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Einleitung Reinhard Lelgemann/Jörn Müller

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Der vorliegende Band versammelt die Beiträge zu einer internationalen Tagung, die unter dem Titel dieses Buches vom 28.–29. Juni 2017 in Würzburg abgehalten wurde. Diese Konferenz war bewusst interdisziplinär gestaltet: Philosophie und Sonderpädagogik sollten über die Disziplingrenzen hinweg miteinander in ein intensives Gespräch über grundlegende normative Fragen im Umgang mit schwerstbehinderten Menschen kommen. Zentrale Leitfragen lauteten dabei: Wie kann man den Rechten von Menschen mit komplexen Behinderungen auf Förderung und Inklusion innerhalb einer demokratischen Gesellschaft angemessen Rechnung tragen? Und auf welcher moralphilosophischen Basis lassen sich diese Ansprüche überzeugend begründen und explizieren?

Nun ist ‚Interdisziplinarität‘ ein oft proklamiertes und dennoch selten erreichtes Ziel in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Landschaft. In der Rhetorik von Forschungsanträgen ist sie zwar nahezu omnipräsent, aber in der Praxis schlägt sie sich oft nur oberflächlich nieder. Denn der Trend in den Wissenschaften geht auch innerhalb der einzelnen Disziplinen insgesamt eher zu einer immer feingliedrigeren Spezialisierung, so dass selbst Fachkolleginnen und -kollegen ein und derselben Disziplin oft unterschiedliche diskursive Milchstraßen bevölkern, die Lichtjahre voneinander entfernt zu liegen scheinen. Meist fehlt es schon am gemeinsamen Vokabular, auf das man sich verständigen könnte. Umso schwerer wirkt in einer solchen – wohlwollend formuliert: hochspezialisierten und arbeitsteiligen – Forschungswelt dann der ambitionierte Blick über den disziplinären Tellerrand hinaus. Für das Gelingen eines interdisziplinären Unternehmens ist es deshalb von zentraler Bedeutung, dass die daran beteiligten Fächer und Personen eine genuine Schnittmenge ihrer Interessen identifizieren können, einen wirklich gemeinsamen Gegenstand, über den sie sich gewinnbringend austauschen können. Ebenso wichtig ist es, dass man sich vorher darüber klar wird bzw. verständigt, worin denn das wechselseitige Surplus eines Austauschs über einen solchen Gegenstand im konkreten Fall besteht: Was versprechen sich die Beteiligten eigentlich davon, mit der jeweils anderen Disziplin ins Gespräch zu kommen?

Dazu bedarf es nicht nur eines gemeinsamen Gegenstands, sondern auch geteilter wissenschaftlicher Referenzpunkte. In Blick auf das Gespräch von Philosophie und Sonderpädagogik ist eine solche Konvergenz von Interessen und Perspektiven im ‚Fähigkeitenansatz‘ (Capabilities Approach) von Martha Nussbaum zu verorten. Dieses Konzept spielt nicht nur seit mittlerweile fast drei Jahrzehnten eine gewichtige Rolle in den Diskussionen der praktischen Philosophie (und zwar auch und gerade in seiner stetigen Weiterentwicklung), sondern es ist insbesondere in den letzten Jahren auch intensiv in der Sonderpädagogik rezipiert und diskutiert worden. Es eignet sich deshalb in besonderem Maße als eine Art Anker, den die beiden Disziplinen gemeinsam auswerfen können. Dieses Konzept bildete deshalb einen wichtigen thematischen Fokus der Diskussionen unserer Tagung, bei der Martha Nussbaum durchgängig anwesend war und an der sie sich nicht nur in Form eines in diesem Band abgedruckten Abendvortrags, sondern auch in zahlreichen Fragen und Interventionen eingebracht hat.

Gemäß den oben angestellten Überlegungen sollen deshalb im Folgenden seitens der beiden beteiligten Disziplinen zuerst einige spezifische Erwartungshaltungen an ihre Kooperation ausgelotet werden; dabei wird es nicht zuletzt auch darum gehen, das thematische Feld der nachfolgenden Beiträge genauer abzustecken (Teile 1 und 2). Insofern der Fähigkeitenansatz von Martha Nussbaum die Basis für die gemeinsamen Erörterungen bildet, soll er einleitend zumindest in groben Zügen skizziert und in seiner besonderen Relevanz für die zu diskutierenden normativen Fragen ausgewiesen werden (Teil 3). Daran schließt sich eine kurze Beschreibung der publizierten Beiträge an, in der auch einige rote Fäden für die übergreifende Thematik ausgelegt werden sollen (Teil 4).

1. Philosophische Perspektiven: Das Spannungsfeld von Universalität und Individualität

Was verspricht man sich als Philosoph eigentlich von einem Austausch mit der Sonderpädagogik? Zur Beantwortung dieser Frage erscheint zuerst einmal eine – zugegebenermaßen recht holzschnittartige – Charakterisierung der Philosophie als Disziplin hilfreich: Philosophen sind in der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft wohl am ehesten ‚Spezialisten für’s Allgemeine‘. Die Idee, das zu erkunden, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘, als ganze und nicht bloß in ihren einzelnen Erscheinungsformen, ist trotz vieler Abgesänge und Transformationen innerhalb der philosophischen Forschung keineswegs vollständig verabschiedet: Philosophie strebt gerade in der Komplexität moderner Lebenswelten immer noch nach allgemeinen Begriffen und Modellen, die sozusagen ‚auf’s Ganze gehen‘.

Aber die rasante Entwicklung der verschiedenen fachlichen Wissensgebiete zeigt, dass die Philosophie in diesem Unterfangen nicht nur aus eigenen Quellen des Denkens zu schöpfen vermag, sondern sich einzulassen hat auf das Besondere, ja manchmal sogar: das Singuläre, wie es auch in anderen Disziplinen zur Diskussion steht. Die Philosophie hat sich im 20. Jahrhundert im Wissenschaftsgefüge, in Abwandlung einer Formel von Jürgen Habermas, zunehmend zu einer ‚reaktiven Disziplin‘ entwickelt.1 Das heißt unter anderem Folgendes: Allgemeine Theorien entstehen in der Philosophie mittlerweile oft aus der genauen Beobachtung und Analyse einzelner Vorgänge, wie sie auch in anderen Disziplinen erfolgt; als ein Beispiel unter vielen möglichen sei hier nur die Phänomenologie der Wahrnehmung von Maurice Merleau-Ponty genannt. Ebenso sehr müssen sich philosophische Hypothesen an besonderen Fällen bewähren, die in der Konstitution der Theorie ursprünglich vielleicht gar nicht im Blick waren. Das gilt insbesondere in der praktischen Philosophie, dem Gebiet also, das seit Aristoteles traditionell die Ethik und die Politik umfasst. Hier geht es nicht um Fragen des Seins, sondern um solche des Sollens, also um normative Probleme. Für jede normative Theorie stellt sich aber die Frage, wie weit ihre Prinzipien reichen, und d.h. unter anderem auch: wer unter sie fällt. Anders gesagt bzw. gefragt: Welche Personen sind von einer normativen Theorie betroffen, und in welcher Weise?

Und hier kommt nun – unter anderem, aber zweifelsfrei in spezifischer Weise – die Sonderpädagogik ins Spiel. Schon deren Name zeigt an, dass sie es mit Speziellem zu tun hat, oder besser: dass im Mittelpunkt ihres Interesses besondere Menschen stehen, die prima facie den Kategorien des Normalen – und auch in diesem Wort steckt eben der ebenso deskriptive wie präskriptive Begriff der ‚Norm‘2 – nicht so ohne weiteres entsprechen. Aber was impliziert die Existenz solcher Menschen nun für die praktische Philosophie? Entwirft sie ihre Normen erst einmal, in möglichst allgemeiner Manier, sozusagen für die ‚Normalen‘, und schaut sich die vermeintlichen Grenzfälle und deren mögliche Belange bzw. Ansprüche erst später an?

Martha Nussbaum spricht in ihrem ersten in diesem Band publizierten Beitrag zur Thematik von einer zweifachen Herausforderung, die Menschen mit massiven kognitiven Einschränkungen an philosophische Theorien der Gerechtigkeit stellen: Die direkte Herausforderung besteht darin, bei der Entwicklung solcher Konzeptionen die besonderen Bedürfnisse dieser Menschen in adäquater Weise zu berücksichtigen – und damit auch konkrete normative Richtlinien für die Gestaltung der Gesellschaft und Politik in Hinblick auf sie zu formulieren. Hier sind diese Menschen in der Phase der Formation einer Theorie gewissermaßen ‚mit an Bord‘ oder sogar schon von Anfang an im Fokus.

