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Persönlichkeitsstörungen

Jürgen Horn

Leitender Arzt Klinik Berus, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Sozialmedizin, Überherrn-Berus

„Mad or bad?” – Eine Ermahnung zur Zurückhaltung

Die Persönlichkeit eines Menschen ist immer komplex und nicht abschließend beschreibbar. Es ist diese Tatsache, die uns von „Individuen“ sprechen lässt, von Menschen, die uns in ihrer Besonderheit liebenswert erscheinen können, die uns dann auch wieder verblüffen angesichts ihrer Unangepasstheit, Widerständigkeit, Undurchsichtigkeit oder Unberechenbarkeit.

Die Persönlichkeit formiert das allzu Menschliche und Abgründige, das Großartige und Unverwechselbare am Menschen.

Wenn wir die Persönlichkeit eines Menschen als „gestört“, „abnorm“ oder „krank“ bezeichnen, wenn wir das nicht abschließend Beschreibbare also mit einem bewertenden Etikett versehen, so darf dies nur mit besonderer Zurückhaltung geschehen. Das hat verschiedene Gründe:

1. Die Störung der Kommunikation: Kein Mensch lässt sich gerne festlegen – am allerwenigsten in negativer Art und Weise. Es mag sich nur jeder selbst fragen, wie er intuitiv auf ein „Du bist so …!“ reagiert. Viele Ehestreitigkeiten beginnen genau mit diesen Worten. Jedes Personalgespräch, das man mit diesen Worten beginnen würde, nähme wahrscheinlich einen destruktiven Verlauf. Die charakterliche Festlegung eines Menschen, seine Reduktion auf einige wenige Wesensmerkmale fühlt sich einfach nicht gut an und ist oft der Anfang einer Eskalation1.

2. Der Zuschreibungs fehler: Die Festlegung eines Menschen ist nicht nur konfliktträchtig, sondern schlicht irrational: Immer wird dabei etwas weggelassen, immer wird von der konkreten Situation abgesehen (ist doch menschliches Verhalten meistens Antwort auf eine konkrete Erfahrung), immer wird die Polarität des menschlichen Wesens übergangen (selbst der impulsivste Mensch kennt auch Phasen geduldigen Verharrens), immer kommen subjektive und willkürliche Bewertungen hinein (was der eine Beobachter schon für Geiz hält, ist für den anderen noch Sparsamkeit). In der Sozialpsychologie wird die Tatsache, dass Menschen den Einfluss von einzelnen Persönlichkeitsfaktoren auf das Verhalten gemeinhin überschätzen, als „fundamentaler Attributionsfehler“2 bezeichnet.

3. Labeling und soziale Ausgrenzung: Nicht selten wird unter dem Hinweis auf die „Krankhaftigkeit“ und Andersgeartetheit eines Menschen auch seine soziale Ausgrenzung betrieben. Soziale Probleme, Missverständnisse oder Konflikte lassen sich vordergründig leicht lösen, wenn man einzelnen Menschen die Schuld dafür zuweist und sie ausgrenzt, indem man sie als „verrückt“ oder bösartig definiert. Die diesbezüglichen „Sprachspiele“ oder „Diskursformationen“3 sind unheimlich attraktiv in ihrer Einfachheit und verselbständigen sich rasch. So ist ein sehr alter Begriff für die Persönlichkeitsstörung, die „Psychopathie“, allmählich zu einem Schimpfwort geworden – und sollte heute in der klinischen Psychiatrie und Psychotherapie nicht mehr verwendet werden.4

Fazit

Um vorläufig zusammenzufassen:

Mehr noch als bei anderen psychischen Erkrankungen muss man sich im Falle der Persönlichkeitsstörungen vor einem schnellen Urteil und vor der Stigmatisierung der Betroffenen hüten. Menschen kann man nicht mit einem diagnostischen Etikett versehen. Sehr prägnant wurde das von dem Arzt und Philosophen Karl Jaspers formuliert: „Es ist wissenschaftlich und menschlich unmöglich, unter einen Menschen gleichsam einen Strich zu machen, die Bilanz zu ziehen und zu wissen, was er ist. … Menschlich aber bedeutet die Feststellung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht.“5

Der Leser wird gebeten, sich bei der Lektüre dieses Kapitels dessen bewusst zu sein, wie vorsichtig mit dem „Wissen“ der Psychiatrie/Psychologie im Falle der Persönlichkeitsstörungen umgegangen werden muss.

1. Die Persönlichkeit – Bestimmungsversuche und Perspektiven

Die Persönlichkeit eines Menschen umfasst seine jeweiligen besonderen Eigenschaften, seinen Charakter und sein Temperament. In einer Persönlichkeit finden sich diese Eigenschaften mehr oder weniger überdauernd. Sie erlauben dem Menschen die Anpassung an seine jeweilige Umwelt, die Gestaltung des eigenen Lebens und eine angemessene Reaktion auf alltägliche oder kritische Anforderungen. Die Persönlichkeit wird durch angeborene, vererbte, aber auch durch erlernte Verhaltens- und Erlebensmuster geformt.

Die Versuche, Persönlichkeiten zu kategorisieren, reichen bis in die Antike zurück. Hier gab es erstmals in der sogenannten „Säftelehre“6 den Versuch, vier Persönlichkeitstypen zu unterscheiden, deren Verschiedenheit man auf eine jeweils andere Zusammensetzung der Gallenflüssigkeit (griechisch: „cholé“) zurückführte. Dieses Modell hatte über viele Jahrhunderte hinweg bis in die Renaissance hinein Bestand und wirkt bis heute nach in Begriffen wie „Choleriker“ (= aufbrausender Mensch, Hitzkopf) oder „Melancholiker“ (griechisch „melas“ = schwarz, Krankheit der schwarzen Galle, schwermütiger Mensch).

1.1 Dimensionale Persönlichkeitsmodelle

Mit Beginn der Wissenschaftsära favorisierte man unter dem Einfluss einer akademischen Psychologie, die sich mit statistischen Methoden dem Problem näherte, sogenannte dimensionale Modelle zur Bestimmung der Persönlichkeit.

Dabei werden bestimmte Grundzüge der Persönlichkeit in ihrem Ausprägungsgrad zu erfassen und zu quantifizieren versucht. Ein Mensch kann demnach mehr oder weniger introvertiert, mehr oder weniger emotional erregbar, mehr oder weniger verträglich usw. sein. Bei der dimensionalen Modellierung geht man in der Regel davon aus, dass es kontinuierliche Übergänge von gesund nach krank und auch zwischen den einzelnen Persönlichkeitsstörungen gibt.

Als Beispiel sei das psychobiologische Persönlichkeitsmodell des amerikanischen Psychiaters und Genetikers C. Robert Cloninger7 genannt. Er unterschied vier angeborene bzw. vererbte Temperamentsdimensionen (nach Neuem suchen, der Bestrafung entgehen, Belohnung nötig haben, ausdauernd sein) von drei, eher auf Lernerfahrungen und biographische Prägungen zurückgehenden Charakter-Dimensionen (Selbstkontrolle, Kooperativität, Selbsttranszendenz).

Ein weiteres, sehr einflussreiches dimensionales Modell ist das „Big-Five-Modell“8, nach dem sich Menschen in den Merkmalen „Neurotizismus“ (emotionale Labilität), „Extraversion“ (Begeisterungsfähigkeit), „Offenheit für Erfahrungen“ (Interesse/Neugier/geistige Beweglichkeit), „Verträglichkeit“ (Konformität) und „Gewissenhaftigkeit“ (Rigidität) unterscheiden. Das Modell hat vor allem in der Persönlichkeitsforschung und psychosomatischen Forschung eine weite Verbreitung gefunden. Die einzelnen Merkmale sollen jeweils zu ca. 50 % auf vererbte Faktoren zurückgehen.

1.2 Kategoriale Persönlichkeitsmodelle

Die klinische Psychiatrie bevorzugt seit jeher sogenannte kategoriale Modelle der Persönlichkeitsstörungen, die in der Tradition der Psychiater Emil Kraepelin und Kurt Schneider9 hervorstechende Eigenschaften zur Definition von Persönlichkeiten heranziehen (Typologien). Dabei wurden früher – recht unsystematisch – einmal vorherrschende Gefühle (z. B. betriebsame Heiterkeit oder Traurigkeit), ein anderes Mal auffällige soziale Verhaltensmuster (z. B. Selbstunsicherheit), volitionale Merkmale (z. B. Fanatismus oder Willensschwäche) oder die gefühlsmäßige Ansprechbarkeit (z. B. Überschwänglichkeit oder Explosibilität) zur Bezeichnung der Wesensart genutzt.

Mitunter wurden auch körperliche Merkmale zur Unterscheidung herangezogen (Konstitutionstypen); die Nähe zu den alten humoralpathologischen Modellen war dabei oft spürbar. So sollten nach Kretschmer10 explosible Psychopathen häufiger einen athletischen Körperbau aufweisen, während pyknische, also untersetzte Menschen, eher gemütvoll bis depressiv seien. Diese konstitutionstypologischen Unterteilungen ließen sich durch moderne wissenschaftlich-statistische Verfahren selten nachvollziehen.

1.3. Persönlichkeitsdiagnostik in der klinisch-psychotherapeutischen Praxis

In der klinisch-psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis werden bis heute Persönlichkeitskategorien genutzt, die nun aber in Merkmalskatalogen, sogenannten Diagnose-Manualen, möglichst nachvollziehbar beschrieben werden (s. Abschnitt 2).

In der Praxis ist die Entscheidung, wann eine Persönlichkeit gestört ist und wann Behandlungsbedürftigkeit vorliegt, dennoch sehr schwierig. Es gibt Grauzonen. Es gibt mehr oder weniger deutliche Ausprägungen (Akzentuierungen) von Persönlichkeitsmerkmalen, die mit mehr oder weniger starkem Leidensdruck einhergehen.

Was in starker Ausprägung Leid verursacht, ist in eher verdünnter Form kaum störend und manchmal sogar hilfreich. Was unter bestimmten Umständen Probleme verursacht, ist unter anderen Bedingungen funktional: In ruhigen

Tabelle 1

DurchschnittsmenschenVariationen der PersönlichkeitAkzentuierte PersönlichkeitenAbnorme Persönlichkeiten
Eher hypothetisches Konstrukt. Gibt es ihn doch, dann ist er keine „Persönlichkeit“ im philosophischen Sinne (nämlich respektabel, initiativ, sein Leben in die Hand nehmend usw.).Es gibt z. B. spontane, nachdenkliche, ängstliche, genaue, zurückhaltend-vorsichtige Menschen, die alle als „normal“ zu bezeichnen sind.Sehr ausgeprägte Eigenschaften: z. B. impulsiv (statt spontan), grüblerisch (statt nachdenklich), zwanghaft-übergenau (statt genau), misstrauisch (statt vorsichtig) usw.Sie leiden unter ihren Eigenschaften und/ oder ihre Mitmenschen leiden darunter. Kollision mit ethischen/ rechtlichen Normen und Konventionen kommen häufiger vor.
Ohne Bedeutung in Medizin/Psychologie und wohl auch in der Gesellschaft. In der Literatur mit ironischem Unterton oft als „Normopathen“* bezeichnet.Heute auch als Persönlichkeitsstil** bezeichnet. Variationen bereiten in der Regel keine Probleme. Persönlichkeitsakzentuierungen können je nach Lebensumständen zu Leidensdruck führen, aber auch noch zu Hochleistungen disponieren (z. B. schätzt man an Polizisten die Eigenschaft der Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit; impulsive Beamte bekommen aber irgendwann Probleme).Heute auch als Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Entsprechende Persönlichkeiten bekommen auch ohne ungünstige äußere Umstände Probleme in verschiedenen Lebensbereichen.

* Z. B. Lütz, M. (2009). Irre – Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen – Eine heitere Seelenkunde. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus

** Kuhl, J. & Kazén, M. (1997). Persönlichkeits-Stil und Störungs-Inventar (PSSI). Göttingen: Hogrefe

Zeiten, wenn alles seinen gewohnten Gang geht, mag z. B. ein übergenauer (zwanghafter) Mensch sehr gut funktionieren, in den Turbulenzen einer beruflichen Veränderung (z. B. im Zuge einer Verwaltungsreform) verliert er möglicherweise leichter als andere den Boden unter den Füßen. Im Beamtenberuf bewährt er sich womöglich als Meister der exakten Ablage und buchstäblichen Gesetzestreue, als Erzieher im Kindergarten verzettelt er sich bei der Beherrschung des Chaos.

Diese Erkenntnis, dass sich weniger auffällige Persönlichkeiten in bestimmten Zusammenhängen und zu bestimmten Zeiten noch gut bewähren, stärker abweichende Persönlichkeiten bei der Lebensbewältigung jedoch immer wieder oder anhaltend scheitern, dabei leiden oder Leid verursachen, hat innerhalb der kategorialen Persönlichkeitsmodelle zu einer Dimensionierung geführt, die bis heute durchgehalten wird und z. B. in der psychoedukativen Arbeit mit Betroffenen genutzt wird.11, 12

In Tabelle 1 wird beispielhaft die Einteilung des Psychiaters Karl Leonhard dargestellt13, der „Varianten der Persönlichkeit“, „Akzentuierte Persönlichkeiten“ und „Abnorme Persönlichkeiten“ unterscheidet. Heute (unterste Zeile der Tabelle) spricht man meistens von „Persönlichkeitsstilen“ und „Persönlichkeitsstörungen“. Dabei ist entscheidend, dass zwischen den einzelnen Kategorien fließende Übergänge bestehen.

2. Die moderne Klassifikation und Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

Aus dem kurzen Überblick zur Geschichte der Persönlichkeitsmodelle wird bereits deutlich, dass die endgültige Definition einer Persönlichkeitsstörung mit zahlreichen Problemen behaftet ist. Der Begriff ist daher theoretisch immer wieder neu definiert worden, war oft mit Spekulationen und Wertungen verbunden und bleibt bis heute umstritten.14

Da man in einer wissenschaftlich fundierten Medizin und Psychologie klare Kriterien und definierte Prozeduren braucht, um zu einer zuverlässigen, nachvollziehbaren und gültigen Diagnose zu kommen, wendet man heute international einheitliche Klassifikationssysteme an, die anhand eines Kriterienkataloges und eines Algorithmus möglichst genau definieren, wann man allgemein von einer Persönlichkeitsstörung sprechen darf, wie die spezifischen Persönlichkeitsstörungen bezeichnet und woran sie erkannt werden. Man nennt dies auch operationale Diagnostik.

Diese Klassifikationssysteme sind das DSM-IV15 und das ICD-1016. Beide Klassifikationssysteme wollen auf Spekulationen hinsichtlich der Ursache von Persönlichkeitsstörungen verzichten und wollen statt willkürlicher und diffuser Gesamteindrücke konkrete Verhaltensaspekte zur Grundlage des klinischen Urteils machen. Es gibt darin Listen von Erlebensund Verhaltensmerkmalen, die eine bestimmte Persönlichkeitsstörung ausmachen und zwar immer dann, wenn ein definiertes Minimum an Merkmalen beobachtet werden kann.

