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EINLEITUNG

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Von Hermann H. Wetzel

Ein »Irrgarten der Liebe« komponiert aus italienischen Novellen klingt verlockend und verheißungsvoll. Wer verlöre sich nicht gerne in einem dieser geometrisch angelegten italienischen Gärten mit buchsbaumgesäumten Kieswegen und lauschigen Buchten auf galanten Abenteuern, in denen sich die nicht erst von Goethe entdeckte Sehnsucht der Deutschen nach einem bestimmten Süden, nach unbeschwerter und unverklemmter Sinnenlust zu verwirklichen scheint? Nicht umsonst zählt Boccaccios Decameron in der landläufigen Vorstellung immer noch zur erotischen Literatur, obwohl sich die einschlägigen Stellen neben den heutigen Vertretern der Gattung doch recht bieder und harmlos ausnehmen. Statt in schwülen und schummerigen ›Feuchtgebieten‹ werden die nur teilweise lockeren »Neuigkeiten« in der klaren Helligkeit eines toskanischen Locus amoenus von einer gesitteten Gesellschaft reihum erzählt. Vielleicht lohnt es sich, dem Mythos der Novelle, wie er sich seit Boccaccio etabliert hat, genauer nachzugehen.

Die diesem Band zugrunde liegende Auswahl von italienischen Novellen aus dem 13. bis zum 19. Jahrhundert, die Eberhard Brost unter dem Titel Ein Irrgarten der Liebe in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts besorgte und die ihrerseits auf einer dreibändigen Auswahl italienischer Novellen von Erich Loewenthal aus dem Jahre 1942 fußte, ist, wie könnte es anders sein, ein Kind ihrer Zeit: Kriegs- und Nachkriegszeit verlangten als Gegengewicht gegen die Realität nach heiterer Zerstreuung, und insofern war die Situation auf den ersten Blick nicht unähnlich derjenigen, in welcher sich der Schöpfer der Gattung ›Novelle‹, Giovanni Boccaccio, 1348 während der Pest in Florenz sah. Die im Rahmen des Decameron geschilderte, damals in Europa erstmals und mit verheerenden Folgen auftretende Epidemie war jedoch für den Kaufmann und Bürger der Republik Florenz Anlass, der Katastrophe, welche die sozialen, moralischen und politischen Normen der Bürgerschaft außer Kraft setzte und nachhaltig zu beschädigen drohte, einen autonomen Ordnungsversuch entgegenzustellen.

Die Rahmengeschichte des Decameron ist eine Art Exorzismus, ein auf der Ebene der Fiktion gestarteter Versuch, die zunächst ausführlich geschilderten chaotischen Folgen und sozialen Auflösungserscheinungen in Folge der Pest zu bannen. Sieben junge Frauen aus den besten damals die Stadt regierenden Familien beschließen, sich in Gesellschaft dreier junger ebenso edler Männer und mit der Unterstützung ihres Gesindes auf ihre ländlichen Villen im Umland von Florenz zurückzuziehen, um dort, einigermaßen geschützt vor Ansteckung, nicht nur angenehm mit Geplauder, Gesang, Tanz und Spiel eine gewisse Wartezeit zu vertreiben, sondern sich selbst und ihren Mitbürgern auch eine Lektion in Ordnung und Anstand zu erteilen. Sie wählen reihum jeweils für einen Tag eine Königin oder einen König, die über einen geregelten Tagesablauf wachen und das Erzählthema jedes Tages festlegen sollten, während der Freitag als der Tag der Passion Christi, der Samstag und der Sonntagmorgen religiösen Übungen vorbehalten sind. Und sie kehren nach Ablauf von zehn Erzähltagen zurück in das immer noch pestverseuchte Florenz mit der ausdrücklichen Begründung, dass sie die Sittsamkeit und den guten Ruf der Gesellschaft nicht gefährden wollten. Die fiktive Erzählergemeinschaft der »lieta brigata« flieht also nicht nur vor der Pest – wer könnte es ihr verdenken? –, sondern sie stellt sich ihren sozialen und moralischen Folgen aktiv, wenn auch zeitlich begrenzt, entgegen.

