Eignung lässt sich offenbar in sehr unterschiedlicher Weise verifizieren, wobei aus der Kombination wiederum Widersprüche hervorgehen können, die zu Veränderungen des Blicks auf und der Durchführung von Personalentscheidungen führen. So betrachtet, sind die Probleme, die hier beschrieben wurden, keineswegs obsolet, und sie lassen sich durch die Modernisierung und Verwissenschaftlichung von Verfahren wohl nicht oder zumindest nicht endgültig lösen.

Die folgenden Kapitel versuchen, diese These zu belegen, indem sie zum einen verschiedene Fallstudien von – meist gescheiterten – Personalentscheidungen präsentieren und deren Beitrag zur Dynamisierung von Personalentscheidungen ausloten. Dabei stehen bestimmte Bereiche im Mittelpunkt, deren Relevanz besonders evident ist – vom Militär über die Verwaltung bis zum Klerus – wobei aber bewusst kein Versuch unternommen wird, alle Bereiche gleichermaßen für jede Epoche zu behandeln. Die Fallstudien machen deutlich, dass Probleme, die heute mit Personalentscheidungen einhergehen, immer schon diskutiert wurden. Personen, deren besonderer Glaubenseifer auf den ersten Blick für sie zu sprechen schien, gaben nicht unbedingt die besten Bischöfe ab. Verwandtschaftsbeziehungen konnten in bestimmten Konstellationen ebenso für die Übertragung von Kommandogewalt an Individuen sprechen, wie die Tatsache, dass sie nicht über eine Hausmacht verfügten – und Loyalität und der Ausgleich zwischen Fraktionen konnte wichtiger sein als die körperliche Fähigkeit dazu, eine Armee zu kommandieren. Durchgängig wird das Problem sichtbar, dass Urteile über Personen wie über Personalentscheidungsverfahren nicht geteilt werden mussten, auch wenn ihre Verfechter von ihnen überzeugt waren. Aus dieser Perspektive hatten die Entscheidung des Baseler Konzils 1439, den Papst abzusetzen, ebenso wie die Einführung kompetitiver Ämtervergaben im 19. und 20. Jahrhundert die Gemeinsamkeit, dass sie nur wirksam werden konnten, wenn es zumindest für eine gewisse Zeit gelang, die relevante Öffentlichkeit von der Überlegenheit der Argumente für sie zu überzeugen.

In einem zweiten Schritt wird auf die systematischen Abwägungsprobleme, die offenbar immer mit Personalentscheidungen einhergehen, eingegangen: Wie wird die Feststellung von Eignung für eine Aufgabe überhaupt diskutiert? Wie werden die – offenbar für sich genommen gar nicht so modernen – Kriterien der Eignung und der Wunsch nach der Repräsentation von Diversität gegeneinander abgewogen? Und wie stellt sich die Beziehung zwischen der Struktur von Personalentscheidungen und der Auswahl einzelner Personen historisch dar? Zu diesen Fragen soll der Band Einsichten liefern.

1Johannes Kirdorf, Entscheidungen im Personalwesen. Das Entpersonalisieren einer (Personal-)Entscheidung, Wiesbaden 2019, S. 74.

2Genau genommen waren es »ungefähr 26 000«. Michaela Bürger, Alois Maichel, »Unsere Mitarbeiter sind unser wertvollstes Kapital«. Die Lebenslüge vieler Chefs, in: Manager Magazin, 28. März 2018, https://www.manager-magazin.de/unternehmen/karriere/mitarbeiterfuehrungunsere-mitarbeiter-sind-unser-wertvollstes-kapital-a-1198206.html (16.04.2021)

3In einigen Staaten wurden noch einige nachlaufende Briefe berücksichtigt.

4In the United States District Court for the District of Columbia, Case 1:21-cv-00040-CJN Document 22-1 Filed 03/22/21, https://assets.documentcloud.org/documents/20519858/3-22-21-sidney-powell-defending-the-republic-motion-to-dismiss-dominion.pdf, S. 33 (16.04.2021).

5Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/2020_United_States_presidential_election; https://en.wikipedia.org/wiki/Attempts_to_overturn_the_2020_United_States_presidential_election#Stop_the_Steal (16.04.2021); https://en.wikipedia.org/wiki/2020_United_States_elections(16.04.2021).

6https://en.wikipedia.org/wiki/2021_storming_of_the_United_States_Capitol (16.04.2021).

7https://en.wikipedia.org/wiki/Second_impeachment_of_Donald_Trump (16.04.2021).

8https://en.wikipedia.org/wiki/Election_Integrity_Act_of_2021 (16.04.2021).

9https://www.politico.eu/article/british-monarchy-succession-problem-prince-charles/ (16.04.2021).

Vom Konklave zum Assessment-Center

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