2.1 Allgemeine diagnostische Kriterien einer Persönlichkeitsstörung

„Eine Persönlichkeitsstörung stellt ein überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten dar, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht, tiefgreifend und unflexibel ist, seinen Beginn in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter hat, im Zeitverlauf stabil ist und zu Leid und Beeinträchtigungen führt.“17

Den betroffenen Menschen fehlen in der Regel grundlegende Fähigkeiten/Kompetenzen18 in verschiedenen Bereichen. Hierzu gehören19:

1. der zwischenmenschliche Umgang (Interaktionsverhalten): Menschen mit Persönlichkeitsstörungen haben oft unbefriedigende, inkonstante oder ganz fehlende Beziehungen zu ihren Mitmenschen. Dies kann darauf zurückzu führen sein, dass sie nicht vertrauen können (z. B. bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung) oder sich zu sehr an andere anklammern, weil ihnen eigenständige Entscheidungen und das Alleinsein schwerfallen (z. B. bei der dependenten Persönlichkeitsstörung). Andere wiederum neigen zur Manipulation ihrer Mitmenschen, weil ihnen das Mitgefühl fehlt (z. B. die antisoziale Persönlichkeitsstörung). Die Beziehungsstörung ist ein so zentrales Merkmal der Persönlichkeitsstörung, dass sie oft als erstes ins Auge springt und mitunter schon aus den Biographien ersichtlich ist. Persönlichkeitsgestörte Menschen haben häufige Beziehungsabbrüche oder hochfrequente Wechsel der beruflichen Anstellungen (sogenannte „Abbruchsbiographien“)20 oder sie leben in hyperstabilen, aber dysfunktionalen Verhältnissen (z. B. in Gewaltehen).

2. die Regulation des Gefühlslebens (Emotionalität): Menschen mit Persönlichkeitsstörungen haben oft überschießende oder kaum kontrollierbare Emotionen und können sich selbst schlecht beruhigen oder trösten (z. B. bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Andere stehen unter dem Einfluss eines einzigen dominierenden Gefühls, etwa der Angst (bei der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung). Wieder andere wirken distanziert und können Gefühle kaum ausdrücken (schizoide Persönlichkeitsstörung). Schließlich gibt es Persönlichkeiten, die selbst aus sachlichen Themen einen emotionalen Gehalt gewinnen und theatralisch inszenieren können (hysterische Affektgewinnung).

3. die Genauigkeit der Realitätswahrnehmung (soziale Wahrnehmung): Die äußeren Umstände, die Mitmenschen und die Beziehung zu ihnen werden von persönlichkeitsgestörten Menschen oft verzerrt oder falsch wahrgenommen. Diese Perspektive kann dann kaum oder nur mit Mühe korrigiert werden. So werden etwa gut gemeinte Kommentare als verletzende Kritik wahrgenommen (Kritikempfindlichkeit bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen), oder es wird anderen Menschen generell ein feindseliges Motiv unterstellt (paranoide Persönlichkeitsstörungen).

4. die Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung: Es finden sich Betroffene, die ihre eigene Person stark in den Vordergrund rücken, die eigene Besonderheit/Talente hervorheben und damit sehr auf Bewunderung aus sind (histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörungen); andere wiederum stellen ihr Licht generell unter einen Scheffel und zweifeln fortwährend an ihren eigenen Kompetenzen (vermeidend-selbstunsichere und dependente Persönlichkeitsstörungen).

5. die Impuls- und Selbstkontrolle: Die Kontrolle eigener Impulse kann so weit vermindert sein, dass es zu autoaggressiven, aggressiven oder deliktischen Verhaltensweisen kommt (z. B. Kaufsucht, selbstverletzende Handlungen, suizidale Handlungen oder Drogenmissbrauch bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen; Diebstahl und Gewalttätigkeit bei antisozialen Persönlichkeitsstörungen). Anderen wiederum fehlt die Geduld, Dinge einfach geschehen zu lassen oder widrige Umstände zu akzeptieren (Ärgerreaktionen bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen).

Von einer Persönlichkeitsstörung spricht man – das sei noch einmal betont – nur dann, wenn die oben gelisteten Störungsbereiche zu überdauernden Problemen führen (über Jahre hinweg) und in mehreren Lebensbereichen (also z. B. am Arbeitsplatz und in der Familie) auftreten.

Treten solche Störungen nur vorübergehend auf, etwa als Reaktion auf ein belastendes Lebensereignis (z. B. depressiver Rückzug nach Todesfall in der Familie) oder als Folge einer Substanzwirkung (z. B. Reizbarkeit nach Alkoholkonsum) oder als Folge eines medizinischen Problems (z. B. Realitätsverkennung nach Hirnverletzung), so darf nicht von einer Persönlichkeitsstörung gesprochen werden.

Ebenso wird bei Jugendlichen oder Adoleszenten (mindestens bis zum 14. Lebensjahr, bei antisozialen Verhaltensweisen bis zum 18. Lebensjahr) übereinkunftsgemäß nicht von Persönlichkeitsstörungen gesprochen, weil man hier noch von einem erheblichen Entwicklungspotential ausgeht.21

Im Bereich der klinischen Psychologie wird mitunter darauf Wert gelegt, dass nur dann von einer Persönlichkeitsstörung gesprochen wird, wenn der Betroffene selbst (und nicht nur seine Umwelt) unter seinem Verhalten und seinen Folgen leidet. Dies wird durchaus kontrovers diskutiert. Persönlichkeitsgestörte Menschen können sehr lange zufrieden und erfolgreich durchs Leben gehen und verursachen mehr Leid bei ihren Mitmenschen, als dass sie selbst ein Unbehagen spüren. Namhafte Autoren wie Peter Fiedler22 fordern jedoch den subjektiven Leidensdruck als Diagnosekriterium und wollen nur im Falle eines „erheblich eingeschränkten Funktionsniveaus“, d. h. im Falle einer „Kollision mit Ethik, Recht oder Gesetz“, eine Ausnahme gelten lassen.

2.2 Epidemiologische Daten – Häufigkeiten und Verteilung

Die einzige in Deutschland durchgeführte Studie zur Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen in der Allgemeinbevölkerung kommt auf eine Häufigkeit (Prävalenz) von 9,4 %.23 Dies entspricht in etwa der Zahl, die andere, internationale Untersuchungen neueren Datums ergeben haben.

Unter den Patienten psychiatrischer Einrichtungen ist diese Zahl wesentlich größer. Hier leiden 40 - 60 % der Patienten (auch) unter Persönlichkeitsstörungen. Diese Häufigkeit spricht nicht nur für die fehlende soziale Angepasstheit persönlichkeitsgestörter Menschen, sondern vor allem auch für das hohe Risiko, psychische Begleiterkrankungen zu entwickeln. Persönlichkeitsgestörte Menschen leiden häufiger unter Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen. Sie weisen teilweise ein erheblich gesteigertes Suizidrisiko auf.

Die höchsten Suizidraten finden sich bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen mit 4 - 10 % und vor allem bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen mit 14 %.24

Die Geschlechterverteilung ist variabel. Je nach spezifischer Persönlichkeitsstörung findet man andere Verteilungen: Borderline-Persönlichkeitsstörungen betreffen z. B. in 80 % weibliche Patienten, antisoziale hingegen ganz überwiegend Männer.

2.3 Ursachen und Entstehungsbedingungen

Fazit

Bei der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen spielen biologische, psychologische und umgebungsbezogene (soziale) Faktoren gleichermaßen eine Rolle.25

Am besten werden die Verhältnisse in dem sogenannten „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ abgebildet26, nach dem ein bestimmtes Temperament oder bestimmte Defizite unter ungeeigneten Entwicklungsbedingungen oder starkem Stressoren-Einfluss schließlich zur Persönlichkeitsstörung führen, die dann nicht selten eine Art „Selbstschutz“ beinhaltet (also z. B. Zwanghaftigkeit zur Abwehr von Verlust- oder Zukunftsängsten, Misstrauen zum Schutz gegen zwischenmenschliche Verletzung, Größenphantasien zur Abwehr von Minderwertigkeitsgefühlen etc.).

Eine Variante des Vulnerabilitäts-Stress-Modells ist das Konzept der „invalidierenden Umgebung“27: Wird z. B. ein Kind mit einem lebhaften und hoch reaktiven Temperament auf Biegen und Brechen „gezügelt“ (z. B. in ein kirchliches Internat gegeben), oder wird ein Kind mit einer durchschnittlichen Intelligenz ständig zu schulischen Hochleistungen angespornt, verknüpft mit herabsetzenden Kommentaren im Falle des „Versagens“ oder verknüpft mit konditionaler Zuwendung („Liebe nur für Leistung“), so drohen daraus tiefer greifende Störungen des Persönlichkeitsgefüges zu entstehen.28

Erblichen und biologischen Faktoren wird bei der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen eine große Rolle zugeschrieben. Torgersen29 schätzt die Erblichkeit für die Gesamtheit der Persönlichkeitsstörungen auf 60 %. Dabei wird nicht unbedingt die Persönlichkeitsstörung selbst vererbt, sondern eben jene Anfälligkeiten (Vulnerabilitäten). Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass man in den Familien persönlichkeitsgestörter Menschen gehäuft auch andere psychische Erkrankungen findet (z. B. Schizophrenien in den Familien von paranoiden und schizotypischen Persönlichkeitsstörungen).30

Die Vulnerabilität liegt häufig im Bereich körperlich-neurophysiologischer Funktionen, beispielsweise in Form einer veränderten Schmerzsensitivität, einer übermäßigen Reagibilität emotionsverarbeitender Hirnzentren oder in Form einer veränderten Wahrnehmung des emotionalen Ausdrucks in Gesichtern.

Über die psychologischen Entwicklungsbedingungen, die zur Ausprägung einer Persönlichkeitsstörung führen, herrscht bisweilen Uneinigkeit. So werden bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung einmal emotional entbehrungsreiche Kindheitsverhältnisse vermutet, ein anderes Mal zu starke Verwöhnung und Idealisierung des Kindes seitens der Eltern, dann wieder eine – abwechselnd forderndstrafende und verwöhnende – Pendelerziehung.31

Besonders bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung werden gehäuft auch traumatische Entwicklungsbedingungen in der Kindheit gefunden (sexuelle Gewalt, Vernachlässigung, Misshandlung).

Bei vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeiten wiederum lassen sich gehäuft ängstliche Vorbilder und/oder ein ambivalent-ängstlicher Erziehungsstil in der Familie identifizieren.

3. Persönlichkeitsstile und Persönlichkeitsstörungen im Einzelnen

Im Folgenden sollen die einzelnen Persönlichkeitsstörungen in Anlehnung an das DSM-IV vorgestellt werden. Dabei soll auf eine möglichst anschauliche Darstellung Wert gelegt werden.

Nach der Darstellung der Kernmerkmale einer spezifischen Persönlichkeitsstörung sollen die jeweils wichtigsten sozialen und gesundheitlichen Probleme geschildert werden, ggf. auch unter Berücksichtigung polizeilich interessanter Fakten.

Anschließend werden die jeweils zugehörigen Persönlichkeitsstile referiert, also die abgemilderten Formen der Persönlichkeitsstörungen, wie sie heute im psychotherapeutischen Sektor als hilfreiche Erklärungs- und Arbeitsmodelle üblich sind.32 Die Eigenarten der betroffenen Menschen werden damit auch in einer wertschätzenden und ressourcenorientierten Form besprochen, denn insbesondere wenn die Auffälligkeiten nicht sehr ausgeprägt sind, finden sich unter den Betroffenen häufig ausgesprochen leistungsfähige und einflussreiche Menschen, die ihre Charaktermerkmale in sozial wohlgelittener, ja wertschöpfender Form zur Geltung bringen.

Persönlichkeitsvarianten, Persönlichkeitsstile, Persönlichkeitsstörungen begegnen uns tagtäglich in Alltag und Beruf. Ihre Kenntnis bedeutet nicht zuletzt Menschenkenntnis, die vor allem im polizeilichen Kontext stark gefordert ist. Auch aus diesem Grunde soll eher anschaulich-erzählend berichtet werden, statt Symptomkataloge referierend.

Fazit

Das DSM-IV unterscheidet drei Hauptgruppen (sogenannte Cluster33) von Persönlichkeitsstörungen, die jeweils gemeinsame Merkmale haben. Sie sind in Tabelle 2 dargestellt.

Tabelle 2

Cluster nach DSM-IVA sonderbar-exzentrische PersönlichkeitenB dramatisch-emotionallaunische PersönlichkeitenC ängstlich-furchtsame Persönlichkeiten
paranoidschizoidschizotypischantisozialborderlinehistrionischnarzisstischvermeidend-selbstunsicherdependentzwanghaftpassiv-aggressiv

Dabei finden sich in Cluster B diejenigen Persönlichkeitsstörungen, die am ehesten polizeilich relevant sind, weil sie einen riskanten Lebensstil führen und emotional zumindest in kritischen Situationen oft unterreguliert sind. Dies bringt besonders häufig selbstschädigende Verhaltensweisen und kurzschlüssiges, autoaggressives oder aggressives Handeln mit sich.

Aus Cluster A sind vor allem die paranoiden und mit Einschränkungen auch die schizotypischen Persönlichkeitsstörungen forensisch relevant.

In Cluster C finden sich diejenigen Persönlichkeitsstörungen, die das höchste Viktimisierungsrisiko tragen. Sie werden in bestimmten (auch beruflichen) Kontexten am häufigsten ausgenutzt, finden sich z. B. als Opfer häuslicher Gewalt und geraten ebenfalls häufiger in suizidale Krisen.

3.1 Das Cluster A: Die sonderbar-exzentrischen Persönlichkeiten

Im Cluster A der sonderbar-exzentrischen Persönlichkeiten finden sich die introvertierten und ungeselligen Menschen. Es sind Persönlichkeiten, die sich aus den mitmenschlichen Bezügen mehr oder weniger herausgelöst haben, im Affekt kühl oder fremd wirken, in ihrem Denken verschroben oder extrem. In der Realitätswahrnehmung und im Verhalten sind sie mitunter so exzentrisch und eigen, dass sie von anderen als Einzelgänger, Sonderlinge oder „Spinner“ wahrgenommen werden.

3.1.1 Die paranoide Persönlichkeitsstörung34

Die paranoide Persönlichkeitsstörung zeichnet sich durch ein situations-übergreifendes Misstrauen aus. Sie neigt dazu, selbst neutrale oder freundliche Handlungen der Mitmenschen als verächtlich, herabsetzend oder feindselig fehlzudeuten.