Die indirekte Herausforderung bezieht sich auf schon bestehende, sozusagen traditionelle Theorien wie etwa den Utilitarismus, die kantische Pflichtenethik oder die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. Hier ist dann zu fragen, wie diese Konzeptionen mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung umgehen: Inwieweit ermöglichen es ihre Prinzipien, die normativen Ansprüche von solchen Personen einzuholen und in gesellschaftliche Wirklichkeit zu überführen? Würde man als geistig schwerbehinderter Mensch lieber in einer Gesellschaft leben wollen, die sich am utilitaristischen Nützlichkeitsprinzip, am Kategorischen Imperativ oder an den Gerechtigkeitsprinzipien von John Rawls orientiert? Nussbaum betrachtet die Fähigkeit allgemeiner Prinzipien, mit dieser Problematik der normativen Bedeutung von geistig schwerbehinderten Menschen und ihren Ansprüchen und Belangen umzugehen, als ein philosophisches Qualitätskriterium bzw. als ein Gütesiegel: Je mehr Schwierigkeiten eine allgemeine Theorie mit diesen besonderen Ansprüchen hat, desto fragwürdiger kann sie erscheinen, bzw. desto mehr hat sie Anlass dazu, an ihren normativen Grundlagen weiter zu arbeiten – und zwar mit Blick auf die besonderen Menschen, die sie bisher ausgeblendet oder unbefriedigend berücksichtigt hat (vgl. Nussbaum 2010a, Kap. II-III).

Dass philosophische Konzeptionen das nicht angemessen leisten können, ohne in einen intensiven Dialog mit denjenigen zu treten, die sich mit diesen Menschen wissenschaftlich und praktisch beschäftigen, ist mehr als naheliegend. Die ‚Spezialisten für’s Allgemeine‘ müssen auf die ‚Spezialisten für die Besonderen‘ zugehen, wenn sie ihren eigenen Anspruch einlösen wollen, nämlich: normative Theorien von wirklich umfassender Gültigkeit zu entwerfen, die alle Betroffenen einschließen. Dies erfordert eine Konkretion des theoretischen Blicks, v.a. auf das Einzelne hin. Es ist eine déformation professionelle von Philosophen, auch im Bereich des Besonderen möglichst schnell wieder zu den geliebten allgemeinen Kategorien überzuschwenken und statt von Individuen von ‚Fällen‘ oder von ‚Gruppen‘ zu sprechen, also etwa von körperlichen Behinderungen im Unterschied zu geistigen Behinderungen, oder von Asperger im Unterschied zum Down-Syndrom. Bis zu einem gewissen Grade lässt sich das sicherlich nicht vermeiden, zumal in einem wissenschaftlichen Diskurs. Dennoch muss man hier zweifelsfrei vorsichtig sein, nicht über den begrifflichen Schemata die individuellen Persönlichkeiten, die man darunter subsumiert, gänzlich aus dem Blick zu verlieren.

Das ist nicht nur durch eine Kultur der Achtsamkeit geboten, sondern auch unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt. Das philosophisch Allgemeine ist in der praktischen Philosophie, wie Martha Nussbaum richtig betont hat, gar nicht ohne Bezug auf das Besondere und Individuelle zu eruieren (vgl. Nussbaum 2000a). Inwiefern sie das in ihrer eigenen Theorie umgesetzt hat, soll später in Teil 3 noch ausführlicher konturiert werden. Zuvor bedarf es allerdings einer Spezifikation der anderen Seite dieser interdisziplinären Kooperation, also der Konkretion der sonderpädagogischen Sicht auf unsere gemeinsame Thematik.

2. Sonderpädagogische Perspektiven: Im Spannungsfeld von Spezialisierung, Individualisierung und Universalität

Traditionell versteht sich die Sonderpädagogik in weiten Teilen vor allem als Schulpädagogik und sieht sich als Advokat unterschiedlich behinderter Menschen. Wie in der Geschichte vieler anderer pädagogischen Teildisziplinen so wurde auch in der Sonderpädagogik dem Menschen, hier dem behinderten Menschen, häufig abgesprochen, sich selbst zu vertreten und zum Subjekt seiner Geschichte zu werden; zudem wurden Menschen in bildungsfähige und nicht der Bildung fähige Personen unterschieden (nicht zuletzt beim auf diesem Symposium im Fokus stehenden Personenkreis der Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen). Viel Energie wurde darauf verwandt, die Besonderheit des behinderten Menschen zu beschreiben, und zahlreiche Fachvertreter waren in den achtziger Jahren überrascht, dass dieses Betonen der Besonderheit nicht nur zur Stigmatisierung beitrug, sondern dass letztlich auch die Gefahr bestand, insbesondere in einem bio-ethischen Kontext dazu beizutragen, das Lebensrecht des Personenkreises in Frage zu stellen. Nicht staatlicherseits erzwungen, sondern subtil angeboten.

Im sonderpädagogischen Fachgebiet der Körperbehindertenpädagogik lässt sich diese Entwicklung beispielhaft nachvollziehen. Die Wahrnehmung des Ausschlusses von gesellschaftlicher Teilhabe auf Seiten körper- und mehrfachbehinderter Menschen führte vor gut 100 Jahren zur Entwicklung pädagogischer, beruflicher und berufsbildender Angebote. Die hierfür oftmals notwendigen spezifischen Angebote wurden selbst von Selbsthilfevertretern mit der Besonderheit, ja Andersartigkeit körperbehinderter Menschen begründet, und gleichzeitig erfolgte eine Abgrenzung von den noch schwerer behinderten, den sogenannten Siechen. Als im Verlauf des fachwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurses in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend deutlich wurde, dass diese Be- und Zuschreibungen Lebensperspektiven eher verwehrten, wurde eine interaktional-soziale, gesellschaftliche Perspektive relevant, die es ermöglichte, Behinderungen in ihrer Wirkmächtigkeit zu verstehen, und es begann eine Phase, in der letztlich diese Perspektive als ausschließlich relevant für die Entstehung körperlicher Behinderung beschrieben wurde. Dass dabei verloren ging, die spezifischen Beeinträchtigungen und die sich daraus ergebenden besonderen Unterstützungsbedürfnisse differenziert beschreiben zu können, die eben auch in den körperlichen Strukturen der einzelnen Person begründet sein können, wurde in Kauf genommen. Leitgedanke dieses Verständnisses war und ist bis heute das Motto der Aktion Mensch aus den 90er Jahren: „Behindert ist man nicht, behindert wird man!“

Andreas Kuhlmann machte bereits im Jahr 2001 darauf aufmerksam, wie problematisch es ist, wenn man ausschließlich die interaktionale Perspektive einnimmt und „zugleich Schmerzen […] und eingeschränkte Entfaltungsmöglichkeiten geleugnet werden“ (Kuhlmann 2001, 47). Auch Tom Shakespeare, ein Vertreter der englischen Behindertenbewegung, wies vor zehn Jahren darauf hin, dass eine vornehmlich gesellschaftliche Perspektive nicht hilft, die Lebenssituation körperbehinderter Menschen zu verstehen, indem er feststellte: „But even in the absence of social barriers or oppression, it would still be problematic to have an impairment, because many impairments are limiting or difficult, not neutral.“ (Shakespeare 2007, 41) Ein spezialisierter Blick auf die Beeinträchtigung allein ist also zu wenig, aber ohne diesen besonderen Blick besteht die Gefahr, dass die konkreten Menschen mit ihren individuellen Unterstützungsbedarfen ebenfalls aus dem Blick geraten.

Die International Classification of Functioning, Disability and Health kann heute als grundlegende Möglichkeit der Verständigung über Behinderung und ebenso über körperliche Behinderung begriffen werden, indem sie auf die Vielfältigkeit relevanter Faktoren hinweist und nicht nur eine Perspektive, in der Gegenwart eben eine interaktionale, präferiert. Diese Dimension, so wichtig sie ist, scheint aber erneut zu dominieren, wenn die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung interpretiert wird. So gilt es nicht nur im Fachgebiet der Körperbehindertenpädagogik inzwischen als selbstverständlich, dass von einer Behinderung nur gesprochen werden soll, wenn die Entfaltung der Persönlichkeit durch externe Faktoren, wie z.B. den Stand der Gesetzgebung, gesellschaftliche Vorurteile oder den gering entwickelten Stand der Rehabilitationstechnik gehemmt wird. Wie aber beschreiben wir die Behinderung durch den nicht zielgerichtet nutzbaren eigenen Körper? Im Fall einer körperlichen Behinderung könnte der folgende Vorschlag weiterführen:

Als körperbehindert wird eine Person bezeichnet, die infolge einer medizinisch beschreibbaren Schädigung oder einer chronischen Krankheit so in ihren Verhaltensmöglichkeiten beeinträchtigt ist, dass individuelle Tätigkeiten und die Selbstverwirklichung in sozialer Interaktion erschwert sind. Die Relevanz der körperlichen Behinderung wird zudem davon beeinflusst, welche Aktivitäts- sowie Partizipationsmöglichkeiten und -erschwernisse in einer Gesellschaft gegeben sind. (Lelgemann 2015, 624)

Damit ist der Versuch unternommen, die déformation professionelle dieses Fachgebiets, hier der Körperbehindertenpädagogik, zu überwinden, auf die bereits Kuhlmann und Shakespeare hingewiesen haben, die aber in der heil-, sonder- sowie inklusionspädagogischen Diskussion kaum zur Kenntnis genommen wurde und wird, und stattdessen offen zu sein für unterschiedliche Lebenserfahrungen von Menschen mit körperlichen und komplexen Beeinträchtigungen.