Eine Anthologie oder Blütenlese, welche die nach Meinung des Herausgebers schönsten Gewächse zu einem Garten der Liebe komponiert, wählt, wie der Wortbestandteil ›Lese‹ bereits sagt, aus größeren, vielfältigeren Werken verschiedener Autoren einzelne Novellen unter einem bestimmten Thema aus. Eine solche Auswahl bedeutet immer auch Verlust, mit Blick auf die zugrunde liegenden Novellensammlungen einen Verlust an thematischer Vielfalt und vor allem den Verlust der Rahmengeschichten, die, wie wir gesehen haben, alles andere als nur schmückendes, letztlich überflüssiges Beiwerk sind.

Boccaccio, der sich seinerseits auf ›primitivere‹ Vorgänger wie das ebenfalls hundert meist sehr kurze, exempelartige Geschichten umfassende Novellino oder Cento novelle antiche (um 1300) stützen konnte, löste mit seinem Werk eine Jahrhunderte andauernde Erfolgsgeschichte von Nachahmungen und Übersetzungen in ganz Europa aus. Es sei nur an Chaucers Canterbury Tales (um 1400) oder Marguerite de Navarres Heptaméron (um 1550) erinnert. Allein für Italien wird die seit 1971 erscheinende wissenschaftliche Sammlung I Novellieri italiani (Salerno Editrice), die aber nicht einmal das ganze 19. Jahrhundert umfasst, circa hundert Titel zum Teil mit mehreren Bänden zählen. Diese Novellensammlungen sind je nach historischem Kontext inhaltlich und formal sehr unterschiedlich. Boccaccios den Ton angebende Sammlung entstand Mitte des 14. Jahrhunderts in Zeiten politischer Autonomie der wohlhabenden Bürger in der Republik Florenz, andere Sammlungen dagegen unter dem autoritären Regiment der aus der Refeudalisierung des 15. und 16. Jahrhunderts hervorgegangenen Signorie, – die einen in Zeiten relativer Offenheit in Dingen des Glaubens und der Moral, die anderen während der Gegenreformation, die das Decameron in seiner ›ungereinigten‹ Form auf den Index setzte.

Bei wenigen spielt der Rahmen eine derart tragende Rolle wie bei Boccaccio, bei vielen fehlt er ganz. Denn der Rahmen hat immer etwas mit dem Bedürfnis und vor allem der Fähigkeit zur Ordnung zu tun – Ordnung der Vielfalt der erzählten Geschichten und der in ihnen implizit oder explizit enthaltenen Weltanschauungen. Das ältere Novellino reiht unverbunden »fiori di parlare, di belle cortesie e di be‹ risposi e di belle valentie e doni« (»Blüten der Rede, schönen höfischen Benehmens und schöner Antworten, schöner Taten und Geschenke«)1 aneinander. Das Erzählte bedarf noch keiner fiktionalen äußeren Ordnung, da es sich weitgehend in die Ordnung der Ständegesellschaft einfügt. Schon eine Generation nach Boccaccio verzichtet der Florentiner Franco Sacchetti trotz der ausdrücklichen Anlehnung an seinen Landsmann auf eine Rahmenfiktion und kompiliert lediglich dreihundert Novellen, da es ihm angesichts der inzwischen chaotischen Zeitläufte offensichtlich an der Kraft zum Rahmen fehlt. Bandello wird im 16. Jahrhundert jede einzelne Novelle mit einem Widmungsbrief versehen, Pirandello sich im 20. Jahrhundert darauf beschränken, seine Novellen in ferner Anlehnung an die »zehn Tage« des Boccaccio rein kumulativ ohne Rahmenfiktion unter dem Titel Novelle per un anno (Novellen für ein Jahr) herauszugeben.