Möchte der Partner alleine ausgehen, vermuten sie Untreueabsichten dahinter (Eifersucht); hat die Tochter einen neuen Freund, so ist das höchstwahrscheinlich ein Lump, den man besonders überprüfen muss; gibt es eine Neuerung im Beruf, so wird dahinter grundsätzlich eine „Machenschaft“ der Vorgesetzten zum Nachteil der Mitarbeiter gewittert; bittet ein Kollege um einen Gefallen, fühlen sie sich rasch ausgenutzt.

Hinter der übermäßigen Wachsamkeit und kontrollierenden Dominanz paranoider Menschen verbirgt sich eine starke Kritikempfindlichkeit; sie hegen oft anhaltenden, nachtragenden Groll gegen Menschen, von denen sie sich beleidigt, ausgenutzt oder missachtet fühlen. Sie können weder verzeihen noch vergessen.

Paranoide Persönlichkeiten beharren sehr stark auf ihren eigenen Rechten und Meinungen. Sie kennen keine Grauzonen: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich!“ Dadurch geraten sie in eskalierende Streitsituationen, die mitunter auch in gerichtliche Prozesse münden. Vereinzelt überhäufen sie Behörden und Gerichte mit Anzeigen oder Petitionen, klagen bis in die letzte Instanz oder kämpfen für ein – aus ihrer Sicht – übergeordnetes Recht, hinter dem sich zumindest für Außenstehende oft gut sichtbar Selbstgerechtigkeit verbirgt. Viele Querulanten gehören dementsprechend zu den paranoiden Persönlichkeitsstörungen.

Durch die Neigung, ihre Umwelt als feindselig zu betrachten, liebäugeln manche paranoide Persönlichkeitsstörungen mit Verschwörungstheorien. Sie konstruieren „Achsen des Bösen“, gehen von einer Einsickerung feindlicher Elemente in die Gesellschaft aus, erwarten die gesellschaftliche Großkatastrophe, wappnen sich oder bewaffnen sich sogar.

Viele politische und religiöse Fanatiker, Attentäter oder Amokläufer gehören deshalb in diese Kategorie der Persönlichkeitsstörung.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung drohen leicht in ein soziales Abseits zu geraten. Sie verbreiten in der Regel eine Aura kühler Sachlichkeit oder Strenge und unterhalten unbefriedigende zwischenmenschliche Beziehungen, u. a. weil sie selbst Freunde und Ehepartner leichtfertig der Illoyalität oder Untreue bezichtigen.

In Führungspositionen pflegen sie einen eher autokratischen und kontrollierenden Stil, greifen nicht selten zu repressiven Maßnahmen, unterstützen Zuträgermentalität oder installieren Spitzelsysteme.

In zugespitzten Krisensituationen kommt es mitunter zu kurzen wahnhaften Episoden mit der dann nicht mehr zu korrigierenden Überzeugung, beneidet, beobachtet, abgehört, verfolgt oder sonst wie beeinträchtigt zu werden.35

Selten kommt es dann auch zu Gewaltdelikten (bis hin zu Amoktaten), die ideologisch überhöht oder als Notwehr verbrämt werden.

Der wachsam-scharfsinnige Persönlichkeitsstil36

Menschen mit einem wachsam-scharfsinnigen Persönlichkeitsstil (also der abgeschwächten, nicht pathologischen Form der paranoiden Persönlichkeitsstörung) stehen fest zu ihren eigenen Absichten und Vorstellungen. Davon abweichende Meinungen oder Gewohnheiten werden gerne hinterfragt und ergründet, um den Wurm darin zu entdecken oder eine hintergründige Motivation zu entlarven. Kurz: Sie sind gute Beobachter und lassen sich kein X für ein U vormachen; sie sind unabhängig in ihrer Meinungsbildung, lassen sich nicht einschüchtern und verteidigen ihre Positionen.

Man findet wachsame Persönlichkeiten dementsprechend dort, wo es um die Überwachung von Normen und Konventionen geht, etwa in Tätigkeitsfeldern wie Jurisprudenz, Kriminalistik37 und Parteiarbeit. Dort leisten sie wertvolle Arbeit.

3.1.2 Die schizoide Persönlichkeitsstörung38

Das herausragende Merkmal der schizoiden Persönlichkeitsstörung ist die Distanziertheit in sozialen Beziehungen. Schizoide Menschen sind Einzelgänger ohne enge Freunde oder Bekannte, scheu, verschlossen, ohne Bedürfnis nach Nähe. Für ihre Mitmenschen wirken sie unzugänglich und kühl; sie drücken kaum je warmherzige Gefühle oder Freude aus. Sie beschäftigen sich gerne mit Tätigkeiten, die alleine ausgeübt werden können, und sind relativ gleichgültig gegen geltende Konventionen und Umgangsformen. Diese werden aber nicht absichtlich (etwa im Sinne der Provokation) verletzt, sondern eher aus Desinteresse oder Unkenntnis heraus ignoriert. Gehen sie ein sexuelles Verhältnis ein, so nur aus der Not heraus – zur Triebbefriedigung. Die Betroffenen kultivieren in ihrer Introvertiertheit nach innen eine mehr oder weniger reiche Phantasiewelt.

Nach außen pflegen sie manchmal ein cooles, hyperautonomes Image („Clint-Eastwood-Syndrom“39), das über die darunterliegende Scheu und Näheangst hinwegtäuscht.

Die Abgrenzung vom sogenannten Asperger-Syndrom, einer Sonderform des frühkindlichen Autismus, oder von schizophrenen Residualzuständen ist mitunter nur durch eine ausführliche klinische Diagnostik zu leisten.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Die Betroffenen kommen gerade nicht wegen ihres Eigenbrötlertums oder der Zurückgezogenheit in die Behandlung. Sie arrangieren sich gerne in festen Gewohnheiten und Abläufen – und bleiben darin lange stabil. Problematisch wird es allerdings, wenn sie durch äußere Umstände, etwa berufliche Notwendigkeiten oder private Veränderungen, gezwungen werden, mit ihren Mitmenschen in näheren Kontakt zu treten. Sie reagieren dann mit Ängsten und starker Verunsicherung.

Menschen mit einem Bedürfnis nach Einsamkeit sind in unserer hoch kommunikativen Gesellschaft zudem oft nicht gut angesehen: Den Betroffenen wird daher ihr Sonderlingsstatus durch negative Reaktionen der Umwelt manchmal schmerzlich bewusst gemacht, sodass sie depressiv reagieren können.

Der ungesellig-zurückhaltende Persönlichkeitsstil

Es handelt sich um Menschen, die die Einsamkeit der Geselligkeit vorziehen, und die sich gut alleine beschäftigen können. Von Moden oder kurzfristigen Trends lassen sie sich wenig beeindrucken. Da sie weder auf Lob aus sind noch unter der Kritik anderer sehr leiden, können sie ihr Leben in der Regel sehr autonom gestalten.

So anstrengend für sie normale Gespräche sind, so gut können sie sich in bestimmte technische oder philosophische Fragen vertiefen, sich in Literatur oder in die eigene Innenwelt hineinversenken.

Man findet ungesellig-zurückhaltende Menschen daher vor allem in Berufen, die alleine ausgeübt werden. Sie gründen erfolgreiche Ein-Mann-Handwerksbetriebe, sind Informatiker oder Entwicklungsingenieure.

3.1.3 Die schizotypische Persönlichkeitsstörung

Die schizotypische Persönlichkeitsstörung ist eine problematische Diagnosekategorie, weil international noch keine Einigkeit darüber besteht, ob es sich hier wirklich um eine Persönlichkeitsstörung handelt (davon geht das DSM-IV aus) oder um eine Unterform der Schizophrenie (wie im ICD-10, dort als „schizotype Störung“ bezeichnet)40.

Die Betroffenen zeichnen sich durch eine hohe Irritierbarkeit in zwischenmenschlichen Kontakten aus. Sie wirken scheu und empfindsam, beziehen gerne Dinge auf sich, sehen in banalen Ereignissen „Zeichen“ mit einer bestimmten Bedeutung für sie (ohne wahnhaft davon überzeugt zu sein).

Zwischenmenschliche Nähe können auch sie nur schwer zulassen. Während paranoide Persönlichkeiten Nähe mit Schwäche verbinden und für schizoide Persönlichkeiten Nähe schlicht unwichtig ist, verbinden schizotypische Menschen Nähe mit diffusen Ängsten. Auch wenn man sich lange kennt, entsteht kaum Vertrautheit. Es persistieren Argwohn und Angst, z. B. vor Zurückweisung.

Die Betroffenen beschäftigen sich gerne mit esoterischen oder abseitigen Themen, glauben an Hellseherei, Telepathie oder Magie und können sehr überzeugt von entsprechenden Erlebnissen und Wahrnehmungen berichten. Sie sind Anhänger von New-Age-Bewegungen, lesen parapsychologische Literatur, glauben an Karma und Wiedergeburt41 oder forschen über Ufos. Ihr Denken wirkt dabei wenig präzise, eher ungenau, umständlich, metaphorisch. In ihrem Auftreten wirken sie exzentrisch oder merkwürdig.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Die Probleme, die sich aus dieser Störung ergeben, ähneln denjenigen der schizoiden Persönlichkeitsstörung. Zudem leiden diese Patienten besonders unter ihrer Empfindsamkeit und treffen – aus dem Bauch heraus – wenig rationale Entscheidungen, die sie in Schwierigkeiten bringen können.

Mitunter verlieren sie sich an ein magisches Weltbild und pflegen schrullige Hobbies. Die Bewährung in einem Beruf fällt ihnen manchmal schwer. Auf emotionale Probleme und affektgeladene Situationen reagieren sie mit sehr starkem Unbehagen, weswegen sie aufwühlenden Erfahrungen aus dem Weg gehen.

Beispiel

Frau M., eine 40-jährige Patientin mit schizotypischer Persönlichkeitsstörung, alleinerziehende Mutter von drei Kindern, sagt von sich selbst, sie sei eine „HSP“ (hochsensible Person) mit schamanistischer Veranlagung.

Alltägliche Lebensprobleme führt sie auf „atmosphärische Störungen“ zurück, die sie oft zu einem kurzschlüssigen

Handeln verleiten: Als ihr mittleres Kind im Trotzalter schwierig wird, führt sie das auf „negative Schwingungen“ in der Wohnung zurück – und zieht um.

Am nächsten Wohnort machen die Nachbarn eine kritische Bemerkung; sie fühlt sich danach anhaltend beobachtet und nicht mehr sicher – und zieht wieder um. In der nächsten Wohnung vermutet sie eine Wasserader, die zu Schlafstörungen führt. Sie ist so allmählich in finanzielle Nöte und in eine soziale Isolation geraten.

Schließlich wendet sie sich auch an das Jugendamt, weil sie sich mit der Erziehung des ältesten Kindes überfordert fühlt, das wie sie „hochsensibel und medial begabt“ sei.

Als sie in Therapie kommt, plant sie bereits den nächsten Umzug. Von bestimmten traumatischen Erfahrungen mag sie in der Therapie nicht berichten: Die Aufregung wäre zu viel für sie, sie „tille“ dann, sie habe große Angst vor den gesundheitlichen Folgen.

Vor einer Therapiesitzung muss sie stets 2 - 3 Minuten durch das Zimmer gehen und „den Raum fühlen“.

Der ahnungsvoll-sensible Persönlichkeitsstil

Es handelt sich um sensible Menschen, die sich gut in bestimmten gesellschaftlichen Nischen einrichten können oder sogar (etwa als Sektengründer) zu Ruhm gelangen können. Sie sind in der Regel warm, gutherzig und treu mit einem „sechsten Sinn“ für Gefahr und für kritische Verhältnisse, ausgestattet mit einer kreativen Ader.

Sie fungieren daher gerne als esoterische Berater oder religiöse Lehrer, widmen sich der Malerei oder Schriftstellerei.

3.2 Das Cluster B: Die dramatisch-emotional-launischen Persönlichkeiten

Im Cluster B der dramatisch-emotionallaunischen Persönlichkeiten finden sich Menschen, die labil in ihren Gefühlen und unstet in der Beziehungsgestaltung sind. Obwohl sie oft aufgeblasen und rücksichtslos gegen sich selbst oder andere wirken, obwohl sie gerne „Heldengeschichten“ über sich selbst erzählen (Mythomanie), haben sie dennoch ein schwaches Selbstwertgefühl, das sich besonders häufig aus den invalidierenden oder traumatisierenden Sozialisationsbedingungen heraus verstehen lässt.

3.2.1 Die antisoziale Persönlichkeitsstörung

Die antisoziale Persönlichkeitsstörung42 ist in hohem Maße forensisch und polizeilich relevant. Sie findet sich unter Männern dreimal häufiger als unter Frauen. Zu ihren Kernsymptomen und -verhaltensweisen gehören nicht konformes bis gesetzwidriges Verhalten, manipulative und betrügerische Manöver, Impulsivität, Reizbarkeit und Aggressivität, riskantes und die Sicherheit anderer gefährdendes Verhalten.

Als ein entscheidendes Merkmal für eine Persönlichkeitsstörung werden dabei immer wieder das Fehlen jeglicher Reue und ein unterentwickeltes Schuldbewusstsein gesehen. Angesichts des (oft von ihnen selbst verursachten) Leidens anderer Menschen bleiben sie kalt und gleichgültig oder rationalisieren ihre Tat auf eine gefühlsferne Art und Weise. Es findet sich somit ein Mangel an Angst und Mitgefühl.

In ihrem Handeln wirken sie oft ruhelos und planlos, ohne Frustrationstoleranz, immer dem eigenen Vergnügen verpflichtet, ansonsten unzuverlässig und selten loyal.

Die delinquenten Verhaltensweisen treten meistens schon in der Jugend in einer weit über das normale Maß hinausgehenden Häufigkeit und Intensität auf: Schuleschwänzen, Gewalt auf dem Schulhof, früher Drogenkontakt und Alkoholexzesse, Tierquälerei etc.

Beispiel

Ein Mann mit antisozialer Persönlichkeitsstörung bricht in ein Haus ein, fesselt die beiden Eltern und zwei Kinder, die dort leben. Er findet im Haus DM 50, die er entwendet. Bevor er geht, tötet er alle vier Personen mit einem Messer.

Im forensischen Gutachtenverfahren fragt ihn der Gutachter, warum er denn die vier Menschen getötet habe – ohne Not und für einen lächerlich geringen Geldbetrag. Der Proband reagiert darauf sehr verwundert und antwortet ohne Regung: „Die hätten mich doch wiedererkannt, oder? Was hätte ich sonst tun sollen?“

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung handelt es sich um eine sehr schwere Form der Persönlichkeitsstörung, was die Folgekomplikationen und Prognose angeht. Sie geraten sehr häufig mit dem Gesetz in Konflikt. In Häftlingspopulationen in den USA und Kanada erfüllen 70 - 80 % der Insassen die Kriterien einer antisozialen Persönlichkeitsstörung43. Die Prognose wird meistens pessimistisch gesehen: Etwa die Hälfte der von dieser Persönlichkeitsstörung betroffenen Männer in Gefängnissen oder in der forensischen Psychiatrie wird nach der Entlassung innerhalb von drei Jahren rückfällig44. Greift man jedoch auf spezifische Behandlungsprogramme zurück, die weit über einfache Sanktionierung und klassische Psychotherapie hinausgehen, erhält man eine bis zu 40 % geringere Rückfallhäufigkeit45.