Mit dem Verweis auf Shakespeare soll auf eine weitere Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte hingewiesen werden. Die Sonderpädagogik im deutschsprachigen Raum ist seit einigen Jahren in einen fachlichen Diskurs mit Vertretern der Disability Studies getreten und hat z.B. die Erkenntnisse der Disability Studies sowie die konkreten Einstellungen behinderter Menschen selbst in ihren Forschungen aufgenommen (vgl. Dederich 2007). In diesem Sinne versteht sich dieser Band als Angebot, den Diskurs zwischen Philosophinnen und Philosophen sowie Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen aus der Wissenschaft, praktisch tätigen Institutionen und Selbsthilfeinitiativen zu vertiefen und die Chance zu einer Diskussion über die Bedeutung des Capabilities Approach von Martha Nussbaum für die fachliche, interdisziplinäre Diskussion und konkrete Praxis zu nutzen. In diesem Rahmen soll ebenso reflektiert werden, ob nicht doch ein wesentlich stärker an den einzelnen Lebenssituationen orientierter philosophischer Zugang, der zudem die gesellschaftlichen Bedingungen analysieren können sollte, notwendig ist, und ob die Bedeutung einer universalen Theorie nicht doch eher begrenzt sein könnte.

Der Personenkreis der Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen umfasst eine ausgesprochen heterogene Gruppe, die zu Beginn eines solchen Bandes etwas genauer beschrieben werden soll, obwohl sie doch nur schwer beschrieben werden kann. Es fällt auf, dass für diesen Personenkreis zahlreiche weitere Begriffe statt des hier verwendeten Begriffs ‚komplexe Beeinträchtigung‘, wie zum Beispiel ‚Menschen mit schwersten Behinderungen‘ oder ‚mit hohem Unterstützungsbedarf‘, genutzt werden. Fröhlich verweist darauf, dass der Begriff „schwerste Behinderung […] als Steigerungsform der schweren Behinderung [gebraucht wird, dieser aber, R.L.] häufig genug die subjektive Empfindung desjenigen [ausdrückt, R.L.], der einem solchen Menschen gegenübertritt“ (Fröhlich 2014, 379). Fornefeld (2016, 223) geht davon aus, dass der Begriff der komplexen Behinderung „immer eine schwere Form der Mehrfachbehinderung, ein komplexes Gefüge aus verschiedenen Behinderungsformen: schwere kognitive Beeinträchtigungen, die mit standardisierten Tests nicht zu erfassen sind, sensomotorische Dysfunktionen sowie gravierende sensorische Einschränkungen [meint, R.L.]. Die Komorbidität ist bei dieser Personengruppe hoch. Meist verfügen Menschen mit schwerer Behinderung über keine Verbalsprache und ihre Kompetenzen im Bereich der rezeptiven Sprache sind schwer einzuschätzen.“ Hierzu zählen aber ebenso häufig „Menschen mit schwerer Autismus-Spektrumsstörung, mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen, Menschen mit selbst- und fremdverletzendem Verhalten, ohne ausreichende Verbalsprache oder alte Menschen mit dementiellen Erkrankungen u.a. m.“ (Fornefeld 2016, 222). Dementsprechend verfügen sie zumeist nur über kommunikative Fähigkeiten im Rahmen prä-intentionaler Kompetenzen und nichtsymbolischer Kommunikationsformen, selten über intentionale Kompetenzen und vorsymbolische Kommunikationsformen (vgl. Weid-Goldschmidt 2013, 16ff.).

„Was diese äußerst heterogene Personengruppe miteinander verbindet, ist ihre Marginalisierung im Bildungs- und Versorgungssystem […] sowie die Komplexität in ihren Lebensbedingungen.“ (Fornefeld 2016, 224) Fröhlich macht auf einen weiteren bedeutsamen Aspekt aufmerksam, wenn er angesichts der oftmals prekären Lebensbedingungen des Personenkreises darauf hinweist, „dass wir es mit ‚Überlebenden‘ zu tun haben. Es sind Menschen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit tief traumatisiert sind.“ (Fröhlich 2014, 381)

Menschen mit schwersten Behinderungen [brauchen, R.L.] einen […] verlässlichen dauerhaften und passenden Platz zum Leben. Es kann sich dabei nicht nur um Therapie, um Lernen, um Arbeiten handeln, sondern das ganze Leben muss mitgedacht werden. Zum Leben gehört auch das Sterben. Auch dafür braucht es einen Platz, einen Platz in unserem Herzen, aber auch konkrete Räume, konkrete Menschen, die einen sehr schwerbehinderten Menschen begleiten, soweit ein Mensch begleiten kann. (Fröhlich 2014, 383)

Dieses advokatorische Handeln und Einstehen ist auch in der aktuellen Diskussion über Inklusion nicht selbstverständlich gegeben, und so verweist Fröhlich darauf, dass auffällt, „dass die besonderen Bedürfnisse dieser Personengruppe (selbst inder UN-BRK) tatsächlich auch nicht angedeutet werden, was darauf schließen lässt, dass sie möglicherweise in der Fülle der beteiligten Interessen bei der Erstellung der UN-Konvention untergegangen sind“ (Fröhlich 2014, 380).

Beschreibungen können immer nur Annäherungen sein, Versuche, sich einem Menschen zu nähern, der in einer ungewöhnlichen Situation lebt, der allein durch sein So-Sein zwischenmenschliche Selbstverständlichkeiten in Frage stellt, der uns unsere eigene Unsicherheit deutlich vor Augen führt und leibhaftig spüren lässt. Dies gilt nicht nur für Menschen, die von Geburt an stark beeinträchtigt sind, es gilt auch für Menschen, die sich aufgrund von Erkrankungen nicht hin zur mehr oder weniger autonomen Persönlichkeit entwickeln, sondern auf nicht verstehbare Weise weg von diesem uns doch alle prägenden Ideal. Diese Erfahrung gilt auch für alte Menschen oder für Personen, die durch traumatische Erlebnisse grundlegend in ihrer Lebensgestaltung abhängig geworden sind von Menschen, die sich einfühlen, die konkret und wohltuend Unterstützung leisten.

Eine derart grundlegende Unsicherheit, ja Verunsicherung, führte in einer historischen Perspektive zur Missachtung bis hin zur Vernichtung im Nationalsozialismus und zu den Entwicklungen in der DDR und der Bundesrepublik, in denen bis in die achtziger Jahre hinein das Bildungsrecht verweigert und staatliche Unterstützung mühsam erkämpft wurde. Erst zu Beginn bis Mitte der achtziger Jahre wurde das Bildungsrecht dieses Personenkreises durchgesetzt.

Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf verunsichern, hinterfragen, werden vergessen, abgedrängt, ausgegrenzt und werden selbst in der Gegenwart wenig beachtet oder als Belastung erlebt – von anderen Menschen, Gruppen, Institutionen und Instanzen:

– Da wurde Eltern bei einer Erstdiagnose vor wenigen Jahren noch immer geraten, ein Kind gleich in ein Hospiz zu geben;

– selbst einzelne Vertreter der Selbsthilfebewegung erwähnen diesen Personenkreis in öffentlichen Diskussionen nicht;

– oder Staaten mit sogenannten inklusiven Bildungssystemen berücksichtigen den Personenkreis in Verordnungen nicht, delegieren Verantwortung an einzelne Schulen und Eltern, ohne die Qualität der pädagogischen Arbeit im Einzelnen zu evaluieren;

– und immer noch wird stillschweigend erwartet, dass vor allem Mütter, ebenso aber Väter und Geschwister die Aufgaben der Begleitung, Pflege und Versorgung selbstverständlich ein Leben lang übernehmen werden.

Im Winter 2016/17 erfuhr einer der beiden Herausgeber im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Bildungssituation junger Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in Norwegen und Finnland, dass unter diesem Personenkreis auch gehörlose Menschen verstanden wurden, die keine weitere Beeinträchtigung aufweisen, sowie schwer körperbehinderte Menschen, die in hohem Maße technische oder personelle Unterstützung benötigten, aber einen Arbeitsplatz in einem Industriebetrieb ausüben konnten. Deshalb erscheint es trotz der bereits vorgestellten Definition zur Verständigung über den hier angesprochenen Personenkreis sinnvoll, vier Menschen beispielhaft vorzustellen, damit die Leser eine Vorstellung teilen können, über wen bzw. über wessen Lebenssituation auf dieser Tagung reflektiert wurde und hier wird.

Caroline Heinelt


Für mich ist meine Behinderung normal, weil ich mich gar nicht anders kenne und erlebe. Ich habe das große Glück, dass mein Leben doch sehr normal verlaufen ist: integrativer Kindergarten, dann Schule im Zentrum für körperbehinderte Menschen und jetzt arbeite ich in den Mainfränkischen Werkstätten in einer guten Arbeitsgruppe am Computer.