Der Boccaccio-Rahmen ist aber nicht nur eine fiktionale Reaktion auf die lebensweltliche, historische Situation der Pest, sondern auch ein Versuch, das in den erzählten Novellen selbst in Frage gestellte überkommene mittelalterliche Wertesystem zu diskutieren, es an den neuen Idealen der frühkapitalistischen Kaufmannsgesellschaft, zu der seine meisten Leser und Leserinnen gehört haben dürften, zu messen, ohne das Überkommene jedoch völlig aufzugeben. Die Erzählerinnen und Erzähler äußern regelmäßig zwischen den Geschichten ihre Meinung zum Erzählten, die darin in Handlung umgesetzten Wertvorstellungen werden kontrovers diskutiert. So stehen neben Beispielen erotischer Freizügigkeit, die die Erfüllung sexueller Bedürfnisse für beide Geschlechter als etwas Selbstverständliches und Natürliches darstellen und ausdrücklich verteidigen (Boccaccio, »Die mutige Ehebrecherin«), andere Beispiele strengster Sittlichkeit und unbegreiflichen Standesdünkels, wie etwa die berühmte, von Petrarca als einzige einer Übersetzung ins Lateinische für würdig erachtete Griseldis- Novelle (Decameron X, 10), deren Protagonisten, dem Markgrafen von Sanluzzo, von einem der Gesprächspartner für das demütigende Verhalten gegenüber seiner Frau schlichtweg »matta bestialità« (»verrückte Brutalität«) attestiert wird. Im Decameron jedoch beziehen sich die lockeren Sitten – gelockert im Vergleich zur offiziell von der Kirche vertretenen Moral – nicht nur auf den sexuellen Bereich, sondern insgesamt auf den Bereich des menschlichen Zusammenlebens.

Denn statt mit einer adligen Ständegesellschaft und rigidem Ehrenkodex haben wir es im Florenz des 14. Jahrhunderts mit einer Gesellschaft zu tun, in der nicht mehr ausschließlich christliche Moral und adlige Geburt, sondern Kreditwürdigkeit und individuelle Fähigkeiten wie Klugheit, Berechnung, Tüchtigkeit, ja gelegentlich die Grenze zum Betrug überschreitende Gerissenheit des Kaufmanns, Bankiers oder Unternehmers zählen. So kann man das Decameron mit Recht ein »Kaufmannsepos« (V. Branca)2 und die Novellen einen »Abglanz der Handelsnachricht« (P. Brockmeier)3 nennen, obwohl daneben auch immer noch Beispiele adliger Werte wie Großzügigkeit (Melchisedech und Saladin in der berühmten Novelle mit der Ringparabel Decameron I, 3), Repräsentation und Wahrung der Ehre (»Der Falke«) eine Rolle spielen. Während auf der einen Seite naive Frömmigkeit verspottet wird, etwa wenn der Erzbetrüger Ser Ciappelletto (Decameron I, 1) auf dem Totenbett seinen Beichtvater so gekonnt anlügt, dass dieser ihn für einen Heiligen hält und den Gläubigen zur Verehrung empfiehlt, oder sich der heuchlerische Frate Alberto der madonna Lisetta als neuer Erzengel Gabriel zur Zeugung eines Papstes andient (Decameron IV, 2), wird frommes Verhalten und werden religiöse Übungen von der Erzählergemeinschaft selbstverständlich nicht in Frage gestellt. Ein schönes Beispiel für den pragmatischen Umgang mit Religion, der in der Praxis des Fernhandelskaufmanns geschäftsbedingt religiöse Toleranz gegenüber Judentum und Islam (Ringparabel) mit einschließt, ist die mit theologischer Schützenhilfe erfolgte Umgehung des biblischen Zinsnahmeverbots unter dem Etikett Risikoaufschlag, als Ausgleich für Währungsschwankungen, als Bearbeitungsgebühr etc. und die gleichzeitige Indienstnahme des Herrgottes, der als Gegenleistung für fromme Stiftungen Wohlergehen hienieden und in extremis das Seelenheil der großzügigen Spender garantieren soll. Da man aber der göttlichen Gerechtigkeit und Vorsehung letztlich doch nicht so richtig traut, erfinden die Florentiner Kaufleute auch noch die Versicherung auf Gegenseitigkeit.