Im privaten Leben führen antisoziale Persönlichkeiten ausbeuterische Beziehungen; sie pflegen einen hochmütig-manipulativen Beziehungsstil, tyrannisieren ihre Hausgenossen mit Überwachung, Drohungen und Gewalt. Sie haben häufig Suchtprobleme.

Der abenteuerlich-risikofreudige Persönlichkeitsstil

Die ständige Suche nach neuen Herausforderungen und Sensationen, das „Aufs-Ganze-Gehen“ und die Risikofreude sind nach Saß46 „ein besonderer Stoff, aus dem Helden und die antisozialen Persönlichkeiten sind“.

Sind die o. a. Defizite daher nicht sehr ausgeprägt und sind gewisse soziale Kompetenzen erhalten, so bewähren sich solche Menschen mit einer Extraportion Risiko- und Entschlussfreude auf der Suche nach Herausforderungen ganz hervorragend in bestimmten Zusammenhängen: Dort wo „leadership“ gefragt ist, dort wo das Spiel mit der Macht honoriert wird, dort wo Grenzen überschritten und furchtsame Menschen überzeugt werden müssen, da schlägt die Stunde des abenteuerlich-risikofreudigen Menschen.47

Sie finden sich daher sehr wahrscheinlich unter den Entdeckern und Soldaten, unter Politikern und Revolutionären, unter Menschen, die sich umso wohler fühlen, je turbulenter die Zeiten sind.

Interessanterweise wurde in jüngster Zeit ausgerechnet in der Arbeits- und Organisationspsychologie der alte Begriff der „Psychopathie“ wiederbelebt, der mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung weitgehend deckungsgleich gesehen wird, allerdings ergänzt um das Persönlichkeitsmerkmal eines glatten, oberflächlichen Charmes. Es wird über die Fragestellung geforscht, inwiefern solche Persönlichkeiten in Manager-Etagen und Politikergefilden großen Schaden anrichten.48

Auch unter Polizisten wird dieser Persönlichkeitsstil bzw. die korrespondierende Störung manchmal angetroffen49. In extremer Ausprägung fällt er allerdings früher oder später als „Widerstandsbeamter“ oder „Schleifer“ auf, noch häufiger durch gewalttätig aufgeladene Beziehungsdramen im privaten Bereich.

Unter den Bedingungen Hollywoods wird ein solcher hyperautonom-männlicher Polizistentyp immer noch gefeiert: Man denke an Mel Gibson in seiner Rolle als charmanter, risikofreudiger, aber eben auch völlig teamuntauglicher und auf die mäßigende Betreuung durch seinen Partner angewiesener Polizist in dem Streifen „Lethal Weapon“50.

3.2.2 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung

Der auf den ersten Blick unverständliche Begriff „Borderline“ wurde 1938 von Stern51 geprägt und sollte einen „Grenzfall“ zwischen Neurose und Psychose bezeichnen. Heute wird darunter die präzise beschriebene Kategorie einer Persönlichkeitsstörung verstanden.

Die polizeiliche Relevanz dieses Störungsbildes ergibt sich alleine aus der Tatsache, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung mit einem Anteil von bis zu 20 % im stationären psychiatrischen Klientel und mit einer erheblichen Suizidproblematik52 zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen überhaupt gehört. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen.

Im Vordergrund der Symptomatik stehen eine Störung der Emotionsregulation, die insbesondere den Umgang mit Wut betrifft sowie eine dramatische Inkonstanz und Anfälligkeit im Bereich enger Beziehungen.

Die Betroffenen haben ein tiefes Bedürfnis nach nahen Beziehungen und tun alles dafür, ein tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu verhindern. Gleichzeitig kommt es nach Phasen der Idealisierung der Bezugspartner – mitunter anlässlich einer Bagatelle – zu einer heftigen Entwertung und Verteufelung des Partners: Es resultieren leidenschaftliche und intensive Affären mit dramatischen und radikalen Brüchen.

In ihrer Identität sind die Betroffenen nicht sicher: Sie haben ein instabiles Selbstbild, sind schwankend in ihren Zielen und Präferenzen (einschließlich der sexuellen Präferenz), erleben sich manchmal als wertlos und ohnmächtig, dann auch wieder als irrational mächtig und böse mit der Fähigkeit, anderen zu schaden.

Es besteht eine Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (z. B. Sexualität, Drogen, Geldausgeben, rücksichtsloses Fahren, Fressanfälle, Kaufsucht) mit wiederholten suizidalen Handlungen, Suizidandeutungen oder Suiziddrohungen und/oder selbstverletzendem Verhalten. Die Patientinnen schneiden oder ritzen sich an den Unterarmen, verbrennen sich mit Zigaretten, stoßen den Kopf an die Wand, halten die Luft an usw., um damit – wie sie sagen – sich selbst zu spüren, Spannung abzubauen oder sich selbst zu bestrafen53.

Borderline-Patienten haben eine ausgeprägte emotionale Labilität; sie sind rasch verdrießlich, mürrisch, dann wieder reizbar oder ängstlich (wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern).

Mitunter gibt es Gefühlsausbrüche mit unangemessener heftiger Wut und Verlust der Selbstkontrolle54, mit wiederholten körperlichen Auseinandersetzungen, Risikoverhalten oder Sachbeschädigungen (z. B. Schlägereien, riskantes Fahren, Umkippen von Mülltonnen, Werfen von Geschirr).

Die starke Belastung mit schwer erträglichen Emotionen führt phasenweise zu einer Desintegration von Bewusstsein und Identität. Dieser „Dissoziation“ genannte Mechanismus soll u. a. dafür verantwortlich sein, dass Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung ein chronisches Gefühl der Leere oder dissoziative Symptome berichten. Letztere beinhalten die Unfähigkeit, sich an belastende Ereignisse zu erinnern, geistige Abwesenheit bei sexuellen Handlungen, psychogene Ohnmachts- oder Krampfanfälle, medizinisch nicht erklärbare Lähmungen oder Taubheitsgefühle.

Selten kommt es in Belastungssituationen auch zu paranoiden Vorstellungen (Vorstellungen, verfolgt zu werden, manchmal kombiniert mit flüchtigem Stimmenhören unter hoher affektiver Anspannung – z. B. hört eine Patientin in suizidalen Phasen die Stimme ihres verstorbenen Großvaters, der sie ruft).

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Die Störung nimmt einen oft dramatischen Verlauf mit dem höchsten Suizidrisiko in den ersten 5 - 10 Jahren. Die Suizidrate steigt mit dem Vorliegen von depressiven Begleitleiden auf 18 %, bei begleitender Alkoholabhängigkeit auf bis zu 38 %.55

Besonders schlecht ist die Prognose für die betroffenen Personen, wenn ein aggressionsgeladenes Familienmilieu oder ein inzestuöser Missbrauch in der Anamnese vorliegen56.

Fast regelhaft leiden Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung auch an Depressionen (98 %) und Angststörungen (90 %).

70 - 80 % der Betroffenen verletzen sich selbst, indem sie sich z. B. mit Rasierklingen ritzen oder mit Zigaretten verbrennen, Wunden offenhalten etc.

Bis zu 60 % der Betroffenen weisen einen Alkohol- oder Drogenmissbrauch auf, ebenso viele leiden unter Essstörungen mit Fettleibigkeit, Magersucht oder extremen Gewichtsschwankungen.57

Zudem gibt es einen hohen Anteil an anderen Persönlichkeitsstörungen unter den Borderline-Persönlichkeiten, von denen vor allem die Kombination mit schizotypischen oder antisozialen Zügen den Krankheitsverlauf verkompliziert58.

Der spontan-sprunghafte Persönlichkeitsstil

Bei den abgeschwächten Formen dieser Persönlichkeitsstörung findet man die positiven Seiten der Spontaneität und Impulsivität wieder, die heute kulturell sehr hoch geschätzt werden. Nicht zufällig hat sich in den letzten Jahren eine entsprechende „Emo“-Jugendszene etabliert, die neben der Melancholie, neben bestimmten Moden und Musik auch autoaggressive Verhaltensweisen und den „Rausch der Gefühle“ kultiviert.

Spontan-sprunghafte Persönlichkeiten sind begeisterungsfähig und wenig nachtragend. Sie lassen sich durch ihre Gefühle leiten, haben ein gutes „Bauchgefühl“, mit dem sie Dinge und Personen mit negativen Eigenschaften rasch erspüren und intuitiv ablehnen. Sie haben ein hohes Maß an Flexibilität und schlagen sich besonders in chaotischen Situationen gut durch.

Es wird ihnen auch eine ausgeprägte Kreativität nachgesagt, sodass man sie im künstlerischen Bereich, vor allem aber im Show-Business antreffen kann: Michael Jackson, Britney Spears, Kurt Cobain und anderen Show-Größen wird eine entsprechende Veranlagung mutmaßlich nachgesagt59.

3.2.3 Die histrionische Persönlichkeitsstörung

Der Begriff leitet sich von dem lateinischen „histrio“ (= Schauspieler; im Englischen „histrionic“ = affektiert, theatralisch) ab.

Die Betroffenen tun alles dafür, um wahrgenommen zu werden und möglichst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen: Sie verhalten sich laut, schrill, provokant oder auch sexuell verführerisch, kleiden sich auffällig oder aufreizend. Sie leben nach dem Motto: „Das quietschende Rädchen bekommt das Öl.“

Histrionische Menschen sind Gefühlsmenschen und neigen zum Dramatisieren („Affektgewinnung“). Dem Gefühl scheint dabei oft die Tiefe abzugehen; es verändert sich rasch, wird andererseits oft übertrieben und theatralisch dargestellt. Dadurch wirken die Betroffenen mitunter unecht und kokettierend.

Histrionische Persönlichkeiten sind sehr leicht durch die Umstände oder durch andere Personen beeinflussbar. Ihre Sehnsucht nach Bestätigung, Anerkennung und Lob lässt sie die Realität einer Beziehung mitunter verkennen: Sie schätzen Beziehungen enger ein als sie tatsächlich sind. Sie fangen daher unangemessen früh an, ihre Mitmenschen zu duzen, begrüßen ihren neuen Hausarzt bereits beim zweiten Termin mit herzlicher Umarmung usw.

Histrionische Züge, früher auch „hysterische“ Züge60 genannt, werden häufiger bei Frauen beschrieben. Es ist jedoch darauf hingewiesen worden, dass es eine genetische Verwandtschaft61 und funktionale Verbindung62 zu den antisozialen Persönlichkeitsstörungen gibt, insofern auch histrionische Persönlichkeiten sich durch eine geringe Sensibilität gegenüber Strafreizen auszeichnen und zu Risikohandlungen und Impulskontrollstörungen neigen. Antisoziale Männer können ausgesprochen histrionische und charmant-gewinnende Züge zeigen.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Menschen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung haben enorme Probleme in der Gestaltung fester und verlässlicher Beziehungen zu ihren Mitmenschen. Durch ihre Gefühlsbetontheit und leidenschaftlich-impulsive Hingabe an eine Situation machen sie Eindruck, wirken vielversprechend, halten jedoch selten durch. Konfrontiert mit den Konflikten und „Grauschleiern“, die den Alltag einer Beziehung63 ausmachen, reagieren sie rasch frustriert oder gekränkt mit destruktiven Vorwurfshaltungen oder mit Panik. Sie versuchen dann, sich durch Inszenierungen ihres Charmes oder dramatischen Handlungen Zuwendung und Anerkennung zu sichern (Weinkrämpfe, Suiziddrohungen, Täuschungsoder Verführungsmanövern).

Auf lange Sicht kommt es damit zu zunehmenden Selbstwertproblemen, Beziehungsproblemen und Depressivität. Viele histrionische Persönlichkeiten berichten über Einsamkeitsgefühle und innere Leere.

Oft wirken histrionische Menschen auf ihre Umwelt schon auf den ersten Blick eitel, egozentrisch und anstrengend, sodass sie aktiv gemieden und isoliert werden. Diese Situation verschärft sich mitunter im Alter, wenn die (weiblichen) Rollenstereotypen der sexuellen Attraktivität und Koketterie einen karikaturhaften Zug gewinnen.

Der Leidensdruck der histrionischen Persönlichkeiten kann sehr groß sein. Wie bei keiner anderen Persönlichkeitsstörung wird das von der Umwelt oft verkannt, weil man sich durch eine charmant-gewinnende und selbstbewusste Fassade blenden oder durch eitles Gehabe abschrecken lässt.

Beispiel

Frau H. ist eine 35-jährige Frau, die über Einsamkeitsgefühle und starke Depressionen klagt. Aufgrund einer histrionischen Persönlichkeitsstörung kam es immer wieder zum Scheitern von Beziehungen unter teils dramatischen Umständen. Sie lebt bei ihrer Mutter.

In unserer Klinik verlangt sie von ihrem Therapeuten einen hohen persönlichen Einsatz. So möchte sie ihre Medikamente von ihm persönlich aufs Zimmer gebracht bekommen. Als ihr das verweigert wird, ruft sie ihren Hausarzt in Frankfurt an und berichtet, in der Klinik stark vernachlässigt zu werden. Sie stehe gerade auf dem Fenstersims und sei dabei, sich aus dem Fenster stürzen. Der Hausarzt wiederum verständigt sofort die Klinik. Als der Behandler in ihr Zimmer kommt, erwartet sie ihn mit einem Lächeln – im Bett liegend. Der Therapeut ist gezwungen, über ihre auf dem Boden verstreut liegenden Dessous zu steigen, um mit ihr ein Gespräch zu führen.

Der dramatisch-expressive Persönlichkeitsstil

Dramatisch-expressive Persönlichkeiten sind durchaus charmante und liebenswürdige Menschen mit einer intuitiven und warmherzigen Art. Sie sind gefühlsoffen, überschwänglich und spontan. Sie wissen andere zu unterhalten, in ihrer Nähe gibt es selten Langeweile. Die ganze Welt dient ihnen als Bühne. Komplimente und Applaus sind ihr Lebenselixier. Gleichzeitig drohen sie aber auch Partner und Mitmenschen durch ihre Stimmungsumschwünge und Mittelpunktssucht zu ermüden. Die anfängliche Faszination geht so auch in Partnerschaften rasch verloren.64

Menschen mit einem entsprechenden Persönlichkeitsstil findet man unter Schauspielern und unter Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, wie Politikern.

3.2.4 Die narzisstische Persönlichkeitsstörung65

Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind von ihrer eigenen Grandiosität übermäßig überzeugt und eingenommen. Sie übertreiben ihre (zweifellos oft vorhandenen) Talente, streben besonders rückhaltlos nach Erfolg, Ruhm und Macht. Sie halten sich für einzigartig und pflegen am liebsten nur Umgang mit Menschen, die ihrerseits besonders angesehen sind oder für wichtig gehalten werden.