Der Computer ist für mich manchmal schon auch die Verbindung zur Außenwelt – ich kann skypen und mailen und mein Hometrainer (mein Fahrrad) ist für mich die Möglichkeit, in Gedanken um die Welt zu fahren. Ich bin in 3 Jahren über 6000 Kilometer gefahren, bin also jetzt Höhe Südafrika. Übrigens, wenn mich jemand fragt, was ich wünsche: Ich wünsche mir nicht, dass ich laufen kann – ich habe einen tollen E-Stuhl, ich wünsche mir, alleine essen zu können. Das nervt mich manchmal, und wenn meine Mutter strickt, beneide ich sie auch.

Frau Heinelt ist 34 Jahre alt, lebt in einer Wohngruppe und hat zwei Geschwister, die dem Herausgeber vor dem Besuch geschrieben haben und die Bedeutung Carolines für die Familie schilderten. Die Familie trifft sich am Wochenende und alle betonen die Alltäglichkeit des Zusammenlebens, die den Eltern ausgesprochen wichtig ist. Das bedeutet: Man feiert gemeinsam, erholt sich, streitet und verträgt sich.

Auch die Eltern betonen die Selbstverständlichkeit des Zusammenlebens, selbst wenn dieses am Anfang, nach der Geburt und der Diagnostik einer Athetose, einer Dysarthrie und manch weiterer Beeinträchtigung, erst einmal viele Herausforderungen beinhaltete.

Herr Heinelt, der Vater, fragt sich zudem:

Wie lange können wir die Pflege an den Wochenenden, wenn Caroline die Familie besucht, noch leisten? Sollen wir pflegen, bis wir selbst Hilfe brauchen? Beschneiden wir vielleicht auch Carolines Selbständigkeit durch den regelmäßigen Kontakt an den Wochenenden? … und was wird aus meinen eigenen Träumen und Vorhaben, die ich aus Zeitgründen (anstrengendes und zeitintensives Arbeitsleben) nach hinten verschoben habe?

Dario Hardt

Einer der Herausgeber lernte Dario einige Wochen vor der Tagung bei einem Besuch seiner Eltern kennen. Dario ist acht Jahre alt. Er sitzt in der Nähe seiner Eltern auf der sommerlichen Terrasse, beobachtet ihn genau, ist freundlich und interessiert – hat aber vor allem Appetit auf Erdbeeren. Er kann nicht sprechen, sich aber durchaus deutlich ausdrücken. Das Kommunikationsgerät passt nicht neben die Erdbeeren. Er hört die Nachbarkinder und es zieht ihn auf die Straße.


Dario und seine Eltern leben mit dem Sandhoff-Syndrom ihr gemeinsames Leben lang. Es wurde aber erst im Alter von über drei Jahren bei Dario diagnostiziert. Vorher hatte die Mutter ein ungutes Gefühl. In dieser Zeit wurde ihr deutlich gemacht, dass sie nicht so kritisch sein und ihr Kind so nehmen soll, wie es ist, obwohl er nicht krabbelte, nicht sitzen konnte und würgte, wenn das Essen eine unterschiedliche Konsistenz hatte. Als schließlich die Diagnose gestellt wurde, riet man ihr im gleichen Gespräch, mit ihm in ein Hospiz zu gehen. Da die Eltern nicht wussten, dass es auch Kinderhospize gibt, in denen Kind und Eltern für einige Zeit ein wenig zur Ruhe finden können, verstanden sie diesen Hinweis so, dass Dario nun bald sterben würde.

Niemand weiß, wie alt Dario werden wird, und die Eltern waren in der ersten Zeit nach der Diagnose sehr verunsichert. Doch ist es ihnen aus dieser Situation heraus gelungen, die Selbsthilfegruppe ‚Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff‘ zu gründen, um Eltern ihre eigenen Erfahrungen der Unsicherheit und des Bangens ein wenig zu ersparen, sie zu begleiten und zu beraten, zudem Forschungen und insbesondere die Suche nach Therapien zu ermöglichen.

Zum Ende des Gesprächs geht Dario mit seiner Mutter auf die Straße zu den Nachbarskindern, die er bereits aus dem Kindergarten kennt, während der Vater dem Besucher noch einige Informationen gibt. Gleichzeitig hört er Willkommensrufe und sieht schließlich ein glückliches Kind, auch wenn er nicht alleine laufen und sprechen kann. Glück sind halt nicht nur Eltern, sondern auch Freunde …

Ida Westberg

This is Ida. She lives in Finsness in the north of Norway. She is twenty years old, and grew up with 3 siblings. We have been an active family, and fortunately we wanted to live a normal life, and not look at ourselves as a handicapped family. Of course, there was a lot to handle for us, as parents. Her medical situation, and a body which needed treatment, training and helping remedials. At the age of 4, Ida started in kindergarden. Nothing came by itself, we had to work for it, but kindergarden and school became very important for her development, and her life. She had all her training there, and she was just Ida at home.


It was important for us to have a school (called Base) in the school. Ida, and some others with severe disabilities, had their Base with people who knew them well. She got her training and special lessons there, and she was among the other pupils whenever she could. They were all around her, and the other pupils were often in the Base. Ida was among normalfunctioned children, and they learned to be with, understand and accept the differences among them. Today Ida has finished school (13 years), and she is in daycare, and work (day-center), every day. She is still in training, and will hopefully get special lessons in maths, reading and writing. She lives with her mother and brother, but will have her own place one day. The picture shows Ida like the person she is. Real happy! Real good, but also real sad or angry. Everything is real. She loves all who gives her kindness and interest. She knows a lot of people, and she gives everyone a hug. The persons who work with her are very important in her life. She will never say something wrong about anyone, she is funny, she is the family speaker in all situations, she is honest. She loves her pc and ipad. She listens to music and e-books. She has a boyfriend, it’s fantastic to see how important he is for her. Her doll always has to be with her. She uses her telephone, and calls us as much as she likes. She needs mummys goodnight song every night. Her diagnosis is moderate retarded, eplepsi, hypoton, scoliosis, brain damage which effects her eyes and body, a syndrom which has no name. The rolling chair is her legs. And we love her! Her siblings tell us she is the most important person for them, and she will always be the center of the family ! I have always said, and now she says it herself: If everyone was like her, the world would be a better place for everyone! Mamma (aus einem Brief der Mutter an die Herausgeber)

Aaliyah Sayin

Aaliyah und ihre Mutter erwarten den Besucher auf der Terrasse ihres unter Denkmalschutz stehenden Hauses in einer historischen Arbeitersiedlung. Das Haus wurde von den Eltern für Aaliyah umgebaut. Im Rollstuhl sitzend beobachtet sie den fremden Besuch.

Aaliyah ist 11 Jahre alt und freut sich jeden Morgen auf die Schule und ihre Schulkameraden in der Förderschule. Sie nutzt einen Step-by-Step und Symbolkarten, um etwas auszuwählen oder mitzuteilen. Der Step-by-Step wird von den Eltern besprochen, die sich nicht immer sicher sind, ob Aaliyah wirklich alles versteht. Sie nimmt aber interessiert an allen Aktivitäten im großen Familienkreis und in der Schule teil. Ganz gleich, ob eine Schnirkelschnecke auf ihrem Arm die Fühler ausstreckt oder eine Vollkornbäckerei besucht wird. Interessanten Objekten nähert sich Aaliyah auf dem Po rutschend, um sie anschließend mit ihren Händen und dem Mund zu untersuchen.


Nach einer komplikationslosen Geburt schien alles ganz in Ordnung, dann aber verschlechterte sich Aaliyahs Gesundheitszustand in wenigen Tagen, weil ihre Stoffwechselstörung nicht erkannt wurde. So verstrichen wichtige Stunden, in denen der Umfang von Aaliyahs Gesundheitsschädigung minütlich zunahm. Für die Eltern eine fürchterliche Situation, die nur deshalb lebbar blieb, weil eine große Familie im Hintergrund Mutter, Vater und die jüngere Schwester unterstützte.

Derzeit ist der größte Wunsch der Eltern, eine Woche Urlaub als Paar am Meer zu verbringen und die Tochter in guter Pflege in ihrer Nähe umsorgt zu wissen. Alle Versuche, eine Einrichtung zu finden, die eine solche kurzzeitige Pflege anbieten könnte, waren bisher erfolglos.

Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen können aber, wie bereits dargestellt wurde, noch weitere Personengruppen umfassen, wie z.B. alte Menschen, nicht die fitten, junggebliebenen Alten, sondern z.B. die, die ein Schlaganfall schwer getroffen hat, die Opfer von Gewalt und Krieg wurden und nun nicht mehr autonom leben können, die 24 Stunden lang auf persönliche oder technische Hilfen angewiesen sind. Zum hier angesprochenen Personenkreis gehören aber ebenso Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen, deren Gliedmaßen voll funktionsfähig sind, die sich aber nicht oder nur auf herausfordernde Weise in die Gesellschaft einbringen können, soweit ihr Unterstützungsbedarf überhaupt wahrgenommen wird.

