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GISELA SACHS Meine Oma und ich

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Ich brauche dringend Urlaub, denke ich und reibe von den Kunden unbemerkt meine schmerzenden Knöchel unter der Kassentheke. Scheißjob. Er macht mir überhaupt keinen Spaß. Seit vor über fünf Jahren meine Bürostelle bei Knorr gestrichen wurde, mache ich diesen unterbezahlten Mist im Verkauf. Gut, ich hätte mit in die Hauptverwaltung nach Hamburg umziehen können – man bot mir das an. Aber was soll ich in Hamburg? Ich bin eine Schwabenpflanze, meine Wurzeln sind fest im Ländle verankert und ich fühle mich sauwohl in meinem Reihenmittelhaus, in unserer Spielstraße mit sechs Häusern, am Rande der schönen „Käthchenstadt“ Heilbronn. Noch sauwohler würde ich mich fühlen, hätte ich meinen Mann nicht an der Backe.

Am Wochenende werde ich zu meiner Oma nach Stuttgart fahren und mich wieder einmal richtig von ihr verwöhnen lassen, nehme ich mir vor, während mein Daumen sanft mein Sonnengeflecht umkreist. Der Vorweihnachtsverkauf ist Stress pur.

„Oma, kann ich am Wochenende zu dir kommen?“, frage ich per E-Mail, als gerade keine Kundschaft vor mir steht. Die Antwort meiner für Technik aufgeschlossenen Oma kommt postwendend. Sie freut sich auf mich, mailt sie zurück.

„Omilein?“

„Drucks net so rum, Mädle. Sag, was’d willsch.“

„Maultaschen mit Kartoffelsalat. Und was bereden.“

Plötzlich steht eine aufdringliche Kundin vor mir und räuspert sich. „Macht neun Euro dreißig. Dankeschön. Auf Wiedersehen.“

„Geht klar, Schätzle.“

Ich höre im Geiste das schallende Gelächter meiner Oma und sogleich füllt sich mein Bauch mit warmer Vorfreude. Gegessen habe ich heute noch nichts, bin wieder einmal allein in diesem Schuppen und komme nicht zum Pausemachen.

Meine Oma kocht, obwohl sie aus dem Rheinland stammt, vorzugsweise und vorzüglich schwäbische Hausmannskost:

Linse mit Spätzle und Saitenwürstle. Saure Nierle. Schupfnudeln mit Kraut. Schwäbischen Sauerbraten. Roschtbraten. Katzagschroi. Und dann jeden Freitag – Mauldäschle mit Kartoffelsalat. Man muss feste Bräuche haben, meint meine Oma, die vor über fünf Jahrzehnten der Liebe wegen nach Stuttgart gezogen und nach Opas Tod im Ländle geblieben ist.

Spontan entschließe ich mich, nach Ladenschluss gleich loszufahren, ich will nicht bis zum Wochenende warten. Die 57 Kilometer von Heilbronn nach Stuttgart schaffe ich, ohne etwas zu essen, denke ich. Die Uhrzeit allerdings ist äußerst ungünstig. Feierabendverkehr. Dieses Nadelöhr an der Einfahrt Feuerbach hat mich schon oft an den Rand der Verzweiflung gebracht. Und dann diese Parkplatzsuche in der Innenstadt Stuttgarts – meine Oma wohnt in der Nähe des Rotebühlplatzes.

Meinem Noch-Ehemann habe ich nichts von meinem Vorhaben erzählt. Wahrscheinlich bemerkt er nicht einmal, wenn ich von der Arbeit nicht nach Hause komme. Klausi scheint mit dem Fernseher verheiratet zu sein, behandelt mich seit vielen Jahren schon wie lebendes Inventar, lässt sich gehen, wird immer fetter, starrt in seiner Freizeit nur in die Glotze und stopft dabei Unmengen Kartoffelchips in sich hinein. Die Chipsreste kratzt er sich regelmäßig mit dem Zeigefinger aus seinem Gebiss. Mich schüttelt es vor Ekel bei diesem schabenden Geräusch und ich kratze oft die Kurve, gehe spazieren, um dieses Elend nicht ertragen zu müssen.

Ein paar Meter hinter unserem Haus liegt meine Kraftquelle – ein Naturschutzgebiet. Die glasklare Schozach schlängelt sich, umrahmt von Wiesen, Bäumen und Weinbergen, leise plätschernd durch das Tal, in dem sich „Fuchs und Hase gute Nacht sagen“. Ich entdecke immer wieder neue Vögel. Sogar einen Eisvogel habe ich hier schon gesichtet.

Endlich habe ich einen Parkplatz gefunden. Oma freut sich, dass ich heute schon da bin. Ich schütte ihr mein Herz aus.