Die Boccaccio-Novelle feiert in der Regel die Überlegenheit des Klugen und Gewitzten über den tumben Gegner (oft den Ehemann) und selbst über Fortuna, die weniger als unabänderliches Schicksal, dem man sich gottergeben zu fügen hätte, angesehen wird, denn als sportliche Herausforderung. So gelingt es Alatiel (Decameron II, 7) trotz mehrfacher Zwangsverheiratung nach all ihren Abenteuern letztlich doch noch angeblich als Jungfrau an den ersehnten Mann zu kommen. An dieser grundsätzlich optimistischen Einstellung, die es den Held(inn)en erlaubt, ihr Schicksal weitgehend selbst in die Hand zu nehmen, ändert es auch nichts, wenn zur Abwechslung den ganzen vierten Tag lang Geschichten erzählt werden, die tragisch enden. Die von menschlicher Erfindungsgabe lebenden Schwänke sind vornehmlich von zweierlei Art, je nachdem auf welche Weise die entstandene missliche Situation, häufig die Überraschung der Liebenden durch den zur Unzeit heimkehrenden Ehemann, geklärt wird bzw. der Gegenspieler ›besiegt‹ (übervorteilt, hereingelegt, abgewehrt, bestraft oder gar auf die eigene Seite gezogen) wird: Entweder sind es kluge Reden (motti) oder handfeste Streiche (beffe) oder eine Kombination von beiden. Daneben gibt es aber auch noch längere Abenteuergeschichten mit mehrfachen Glücksumschwüngen (Boccaccio, »Die Ärztin Gilette«), die die Intelligenz und Zielstrebigkeit der Held(inn)en immer wieder aufs Neue herausfordern.

Das Motto hat den Vorteil, dass der Streit sich nur auf verbaler Ebene abspielt und den Gegner nicht materiell oder gar körperlich schädigt. Da ein gut platziertes Bonmot oder eine schlagfertige Antwort die Ehre des Gegners einigermaßen unbeschädigt lässt, eignet es sich besonders für die Behauptung gegenüber sozial Höhergestellten (Boccaccio, »Wieviel Beine hat der Kranich?«). In den Cento Novelle antiche, der ältesten der Novellensammlungen, wo noch der höfische Geist der geschliffenen Rede und der großzügigen Handlungen weht, bilden daher übrigens Liebesgeschichten die Ausnahme, dagegen stehen Sprichwörter und Lebensweisheiten hoch im Kurs, die mit Exempeln illustriert werden (»Gottes Wille geschieht«). Auch in Boccaccios dritter Novelle des ersten Tages zieht sich Melchisedech gegenüber Saladin mit Hilfe der Ringparabel, einer Art ausgedehntem Motto, gekonnt aus der Klemme. Ebenso wehrt sich der Arme in Sacchettis »Alle Glocken läuten« erfolgreich gegen einen präpotenten Räuber seines Grund und Bodens mit Hilfe der Rede, wenn auch unterstützt durch das Aufmerksamkeit verschaffende Glockengeläut.

Die Beffa dagegen wird meist gegenüber Gleichgestellten (mit Vorliebe gegenüber dem betrogenen Ehemann) oder gegenüber einem sozial Unterlegenen eingesetzt. Im Unterschied zum mittelalterlichen Fabliau oder Schwank, wo Frauen auch oft schon schlagfertig in einer brenzligen Situation reagieren, planen sie bei Boccaccio ihre Coups von langer Hand und mit einer gewissen Raffinesse (»Der betrogene und geprügelte Ehemann«). Nach der Abwehr der unmittelbaren Gefahr wird oft noch aus lauter Übermut eins draufgesetzt (»Das Fass«): Die untreue Frau begnügt sich nicht damit, einen plausiblen Rechtfertigungsgrund für die Anwesenheit ihres Liebhabers als eines angeblichen Käufers für das überzählige Fass zu liefern, sondern sie schickt ihren Mann auch noch zum Säubern in das Fass, um den Galan nach der unwillkommenen Unterbrechung doch noch auf seine Kosten kommen zu lassen. Gleichzeitig prellt sie aber auch noch den Galan, indem sie ihn in dieser Zwangslage einen überhöhten Preis für das Fass zahlen lässt.