Entsprechend erwarten narzisstisch gestörte Menschen auch besondere Aufmerksamkeit und Bewunderung, was sie mitunter arrogant und blasiert wirken lässt. Manchmal kultivieren sie auch ein entsprechendes Auftreten, kleiden sich auffallend, kommen gerne zu spät (um bemerkt zu werden und um ihre Unabhängigkeit zu betonen), müssen immer das letzte Wort haben, hören ganz spezielle Musik, die „kein anderer wirklich versteht“ etc.

Das Besondere ist ihnen nicht besonders genug: Fahren andere „High-Performer“ einen Ferrari, dann muss es für den Narzissten mindestens eine Corvette sein. Manche kaufen sich „Doktortitel“, sodass man schon mal einen narzisstisch gestörten Handwerker antreffen kann mit einem „Doctor of Divinity“ (Doktor der Göttlichkeit)66.

Für die Bedürfnisse anderer Menschen sind sie eher blind; es findet sich ein Mangel an Mitgefühl und Einfühlungsvermögen. Sie erwarten ganz selbstverständlich, dass andere für sie da sind, können kaum dankbar sein (und wenn sie es doch einmal sind, dann sind sie es aus Kalkül).

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Narzisstisch gestörte Menschen haben neben den Borderline-Patienten die höchste Suizidrate. In einem Beobachtungszeitraum von 16,5 Jahren suizidierten sich 14 % der Betroffenen67. Menschen, deren brüchiges Selbstwertgefühl durch Größenphantasien und Erfolgsstreben kompensiert wird, reagieren auf Kränkungen, berufliches Scheitern oder Verlassenwerden besonders stark. Bei narzisstisch gestörten Patienten kommt es dabei zu intensiven Selbstzweifeln, Versagensgefühlen und schließlich zu den schweren depressiven Krisen mit Suizidalität.

Die Kritikempfindlichkeit der Patienten führt zu einem ausgeprägten „Feedback-Problem“. Sie immunisieren sich gegen kritische Rückmeldungen und gegen jeglichen Verdacht der Mittelmäßigkeit, indem sie andere nicht zu Wort kommen lassen oder indem sie andere abwerten. Am liebsten reden sie nur über sich und ihre Leistungen. Bekommen die Betroffenen nicht, was ihnen ihres Erachtens an Bewunderung und Respekt zusteht, und liegt – wie häufiger zu beobachten – eine Kombination mit antisozialen oder paranoiden Zügen vor, geraten sie auch in Rage, werfen ihrem Umfeld „Verrat“ vor, schwelgen in Groll und Verbitterung. Die Betroffenen verstärken dann ihre sich selbst überhöhende Selbstdarstellung, was sie in einen Teufelskreis des „Fassadenbaus“ geraten lässt, oder sie ziehen sich sozial zurück.

Ähnlich wie bei den histrionischen Menschen kann der erste Eindruck von Grandiosität und Vollkommenheit nur auf kurze Strecken durchgehalten werden.

Beispiel

Herr M. ist ein 49-jähriger Bundeswehroffizier mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (mit antisozialen Zügen). Er kommt in psychiatrische Behandlung, nachdem er im alkoholisierten Zustand seine Frau verprügelt und dann einen Suizidversuch begangen hatte. Im Vorfeld hatte er erfahren, dass seine Frau eine Affäre mit einem Kameraden hatte.

Obwohl er selbst – wie sich herausstellt – zahlreiche Affären pflegte, möchte er das nicht mit der „Schandtat“ seiner Ehefrau verglichen wissen: Er habe immer nur flüchtige Affären mit weitläufigen Bekannten gehabt, der Adler jage schließlich nur weit vom Horst – er sei ein Mensch mit Prinzipien …

Auf der Station ist er stets tadellos mit Anzug und Krawatte gekleidet. Er verteilt großzügig Geschenke (überwiegend an junge Damen): So sei er nun mal, schließlich seien die meisten hier doch überwiegend arme, bedauernswerte „Hartz-IV’ler“. Er fährt, was er jeden gerne wissen lässt, einen Wagen der Oberklasse, um den ihn selbst sein Chef beneide. Schließlich habe man so seine Nebentätigkeiten …

Seinen Therapeuten lehnt er ab, weil der während eines Therapiegespräches mit ihm einmal einen Telefonanruf entgegengenommen habe, was ihm gegenüber respektlos sei und sich nicht gehöre. Als die ärztliche Leitung darauf besteht, dass er weiter mit diesem Therapeuten arbeite, droht er schließlich, seine „Verbindungen in die Politik“ spielen zu lassen. Er habe einen enormen Einfluss …

Für ihn komme nur ein Behandler in Frage: der Chefarzt persönlich.

Der ehrgeizig-selbstbewusste Persönlichkeitsstil

Überselbstbewusste Menschen werden in einer Konkurrenzgesellschaft mit Leistungsund Erfolgszielen besonders hoch geschätzt. Vielleicht ist das ein weiterer Grund dafür, dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung nur in den Anhang der ICD-10 aufgenommen wurde.

Wenn die Defizite des Empathiemangels und der Kritikempfindlichkeit nicht sehr ausgeprägt sind und die Vorstellungen über die eigene Größe in einem gewissen Rahmen bleiben, sind narzisstische Menschen durchaus charmant und vor allem sehr erfolgreich. Sie treten energisch auf und wissen andere für ihre Ziele zu begeistern. In konkurrierenden Beziehungen, also besonders auch auf dem unternehmerischen Sektor, fühlen sie sich wohl, sind siegessicher und geschickt im Verfolgen ihrer Ziele. Dazu dienen dem ehrgeizig-selbstbewussten Menschen ein nicht selten anzutreffender guter Intellekt und andere Begabungen. Sie sind die Stars und können einen Hof an Bewunderern um sich versammeln.

Auch in nahen Beziehungen finden sie mitunter tragfähige Kompromisse, überwiegend jedoch mit Menschen, die ihre eigenen Interessen hinter die des ehrgeizig-selbstbewussten Menschen zurückstellen und die mit Kritik zurückhaltend sind, sogenannte Komplementärnarzissten68.

3.3 Das Cluster C: die ängstlichfurchtsamen Persönlichkeiten

Das Cluster C umfasst diejenigen Persönlichkeitsstörungen, deren Erlebensmuster durch soziale Unsicherheit sowie durch Angst und Furcht vor Zurückweisung geprägt sind. In ihrem Verhalten versuchen sie, diese Ängste und die Unsicherheit zu kompensieren, entweder durch Abgabe von Verantwortung an andere, durch Rückzug und Vermeidung oder aber durch Übererfüllung konventioneller Standards.

3.3.1 Die vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung69

Die Betroffenen leiden unter einer grundlegenden Angst vor Zurückweisung, Missbilligung oder negativer Beurteilung durch andere. Sie halten sich für unterlegen, unbeholfen oder unattraktiv.

Vor dem Hintergrund dieser Ängste und Minderwertigkeitsgefühle (Insuffizienzgefühle) vermeiden sie soziale Kontakte oder gehen nur solche Beziehungen ein, bei denen sie sich sicher sein können, gemocht zu werden. Einige Betroffene haben daher kaum Kontakte außerhalb ihrer Familie.

In neuen zwischenmenschlichen Situationen oder Gruppen fühlen sie sich sehr unwohl, wirken meistens gehemmt, sind still und kaum wahrnehmbar. Im Hintergrund steht die Überzeugung, dass jeder Nagel, der herausragt, in das Brett gehämmert wird70 – vor allem aber dann, wenn es sich um sie selbst handelt.

Bringen sie sich dennoch einmal in einer sozialen Situation ein, erzählen etwas von sich oder vertreten eine Meinung, dann grübeln sie hinterher unter dem Affekt der Scham stunden- bis tagelang darüber nach, ob die Äußerungen passend und richtig waren, was die anderen denken könnten, ob man evtl. jemanden gekränkt oder sich selbst blamiert haben könnte (im Psychotherapie-Jargon auch „Leichenfleddern“ genannt).

Vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeiten zeigen sich nicht gerne; sie sind eher konservativ, probieren eigenständig wenig Neues aus, scheuen jegliches Risiko.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Im Beruf arbeiten Menschen mit dieser Störung oft weit unter demjenigen Niveau, das ihnen ihr Intellekt und ihre Ausbildung ermöglichen würden: Ein Ingenieur bescheidet sich mit einem Techniker-Job, eine Pädagogin mit einem Platz als Erzieherin im Kindergarten, ein Sprachwissenschaftler mit einem Job in der Buchausleihe einer Bibliothek.

Da sie nicht gerne persönliche Risiken auf sich nehmen, wird jede Beförderung, jeder Auftrag, jede neue Unternehmung, jeder neue Arbeitgeber, selbst jede Bitte um Gehaltserhöhung zu einer unüberwindlichen Hürde: Die Projekte könnten scheitern, sich als beschämend erweisen und werden daher vermieden.

Aufgrund eines andauernd erhöhten Anspannungsniveaus, aufgrund der andauernden Besorgnis sowie des negativen Selbstbildes kann es zu depressiven Entgleisungen und zu panikartiger Zuspitzung von Ängsten kommen, manchmal auch mit Medikamentenmissbrauch (Beruhigungsmittel) einhergehend.

Der selbstkritisch-vorsichtige (sensible) Persönlichkeitsstil

In abgemilderter Form, wenn Hypersensibilität, Selbstentwertungs- und Verharrungstendenzen nicht extrem ausgeprägt sind, spricht man von einem selbstkritisch-vorsichtigen Persönlichkeitsstil. Die Betroffenen sind durchaus beliebte, funktionstüchtige, ja integrierende Menschen. Da ihnen Harmonie wichtig ist, sind sie sehr kompromissbereit und überlassen anderen – höflich, zurückhaltend und ohne Ressentiment – den Vortritt. Sie fühlen sich ihren Freunden und der Familie zutiefst verbunden, schätzen ihre Heimat und die vertraute, gewohnte Umgebung ihres Zuhauses.

Die Tendenz, sich selbst in Frage zu stellen, begründet eine grundsätzliche Bescheidenheit, die sie selbst dort durchhalten können, wo sie (mehr oder weniger widerwillig) in Führungspositionen hineinkommen, was am ehesten noch in der öffentlichen Verwaltung zu erwarten ist.

3.3.2 Die dependente Persönlichkeitsstörung

Menschen mit einer dependenten (abhängigen) Persönlichkeitsstörung haben Probleme damit, selbssttändig Entscheidungen zu treffen. Sie brauchen daher andere Menschen, die für sie wichtige persönliche Entscheidungen treffen. Sie geben die Verantwortung gerne in allen Bereichen an andere ab.

Ihre größte Sorge ist die, alleine dazustehen. Sie tun daher alles dafür, um von Bezugspersonen nicht verlassen zu werden, sind nachgiebig und überangepasst, verzichten auf eigene Wertvorstellungen, riskieren keinen Konflikt und erfüllen die Wünsche des anderen bis hin zur Unterwürfigkeit71.

Ähnlich wie die vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeiten haben sie Angst vor einem Versagen und vor negativer Bewertung, sodass sie lieber mit dem Strom schwimmen und eigene Initiativen vermeiden.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Menschen mit dependenter Persönlichkeitsstörung haben ein erhebliches Risiko, depressive Störungen bis hin zur Suizidalität zu entwickeln, vor allem bei Beziehungsproblemen oder nach Trennungen. Manchmal stürzen sie sich, um das Alleinesein zu vermeiden, unüberlegt und ohne aus vergangenen negativen Erfahrungen zu lernen, in neue Beziehungen. Diese kranken dann mitunter daran, dass das komplementäre Beziehungsverhältnis („one up - one down“) immer eskalieren kann bis hin zu Gewaltbeziehungen, in denen die dependenten Menschen die Opfer sind. Selbst dort, wo keine Gewalt vorkommt, werden die dependenten Menschen mit der Zeit immer unselbstständiger und passiver.

Bemerkenswert hoch ist die Belastung dependenter Menschen mit sogenannten somatoformen Störungen, das sind psychisch bedingte Erkrankungen mit körperlichen Symptomen wie (körperlich nicht erklärbare) Schmerzen, Erschöpfungszustände, Magen-Darm-Beschwerden etc.

Der anhänglich-loyale Persönlichkeitsstil

Abhängigkeit gehört zur Natur des Menschen. Wir sind zeitlebens auf Hilfestellung und Fürsorge angewiesen. Es dauert Jahre, bis uns Eltern, Lehrer, Freunde, Partner etc. in die wichtigsten Kulturtechniken und sozialen Konventionen eingeführt haben. Und auch dann sind wir – lebenslang – immer noch soziale Wesen, abhängig von unserer Bezugsgruppe und von sozialen Netzwerken, und zwar nicht erst dann, wenn wir die Widerständigkeit des Lebens in Form von Scheitern, Krankheit, Verletzung und Tod zu spüren bekommen.

Die Fähigkeit, eigene Interessen zurückzustellen, ist in diesem Sinne eine sozial wertvolle, förderliche und sehr akzeptierte Kompetenz. Menschen mit einem anhänglich-loyalen Persönlichkeitsstil nutzen ihre Fähigkeit zur Empathie und Kooperation und können sich damit einen stabilen Bekannten- und Freundeskreis aufbauen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn sie zumindest zu einem gewissen Grad auch in der Lage sind, authentisch und aktiv für ihre Interessen einzustehen und selbst gesetzte Ziele und Werte zu vertreten.

Man findet entsprechende Persönlichkeiten häufiger in Helfer- und Therapeutenberufen. Das Risiko, in eine grenzenlose Verausgabung hineinzugeraten, ist für anhänglich-loyale Menschen in diesen Berufen aber immer gegeben, u. a. weil sie damit unbewusst Kontaktbedürfnisse befriedigen und sich von eigenen Zielen und Lebensfragen ablenken können (sogenannte altruistische Abtretung72 oder auch Helfersyndrom73).

3.3.3 Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung

Die zentralen Merkmale eines Menschen mit dieser Störung sind eine Übergewissenhaftigkeit und Übergenauigkeit bis hin zum Perfektionismus, der so ausgeprägt ist, dass er den Betroffenen letzten Endes bei der Erfüllung seiner Aufgaben behindert.

Die Betroffenen haften häufig an Details („Detailsucht“). Ordnung, Regeln, Normen, Pläne und Konventionen sind ihnen überaus wichtig; sie sind eigensinnig und starr in der Befolgung diesbezüglicher Vorgaben.