Ich habe meinen Mann heiß und innig geliebt. Bis ich herausgefunden habe, dass er nicht der Besitzer unseres Hauses, der Mercedes nur geleast ist und es keine Erbtante in Amerika gibt. Schon ein paar Monate nach unserer Hochzeit stellte sich heraus, dass das Einzige, was Klausi wirklich besitzt, eine verschwiegene Lebensversicherung ist. Eine saftige Lebensversicherung! Diese hat er sich einmal im Suff aufschwätzen lassen und ich bin die Nutznießerin. Falls ihm einmal etwas passieren sollte …

Das erste Mal habe ich es mit Vergiften versucht, habe pürierten Fingerhut unter das Gemüse für seine Maultaschen gemischt. Er hätte die „Mauldäschle“ lieber angebacken und mit Kartoffelsalat gegessen, statt in der Brühe, hatte er gemeckert und mein frisch aufgelegtes Tischtuch vollgekleckert. Ich habe nichts darauf gesagt, ihn nur beobachtet. Es vergingen 5 Minuten. 10 Minuten. 15 Minuten. Dann endlich bekam er Bauchschmerzen. Krampfartige!

Klausi wurde schneeweiß im Gesicht. Schweißperlen tropften von seiner Stirn. Er guckte mich an wie ein Stier und verdrehte die Augen. Ich sah nur noch weiß. Keine Pupillen mehr. Jetzt ist es so weit, dachte ich. Aber Klausi kotzte nur wie ein Reiher. Der Kerl ist zäh wie ein windiger Hund. Schon ein paar Stunden später nahm er seine Arbeit als Landschaftsgärtner wieder auf. Er verschönert gerade den Wertwiesenpark – unser ehemaliges Landesgartenschaugelände von 1985.

Ich lasse mich von dem fehlgeschlagenen Mordversuch nicht entmutigen. Das Gespräch mit Oma hat mir neue Kraft gegeben. Sie ist jetzt wie immer über die Weihnachtsfeiertage bei uns und hat kurzerhand meinen Haushalt übernommen – und ich versuche noch einmal, etwas passieren zu lassen …

Mein Mann steht jeden Abend zur gleichen Zeit vor unserer Haustür und raucht ein paar Zigarettchen, beobachtet das Kommen und Gehen der Nachbarn. Vorzugsweise das der Nachbarinnen, und mit ganz großer Vorliebe das der ersten Bürgermeisterin von Heilbronn, die drei Häuser von uns entfernt wohnt. Von unserem Dachfenster hängen lange Eiszapfen. Direkt über ihm. Einer ist besonders lang, ähnelt einem Schwert. Wenn der herunterfällt, ist er hinüber, denke ich. Wie aber fällt so ein Eiszapfen zur richtigen Zeit auf den richtigen Kopf?

Die Lösung fällt mir beim Kochen ein. Ich schnappe meinen Bunsenbrenner, mit dem ich meine „Crema catalana“ karamellisiert habe, gehe auf unseren Dachboden, kämpfe mich durch Bretter, Kisten, Schachteln, Werkzeuge und Altkleider. Eine Maus huscht erschreckt vor mir davon und ich muss mich durch etliche Spinnweben kämpfen, bis ich endlich das mit Eisblumen verzierte Dachfenster öffnen kann. Der Eiszapfen sieht aus der Nähe gigantisch aus.

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster, genieße die Sichtweite bis zum Wasserturm nach Böckingen und streichele den Zapfen liebevoll, bevor ich das „Bunsenbrennerle“ darunterhalte.

„Wie glänzt er festlich, lieb und mild.

Das Auge lacht, es lacht das Herz.“

Tief unter mir steht mein Mann, der aller Wahrscheinlichkeit nach seine „letzte Zigarette“ raucht. Der „Diamantzapfen“ funkelt im milchigen Mondlicht.

„Ist bei euch alles in Ordnung?“, ruft plötzlich die Nachbarin rüber: „Es sieht aus, als ob es brennt.“

Und in diesem Moment löst sich der Zapfen und donnert ungebremst nach unten, streift meinen Mann aber nur seitlich am Kopf, weil der nach der Nachbarin guckt.

„Hoppla“, sagt der Dickschädel. „Das hätte aber anders ausgehen können“, geht ins Haus zurück und setzt sich wieder vor die Glotze.

Ich schleiche gerade die Speichertreppe herunter, als ich meine Oma laut in der Küche werkeln höre. Ich verstecke mich hinter dem Dielenschrank – habe ich doch noch das „Bunsenbrennerle“ in der Hand.

Meine Oma sieht mich nicht und trippelt an mir vorbei ins Wohnzimmer. Äußerst vorsichtig trägt sie in der rechten Hand meinen teuersten und besten Teller – das Hochzeitsgeschenk meines Chefs.