Mit Fornefeld ist darauf zu verweisen, dass die Lebenslagen dieser Menschen zumeist als marginalisiert zu beschreiben sind. Diese Lebenslagen vor dem Hintergrund des Capabilities Approach von Martha Nussbaum zu reflektieren, ist ein Anliegen unseres Bandes. Nicht zuletzt erscheint den Herausgebern diese Reflexion auch als ein kleiner Beitrag zur Gestaltung immer humanerer Lebensbedingungen für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen und ihrer Angehörigen in unserer Gesellschaft.

3. Der Fähigkeitenansatz von Martha Nussbaum

Wie aus den obigen Ausführungen deutlich geworden sein dürfte: Die in diesem Band dokumentierte interdisziplinäre Kooperation zwischen Philosophie und Sonderpädagogik strebt nach einer Balance und Verzahnung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen (oder auch: zwischen dem Universalen und dem Individuellen) in der normativen Diskussion um die Berücksichtigung von Menschen mit komplexen Behinderungen. Nach unserer Wahrnehmung bildet nun der Fähigkeitenansatz (Capabilities Approach) von Martha Nussbaum die angemessene, aus unserer Sicht sogar die beste Gesprächsgrundlage für einen solchen interdisziplinären Diskurs. Um diese Sichtweise zu erhärten, seien im Folgenden zumindest die zentralen Grundzüge des Ansatzes konturiert, wie sie auch in den meisten nachfolgenden Beiträgen direkt angesprochen oder stillschweigend vorausgesetzt werden.

Gemeinsam mit dem indischen Ökonomen Amartya Sen (Nobelpreisträger des Jahres 1998) hat Martha Craven Nussbaum seit den 1980er Jahren einen äußerst einflussreichen ethischen und politischen Ansatz, den Capabilities Approach, entwickelt und peu à peu fortgeschrieben.3 Dessen normative Grundidee lässt sich kurz wie folgt skizzieren: Menschen verfügen über eine Reihe von Grundfähigkeiten (basic capabilities), die Nussbaum aus einer anthropologischen Grundlagenreflexion auf die essentiellen Momente der menschlichen Lebensform gewinnt und sodann in einer Fähigkeitenliste (capability list) zusammenfasst.4 Dazu gehören u.a. wichtige kognitive Fähigkeiten (wie Wahrnehmen, Vorstellen und Denken), emotionale Fähigkeiten (z.B. Erleben von Freude und Schmerz) sowie soziale Kompetenzen. Die vollständige Liste mit entsprechenden Erläuterungen findet sich im Anhang dieser Einleitung.

Ein gelingendes menschliches Leben beruht nach Nussbaum nun auf der kontinuierlichen Entwicklung und aktiven Ausübung dieser Fähigkeiten. Diese entfalten sich allerdings nicht ‚von selbst‘, sondern wesentlich durch die Interaktion des Individuums mit seiner Umgebung. Hier spielen insbesondere Erziehung und Bildung eine zentrale Rolle für den Übergang von noch unentwickelten Anlagen (basic capabilities) zu realisierten und unmittelbar aktivierbaren internen Fähigkeiten (internal capabilities). Eine eminent gesellschaftliche Dimension gewinnt der Ansatz dabei dadurch, dass zur Unterstützung der Entwicklung dieser Fähigkeiten und zu ihrer aktiven Ausübung in vielerlei Hinsicht Unterstützung von außen erforderlich ist (z.B. in Form angemessener Ressourcen, die jedem Menschen die Realisierung seines Potenzials ermöglichen5).

Die philosophisch wünschenswerte Universalität dieses Ansatzes besteht nun primär in seinem normativen Kernstück, nämlich der Liste der zehn zentralen menschlichen Fähigkeiten (central human capabilities), die Martha Nussbaum auf der Basis eines interkulturellen Vergleichs und der Berücksichtigung literarischer Quellen erarbeitet hat. Es handelt sich um zentrale menschliche Fähigkeiten in dem Sinne, dass es zum guten und gelingenden Leben des Menschen gehört, über diese Grundfähigkeiten zu verfügen, sie zu internen Fähigkeiten ausbilden zu können und schließlich auch die Ressourcen zu haben, um sie angemessen ausüben zu können. Darin sieht Martha Nussbaum nun zugleich eine normative Forderung an die Politik: Der Staat hat die Aufgabe, seinen Bürgerinnen und Bürgern die Entwicklung und Ausübung dieser Fähigkeiten oberhalb eines bestimmten Niveaus, einer festgesetzten Schwelle, zu ermöglichen (vgl. Nussbaum 1999). Die zehn Grundfähigkeiten beschreiben somit auch ein Feld menschenrechtlicher Ansprüche, die jeder Einzelne hat und die eng mit seiner Würde verbunden sind: Die Würde einer Person zu achten und zu fördern heißt, ihr ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, in dem die menschlichen Fähigkeiten und ihre Realisierung eine zentrale Rolle spielen.6 Nur eine Gesellschaft, die dies allen ihren Mitgliedern ermöglicht, kann für sich beanspruchen, eine gerechte Gesellschaft zu sein. Insofern ist der Fähigkeitenansatz eine normative Theorie der Gerechtigkeit und nicht bloß eine Konzeption des guten Lebens, auch wenn Martha Nussbaum ihre Theorie ursprünglich aus der Beschäftigung mit dem antiken, insbesondere aristotelischen Glücks- und Tugendbegriff entwickelt hat.

Das dezidiert universalistische Moment des Fähigkeitenansatzes zeigt sich nun vor allem darin, dass es nur eine einzige Liste zentraler Fähigkeiten gibt. Diese gilt somit für alle Menschen – unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihrer Behinderung. Oft ist Martha Nussbaum nahegelegt worden, dass die normativen Ansprüche von Kindern, Frauen, und Behinderten einer besonderen Behandlung bedürfen, so wie es z.B. auch gesonderte Menschenrechtskonventionen auf internationaler Ebene für sie gibt. Aber in Bezug auf diesen normativen Kern des Fähigkeitenansatzes ist Nussbaum bisher konsequent geblieben: Es gibt keine Sonderlisten.

Aber das heißt gerade nicht, dass die Ansprüche von besonderen Gruppen und Individuen deshalb in ihrer Konzeption unberücksichtigt blieben oder gar planiert würden. Ganz im Gegenteil: Die Grundfrage des Fähigkeitenansatzes lautet seit jeher: „Was ist eine jede Person wirklich befähigt zu tun und zu sein?“ (Nussbaum 2015, 27) Das hängt zweifelsfrei mit der historischen Genese des Konzepts zusammen, das zuerst im Kontext der Entwicklungspolitik in den öffentlichen Diskurs eingeführt wurde: Denn die Frage, wozu jeder einzelne Mensch befähigt werden kann, bzw. wozu er/sie real fähig ist, stellt einen zentralen Parameter für individuelles Wohlergehen (well-being) bzw. für Lebensqualität7 dar, insofern diese nicht mehr durch ‚klassische‘ – überwiegend utilitaristisch geprägte – Kennmarken von Entwicklungspolitik (wie z.B. das Bruttosozialprodukt eines Landes oder sein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen) erfasst wird.

Wer diese Frage so stellt wie Nussbaum, macht deutlich, dass es dabei nicht bloß um abstrakte Prinzipien von Gerechtigkeit geht, sondern vielmehr um das konkrete Gestalten und Meistern des Lebens jedes einzelnen, besonderen Menschen. Das Leben jedes einzelnen Menschen ist zum einen eingebettet in besondere gesellschaftliche und politische Zusammenhänge, zum anderen bestimmen auch individuelle Dispositionen und Wünsche den Lebensweg. Jede Person ist, mit Immanuel Kant gesprochen, als Zweck an sich selbst zu betrachten. Deswegen darf niemand darauf reduziert werden, abstrakten Aussagen und Prinzipien zu entsprechen oder bestimmten Gruppen anzugehören. Eine große Stärke und auch eine programmatische Ausrichtung von Nussbaums Ansatz war und ist seine Kontextsensitivität, d.h. die Berücksichtigung der jeweils besonderen Umstände, unter denen sich allgemeine Prinzipien der Gerechtigkeit realisieren müssen. Das unterscheidet diesen Ansatz von anderen ethischen Paradigmen, bei denen die philosophische Universalität oft auf Kosten einer Angemessenheit für partikuläre Bedingungen geht.