Meistens sind dem zwanghaften Menschen Arbeit und Beruf am wichtigsten. Hier delegiert er nur widerwillig aus der Furcht heraus, die Aufgaben könnten nicht in seinem Sinne – nämlich perfekt – erledigt werden. Genau das verlangt er von anderen als Kollege oder Vorgesetzter. Er arbeitet daher am liebsten alleine, ist andererseits so voller Zweifel und übervorsichtig, dass er in Führungspositionen mitunter überfordert ist. Der zwanghafte Mensch ist der klassische „zweite Mann“ im Betrieb, der nach Vorgaben und Anordnungen ausführt, und zwar korrekt.

Freizeit, Vergnügen, zwischenmenschliche Beziehungen kommen für die Betroffenen erst an zweiter Stelle, werden oft vernachlässigt oder ebenfalls strengen Regularien unterworfen: Die Freizeit muss sinnvoll genutzt, gestaltet und verplant werden. Zwanghafte Menschen sind Leerlaufphobiker, die am Wochenende, wenn es nichts zu tun gibt, in Verstimmungen geraten.

Das Zusammenleben mit Zwanghaften ist anstrengend: Sie sind sparsam bis hin zum Geiz, Großzügigkeit ist ihnen fremd. Sie können sich von nichts trennen, werfen selbst unnütze Dinge nicht weg. Manchmal entwickeln sie sich zu missmutigen, selbstgerechten und nachtragenden Familientyrannen und geben z. B. ihren Kindern stets das Gefühl, nicht gut genug zu sein.

Problematisch ist auch ihre Unentschlossenheit: Bevor sie einen Kauf tätigen, betreiben sie monatelang Internetrecherchen, auch Entscheidungen im Beruf fallen ihnen außerordentlich schwer.

Beispiel

Herr B. ist ein 55-jähriger Vorarbeiter in einer Spedition. Man hat bei ihm eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung und eine depressive Episode diagnostiziert.

Sein gesundheitliches Problem begann, als ein neuer Chef die Firma übernahm. Herr B. bezeichnet dessen Führungsstil als „schlampig und desinteressiert“.

Er hatte bereits mehrere Auseinandersetzungen mit ihm, u. a. weil sein Chef es den Mitarbeitern durchgehen lasse, wenn diese Verpackungsmaterial einfach so in den Hof werfen. Er habe das Material dann zuletzt persönlich im Rahmen von Überstunden aufgeräumt. Sein Chef habe ihn zunächst gebeten, das zu unterlassen; schließlich habe er auch eine Abmahnung bekommen, weil er angeblich seine Prioritäten falsch setze – und das nach 25 Jahren in der Firma …! Herr B. fällt in der Klinik auf, weil er stets mit Bleistift und Notizblock unterwegs ist: Er möchte sich alles aufschreiben, auch die Inhalte der Gruppentherapie, um nichts Wichtiges zu vergessen. Zu Terminen kommt er immer 10 Minuten früher; kommen andere zu spät, ermahnt er sie eindringlich – einschließlich seinen Therapeuten.

In seiner Freizeit hat er einen rigiden Trainingsplan, nach dem er täglich entweder joggt oder Rad fährt. Er notiert sich die entsprechenden Zeiten, Puls, Erholungszeit usw. Im Frühjahr wird der Plan nach einem peinlich genau festgelegten Ablauf intensiviert, auch sein Gewicht wird dann auf eine bestimmte Zielgröße gebracht.

Für sonstige Hobbys habe er keine Zeit, auch führen seine Frau und seine beiden Töchter schon lange ohne ihn in Urlaub, ihm bringe das nichts …

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Eine der zwanghaften Persönlichkeitsstörung ähnliche Disposition wurde 1961 mit dem Begriff „Typus melancholicus“ beschrieben.74 Mit diesem Begriff ist auf das Grundproblem des zwanghaften Menschen hingewiesen: Er hat ein erhöhtes Depressionsrisiko. Er droht nämlich stets hinter seinen eigenen Genauigkeitsund Perfektionsansprüchen zurückzubleiben („Remanenz“) und bleibt in einer engen, von Gewohnheiten und Sicherheitsverhalten geprägten Welt eingeschlossen („Inkludenz“). Seine Welt ist stark bedroht – und zwar von jeder Form von Veränderung: ein neuer Chef, Kündigung, finanzielle Verluste, eigenwillige Mitarbeiter oder auch nur Familienangehörige mit eigenen Vorstellungen. Schließlich auch durch die existenziellen Bedrohungen eines jeden Menschen: Krankheit, Alter, Tod. Immer droht die Welt des Zwanghaften vor dem Hintergrund seines hohen Kontroll- und Sicherheitsbedürfnisses besonders nachhaltig erschüttert zu werden75.

Die Detailverliebtheit und das Kontrollbedürfnis des Zwanghaften können schließlich in eine sogenannte „Zwangsstörung“ münden, in der die Betroffenen unter Kontroll- oder Waschzwängen (zeitraubende Kontrollen, ob z. B. der Herd aus ist, oder stundenlanges Händewaschen oder Duschen) leiden oder Angst (Zwangsbefürchtungen) davor entwickeln, selbst etwas Schreckliches zu tun (z. B. das eigene Kind mit einem Messer verletzen, obszöne Worte im Gottesdienst rufen, unwillentlich sich aus der Höhe hinabstürzen etc). Eine Zwangsstörung ist jedoch eine gesonderte Diagnosekategorie und findet sich nur in 10 - 30 % der Fälle von zwanghafter Persönlichkeitsstörung.76

Der sorgfältig-gewissenhafte Persönlichkeitsstil

Der sorgfältig-gewissenhafte Persönlichkeitsstil bildet – um es plakativ zu sagen – die Basis für den idealen Beamten: Neben dem Streben nach Ordnung, der Gewissenhaftigkeit und dem Pflichtgefühl, neben dem Fleiß und der Einsatzbereitschaft im Dienst, finden sich ein Harmoniestreben und eine Warmherzigkeit (im Gegensatz zur Persönlichkeitsstörung), ein „Sein für Andere“ (Tellenbach).

chern“ und in ein starres Gleisbett legen. Versuche, das doch zu tun, sind mit hohen (gesundheitlichen) Kosten verbunden. Für die zwanghaften Persönlichkeiten gilt daher das Sprichwort „Wer nie vom Weg abkommt, bleibt auf der Strecke“.

Der sorgfältig-gewissenhafte Mensch vernachlässigt den Beziehungsbereich zwar nicht so sehr wie die entsprechende Persönlichkeitsstörung, aber er kommt in der Regel mit ein/zwei engeren Freunden aus. Er ist sparsam, vermeidet Schulden, ist an den Regeln von Anstand und Moral orientiert. Was er nicht mag, das sind unklare Verhältnisse (sogenannte Ambiguitätsintoleranz).

Er ist ein treuer und loyaler Partner, der aber durchaus auch einmal reizbar und launisch sein kann und darüber eine „sanfte“ Tyrannei ausübt.

3.3.4 Die passiv-aggressive (negativistische) Persönlichkeitsstörung

An der Diagnose der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörungen offenbart sich noch einmal die ganze Problematik der Persönlichkeitsdiagnostik. Ursprünglich in den USA entwickelt und historisch erstmals für Soldaten vergeben, die den Fronteinsatz verweigerten, ist sie bis heute umstritten und bleibt außerhalb der USA (außer im Forschungskontext) unüblich.

Das Kernsymptom der „Widerständigkeit“ gegenüber sozialen und beruflichen Routineaufgaben scheint eher ein allgemeiner Verhaltensstil zu sein, der bei vielen anderen Persönlichkeitsstörungen – aber eben auch im normalpsychologischen Bereich – auftritt. Die in Europa für klinisch-diagnostische Zwecke gebräuchliche ICD-10 führt diese Kategorie deshalb nicht auf, und auch in der neuesten Ausgabe der DSM wurde sie in den Anhang verschoben, wo sie der weiteren Forschung zugänglich sein soll.77

Die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung ist nach wie vor ein Modell, das unscharfe Grenzen hat und nicht zuletzt auch „politisch“ missbraucht werden kann, weshalb besondere Vorsicht bei der Vergabe geboten ist. Sie sei dennoch der Vollständigkeit halber kurz erläutert:

Es soll sich bei der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung um Personen handeln, die sich passiv der Erfüllung sozialer und beruflicher Routineaufgaben widersetzen, indem sie nörgeln, verzögern, sich entziehen, krankschreiben lassen, die Mitarbeit trotzig verweigern etc.

Sie üben Kritik an Autoritäten, ja verachten sie, und bringen offen Neid und Groll gegenüber solchen Menschen zum Ausdruck, die mehr Glück haben als sie selbst. Gleichzeitig beklagen sie sich über ihr persönliches Unglück und darüber, von anderen missverstanden oder missachtet zu werden.

Der passiv-aggressiv persönlichkeitsgestörte Mensch ist somit der typische „Bedenkenträger“78, der im Beruf grundsätzlich jede Neuerung anfeindet und jede Entscheidung in Frage stellt.

Die Diagnose darf nur gestellt werden, wenn keine affektive (depressive) Störung vorliegt.

3.4 Exkurs: Die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung

Die „andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ gehört in den Kontext der Traumafolgestörungen und ist keine Persönlichkeitsstörung im engeren Sinne.79

Sie tritt bei Menschen auf, die längere Zeit totalitärer Kontrolle und Unterwerfung ausgesetzt waren. Dazu gehören Konzentrationslagerhaft, Kriegsgefangenschaft, Verfolgung und Folter, Großkatastrophen, aber auch Opfer kultischreligiöser Sekten. Für viele Autoren gehören dazu auch manche Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch und -misshandIung.80

Bei betreffenden Personen ist das Vertrauen in die Welt zutiefst erschüttert: Andere Menschen werden grundsätzlich als bedrohlich erlebt (selbst Freunde und Familie). Es gibt für sie keine Berechenbarkeit mehr, keine Gerechtigkeit, kein Gefühl, selbst etwas bewirken zu können. Der Betroffene selbst zieht sich zurück, schwankt zwischen Leeregefühlen, Hoffnungslosigkeit, Anspannung, Reizbarkeit und impulsivem Risikoverhalten.

Gegenüber den Tätern bestehen dauernde Rachegedanken oder im Gegenteil eine paradoxe Dankbarkeit mit Übernahme des Wertesystems der Täter.81 Auf einer symptomatischen Ebene kommt es zu Depressionen, Angststörungen, Suchtverhalten, chronischen Schmerzsyndromen, Gedächtnisstörungen, Abspaltung von eigenen Gefühlen oder Empfindungen (Dissoziation oder Depersonalisation).

Beispiel

Herr L. ist ein junger Unteroffizier, der zumindest Teilaspekte einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung aufweist. Vordergründig leidet er unter schweren chronisch wiederkehrenden Rückenschmerzen. Die medizinischen Befunde sind unauffällig. Dennoch kommt es zu erheblichen Schmerzepisoden bis hin zur schmerzbedingten Bewegungsunfähigkeit und Bettlägerigkeit.

In der diagnostischen Phase der psychotherapeutischen Behandlung wird schnell klar, dass Herr L. ein weiteres Problem hat: Er kenne keine Gefühle. Er wisse nicht, was seine Freundin meine, wenn sie ihre Liebe zu ihm bekräftige. Er wisse nicht, wie sich Liebe anfühlt, es sei wohl so etwas wie Loyalität. Er kenne auch keine Angst. Bis heute wundere er sich über den Blick seiner Kameraden vor einem Fallschirmsprung. Noch nie in seinem Leben habe er geweint usw.

Zunächst will er nicht aus seiner Kindheit berichten. Das meiste habe er „vergessen“. Erst nach und nach fallen ihm wieder Details ein. Er ist der einzige Sohn einer alleinerziehenden Mutter und wurde bereits in frühester Kindheit stark vernachlässigt und misshandelt. Die Mutter hat ihn (wohl bereits im Alter von 3 - 4 Jahren) oft tagelang ohne ausreichende Nahrungsversorgung in der Wohnung eingesperrt und alleine gelassen. Wenn er „unartig“ war, hat sie sadistische Rituale inszeniert: Das Kind wurde u. a. gezwungen, einen „vergifteten“ Brei zu essen und zum Sterben in sein Zimmer zu gehen …

Als Herr L. eine dieser Szenen mit dem Therapeuten en detail durchgeht, kommt es zu einer heftigen emotionalen Reaktion; er weint über Stunden lang.

Danach sind die Rückenschmerzen anhaltend verschwunden – erstmals seit Jahren. Die therapeutische Arbeit hat an dieser Stelle allerdings erst begonnen …

4. Therapie der Persönlichkeitsstörungen

Die Therapie der Persönlichkeitsstörungen kann hier nur kurz umrissen werden. Selbst für erfahrene Behandler ist die Therapie von Persönlichkeitsstörungen eine besondere Herausforderung, die viel Erfahrung und häufig genug auch spezielle Qualifikationen erfordert.

Erstens geht es in den Behandlungen darum, überhaupt eine Veränderungs- und Therapiemotivation herzustellen. Persönlichkeitsgestörte Menschen sehen sich und ihr Verhalten meistens nicht als Teil jener Probleme, die ihnen im Leben immer wieder begegnen (sogenannte „Ich-Syntonie” des Verhaltens). Oft kommen sie erst auf Druck anderer, des Lebenspartners oder des Arbeitgebers, oder im Rahmen einer nicht mehr abzuweisenden schweren Krise.

Da die Kernproblematik der Beziehungsstörung gerade auch in der Beziehung zum Therapeuten virulent wird, muss immer wieder mit therapiegefährdendem Verhalten gerechnet werden (mangelnde oder scheinbare Mitarbeit, Tendenz zur Manipulation des Therapeuten, Nichteinhaltung von Regeln, Übergriffe ins Private des Therapeuten, vor allem aber Selbstgefährdung, impulsives Verhalten und Suizidalität)82. Schließlich „testen” die Patienten ihre Therapeuten, indem sie mehr oder weniger bewusst in der Therapiebeziehung ihre problematischen Muster entfalten.83

Zweitens geht es darum, den Betroffenen bei der Bewältigung der in die Behandlung führenden Symptome (Angst, Depression, Sucht) zu helfen, unter Berücksichtigung ihrer sozialen Problemlagen (Isolation, finanzielle Probleme, familiäre und Erziehungsprobleme, Delinquenz). Hier stellt vor allem die Verhaltenstherapie ein effektives, wissenschaftlich gesichertes Repertoire an Techniken zur Verfügung. In besonderen Fällen (etwa schwere Depressivität, Angsterkrankungen mit starken Meidetendenzen oder psychotische Episoden) muss auch psychopharmakologisch, manchmal auch stationär, behandelt werden.

Drittens geht es natürlich darum, die Patienten in ihrem eigentlichen Betroffensein von persönlichkeitsstörungsbedingten Defiziten zu helfen. Da die rigiden Verhaltensmuster in der Regel zeitlebens eingeschliffen sind und kaum Verhaltensalternativen zur Verfügung stehen, müssen hier langfristige Therapieverfahren zur Anwendung kommen, die entweder tiefenpsychologisch oder verhaltenstherapeutisch orientiert sind84.

