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I. Selbstbild – Fremdbild – Forschungsbild
Оглавление1802–1808 | Georg Friedrich Sartorius: „Geschichte des hanseatischen Bundes“ |
1830 | Johann Martin Lappenberg: „Urkundliche Geschichte des Ursprungs der deutschen Hanse“ |
1859 | Antrag Lappenbergs auf Publikation hansischer Quellen bei der Historischen Kommission der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften: seit 1870 bis 1970 26 Bände Hanserezesse in vier Abteilungen. |
Mai 1870 | Gründung des Hansischen Geschichtsvereins in Stralsund aus Anlass der Feier des 500. Jahrestages des Stralsunder Friedens |
Mai 1871 | Konstituierende Sitzung des Vereins in Lübeck |
seit 1872 | Herausgabe der Hansischen Geschichtsblätter [127. Jahrgang 2009] |
seit 1876 | Herausgabe des Hansischen Urkundenbuchs (976–1500), 10 Bände bis 1916 |
1888/89 | Historikerstreit zwischen Dietrich Schäfer und Eberhard Gothein: Abwendung von Hansegeschichte als Wirtschaftsgeschichte |
seit den 1920er-Jahren | Wirtschaftsgeschichtlicher Neuansatz unter Fritz Rörig |
1970–1990 | Spaltung des Vereins in West und Ost (Hansische Arbeitsgemeinschaft in der DDR seit 1955) |
Populäre Hansebilder
Menschen nutzen griffige geschichtliche Deutungsmuster, um sich in ihrer Lebenswelt zurechtzufinden. Wollte man Vorstellungen aufzählen, die gegenwärtig aus dem populäreren Mittelalterbild der Deutschen abrufbar sind und rasche Orientierung verschaffen, so sollte die Hanse zweifellos dazugehören. Im öffentlichen Bewusstsein begegnet man der Hanse, den Hansestädten und den Hanseaten in vielerlei Zusammenhängen. Auf sie wird an zahlreichen norddeutschen Orten verwiesen. Zieht man beispielsweise das Telefonverzeichnis einer beliebigen norddeutschen Küstenstadt zurate, so finden sich Dutzende von Firmeneinträgen, die ihre Namen mit hansischen Attributen schmücken. Eine Auswahl beispielsweise aus den Lübecker Einträgen lautet: Hanse-Bau, Hansetreu GmbH, Hanseklinik, Hanse Netz, Hanse Beteiligungsgesellschaft, Hanse Beratungs-Gesellschaft, Hanse Immobilien, Hanse Logistik, Hanse Menü-Dienst, Hanse Versicherungsmakler, Hansejob 24, Hanseatische Schädlingsbekämpfung.
Ebenso suchen überregional tätige Unternehmen den Nachklang der mittelalterlichen Hanse zu nutzen: Hansaplast hilft bei Verletzungen. Der Verein Hansa Rostock spielt Profifußball, und seit 1926 trägt die Lufthansa den latinisierten Namen der Hanse auf die Flughäfen der Welt. Auch Städte bemühen sich um den Hansetitel. Neben Bremen, Hamburg und Lübeck errangen nach 1990 auch Greifswald, Rostock, Stralsund und Wismar ein ehrendes „H“ für Hansestadt für die Kennzeichen der in diesen Städten zugelassenen Kraftfahrzeuge. Wer in der Nachwendezeit hinsichtlich der Automobile leer ausging, sucht nachträglich den offiziellen Titel „Hansestadt“ für Ortsschilder, Briefpapier, aber vor allem für das touristische Stadtmarketing zu gewinnen. Im Jahre 2008 errang diese Bezeichnung die Stadt Salzwedel in der Altmark, die zuvor eine rechtsförmige Erklärung über ihr Beitrittsdatum zum hansischen Städtebund abgeben musste, was den beauftragten Stadtangestellten nach der Lektüre dieses Buches schwerer gefallen wäre.
Experten des Stadtmarketings müssen keine guten Historiker sein, aber sie könnten nicht erfolgreich arbeiten, wenn sie nicht Kenner des Massengeschmacks wären. Sprechen mithin Werbefachleute von der „Hanse“, dann zielen sie nicht auf unsere gelehrten Köpfe, sondern auf unser Bauchgefühl, und suchen Assoziationen wie Verlässlichkeit, Solidität, Ehrlichkeit, Tatkraft oder Weltoffenheit zu wecken. Manch einer mag an den Roman „Buddenbrooks“ und die in ihm dargestellten Personen denken, die vom weltweit wohl berühmtesten Hanseaten, Thomas Mann, mit Eigenschaften wie kühl, sachlich, weltoffen, zurückhaltend, zuverlässig, gelassen, kunstfeindlich und geschäftstüchtig versehen worden sind.