Neuschäfer4 hat diese neue Komplexität der Personen Boccaccios und ihres Handelns an verschiedenen Novellen (u.a. Decameron I, 3 und VII, 7, hier »Der betrogene und geprügelte Gatte«) im Vergleich zu ihren mittelalterlichen Vorformen wie Predigt-Exempel oder Schwank (Fabliau) plastisch herausgearbeitet. Die Personen sind nicht mehr nur »einpolige«, blutleere Funktionsträger: Saladin ist nicht mehr nur ein beliebiger, namenloser despotischer Sultan, sondern eine ganz bestimmte historische Persönlichkeit mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer spezifischen sozialen Herkunft und einem zwischen Skrupellosigkeit und Großzügigkeit schillernden Charakter. Ebenso wenig ist sein Gegenspieler Melchisedech nur ein reicher Jude, sondern durch ausführliche Vorstellung und Beschreibung fest in Raum, Zeit und Gesellschaft verankert. So werden die Handlungen der Personen aus den Umständen und psychologischen Voraussetzungen heraus verständlich und nachvollziehbar. Sie füllen nicht nur statisch eine vorgegebene Rolle aus und reagieren lediglich reflexartig auf äußere Gegebenheiten, sondern sie ergreifen selbst die Initiative, planen klug im Voraus, sind darüber hinaus dynamisch und wandlungsfähig. Die Novellen werden um ein Vielfaches länger, da sie nicht mehr nur aus Erzählgerippen mit den für den Fortgang der Handlung allernötigsten Fakten bestehen (ja selbst diese fehlen in vielen Exempeln oder Heiligenviten), sondern sie ›setzen Fleisch an‹, erscheinen dadurch ›realistisch‹ (auch wenn das Erzählte noch so unwahrscheinlich bleiben mag).

Die Liebe, das (fast) ausschließliche Thema der vorliegenden Sammlung gilt bei Boccaccio nur als ein Geschäft unter anderen, bei dem es darauf ankommt, den eigenen Vorteil zu suchen und die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, eine Haltung, die besonders die dafür nur relativ nachlässig getadelten Weltgeistlichen und insbesondere die Mönche infiziert. Fern von antiker und christlich-mittelalterlicher Misogynie, wie sie etwa in dem Schwank der »Witwe von Ephesus« herrscht, werden die Frauen für Ihre Gewitztheit in der Durchsetzung ihrer Ziele von Boccaccio nicht getadelt. Auch wenn die ausführlichere Art des Erzählens beibehalten wird, verlieren die Novellenheld(inn) en diese positiven, geradezu modern anmutenden Eigenschaften im Laufe der Literaturgeschichte teilweise wieder, denn sie waren, ebenso wie der utopische Rahmen Boccaccios, die Frucht einer ganz bestimmten historischen Konstellation. So verfallen andere Autoren schon im späten 14. Jahrhundert (Fiorentino, »Hauskreuz«) und erst recht zur Zeit der Gegenreformation (Straparola, »Der Widerspenstigen Zähmung«) gegenüber den Frauen wieder den alten Klischees und predigen das plumpe Allheilmittel der körperlichen Züchtigung. Wenn die Frau schon »zur Unzucht geboren« ist, werden brutale Ehemänner zur Wahrung ihrer Ehre zu rachsüchtigen Mördern (Fiorentino, »Römische Rache«, »Ein Deutscher in Italien«; Giraldi, »Ein Hüter seiner Ehre«), wobei ihnen auch noch der liebe Gott mit Hilfe des Zufalls großzügig assistiert. Und auf der anderen Seite werden Liebhaber zu wahren Tugendbolden, die mit Rücksicht auf die Ehre des Ehemannes sogar aus dem bereits mühsam eroberten Lotterbett springen (Fiorentino, »Galganos Entsagung«). Bei Bandello (»Die Müllerstochter«) gibt sich der Adlige schon gar keine Mühe mehr, die Müllerstochter mit Witz und Schmeichelei zu erobern. Er entführt und vergewaltigt sie einfach, was zwar von der übergeordneten Instanz durch eine erzwungene Heirat rein äußerlich wieder ins Lot gebracht wird, doch von einer Selbstbestimmung der Frau ist keine Rede mehr.