Peter Fiedler85 hat ein sehr bekanntes und weithin verwendetes integratives Therapiemodell vorgestellt, nach dem persönlichkeitsgestörte Menschen hinsichtlich ihrer zentralen Bedürfnisse therapiert werden, die entweder in Richtung mehr Selbstkontrolle/Stabilität (bei den dissozialen, histrionischen oder Borderline-Patienten) oder aber in Richtung mehr Selbstaktualisierung/Spontaneität (wie bei zwanghaften oder abhängigen Persönlichkeiten) gehen müssen. Schließlich brauchen nach diesem Modell einige mehr Autonomie/Unabhängigkeit (die selbstunsicheren und abhängigen Patienten), andere wiederum mehr prosoziale Kompetenzen, Bindung und soziale Geborgenheit (schizoide oder paranoide Persönlichkeitsstörungen).

Die Therapieziele im Umgang mit persönlichkeitsgestörten Menschen sind individuell zu erarbeiten und zu formulieren. Meistens geht es nicht unbedingt darum, tiefgreifende Veränderungen der Persönlichkeit (Modifikationen)86 zu bewirken, sondern eher darum, einzelne Defizite zu kompensieren (z. B. die Emotionsregulation zu verbessern, selbstsicheres Verhalten zu üben, Impulskontrolle zu verbessern, Frustration auszuhalten und eigene Bedürfnisse aufzuschieben), oder auch darum, die individuelle Wesensart sozialverträglich einzudämmen, indem man sich punktuell zurückhält oder passende soziale Nischen sucht (sogenannte Schema-Camouflage). Schließlich ist es manchmal sogar möglich, seine problematische Persönlichkeitsdisposition gewinnbringend zu nutzen, z. B. indem man einen geeigneten Beruf ergreift (Utilisation).

Schlussbemerkungen – Hinweise für die polizeiliche Praxis

Zum Schluss noch einige allgemeine Anmerkungen zum Umgang mit Persönlichkeitsstörungen im beruflichen Alltag.

Der Umgang mit persönlichkeitsgestörten Menschen ist mitunter eine echte Herausforderung: sei es der Gerechtigkeitsfanatiker, der seine Grundstücksgrenze misstrauisch beäugt und die Nachbarn ein ums andere Mal anzeigt; sei es die abhängige Ehefrau, die umfängliche amtliche Hilfemaßnahmen konterkariert, indem sie zu ihrem prügelnden Ehemann zurückkehrt; sei es der impulsive Verkehrsrowdy, der noch dazu stets „unschuldig” in Schlägereien gerät; sei es die junge Borderlinerin, die zum x-ten Mal im Drogenrausch und mit zerschnittenen Armen aufgegriffen wird; oder sei es die histrionische Frau, die so oft aufwändige Einsätze von Rettungskräften provoziert, weil sie ihren Mann mit Suiziddrohungen beeinflussen will. Hinzu gesellen sich Kränkungen, Beleidigungen oder distanzloses Verhalten. Ist der Polizist in der Lage, Merkmale einer Persönlichkeitsstörung zu identifizieren, dann kann er davon ausgehen, dass andere als nur situative Faktoren das unangemessene Verhalten des Gegenübers mitbedingen.

Eine sachlich-professionelle Reaktion wird dadurch möglich, dass man auffälliges Verhalten nicht persönlich nimmt, sondern auf tiefergreifende Störungen des Persönlichkeitsgefüges zurückführen kann. Das heißt natürlich nicht, dass keine konsequente Reaktion erfolgen müsste.

Situationen mit persönlichkeitsgestörten Menschen machen immer Arbeit. Und sie können emotional belastend sein. Manchmal machen sie ärgerlich oder unsicher, bisweilen mag sich ein Anflug von Überdruss oder Resignation einstellen: Man fühlt sich wie der von den Göttern bestrafte Sisyphos, der immer wieder den gleichen Stein den Berg hinaufrollen muss.

Viel ist gewonnen, wenn der Beamte sich dessen bewusst ist, dass diese Menschen in starren, monotonen und früh erlernten Verhaltensmustern quasi gefangen sind. Auch wenn sie vor dem Gesetz bei weitem nicht immer zu exkulpieren sind, so erleichtert es doch den Umgang mit diesen Menschen, wenn wir uns um ein grundsätzliches Verständnis bemühen, wenn wir ruhig und aufmerksam bleiben und dort, wo ein konfrontatives oder zupackendes Vorgehen unausweichlich ist, mehr als sonst auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel und die Angemessenheit der Sprache achten.

Der Umgang mit schwierigen oder gestörten Persönlichkeiten erfordert Geduld. Egal, ob ich mit den Manipulationsversuchen einer histrionischen Persönlichkeit konfrontiert bin oder mit dem Gerechtigkeitsfanatismus einer paranoiden Persönlichkeit: Einen Zugang zu dem Menschen bekomme ich nur, indem ich mich ihm zuwende, aufmerksam bin und zumindest in Ansätzen zu verstehen versuche. Dabei ist mir das Wissen darüber behilflich, dass man jeder auch noch so schwierigen Persönlichkeit auch positive Aspekte abgewinnen kann.

Die Verhaltensweisen persönlichkeitsgestörter Menschen sind, wie wir sahen, oft schwer korrigierbar. Die Betroffenen greifen in problematischen Situationen zu den immer gleichen, ungeeigneten Lösungsversuchen.

Damit muss der Polizeibeamte rechnen. Es kann vorkommen, dass man innerhalb kurzer Zeit mehrfach ausrückt, um immer dieselbe, fraglich suizidale Person vom Fenstersims zu holen. Hier gilt es, die Situation und den Menschen stets erneut ernst zu nehmen. Man ist effektiv nicht in der Lage, die Motivation eines Menschen zu durchschauen: Ob es sich um Aufmerksamkeit heischendes Verhalten handelt, um einen Hilfeappell, um finale Verzweiflung oder ein provokatives Manöver zur Kontrolle oder Bestrafung einer Bezugsperson, das kann man nicht wissen. All das ist möglich – je nach Persönlichkeit und situativen Umständen.

Und damit sind wir wieder am Anfang: Die Persönlichkeit des Menschen ist komplex, der Umgang mit ihm eine Herausforderung. Aber gerade das scheint mir das Salz in der Suppe des Therapeuten – wie auch des Polizistenberufes – zu sein.

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1 Ist die Festlegung negativer Art, nennt man sie Feindbild. Aber auch die positive Festlegung eines Charakters ist mitunter nicht unproblematisch: Man kann Menschen Gewalt antun, indem man sie idealisiert (vgl. Omer, H., von Schlippe, A. & Alon, N. [2010]. Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht).

2 Gilbert, D. & Malone, P (1995). The correspondence bias. Psychological Bulletin, 117, 21 - 38.

3 Foucault, M. (1973). Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a. Main.: Suhrkamp Verlag.

4 Es dominierte zuletzt die abwertende Alltagsbedeutung der „Psychopathie“ zur Bezeichnung eines gemeinen/bösartigen Menschen. Erst über den US-amerikanischen „Psychopathy“-Begriff kommt es in den letzten Jahren zu einer wissenschaftlichen Renaissance des Begriffes „Psychopathie“ im Bereich der Forensik und Arbeits- und Organisationspsychologie (s. unter „Antisoziale Persönlichkeitsstörung“).

5 Jaspers, K. (1913). Allgemeine Psychopathologie. Berlin: Springer, S. 365.

6 Zur Humoralpathologie und ihrer geschichtlichen Bedeutung: Eckart, W. U. (2009). Geschichte der Medizin. Heidelberg: Springer.

7 Cloninger, C. R. (1993). A Psychobiological Model of Personality and Character. In: Archives of General Psychiatry, 50, 975 - 990.

8 Borkenau, P. & Ostendorf, F. (2008). Neo-Fünf-Faktoren-Inventar (NEO-FFI) nach Costa und McCrae. Manual. Göttingen: Hogrefe.

9 Schneider, K. (1946). Klinische Psychopathologie. Stuttgart: Thieme. Kurt Schneider unterschied darin hyperthymische, depressive, selbstunsichere, fanatische, geltungsbedürftige, stimmungslabile, explosible, gemütlose, willenlose und asthenische Psychopathen.

10 Kretschmer, E. (1948). Körperbau und Charakter. Heidelberg, Berlin: Springer (16. Aufl.).

11 Oldham, J. & Morris, L. (2010). Ihr Persönlichkeitsportrait. Warum Sie genauso denken, lieben und sich verhalten, wie Sie es tun. Marburg: Klotz.

12 Schmitz, B., Schuhler, P., Handke-Raubach, A. & Jung, A. (2001). Kognitive Verhaltenstherapie bei Persönlichkeitsstörungen und unflexiblen Persönlichkeitsstilen – Ein psychoedukativ- und kompetenzorientiertes Therapieprogramm zur Förderung von Selbstakzeptanz, Menschenkenntnis und persönlicher Entwicklung. Lengerich: Pabst Science Publisher.

13 Leonhard, K. (2000). Akzentuierte Persönlichkeiten. Würzburg: Wernicke-Kleist-Leonhard-Schriftenreihe (3. überarbeitete Auflage).

14 Siehe z. B. Lieb, H. (1998). Persönlichkeitsstörung. Zur Kritik eines widersinnigen Konzeptes. Tübingen: dgvt-Verlag.

15 Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA, 1994) in seiner 4. Version. Das DSM-IV wird weltweit für vergleichende Studien am häufigsten genutzt.

16 Internationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, Kapitel V(F), Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M. H. (1991) in seiner 10. Version. Das ICD-10 ist überwiegend im europäischen Sprachraum in Gebrauch.

17 Saß, H., Zaudig, M. & H. U. Wittchen (1996). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen nach DSM-IV. Göttingen: Hogrefe.

18 Der US-amerikanische Verhaltenstherapeut Arthur Freeman hat die Problematik anlässlich eines Workshops in der Schweiz einmal metaphorisch mit einem Schweizer Käse verglichen: Die betroffenen Menschen seien sehr wohl respektabel und vollwertig, aber es fehlten ihnen einige „skills“ (Kompetenzen) wie die Fähigkeit zur Selbstberuhigung, Hoffnung, Selbstsicherheit, Geselligkeit etc. (mündliche Mitteilung anlässlich eines Seminars in Bern 1996).

19 In Anlehnung an Oldham, J. M. & Skodol, A. E. (1996). Persönlichkeitsstörungen. In F. I. Kass et al. (Hrsg.). Das große Handbuch der seelischen Gesundheit (202 - 211). Weinheim: Beltz.

20 Auch hier sei wieder eine vorsichtige Beurteilung angemahnt. In Zeiten, in denen Beliebigkeit und Flexibilität gepredigt und Lebensabschnittspartnerschaften propagiert werden, kann man bei einer Abbruchsbiographie nicht mehr unbedingt von einem Störungs-Indiz sprechen: Sennett, R. (2006). Der flexible Mensch. Kultur des neuen Kapitalismus. Bt Bloomsbury Verlag.

21 Gaebel, W. & Falkai, P (2009). S2-Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie, AWMF Register Nr. 038/015, Steinkopff Verlag.

22 Fiedler, P (2007). Persönlichkeitsstörungen. Weinheim, Basel: Beltz Verlag.

23 Maier, W., Lichtermann D., Klingler T. & Heun, R. (1992). Prevalences of personality disorders (DSM-III-R) in the community. Journal of Personality Disorders 6, 187 - 196.

24 Stone, M. (1987). A psychodynamic approach: some thoughts on the dynamics and therapy of selfmutilating borderline-patients. Journal of Personality Disorders 16, 347 - 349.

25 Millon, T. (1969). Modern psychopathology. A biological approach to maladaptive learning and functioning. Philadephia: Saunders.

26 Bohus, M., Stieglitz, R., Fiedler, P., Hecht, H. & Berger, M. (2004). Persönlichkeitsstörungen. In: Berger, M. (Hrsg.). Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie, 875 - 965, München: Urban & Fischer.

27 Linehan, M. (2007). Dialektisch-behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. München: CIP-Medien.

28 Im ersten Fall am ehesten eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, im zweiten Falle z. B. eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung.

29 Torgersen S. (2000) Genetics of patients with borderline personality disorder. The Psychiatric clinics of North America 23: 1 - 9.

30 Parnas, J., Schulsinger, F. & Mednick, S. A. (1990). The Copenhagen high-risk study: Major psychopathological and etiological findings. In. Straube E. R. & Hahlweg, K. (Eds.). Schizophrenia. Concepts, vulnerability, and intervention, 45 - 56, Berlin: Springer.

31 Dieckmann, E. (2011). Die narzisstische Persönlichkeitsstörung mit Schematherapie behandeln. Stuttgart: Klett-Cotta.

32 Schmitz, B., Schuhler, P., Handke-Raubach, A. & Jung, A. (2001). Kognitive Verhaltenstherapie bei Persönlichkeitsstörungen und unflexiblen Persönlichkeitsstilen – Ein psychoedukativ- und kompetenzorientiertes Therapieprogramm zur Förderung von Selbstakzeptanz, Menschenkenntnis und persönlicher Entwicklung. Lengerich: Pabst Science Publisher.

33 aus dem Englischen, cluster bedeutet Gruppe, Bündel, Haufen, Anhäufung.

34 Der Begriff „paranoid” kommt aus dem Griechischen und bedeutet „neben dem Verstand“ oder „verrückt“. In der Psychiatrie bezieht er sich im engeren Sinne auf Menschen, die unter einem Verfolgungswahn leiden. Als Attribut einer Persönlichkeitsstörung bezeichnet er die Neigung, sich von anderen böswillig beeinträchtigt oder herabgesetzt zu fühlen, ohne dass (in der Regel) ein Wahn vorliegt.

35 Zu beachten ist, dass paranoide Tendenzen durch bestimmte medizinisch-psychologische Probleme begünstigt werden: Typisch sind paranoid-eifersüchtige Entwicklungen nach langjährigem Alkoholmissbrauch (Eifersuchtswahn der Alkoholiker) und paranoide Entwicklungen unter kommunikativer Isolation (Verfolgungswahn bei hochgradig Schwerhörigen oder in sprachfremder Umgebung). Man spricht in diesen Fällen aber nicht von paranoider Persönlichkeitsstörung.

36 Die Bezeichnungen der Persönlichkeitsstile und ihre Merkmale werden dargestellt in Anlehnung an Fiedler, P. (2000). Integrative Psychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen. Göttingen: Hogrefe und Oldham, J. M. & Skodol, A. E. (1992). Ihr Persönlichkeitsportrait. Hamburg: Kabel.

37 Im polizeilichen Feld ist Misstrauen natürlich eine hoch funktionelle Grundhaltung, z. B. im Kontext von Vernehmungen. Jedoch ist auch der Polizeibeamte in Gefahr, es mit dem Misstrauen zu übertreiben. Hier könnte man auch von einer„déformation professionelle“ sprechen.