Charakteristisch für die Denkbewegung von Martha Nussbaum ist, dass sie ihren Fähigkeitenansatz dadurch weiterentwickelt hat, dass sie sich die durch die Grundfähigkeiten beschriebenen Handlungsfelder immer konkreter angesehen hat. Ausgangspunkt war zunächst die Entwicklungspolitik und dabei besonders die Situation von Frauen weltweit, die Martha Nussbaum in Women and Human Development (Nussbaum 2000b) in den Blick nimmt. Ethisch bedeutsam ist auch in diesen Ausführungen ihre kritische Auseinandersetzung mit utilitaristischen Positionen, die lange Zeit ein dominantes Paradigma in der Entwicklungspolitik bildeten. In Frontiers of Justice (dt.: Nussbaum 2010a) wurden dann mit Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit drei Problemkomplexe in die Untersuchung einbezogen, mit denen moderne Gerechtigkeitstheorien auf kontraktualistischer Basis oft in Schwierigkeiten geraten oder in denen sie einen blinden Fleck haben. Hier ist dann vor allem John Rawls ihr Gesprächspartner.8 In gewisser Weise findet sich hier aber auch schon eine Art Selbstkritik bzw. -korrektur, zumindest in puncto Behinderung. Denn ursprünglich ging selbst Nussbaum eher vom ‚Normalfall‘ des Vorliegens aller zehn Grundfähigkeiten aus.9

In neueren Publikationen hat sich Nussbaum nun gerade dieses Themas verstärkt angenommen und versucht, diese normative Lücke zu schließen, und zwar mit besonderem Blick auf Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen (vgl. Nussbaum 2010b). Sie versucht dabei zu zeigen, dass ihr eigener Fähigkeitenansatz die schon oben in Teil 1 angesprochenen direkten und indirekten Herausforderungen, die von Menschen mit Behinderungen ausgehen, besser zu bewältigen vermag als konkurrierende ethische oder politische Theorien. So kann man auch den Titel Frontiers of Justice verstehen: Damit werden Grenzen bezeichnet, an die andere Theorien gelangt sind; aber ‚frontiers‘ bezeichnet im amerikanischen Kontext eben immer auch Zielorte, die es erst noch zu erreichen gilt. Es ist das dezidierte Bestreben von Nussbaums Fähigkeitenansatz, die Grenzen der Gerechtigkeit zu verschieben und zu erweitern.

Die Spannbreite ihrer Auseinandersetzungen mit dieser Thematik ist dabei außerordentlich groß und berührt insbesondere in Gestalt der Inklusionsthematik ein zentrales Streitfeld der Sonderpädagogik sowie der gegenwärtigen Bildungs- und Schuldebatte in der Öffentlichkeit. Nussbaums Vorgehen zeugt dabei von besonderem Respekt für das Besondere bzw. Individuelle: Denn ihre argumentativen Ausführungen greifen immer wieder konkretisierend auf drei ihr persönlich bekannte Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen zurück (vgl. Nussbaum 2010a, 138–141), darunter ihr eigener Neffe Arthur, der das Asperger-Syndrom hat. Diese drei Menschen und ihre höchst unterschiedlichen Ansprüche bilden sozusagen den Lackmustest für die in Konkurrenz miteinander stehenden allgemeinen Theorien und Prinzipien.

Martha Nussbaum ist nicht die erste, die drängende normative Fragen zum Thema Behinderung auf die philosophische Tagesordnung gesetzt hat; sie selbst betont immer wieder die Pionierarbeiten, die in den Vereinigten Staaten insbesondere Eva Kittay und Michael Bérubé geleistet haben (vgl. die Beiträge in Kittay/ Carlson 2010). Dennoch erscheint aus dem oben geschilderten Profil heraus gerade Nussbaums Fähigkeitenansatz in seiner Reichweite wie in seinem Anspruch in besonderem Maße dazu geeignet, einen interdisziplinären Diskurs zwischen Sonderpädagogik und Philosophie anzustoßen bzw. voranzutreiben. Deshalb haben wir ihn ins Zentrum unserer Auseinandersetzung mit dieser Thematik gestellt.

Die Konferenz zur Thematik sowie die vorliegende Publikation verfolgt(e) dabei nicht das Ziel, den Capabilities Approach einfach nur fortzuschreiben oder weiter zu konkretisieren. Zur Sprache kommen und kritisch diskutiert werden sollen gerade die normativen Parameter des Ansatzes, seine Begründung für die Ansprüche von Menschen mit komplexen Behinderungen ebenso wie seine Schlussfolgerungen hinsichtlich der Gestaltung ihres Lebens und auch derjenigen, die sie pflegen bzw. unterstützen. Ein naheliegendes Problem ist die Frage, wie es in Nussbaums Ansatz um Personen steht, deren Grundfähigkeiten in besonders hohem Maße eingeschränkt oder gar nicht vorhanden sind. Dies betrifft insbesondere Menschen mit komplexen Behinderungen im oben in Teil 2 beschriebenen Sinne, bei denen die beiden von Nussbaum selbst als für die menschliche Lebensführung als ‚architektonisch‘ bezeichneten capabilities, nämlich die Fähigkeit zur praktischen Vernunft und zu Gefühlen, nachhaltig gestört, eingeschränkt oder gar abwesend erscheinen. Wie weit reichen dann die normativen Ansprüche dieser Menschen im Fähigkeitenansatz, und worauf gründen sie sich letztlich?

Über dieses grundlegende Problem hinaus lassen sich natürlich noch andere kritische Fragekomplexe ins Spiel bringen. In philosophischer Sicht ist z.B. Folgendes zu klären: Nussbaums Überlegungen beruhen auf einer universalistischen ‚starken vagen Theorie des Guten‘, die sich auf anthropologische Überlegungen zur menschlichen Lebensform stützt. Wie tragfähig ist dieses Fundament mit Blick auf neuere kulturwissenschaftliche und humanwissenschaftliche Forschungen? Welchen deskriptiven und normativen Stellenwert können humane ‚Dysfunktionalitäten‘ in dieser anthropologischen Folie überhaupt haben? Und ist dieser universalistische Ansatz insgesamt geeignet, um den speziellen Bedürfnissen von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen gerecht zu werden? Das schließt auch die Frage nach theoretisch besser fundierten oder praktisch wirksameren Begründungsansätzen für die Rechte von behinderten Menschen ein.

An ähnlichen Problemfeldern entzündet sich ebenso die sonderpädagogische Diskussion des Ansatzes von Martha Nussbaum, auch im Kontext der gesellschaftlichen Inklusionsdebatten. Hier geht es insbesondere um die Lebenssituation sehr komplex beeinträchtigter Menschen (vgl. Lelgemann 2010). Seit wenigen Jahren wird die Bedeutung des Fähigkeitenansatzes vor allem im Verhältnis zu anerkennungstheoretischen Konzepten diskutiert, die auch dauerhaft von sozialer und individueller Zuwendung abhängige Lebenssituationen einbeziehen (müssten). Wie verhalten und verändern sich die Themen der Gerechtigkeit und Anerkennung vor dem Hintergrund eines Lebens mit einer umfassenden Beeinträchtigung, inwiefern führt hier eine leibphänomenologische Perspektive zu Ergänzungen oder Revisionen?10 Ebenso stellt sich die Frage, ob Anerkennung auf der Ebene der individuellen Begegnungen allein durch gerechtigkeitsorientierte Strukturen ermöglicht werden kann, oder ob nicht Konzepte der Fürsorge eine ebenso wichtige Rolle spielen.

Die kritische Diskussion dieser und weiterer Fragen hat im Mittelpunkt der Tagung gestanden, an der Martha Nussbaum auch selbst mitgewirkt hat; ebenso sind das natürlich zentrale Themen in den nachfolgenden Beiträgen. Denn es ging und geht uns nicht bloß um ein Gespräch zwischen Sonderpädagogen und Philosophen über Martha Nussbaum und ihren Ansatz, sondern wesentlich auch um eine Diskussion mit ihr. Der Fähigkeitenansatz ist konzipiert als Teil einer internationalen Debatte, in der er erwogen, durchdacht, mit anderen Ansätzen verglichen und – falls er angenommen wird – auch praktisch umgesetzt werden soll. Dazu muss seine Tragfähigkeit im Blick auf den normativen Umgang mit schwerstbehinderten Menschen erst einmal so tief wie möglich ausgelotet werden.

Einen entscheidenden Beitrag dazu, dass dies vom 28.–29. Juni 2017 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg möglich war, leistete das Human Dynamics Centre der Fakultät für Humanwissenschaften unserer Universität und insbesondere ihr Geschäftsführer, Dr. Andreas Rauh. Ihm möchten die Herausgeber an dieser Stelle ebenso ausdrücklich danken wie allen anderen an der Organisation der Tagung Beteiligten, insbesondere ihren Lehrstuhlteams.

4. Zu den Beiträgen

Bei der Einladung der Vortragenden, die jeweils auch einen Beitrag zu diesem Band beigesteuert haben, wurde besonderer Wert darauf gelegt, den oben formulierten interdisziplinären Zielvorstellungen gerecht zu werden. Deshalb wurden gezielt Kolleginnen und Kollegen angesprochen, die aufgrund ihrer Forschungen eine besondere Nähe zur jeweils anderen Disziplin aufweisen und bei denen eine ausgeprägte Gesprächsbereitschaft über den berühmt-berüchtigten Tellerrand des eigenen Fachs hinaus wahrnehmbar ist. Eine solche Offenheit ist wichtig, um in einen fruchtbaren Dialog eintreten zu können.