Das Erstaunlichste daran ist, dass es neben der Hanse nicht viele mittelalterliche Phänomene gibt, deren öffentliche Einschätzung schon seit mindestens fünf Generationen auf einem ähnlich positiven Vorverständnis beruht, teils sogar auf einer emphatischen Verherrlichung gründet. Vielmehr gewinnen die meisten öffentlich abrufbaren Aspekte der mittelalterlichen Epoche ihren Reiz gerade daraus, dass sie ambivalente Gefühle wecken, also sowohl sehnsuchtsvolle Verklärung als auch heftige Abwehr hervorrufen. So pflegt sich etwa beim Blick auf mittelalterliche Burgen, auf denen der Minnesang genauso wie die Folterkammer beheimatet zu sein scheint, gleichermaßen romantische Sehnsucht wie aufgeklärte Ablehnung „mittelalterlicher Verhältnisse“ einzustellen.
Freilich handelt es sich bei der positiven Hansebewertung um eine vor allem deutsche Deutung, die gerade nicht in ganz Europa geteilt wird. Nicht nur in diesem Fall werden Politiker, die sich zukünftig an eine gesamteuropäische Öffentlichkeit wenden wollen, zu spüren bekommen, dass es ein gesamteuropäisches Geschichtsverständnis bisher nicht gibt. Vielmehr nehmen sich die Einschätzungen identischer historischer Phänomene zwischen Deutschen und Polen, Italienern und Slowenen, Flamen und Wallonen oftmals recht gegensätzlich aus. Im Falle der Hanse hat dies in den 1990er-Jahren die schleswig-holsteinische Landesregierung erfahren, als sie versuchte, die Zusammenarbeit der Ostseeanrainerstaaten unter dem Dach einer „Neuen Hanse“ zu organisieren. Der deutsche Versuch, dieses ehrenwerte Anliegen mit der mittelalterlichen Hanse zu verbinden, rief damals bei dänischen und norwegischen Gesprächspartnern nicht eine positive Vorstellung von wirtschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit hervor, sondern erinnerte an deutsche Dominanz und Bevormundung.
Hansische Selbstbilder
Ist die besondere deutsche Wertschätzung der Hanse ein Rest der grenzenlosen Hochachtung dieser Vereinigung im Mittelalter? Diese Frage muss man entschieden verneinen. Manch einer wird sich verwundert die Augen reiben, doch verhält es sich tatsächlich so, dass selbst mittelalterliche Zeitgenossen, die der Hanse angehörten, ein ausgeprägtes Bewusstsein, es bei der Hanse mit einem glänzenden, sympathischen und wertvollen Gegenstand zu tun zu haben, nicht erkennen lassen. Dafür besonders lehrreich sind die Aussagen hansestädtischer Chronisten: Zwar gibt es Ausnahmen, wie den Braunschweiger Hermen Bote (ca. 1450 – ca. 1520), aber in aller Regel und in der Masse der Texte, selbst in solchen aus Lübeck, Hamburg, Köln oder Danzig, wird die Hanse gar nicht erwähnt oder bleibt in ihrer Bedeutung völlig blass.
Zieht man diese Zeugnisse in Betracht, die ja aus der schreibkundigen Führungsschicht der Städte stammen, wird man der jüngst getroffenen Feststellung, dass die breite Bevölkerung der mittelalterlichen Hanse völlig indifferent gegenüberstand, nur zustimmen können. Für die Mehrheit der mittelalterlichen Stadtbewohner weckte die Hanse weder positive noch negative Gefühle, sondern zog überhaupt keine Emotionen auf sich. Noch verwunderlicher mag es sein, dass sogar die Fernhändler, die wir als Hansekaufleute zu bezeichnen gewohnt sind, ihre Identität kaum einmal hansisch verankert sahen. Einer der bekanntesten dieser Händler dürfte Hildebrand Veckinchusen sein; zumindest ist er derjenige, über den wir mit Abstand am besten informiert sind, weil ein Überlieferungszufall uns Teile seiner Briefe und Geschäftsbücher aus den Jahrzehnten nach 1400 zugespielt hat. In den von ihm verfassten Texten wird die Hanse überhaupt nicht genannt. Selbst als er in Brügge in arge geschäftliche Schwierigkeiten geriet und nach jeder helfenden Hand zu greifen suchte, fällt der Hansebegriff in seiner Korrespondenz nicht. Worauf er hoffte, worauf er sich rechtlich in dieser Notsituation bezog, war nicht sein Status als Hansekaufmann. Vielmehr sprach er von sich als einem „coopman van Lubeke“, berief sich damit also auf die Stadt, in der er das Bürgerrecht besaß.
