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Neuluthertum
ОглавлениеNeue Kraft gewann im 19. Jahrhundert das Luthertum. Die Rückbesinnung auf Martin Luther und die Bekenntnisschriften der Reformation wird vielfach als Kehre gegen das Aufklärungschristentum und als Protestbewegung gegen die Unionspolitik der Herrscher in Preußen und in weiteren Territorien verstanden. Der Blick in die 95 Thesen des Kieler Pastors und späteren Propsts Claus Harms (1778–1855) zum Reformationsjubiläum 1817, die er seiner Neuedition von Luthers 95 Thesen beigab, scheint diese Perspektive zu bestätigen. Harms wandte sich in donnernden Worten sowohl gegen die Aufklärungsvernunft wie gegen die Union: „Wir haben ein festes Bibelwort, darauf zu achten, 2. Petr 1,19; und dass niemand uns dasselbe drehe gleich einem Wetterhahn, davor ist durch unsere symbolischen Bücher gesorgt“ (Johann Schmidt, Hg., Claus Harms. Ein Kirchenvater des 19. Jahrhunderts. Auswahl aus seinen Schriften, Gütersloh 1976, 66). Die 95 Thesen von Harms waren ein öffentlichkeitswirksames Fanal, nicht aber die Geburtsstunde des Neuluthertums, weder in Deutschland noch außerhalb seiner Grenzen. Die Hochschätzung von Luthers Theologie, zugleich die Betonung der Autorität von Heiliger Schrift und reformatorischem Bekenntnis, war ein ähnlich tief gestaffelter Vorgang wie die Entfaltung der Erweckungsbewegung. Die Wurzeln des Neuluthertums lagen in der altlutherischen Orthodoxie, die Keime im Weiterwirken des konfessionsbewussten Luthertums quer durch Pietismus und Aufklärung. Die lutherische Konfessionsbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts war schon eine Art von Blüte. Die Erweckungsbewegung trug zu ihrer Entfaltung bei.
Das Neuluthertum war keine nur theologische Bewegung. Hinter ihm standen handfeste kirchliche Realitäten. Auf der einen Seite war es der Widerspruch gegen die Kirchenunionspolitik der protestantischen Herrscherhäuser seit 1817, welcher das Luthertum zu neuem Selbstbewusstsein führte. Auf der anderen Seite blieben jene lutherischen Kirchen, in denen die Unionspolitik wegen der geringen Zahl der Reformierten nicht durchgeführt wurde, Heimstätten des Luthertums: Sachsen, Hannover, die beiden Mecklenburg, Bayern, Schleswig-Holstein. Außerhalb Deutschlands waren die skandinavischen Länder und die baltischen Ostseeprovinzen lutherisch. In Zentralrussland, Frankreich und Österreich verharrte das Luthertum ebenfalls in seiner konfessionellen Gestalt. In Nordamerika kräftigte sich das Luthertum vor allem durch die 1847 in Chicago gegründete Missouri-Synode, wenngleich es viele Spannungen und Spaltungen gab. Erster Präsident der Missouri-Synode war der aus Sachsen stammende Carl Ferdinand Wilhelm Walther (1811–1887). Walther stellte sich kompromisslos gegen jeden Unionismus und Synkretismus.
So vielfältig die Regionen und Traditionen des Luthertums waren, so vielgestaltig waren auch die theologischen Anliegen. Nur von außen mochte das Neuluthertum des 19. Jahrhunderts als einheitliche Größe erscheinen: durch seine Ausrichtung an den Normen von Schrift und Bekenntnis. Blickte man genauer hin, sah man Vielfalt. Strenge Konfessionalisten wie August Friedrich Christian Vilmar (1800–1868) in Hessen, der die vollständige Irrtumslosigkeit der Bekenntnisschriften betonte, bildeten eher die Ausnahme. Wirkmächtiger als Vilmars statutarisches Beharren auf dem Bekenntnisbuchstaben war die Verschmelzung der Bekenntnisbindung mit dem Entwicklungsgedanken. Die Erlanger Theologie, unter anderem vertreten von Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877), Franz Hermann Reinhold Frank (1827–1894) und Gottfried Thomasius (1802–1875), rechnete mit einem allmählichen Wachstum der Einsicht in die Offenbarungswahrheit. Der Entwicklungsgedanke konnte existenziell angelegt sein („erfahrungstheologisch“), er konnte sich auf den Zusammenklang von Heilsgeschichte und Geschichte beziehen („heilsgeschichtlich“) und er konnte sich in den Modellen der kirchlichen Lehrentwicklung niederschlagen („dogmengeschichtlich“). Der Erlanger Dogmenhistoriker Thomasius rechnete mit fünf historisch aufeinanderfolgenden Dogmenkreisen. Der fünfte, der neuzeitlich-protestantische Dogmenkreis, war Thomasius zufolge die Lehre von der Kirche. Die Ekklesiologie trat in den Mittelpunkt.