Den Band eröffnet ein Beitrag von Martha Nussbaum selbst, der direkt ins Herz der Sache zielt. Sie thematisiert in diesem Text nicht bloß die sozialen und ökonomischen Ansprüche von geistig behinderten Menschen, sondern auch deren uneingeschränkten Status als Bürger mit gleichen politischen Rechten. Aus den Kernideen des Capabilities Approach heraus entwickelt sie die Idee einer ‚inklusiven Staatsbürgerschaft‘ (inclusive citizenship), die den Ansprüchen von geistig behinderten Personen auf bürgerliche Teilhabe in differenzierter Weise – nämlich je nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten – Rechnung trägt. Zugleich zeigt sich, dass die Wahrnehmung dieser staatsbürgerliche Rechte (insbesondere des Wahlrechts und des Rechts auf jury service) unterschiedliche Grade und Formen von Assistenz erfordert, deren Gewährleistung keinen Akt moralisch motivierter Barmherzigkeit darstellt, sondern die Erfüllung eines grundlegenden Anspruchs politischer Gerechtigkeit.

Dem bei Nussbaum schon anklingenden Motiv der ‚assistierten Autonomie‘ widmet sich der Beitrag von Sigrid Graumann. Sie diskutiert in ihrem Beitrag, warum der Fähigkeitenansatz für Theorien einer Ethik der sozialen und pädagogischen Professionen so attraktiv ist. Sie fragt zudem, ob Nussbaums Konzeption mit Blick auf Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen eine inklusivere Perspektive eröffnet als etwa die sozialliberale Konzeption von John Rawls. Gerade für diesen Personenkreis sieht sie in Nussbaums Ansatz mit Bezug auf ihre frühen Texte, ebenso aber auch in den Ausführungen von Frontiers of Justice, die potentielle Gefahr eines letztlich doch leistungsbezogenen Würdeverständnisses, welches das positiv gewürdigte Anliegen Nussbaums durchaus in Frage stellt. Deshalb schlägt sie eine Synopse aus dem kantischem Verständnis der Menschenwürde und dem Fähigkeitenansatz vor.

Der sich anschließende Beitrag von Arnd Pollmann setzt sich ebenfalls kritisch mit dem Konzept von Menschenwürde bei Nussbaum auseinander, das in ihrem Ansatz zunehmend an die Stelle des ‚guten Lebens‘ ihrer früheren Entwürfe getreten ist. Er macht auf Probleme aufmerksam, die sich durch diese Umstellung in der normativen Reichweite des Fähigkeitenansatzes ergeben und diagnostiziert eine Spannung in Nussbaums Verknüpfung von Menschenwürde und Menschenrechten: Einerseits werde behauptet, die Menschenwürde sei die inhaltlich orientierende Hinsicht der Menschenrechte; andererseits erscheine die Würde als das unverlierbar vorgegebene Fundament der Menschenrechte. Beides könne jedoch nicht zugleich gelten. Pollmann plädiert seinerseits dafür, den Würdebegriff im Sinn ‚verkörperter Selbstachtung‘ zu verstehen, und demonstriert, dass dieser anspruchsvolle Würdebegriff keineswegs – wie oft angenommen – zu einer Exklusion all jener Menschen führt, die es an den Bedingungen eines Lebens in Selbstachtung vermissen lassen. Im Gegenteil: Je größer die strukturelle Versehrbarkeit einer menschlichen Lebensform bzw. umso aussichtloser das Leben in verkörperter Selbstachtung erscheint, desto mehr menschenrechtlichen Schutz schulden wir diesen Menschen.

Markus Dederich untersucht die Frage, warum sich Ethik und politische Philosophie generell schwer damit tun, Menschen mit komplexen Behinderungen zu berücksichtigen. Seinen Überlegungen zufolge könnte dies darin begründet liegen, dass existierende und damit wirksame Machtverhältnisse einer jeden Gesellschaft nicht hinreichend aufgegriffen und insbesondere ihre eigene Verstrickung in diese ausgeblendet werden. Dederich begreift seinen Aufsatz dabei als Beitrag dazu, eine nichtexklusive Ethik zu entwickeln.

Dem in verschiedenen Kontexten (nicht nur in der Pränataldiagnostik) höchst relevanten, aber äußerst kontroversen Begriff des ‚lebenswerten Lebens‘ widmet sich Barbara Schmitz mit besonderem Blick auf Menschen mit Behinderung. Sie plädiert dabei dezidiert für einen Primat der Perspektive der ersten Person: Ob die betroffenen Menschen ein lebenswertes Leben führen, können einzig und allein sie selbst kompetent beurteilen. Das bedeutet aber gerade nicht, wie Schmitz verdeutlicht, dass soziale und politische Forderungen bezüglich der Gestaltung ihrer Lebensgrundlagen vollständig auf Theorien des guten Lebens, die aus der Sicht einer objektivistischen Dritten-Person-Perspektive formuliert sind, verzichten könnten. Hier setzt sie sich konstruktiv mit Nussbaums Theorie einer universalen Speziesnorm als Basis für ein menschenwürdiges Leben auseinander, plädiert aber letztlich dafür, nicht Fähigkeiten, sondern Bedürfnisse als normative Basis für die gesellschaftlichen und politischen Ansprüche von behinderten Menschen zu betrachten.

Der Beitrag von Ursula Stinkes geht der Frage nach, wie Gesellschaft und Pädagogik dem Lebens- und Bildungsrecht von Menschen mit einer komplexen Beeinträchtigung gerecht werden können, und zwar am Beispiel der elfjährigen Anna. Sie skizziert dieses Bemühen um Gerechtigkeit in drei Verantwortungsbereichen: im pädagogischen Raum durch ein körperliches Antwortverhalten, welches Menschen ermöglicht, sich einzubringen und Anerkennung zu erfahren; in einer öffentlichen und damit politischen Perspektive der Gerechtigkeit, die Bedingungen für pädagogisches Handeln und Teilhabe schafft; und in einer singulären Perspektive der Verantwortung gegenüber dem einzelnen Menschen, wobei alle drei zueinander in einem konstruktiven Spannungsverhältnis stehen.

Manchmal wird übersehen, dass komplexe Behinderungen auch Folgen schwerer Kriegsverletzungen sein können. Angela Kallhoff beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den Auswirkungen von Verwundungen auf die Psyche von in den Krieg involvierten bzw. von ihm betroffenen Personen und knüpft dabei konstruktiv an neuere Überlegungen von Martha Nussbaum zur Emotionstheorie (vgl. Nussbaum 2017) an. Es zeigt sich, dass Zorn und der damit verbundene Wunsch nach Vergeltung das größte Hindernis für die individuelle Lebensführung der Betroffenen wie auch für die gesellschaftlich-politische Entwicklung in der Nachkriegszeit darstellen. Dabei arbeitet Kallhoff heraus, wie Nussbaums Idee von (gerechtfertigtem) transitional anger – verstanden als Übergangsphase auf dem Weg zu einer möglichen Versöhnung – zugleich einen wichtigen Beitrag zu neueren Strömungen der post-war ethics leisten kann.

Bei alten Menschen wird oft von einem nahezu unvermeidlichen Rückgang nicht nur ihrer körperlichen, sondern auch ihrer intellektuellen Fähigkeiten ausgegangen. In ihrem diesen Band beschließenden Beitrag widmet Martha Nussbaum sich in Anknüpfung an Ciceros Dialog Über das Alter (De senectute) und an neuere wissenschaftliche Forschungen den Ursachen und Auswirkungen der mit diesen Vorurteilen einhergehenden Stigmatisierung. Im Kern diagnostiziert sie das in ganz verschiedene Bereiche der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit hineinreichende Phänomen des ‚projizierten Ekels‘ (projective disgust), der sich letztlich auf die Animalität und Verwundbarkeit unserer eigenen menschlichen Natur richtet, als subkutane Triebfeder unterschiedlicher Formen von Diskriminierung. Daraus leitet sie soziale und politische Forderungen ab, die den adäquaten Umgang mit dem Phänomen des Alters ebenso wie mit alternden bzw. älteren Menschen betreffen, wie z.B. den Verzicht auf einen rein alterstechnisch definierten Zwangsruhestand.

Anhang: Die Fähigkeitenliste des Fähigkeitenansatzes (nach Nussbaum 2015, 41–42)

1. Leben: Fähig zu sein, ein Menschenleben normaler Dauer zu leben; nicht verfrüht zu sterben oder bevor das Leben so eingeschränkt ist, dass es nicht mehr lebenswert ist.

2. Körperliche Gesundheit: Sich einer guten Gesundheit, einschließlich der reproduktiven Gesundheit, erfreuen zu können; ausreichend ernährt zu sein und eine angemessene Unterkunft zu besitzen.

3. Körperliche Unversehrtheit: Fähig zu sein, sich frei zu bewegen; vor gewalttätigen, einschließlich sexuellen Übergriffen und häuslicher Gewalt geschützt zu sein; über Gelegenheiten sexueller Befriedigung zu verfügen und frei in Fragen der Fortpflanzung entscheiden zu können.