So ist die Liebe, man sollte vielleicht besser von Sexualität sprechen, letztlich in den Novellensammlungen nur ein Thema unter anderen, doch an den Liebesbeziehungen und Liebeshändeln lassen sich zahlreiche Problemfelder erzählerisch, d.h. in Personen und Handlungen umgesetzt, exemplifizieren. Liebesgeschichten sind das ideale Medium, fundamentale menschliche Prozesse darzustellen, denn in ihnen lassen sich mit auf das Notwendigste beschränktem Personal, etwa der Dreiecksbeziehung, dem berüchtigten triangle érotique, dem schon ganze Bibliotheken gewidmet wurden, psychische Konflikte zwischen persönlichem Glücksverlangen und Gesetz (oder in modernerer Variante zwischen Es und Über-Ich), soziale zwischen Ständen und Klassen, politische zwischen Herrschenden und Beherrschten, wirtschaftliche zwischen Arm und Reich, moralische zwischen Normen und ihrer Durchbrechung, religiöse zwischen rechtem Glauben und Unglauben bzw. Heidentum in einem menschlich interessanten und emotional berührenden Ambiente entfalten. Je nachdem, wer letztlich wen ›bekommt‹ oder wer wen mit einem Motto oder einer Beffa foppen darf, kann man Rückschlüsse auf die zur Zeit der Abfassung der Novelle gültigen Maßstäbe ziehen.

Eigentlich gilt das Märchenhafte als dem Novellistischen, wie es von Boccaccio entwickelt wurde, entgegengesetzt. André Jolles (Einfache Formen, 1930) sieht die Novelle als die auf die ›Einfache Form‹ Märchen »bezogene« Form. Überwindet der weitgehend passive, nur »abstrakt« moralische Märchenheld (er muss nicht unbedingt gut sein, um in den Genuss des glücklichen Endes zu kommen, es genügt, wenn er Mangel leidet, benachteiligt, der jüngste ist etc.) mit Hilfe des fraglos Wunderbaren traumwandlerisch die Hemmnisse der Wirklichkeit, so motiviert im Gegensatz dazu die Novelle alle Ereignisse und Handlungen ›realistisch‹, d.h. in den persönlich psychologischen, sozialen, ökonomischen und politischen Umständen, und der Novellenheld versucht, sich gegen die Widrigkeiten des Schicksals unter Einsatz seiner Fähigkeiten durchzusetzen. Der heteronome Märchenheld dagegen ist schematisch und ohne psychologische Tiefe. Daher finden wir bei Boccaccio als einem Angehörigen einer selbstbewussten und auf politische Autonomie bedachten Kaufmannsschicht nur noch ganz wenige Märchenmotive. Wenn es in einzelnen Geschichten noch Märchenreste gibt, dann versucht Boccaccio, selbst das Wunderbare noch ›realistisch‹ zu begründen: Der Richter geht dem Fall des angeblich von Simona vergifteten Pasquino (Decameron IV, 7) im wahrsten Sinn des Wortes auf den Grund, da er keine vernünftige Erklärung dafür sieht, wie zuerst Pasquino und dann auch noch Simona beim Ortstermin an einem Salbeiblatt sterben können. Im Märchen wäre ein solches Ereignis selbstverständlich, ohne hinterfragt zu werden, hingenommen worden. Der Richter lässt jedoch den Salbeibusch ausgraben und entdeckt an seinem Fuß eine giftige Kröte, die – und darin ist die Erzählung wieder mittelalterlich – dafür verbrannt wird. Ähnliches lässt sich in der Geschichte des messer Torello (Decameron X, 9) beobachten, wo zunächst alles mit rechten Dingen zugeht. Nachdem aber die Zeit knapp wird, der Wiederverheiratung seiner Frau zuvor zu kommen, die ihn für tot hält, kann er dank einem Zauberer in den Diensten Saladins – den Orientalen ist offensichtlich alles zuzutrauen! – rechtzeitig vom Morgenland nach Pavia zurückfliegen.