Nimmt man die Ekklesiologie, so eröffnete sich wiederum ein breites Spektrum. Eine einheitliche Ekklesiologie des Neuluthertums gab es nicht. Wilhelm Löhe (1808–1872), Pfarrer im fränkischen Neuendettelsau, sah in der lutherischen Kirche die „Brunnenstube der Wahrheit“, den einenden Mittelpunkt aller christlichen Teilkirchen von den Reformierten bis zu den Katholiken: „von ihren Wassern werden in allen anderen Kirchen die gesättigt, die gesättigt werden!“ (Gesammelte Werke Bd. 5/1, Neuendettelsau 1954, 135). In seiner Abendmahlslehre entfaltete Löhe ökumenische Visionen. Da er ein lutherisches Bekenntnis- und Amtsverständnis, welches den Wahrheitsansprüchen der nicht-lutherischen Kirchen Raum gab, ablehnte, wirkte dieser lutherische Ökumeniker wie ein Konfessionalist, der er nicht sein wollte. Eine problematische, von Luther wegführende Richtung schlug die Ekklesiologie im Verständnis des geistlichen Amtes ein. Löhe sah das geistliche Amt als sakramentale Institution. Das allgemeine Priestertum aller Gläubigen trat zurück. Die Gemeinde konstituierte sich aus dem geistlichen Amt. Ebenso argumentierten der hessische Lutheraner Vilmar und der in Berlin lehrende Jurist Friedrich Julius Stahl (1802–1861). Eine „hochkirchliche“ Stimmung war in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Neuluthertum weit verbreitet. In Schweden legte die „Svensk Kyrkotining“, herausgegeben von Theologen in Lund, die später teilweise Bischöfe wurden, davon Zeugnis ab. Die Betonung von Kirche, Bekenntnis und Amt war in Deutschland eine gesellschafts- und kirchenpolitische Antwort auf das Hineinregieren des weltlichen Arms in die Kirche, erst recht im Falle zunehmender Säkularisierung der Staatsinteressen. Forderungen nach Beendigung des Landesherrlichen Kirchenregiments gehörten deshalb ebenfalls zum Neuluthertum. Stahl wollte dem Staat nur noch die Kirchenhoheit zugestehen, nicht aber mehr das Kirchenregiment. Die Lehre vom Kirchenregiment der Obrigkeit sei „ohne alle Begründung. Sie beruht eben auf einer Vermengung von Kirchenpflege und Kirchenregiment“ (Friedrich Julius Stahl, Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten, Erlangen 21862, 215). War die Betonung des eigenständigen Amts- und Institutionscharakters der Kirche der richtige Weg? Einspruch gegen die amts- und institutionskirchliche Richtung erhoben Johann Wilhelm Friedrich Höfling (1802–1853) in Erlangen und Theodor Kliefoth (1810–1895) in Schwerin. Höfling verstand unter Kirche die Gemeinde der Gläubigen und vertrat so ein Konzept von Gemeindekirche. Kliefoth hingegen entwickelte ein integratives Konzept der Volkskirche. Dem Lehramt komme die Verwaltung der Gnadenmittel zu, dem Gemeindeamt das allgemeine Priestertum, dem Leitungsamt das Kirchenregiment.
Mit dem Neuluthertum verbanden sich lutherische Sammlungsbewegungen. 1841 bildete sich nach heftigen Kämpfen gegen die staatliche Kirchenpolitik in Breslau eine von der Unionskirche unabhängige lutherische Kirche in Preußen. In anderen deutschen Ländern vermehrten sich die Separationen, besonders in Baden, Nassau, Waldeck, Hessen-Darmstadt und Rheinbayern. Dort entstanden selbständige lutherische Gemeinden. Zumeist schlossen sie sich dem Breslauer Verband an. 1849 trat auf dem zweiten Wittenberger Kirchentag ein lutherischer Gesamtverein ins Leben. In Leipzig fand am 1./2. Juli 1868 eine Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz statt. Sie wollte den lutherischen Partikularismus überwinden und eine lutherische Gesamtkirche schaffen. Literarische Organe des Neuluthertums waren unter anderem die von 1838 bis 1876 erschienene „Zeitschrift für Protestantismus und Kirche“, die seit 1854 erscheinende „Kirchliche Zeitschrift“ und die „Allgemeine evangelisch-lutherische Kirchenzeitung“ aus den Jahren nach 1868.