4. Sinne, Vorstellungskraft, Denken: In der Lage zu sein, die Sinne zu benutzen, Vorstellungen zu entwickeln, zu denken und zu argumentieren – und all dies auf „wirklich menschliche“ Weise zu tun, d.h. geprägt und kultiviert durch eine hinreichende Bildung, die Lese-, Schreibfähigkeit und Grundkenntnisse der Mathematik und Wissenschaft einschließt, sich darauf aber nicht beschränkt; Vorstellungskraft und Denken im Zusammenhang mit dem Erleben und Erzeugen von Werken der eigenen Wahl, u.a. religiöser, literarischer, musikalischer Art, nutzen zu können; befähigt zu sein, den eigenen Verstand auf eine Weise zu nutzen, die durch Garantien politischer und künstlerischer Meinungsfreiheit sowie der freien Religionsausübung geschützt ist; fähig zu sein, angenehme Erfahrungen zu machen und unnötigen Schmerz zu vermeiden.

5. Gefühle: Fähig zu sein, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst zu entwickeln; die zu lieben, von denen man geliebt wird und die sich um einen sorgen; bei deren Abwesenheit betrübt sein zu können; generell gesagt Liebe, Trauer Sehnsucht, Dankbarkeit und berechtigten Zorn erfahren zu können; fähig zur Entwicklung eigener Gefühle zu sein, diese nicht durch Furcht und Sorgen verkümmern lassen zu müssen (diese Fähigkeit zu befördern heißt, Formen menschlichen Zusammenschlusses zu befördern, die für deren Entwicklung nachweislich entscheidend sind).

6. Praktische Vernunft: Fähig zu sein, eine Vorstellung vom Guten zu bilden und über die eigene Lebensplanung in kritischer Weise nachzudenken (dies beinhaltet den Schutz der Gewissensfreiheit und der Freiheit der Religionsausübung).

7. Zugehörigkeit: (A) Fähig zu sein, mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen anzuerkennen und sich um sie zu kümmern, sich an vielfältigen Formen gesellschaftlicher Interaktion zu beteiligen; sich in die Lage eines anderen hineinversetzen zu können (diese Fähigkeit zu schützen heißt Institutionen zu schützen, die solche Formen der Zugehörigkeit schaffen und hegen, wie auch die Versammlungsfreiheit und die Freiheit der politischen Rede zu schützen). (B) Über die gesellschaftlichen Grundlagen der Selbstachtung und der Nichtdemütigung zu verfügen; fähig zu sein, mit einer Würde behandelt zu werden, die der anderer gleich ist. Hierzu gehören Regelungen, die die Diskriminierung auf Grundlage der Hautfarbe, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Ethnizität, der Kastenzugehörigkeit, der Religion und der nationalen Herkunft ausschließen.

8. Andere Gattungen: Fähig zu sein, in Rücksicht auf Tiere, Pflanzen und Natur und in Beziehung mit diesen zu leben.

9. Spiel: Lachen, spielen und sich an Freizeitaktivitäten erfreuen zu können.

10. Kontrolle über die eigene Umwelt: (A) Politisch: Fähig zu sein, sich effektiv an den politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen, die das eigene Leben bestimmen; das Recht zu politischer Teilnahme zu besitzen, den Schutz der freien Rede und der Versammlungsfreiheit zu genießen. (B) Materiell: Über Eigentum (sowohl an Land als auch an mobilen Gütern) verfügen zu können und Eigentumsrechte gleich anderen Menschen zu besitzen; das Recht, gleich anderen eine Beschäftigung zu suchen; unberechtigte Durchsuchungen und Beschlagnahme nicht fürchten zu müssen. Fähig zu sein, als Mensch zu arbeiten, die praktische Vernunft einzusetzen und in sinnvolle Beziehungen zu anderen Beschäftigten auf der Basis gegenseitiger Anerkennung zu treten.

Zitierte Literatur

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Sen, Amartya/Nussbaum, M. (Hg.), 1993: The Quality of Life, Oxford.

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Stinkes, Ursula, 2011: Ein unzeitgemäßer Humanismus als das Erste der Bildung. Der Anspruch des Anderen, in: Dederich, M./Schnell, M. W. (Hg.), Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin, Bielefeld 2011, 143–158.

Weid-Goldschmidt, B., 2013: Zielgruppen Unterstützer Kommunikation. Fähigkeiten einschätzen – Unterstützung gestalten, Karlsruhe.

1 Zum aktuellen (Selbst-)Verständnis der Philosophie im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext vgl. die Beiträge in van Ackeren/Kobusch/Müller 2011.

2 Im aristotelischen Denken etwa, auf das sich Martha Nussbaum in ihren Werken regelmäßig beruft, ist das Natürliche dasjenige, was sich regelmäßig am Ende einer ungestörten Entwicklung herausbildet, also gewissermaßen das ‚Normale‘. Insofern der aristotelische Naturbegriff teleologisch konnotiert ist, gewinnt dieser Gedanke umgehend eine eminent normative Pointe: Dieses Endziel der natürlichen Entwicklung ist nicht nur das, was bei regulärem Ablauf immer entsteht, sondern eben auch das, was von Natur aus realisiert werden soll. Die Konzepte von Normalität und Normativität werden hier also über den Begriff der Natur (physis) miteinander verknüpft; vgl. hierzu Müller 2006.

3 Für die ursprüngliche Fassung dieses Konzepts, das aus einer intensiven Auseinandersetzung Nussbaums mit der antiken Glücks- und Tugendethik, hervorging, vgl. die in Nussbaum 1999 in deutscher Übersetzung versammelten Aufsätze. Eine Art ‚Update‘ des Ansatzes findet sich in Nussbaum 2000b sowie in zahlreichen weiteren Publikationen der letzten Jahre, deren bedeutsamste sicherlich Nussbaum 2010a darstellt.

4 Einen Überblick über diese Liste und ihren theoretischen Unterbau gibt Müller 2003.

5 Nussbaum spricht hier von K-(= kombinierten)Fähigkeiten (combined capabilities), die erst dann vorliegen, wenn über die aus den – noch unentwickelten – G-(= Grund)Fähigkeiten durch Bildung und Erziehung geformten I-(= internen)Fähigkeiten hinaus auch hinreichende Ressourcen zu deren Betätigung vorhanden sind. Um Klavierspielen zu ‚können‘, bedarf es eben nicht nur der langjährigen Unterrichtung (was dann zur I-Fähigkeit führt), sondern eben auch des Instruments. Wer zwar über I-Fähigkeiten verfügt, aber nicht über die Möglichkeiten zu ihrer aktiven Realisierung, ist nach Nussbaum im eigenen Können – im Sinne von K-Fähigkeiten – eingeschränkt.

6 Zur Verknüpfung von Fähigkeiten und Menschenrechten vgl. Nussbaum 1997 und Müller 2005. Man kann sich allerdings des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass die Bedeutung, welche die Grundfähigkeiten im Fähigkeitenansatz haben, sich über die Zeit hinweg grundlegend verändert hat. Nach Nussbaum 2015, 41 scheinen die Grundfähigkeiten bzw. zentralen Fähigkeiten das zu sein, wozu die Staaten ihre Bürger bringen müssen, um die Würde des Menschen zu achten. Nach den Ausführungen in Nussbaum 1997 und 1999 sind die Grundfähigkeiten das schon Vorliegende, was den Anspruch an den Staat begründet, die eigenen Grundfähigkeiten zu I- und K-Fähigkeiten zu entwickeln; zudem sind sie auch das, was ein Lebewesen als Menschen auszeichnet. Die Begriffslogik erscheint dann aber nicht mehr ganz kompatibel zu sein. Wir danken Fabio Blaha für den Hinweis auf diesen Zusammenhang.

7 Vgl. hierzu die Beiträge in Sen/Nussbaum 1993.

8 In ihrem ersten Beitrag zu diesem Band gibt Martha Nussbaum selbst eine pointierte Zusammenfassung der Entwicklung ihres Ansatzes in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Gerechtigkeitstheorien der Gegenwart; vgl. unten, S. 38–40.

9 In Nussbaum 1999, 58, findet sich etwa noch die problematische Formulierung: „Wir behaupten, dass bei einem Leben, dem eine dieser Fähigkeiten fehlt, ernsthaft bezweifelt werden kann, ob es ein wirklich menschliches ist.“ Dies würde, zumindest prima facie, viele geistig und körperlich behinderte Menschen vom „wirklich menschlichen“ Leben ausschließen und damit nachhaltig die Frage nach der Basis ihrer moralischen oder menschenrechtlichen Ansprüche aufwerfen. Vgl. zu dieser Problematik auch Müller 2004 sowie die Überlegungen von Sigrid Graumann in ihrem Beitrag zu diesem Band.

10 Vgl. Schnell 2011; Stinkes 2011; Dederich 2013; Rösner 2014.

Menschliche Fähigkeiten und komplexe Behinderungen

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