Dagegen gibt Straparola, obwohl er in der vorliegenden Auswahl nur mit zwei eher traditionellen Novellen vertreten ist (»Der Widerspenstigen Zähmung«; »Der Tugendwächter Anastasius«), dem Wunderbaren in seiner Sammlung Le piacevoli notti (1550–53) in zunehmend heteronomen Zeiten wieder mehr Raum: Eine größere Anzahl seiner 74 Novellen sind Märchen oder Mischformen zwischen Novelle und Märchen. Gut zwei Generationen später erzählt Basile in seiner Sammlung Lo cunto de li cunti (1634) fast nur noch Märchen, die teilweise auf dem Umweg über Perrault bis zu den Gebrüdern Grimm gewandert sind. Insofern ist der hier ausgewählte »Knoblauchgarten« nicht typisch für Basile, da in dieser Geschichte das Wunderbare keine Rolle spielt. Allenfalls erkennt man in der dreifachen Probe, die das wahre Geschlecht des verkleideten Mädchens ans Licht bringen soll (wofür eine ›realistische‹ Novelle sicher einen direkteren Weg gefunden hätte), und in der überraschenden Heilung des kurz zuvor noch todkranken Jünglings ein Echo des Märchens. Doch sind es wohl gerade die für die Zeit ihrer Erfindung neuartigen realistischen Grundlagen und die weitgehend individualisierten und emanzipierten Helden der Novelle, die sie bis in die heutige Zeit als Erzählgattung aktuell bleiben lässt, selbst wenn die Autonomie ihrer Helden unter dem Eindruck der lebensweltlichen Erfahrungen ihrer Schöpfer im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Einschränkungen erleiden musste. Erst im 19. Jahrhundert sind die historischen Voraussetzungen für die Novelle wieder ähnlich günstig wie zu Zeiten Boccaccios, wenn sich ihr auch schon bald die phantastische Erzählung als das »schlechte Gewissen« (T. Todorov5) des positivistischen 19. Jahrhunderts als Korrektiv zugesellt. Diese neue und seit dem 19. Jahrhundert äußerst fruchtbare Variante der kurzen Erzählung kann nur auf dem Boden einer grundsätzlich realistischen, den bisher bekannten Naturgesetzen gehorchenden Weltsicht gedeihen, in die sich allerdings Zweifel einschleichen, ob bestimmte Erscheinungen sich tatsächlich ›natürlich‹ erklären lassen. Der Glaube an die Beherrschbarkeit der tatsächlichen und der fiktionalen Welt wird so schon im Moment seiner größten Verbreitung wieder in Frage gestellt.

1 Il Novellino. Das Buch der hundert alten Novellen. Italienisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Janos Riesz (Reclam UB 8511 [4]), Stuttgart: Reclam 1988.

2 Giovanni Boccaccio, Tutte le opere IV: Decameron a cura di Vittore Branca, Milano: A. Mondatori 1976.

3 Peter Brockmeier, Lust und Herrschaft. Studien über gesellschaftliche Aspekte der Novellistik: Boccaccio, Sacchetti, Margarete von Navarra, Cervantes, Stuttgart: Metzler 1972.

4 Hans-Jörg Neuschäfer, Boccaccio und der Beginn der Novelle, München: W. Fink 1969; Kap. 1.

5 Introduction à la littérature fantastique, Paris: Seuil 1970.

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