38 Auf gar keinen Fall zu verwechseln mit der Diagnose einer „Schizophrenie“. Die Silbe „schizo“ kommt aus dem Griechischen und meint hier „abgetrennt sein von“ (von der Umwelt nämlich). Bei der Schizophrenie bezeichnet sie das „Gespaltensein“ des Geistes in Form von Ambivalenz oder wahnhaften Erlebensweisen.

39 Sachse, R. (2004). Persönlichkeitsstörungen. Leitfaden für die psychologische Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe.

40 Man hat gefunden, dass diese Störung gehäuft in Familien auftritt, in denen es schizophren Erkrankte gibt. Aber nur sehr wenige Menschen mit schizotypischer Störung erkranken später selbst an einer Schizophrenie (Siever, L. J. [1985]. Biological markers in schizotypal personality disorder. Schizophrenia Bulletin, 11, 564 - 575). Im Alltagsjargon der Psychiatrie wurde früher – zu Unrecht – auch von „verdünnten Schizophrenien“ gesprochen.

41 Man sieht an diesem Beispiel noch einmal, wie wichtig es ist, nicht vorschnell auf ein diagnostisches Etikett zu verfallen, denn der Glaube an eine Wiedergeburt ist im Rahmen religiöser Überzeugungen und Praktiken als absolut rational und in bestimmten (Sub-)Kulturen als normal anzusehen.

42 In der ICD-10 wird von „dissozialer Persönlichkeitsstörung“ gesprochen; mitunter spricht man auch von soziopathischer, früher auch von gemütsarmer Persönlichkeitsstörung. Es wird mit dem Begriff natürlich nicht auf eine Schichtzugehörigkeit (im Sinne von „asozial“) Bezug genommen, im Gegenteil vermuten manche Autoren gerade unter Oberschichtangehörigen und in der Politikerklasse besonders viele antisoziale Persönlichkeiten (z. B. Wirth, H. J. [2002]. Narzissmus und Macht: Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik. Psychosozial Verlag; Hare, R. [2005]. Gewissenlos – Psychopathen unter uns. Wien: SpringerVerlag).

43 Hare, R. (1991). Manual for the Psychopathy Checklist-Revised. Toronto: Multihealth Systems.

44 Dolan, B. & Coid, J. (1993). Psychopathic and antisocial personality disorders. Treatment and research issues. London: Gaskell.

45 Andrews, D. et al. (1990) Does correctional treatment work? A clinically relevant and psychologically informed metaanalysis. Criminology 28: 369 - 404.

46 Saß, H. (1988). Angst und Angstfreiheit bei Persönlichkeitsstörungen. In: Hippius, H. (Hrsg.), Angst: Leitsymptom psychiatrischer Krankheiten, 87 - 93. Berlin: Springer-Verlag.

47 Letztlich kann es nicht als gesichert gelten, dass antisoziale Persönlichkeiten gehäuft in Führungspositionen streben. Es gibt Autoren, die von einer „sozialen Verwahrlosung“ von Menschen in Führungspositionen ausgehen, in denen man allmählich von sich selbst (Armut), von anderen (Arroganz) und von der Realität (Ausblendung) abgekoppelt wird (Volk, T [2011]. Unternehmen Wahnsinn. Überleben in einer verrückten Arbeitswelt. München: Kösel).

48 Defiebre, N. & Köhler, D. (2012). Erfolgreiche Psychopathen? Zum Zusammenhang von Psychopathie und beruflicher Integrität. Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft. Die Autoren sehen z. B. bei den jüngsten Politiker-Plagiats-Affären „soziale Raubtiere“ am Werk.

49 Hier nehme ich auf eigene klinisch-gutachterliche Erfahrungen Bezug. Die Persönlichkeitsforschung im polizeilichen Feld ist unterentwickelt. Wenn man Belege sucht, muss man diese indirekt der soziologischen Feldforschung entnehmen: z. B. Behr, R. (2000). Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei. Opladen: Leske & Budrich.

50 Lelord, F. & André, C. (2011). Der ganz normale Wahnsinn – Vom Umgang mit schwierigen Menschen. Berlin: Aufbau Verlag.

51 Stern, A. (1938). Psychoanalytic investigation of and therapy in the borderline group of neurosis. Psychoanalytic Quarterly, 7, 467 - 489.

52 Kapfhammer, H. P. (1999). Integrative Therapieansätze bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen. In: Saß, H. & Herpertz, S. (Hrsg.). Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen – Beiträge zu einem schulenübergreifenden Vorgehen, 98 - 115. Stuttgart, New York: Thieme Verlag.

53 Es sei angemerkt, dass selbstverletzendes Verhalten sich auch bei anderen Störungsbildern findet. Grundsätzlich kann aus einem einzelnen Symptom oder aus einer isolierten Verhaltensweise nicht auf die Diagnose geschlossen werden.

54 Die ICD-10 formuliert hier einen eigenen Prägnanztypus der Borderline-Persönlichkeitsstörung: den „impulsiven Typ der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung“, auch reizbar-explosible Persönlichkeitsstörung genannt. Dieser Typ soll vor allem bei Borderline-Männern gefunden werden, die seltener in der Psychiatrie, umso häufiger aber in Gefängnissen oder auf neurologischen Intensivstationen angetroffen werden (wegen ihres Risikoverhaltens).

55 Stone, M. H. (1993). Long-term outcome in personality disorders. British Journal of Psychiatry 162, 299 - 313.

56 Den Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit wird in der Entstehung der Borderline-Störung ein sehr hoher Stellenwert beigemessen: 60 % der weiblichen Borderline-Patienten berichten über sexuelle Traumatisierung, 80 - 90 % berichten Gewalterfahrung und Vernachlässigung in der Kindheit.

57 Bohus, M. (2002). Borderline-Störung. Göttingen: Hogrefe.

58 Stone, M. H., Stone, D. K., Hurt, S. W. (1987). The natural history of borderline patients: Global outcome. Psychiatry Clinics North America 10, 185 - 206.

59 Sendera, A. & Sendera, M. (2010). Borderline – die andere Art zu fühlen. Beziehungen verstehen und leben. Wien: Springer.

60 Der Begriff „Hysterie“ oder „hysterische Persönlichkeit“ wurde mittlerweile völlig fallen gelassen, weil er eine abwertende Konnotation transportiert.

61 Cloninger, C.R., Reich, T & Guze, S.B. (1975). The multifactorial model of disease transmission: III. Familial relationships between sociopathy and hysteria (Briquets syndrome). British Journal of Psychiatry, 127, 23 - 32.

62 Fiedler, P. (1998). Persönlichkeitsstörungen. Weinheim: Psychologie Verlags Union.

63 Die partnerschaftlichen Beziehungen histrionischer Frauen haben oft eine besondere Qualität. Jürg Willi spricht von der „Rivalität um die männliche Rolle“ in Willi, J. (1975). Die Zweierbeziehung: Das unbewusste Zusammenspiel von Partnern als Kollusion. Reinbek: rororo. Im Grunde geht es (in stark vergröberter Darstellung) darum, dass histrionische Frauen sich gerne mit autonomen „Alpha-Männern“ schmücken, deren Dominanz jedoch früher oder später zur Bedrohung wird, da sie das histrionische Zuwendungsbedürfnis nicht befriedigt. Mit bestimmten unbewussten Strategien werden die Männer daher in eine regressive (z. B. depressiv-hilflose) Position gedrängt – werden damit jedoch gleichzeitig „uninteressant“ für die persönlichkeitsgestörten Frauen. Noch kürzer: Die histrionische Frau sucht sich einen Herrscher, den sie beherrschen will. Damit ist das Scheitern der Beziehung bereits im Keim angelegt.

64 Die Selbstinszenierung beginnt dann, irgendwie hohl zu wirken, und man wird an das finnische Sprichwort „Leere Tonnen machen den meisten Lärm“ erinnert.

65 Diese Diagnose ist in der ICD-10 nur in den Anhang aufgenommen worden. Nach wie vor wird sie kontrovers diskutiert. Der Haupteinwand gegen diese Störungskategorie ist die mangelnde Konstruktvalidität: Was die einen (z. B. Psychoanalytiker) als „narzisstisch“ diagnostizieren, kann von anderen (nämlich Experten, die nach DSM beurteilen) oft kaum nachvollzogen werden. Wie bei keiner anderen Störung kommt es hier auf eine schwer zu objektivierende Innenperspektive der Betroffenen an. Auch wurde angemerkt, dass diese Diagnose zu häufig für überkritische und in Konkurrenz zum Therapeuten tretende Männer vergeben wird, während Frauen mit dem gleichen Verhalten die Diagnose einer histrionischen Persönlichkeitsstörung erhalten. Dies alles mahnt zur Vorsicht im Umgang mit dieser Diagnose. Diskussion in: Fiedler, P (2007). Persönlichkeitsstörungen. Weinheim: Beltz Verlag.

66 Bei dem „Dr. div. h.c.“ handelt es sich eigentlich um einen US-amerikanischen, käuflich zu erwerbenden kirchlichen Würdentitel (siehe unter www.ehrendoktor.info).

67 Stone, M. H., Hurt, S. W., Stone, D. K. (1987). Longterm follow-up of borderline patients meeting DSM-III criteria. I. Global outcome., Journal of Personality Disorders 1, 291 - 298.

68 Jürg, W. (1975). Die Zweierbeziehung: Das unbewusste Zusammenspiel von Partnern als Kollusion. rororo.

69 In der ICD-10 wird von „ängstlicher (vermeidender) Persönlichkeitsstörung“ gesprochen. Es gibt starke Überschneidungen mit dem Krankheitsbild der „sozialen Phobie“, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.

70 Frei nach einem chinesischen Sprichwort.

71 Das Kriterium der Unterwürfigkeit (Submissivität) ist bisweilen kritisiert worden, weil man zu geschlechtsspezifischen Diagnosefehlern kommen kann. Es wird damit nämlich erstens eine dominierende Form der Abhängigkeit vernachlässigt, wie sie häufiger bei Männern auftritt, die per Anweisung und Befehl die Entscheidungen an ihre Bezugspartner delegieren. Zweitens wird submissives Verhalten von Frauen immer noch – zumindest in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen – gefördert; vgl. Saß, H. Houben, I., Herpertz, S. (1999). Zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen. In: Saß, H. & Herpertz S. (Hrsg.). Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen – Beiträge zu einem schulenübergreifenden Vorgehen, 98 - 115. Stuttgart, New York: Thieme Verlag.

72 Freud, A. (2006). Das Ich und die Abwehrmechanismen. Frankfurt: Fischer Taschenbuch. Menschen, die altruistisch abtreten, kämpfen für andere und vernachlässigen sich selbst.

73 Schmidbauer, W. (2002). Helfersyndrom und Burnout-Gefahr. München: Urban & Fischer. Das popularpsychologische Konstrukt des „Helfersyndroms“ bezeichnet ein vielschichtiges Phänomen, für das nach der ursprünglichen Konzeption vor allem narzisstische Persönlichkeiten prädisponiert sein sollen, die Machtbedürfnisse und Größenphantasien in der therapeutischen/helfenden/pflegenden Tätigkeit befriedigen.

74 Tellenbach, H. (1961). Melancholie. Berlin: Springer. Der Typus melancholicus ist mit der zwanghaften Persönlichkeitsstörung nicht absolut deckungsgleich, insbesondere der Eigensinn des Zwanghaften widerspricht der Harmoniebedürftigkeit des melancholischen Typs nach Tellenbach, sodass Fiedler (2007) den Typus melancholicus eher dem zwanghaften Persönlichkeitsstil zuordnet.

75 Das Leben lässt sich einfach nicht absolut „absi-

76 Tenney, N. H., Schotte, C. K. W., Denys, A. J. P., van Megen, J. G. M. & Westenberg, G. M. (2003). Assessment of DSM-IV personality disorders in obsessivecompulsive disorder: Comparison of clinical diagnosis, self-report questionnaire and semi-structured interview. Journal of Personality disorders, 17, 550 - 562.

77 Gemeinsam mit der „depressiven Persönlichkeitsstörung“.

78 Der Begriff „Bedenkenträger“ hat mittlerweile in der Wirtschaft eine abwertende Bedeutung bekommen. Man kann den Menschen, der zuerst die Risiken, Gefahren und Tücken eines Unternehmens sieht, der kritisiert oder intuitiv zögert, in Organisationen allerdings auch sehr gut gebrauchen. Die pauschale Abwertung solcher Menschen ist eine Machtstrategie nach wilhelminischem Muster („Ich dulde keine Schwarzseherei“, Zitat Kaiser Wilhelm II).

79 Das hat sie mit der sogenannten „Multiplen Persönlichkeitsstörung“ (Dissoziative Identitätsstörung) gemeinsam, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Es handelt es sich bei der multiplen Persönlichkeitsstörung ebenfalls um eine komplexe Traumafolgestörung mit einer Desintegration der Persönlichkeit als Kernsymptom. Auch sie ist eine stark kontrovers diskutierte Diagnose: Immer wieder wird dabei die Frage der „Echtheit“ aufgeworfen und die Frage, inwieweit diese Diagnose nicht von Therapeuten „sozial konstruiert“ wird (Iatrogenität, „false-memory“-Debatte).

80 Herman, J. (1994). Narben der Gewalt – Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. München: Kindler.

81 Wer mit langjährig missbrauchten und misshandelten Menschen (z. B. mit Opfern häuslicher Gewalt) konfrontiert ist, kennt die Tendenz der Opfer, die Täter in Schutz zu nehmen und zu ihnen zurückzukehren, für sie zu sorgen, sie später zu pflegen etc.

82 Eine permanente enge Supervision der Therapeuten von persönlichkeitsgestörten Patienten in daher in der Regel unerlässlich.

83 Vgl. Sachse, R. (2004). Persönlichkeitsstörungen. Leitfaden für die psychologische Psychotherapie. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle, Oxford, Prag: Hogrefe. Die Patienten stellen mit den Beziehungstests sicher, dass der Therapeut sie auch dann noch akzeptiert, wenn sie z. B. feindselige oder problematische Muster entfalten: Narzissten wollen die Therapieregeln neu bestimmen und wollen auch darin respektiert werden; histrionische Menschen klagen über mangelnde Zuwendung und fischen nach Komplimenten usw.

84 Für einige Persönlichkeitsstörungen wurden ganz spezielle Therapieprogramme entworfen, die strukturiert und modularisiert sind und einer speziellen Ausbildung bedürfen. Eines der bekanntesten Programme ist die „Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) nach Linehan“ für Borderline-Persönlichkeitsstörungen.

85 Fiedler, P. (2000). Integrative Psychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen. Göttingen: Hogrefe.

86 Ich beziehe mich im Folgenden zum einen Teil auf mündliche Mitteilungen von Art Freeman und zum anderen Teil auf kognitiv-schematherapeutisch formulierte Prinzipien (vgl. Sperry, L. [2003]. Handbook of Diagnosis and Treatment of DSM-IV Personality Disorders. Routledge, Chapman and Hall).

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