Der Teller ist beladen mit den Zimtsternen, die Oma von Stuttgart mitgebracht hat. Grüne Thujazweige und rote Weihnachtssternblätter verzieren den Tellerrand. Es sieht hübsch aus. Oma verwöhnt meinen Mann? Das ist auch noch nicht da gewesen. Ihre gegenseitige Abneigung ist die verlässlichste Sache der Welt. Meine Oma konnte Klausi noch nie leiden, riet mir ganz vehement von einer Hochzeit ab.

Omi macht Stopp vor Klausi, knallt den Teller mit den Zimtsternen auf unseren Glastisch, dass ich um beides bange, umklammert mit ihrer linken Hand krampfhaft eine Pistole.

„Die isch jetzt“, sagt Oma zu Klausi. „Odder ich schieß.“ Und hält ihm den Lauf der Pistole an die Stirn. Mein Mann guckt erst erstaunt, dann wird er blass. Schweißperlen benetzen seine Stirn. Angewidert isst er einen Zimtstern nach dem anderen, schaut sich dabei immer wieder Hilfe suchend um. Ich spähe erst ungläubig hinter dem Dielenschrank hervor und bringe dann ungesehen mein „Bunsenbrennerle“ in die Küche zurück.

Ein Rumpeln von draußen lässt mich aufhorchen. Ich spähe aus dem Küchenfenster, sehe zwei gepanzerte Mercedes-Benz S-Klasse, werde neugierig und stelle mich vor die Haustür. Promi-Besuch mit vier bewaffneten Leibwächtern bei der Bürgermeisterin. Aha!

Nicht nur bei mir zu Hause passiert Aufregendes. Gespannt spicke ich die kopfsteingepflasterte Straße entlang, ziehe genießerisch die klare Nachtluft durch meine Nase und bewundere unser weihnachtlich geschmücktes Häuschen. Klein, aber fein. Und hoffentlich bald mein. In unserem Vorgarten blinken die Solar-Sterne um die Wette. Unsere Haustür schmückt eine Girlande mit goldenen Schlaufen. Mein Blick fällt über unsere hell erleuchtete Fensterfront, bleibt an unserem Vorzeigefenster hängen – ein Traumland in weiß.

Schneemänner, Schneeflocken, ein weißer Schlitten mit zwei weißen Pferden, die Kutsche voller Engelchen in weißen Gewändern, daneben drei schneebedeckte Tannenbäume. Auf dem mittleren Baum sitzt eine Schnee-Eule im Wipfel. In der Ecke unten rechts sitzt ein weißer Hase und schnuffelt neugierig an den im Schnee liegenden Musikinstrumenten der Engelchen. Ich habe unzählige Schneekristalle aus weißem Filz über das ganze Fenster verteilt und unzählige Stunden an dieser Pracht gebastelt. Und bin stolz auf mich. Unser Häuschen ist das schönste weihnachtlich dekorierte Häuschen dieser Straße.

Friede zieht in mein Herz – bis mir wieder mein Ehemann einfällt, und ich bete ein flehendes „Ave Maria“. Danach spreche ich ein ernstes Wörtchen mit Gott: „Herr, ich weiß, dass ich ein Versprechen gegeben habe: ‚Bis dass der Tod euch scheidet.‘ Aber nur darauf zu warten, dauert einfach viel zu lange.“

Die Straße vor mir vibriert, ich höre rollendes Rumpeln.

„Deine Antwort kommt rasch, o Herr.“

Meine Augen wandern zum Himmel, können aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Sie wandern zu Erden nieder.

„Aha, der Minister geht schon wieder.

Verzeihe mir, Herr.“

Ich achte nicht auf die ungewohnten Geräusche hinter mir, hadere weiter mit dem Herrn im Himmel und merke nicht, wie die Zeit verstreicht.

Als ich ins Wohnzimmer komme, ist die leichenblasse Haut meines Mannes mit roten Quaddeln übersät. Er schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, fuchtelt wild mit den Händen, verdreht die Augen. Ich sehe nur noch weiß. Keine Pupillen mehr.

Jetzt kann ich wieder die Bröckele aus dem Teppich rauskratzen, denke ich. Aber dann fängt mein Mann an zu röcheln. Einmal kurz. Einmal lang, rutscht vom Sofa und bleibt reglos am Boden liegen.

„Denn henn mer ferr alle Zeite los. Der iss hinüber“, sagt meine Oma trocken. „Do kannsch jetz sehe, wass des fer oin Sekkel war, den du gheirat hosch. Isst oin Zimtstern nachem andre. Unn dess bei seiner Haselnussallergie. Oin Kopfschuss wär für den Bachel doch viel oagenehmer zum Sterwe gwä.“

Oma legt die Spielzeugpistole wieder zu den Faschingsutensilien in den Dielenschrank zurück, dreht sich zu mir um und sagt: „Awwer des mit de Lebensversicherung, Mädle, des woisch. Die geht halbe-halbe.“

Tod unterm Tannenbaum

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