Wie aber agierten die politischen Vertreter der hansischen Gemeinschaft? Bei ihnen endlich wird man fündig. Die Gesandten der hansischen Gemeinschaft waren es, die im diplomatischen Verkehr und in offiziellen Schriftstücken stets den Begriff Hanse verwendeten und auf ihn größten Wert legten. Jedoch fehlte dieser Hanse der Politiker und Diplomaten das, was für mittelalterliche Gemeinschaften ansonsten von erheblicher Bedeutung war, nämlich die Außendarstellung der Gemeinschaft durch Symbole, Zeichen und Rituale. Weder besaß die Hanse einen Siegelstempel, mit dem sie Verträge beglaubigen konnte, noch fuhren ihre Schiffe unter einer gemeinsamen Flagge. Weder existierte ein gemeinsamer Heiliger als Schutzpatron, noch sorgte man für ein gesamthansisches Totengedenken für die in den Kriegen der Hanse verstorbenen Menschen.
Wie aber beschrieben hansische Politiker in ihren Selbstaussagen die Hanse? Was berichten sie darüber, was die Hanse eigentlich darstellte, wann sie entstanden war und was der Name bedeutete? Auch ihr Wissen blieb erstaunlich unpräzise. Ein Beispiel aus dem Jahre 1418 verdeutlicht diese Unsicherheit recht gut: Damals wurden die Kölner von der Stadt Bremen gebeten, nach Schriften „van derfundacien der Duytzschen hensze“, also von der Gründung der deutschen Hanse, zu fahnden. Die Kölner begannen tatsächlich zu suchen, wurden jedoch nicht fündig. Sie versicherten aber den Bremern, dass sie die Nachforschungen nicht aufgeben würden. Doch gefunden haben sie nichts. Ist diese Episode also ein Zeugnis für unordentliche Kölner Archivführung? Mitnichten verhält es sich so, denn die Hanseforschung vermag den Kölnern entlastend beizuspringen: Weder hat es jemals eine Gründungsurkunde der Hanse gegeben, noch ist eine vollständige Mitgliederliste irgendwann aufgesetzt worden. Solche Materialien blieben für die Kölner und sind bis heute unauffindbar, weil sie niemals existiert haben.
Ohne mit einschlägigen Dokumenten ausgestattet zu sein, musste im Jahre 1469 auch der Lübecker Dompropst Dr. Johannes Osthusen ein Gutachten darüber erstellen, was die Hanse eigentlich sei. Der verzwickte Auftrag war ihm erteilt worden, weil ein Jahr zuvor ein Rechtsstreit eskaliert war, nachdem die Waren von hansischen Kaufleuten in England beschlagnahmt worden waren. Das Vorgehen der englischen Seite war dabei als Gegenmaßnahme und Repressalie gedacht, um gegen die Schädigung eines englischen Schiffes im dänischen Sund vorzugehen, an der man hansische Kaufleute beteiligt glaubte. Ob dieser Verdacht zutreffend war, wissen wir zwar nicht. Doch braucht hier auch nur zu interessieren, was für die juristische Betrachtung des Streits entscheidend war. Als Angelpunkt erschien, ob die Hanse eine Rechtsform besaß, nach der die Gemeinschaft und jedes einzelne Mitglied für die Taten eines anderen Mitglieds haftbar gemacht werden durften. Die Engländer waren sich in dieser Hinsicht recht sicher, vermuteten in der Hanse eine Gesellschaft (societas), eine Genossenschaft (collegium) oder eine Körperschaft (universitas, corpus).
Die Vorstellung der englischen Seite ist uns eingängig, denn sie ist leicht mit populären Vorstellungen parallelisierbar, nach denen in der Hanse ein wohl organisiertes Städtebündnis zu erkennen sei. Gegen diese Herleitung allerdings argumentierte der Lübecker Vertreter energisch an. Es fehle der Hanse an allen Kennzeichen einer festen Gemeinschaft, meinte er. So führe man keine gemeinsame Kasse, ein Siegel sei nicht vorhanden, eine Zwangsgewalt gegen unbotmäßige Mitglieder bestehe nicht, eine Regierung, ein Archiv und weiteres mehr seien überdies nicht vorhanden. Nichts anderes sei die Hanse daher als eine lose Verbindung, die in Namen und Funktion dem Henkel eines Gefäßes gleiche. Denn so wie jeder Henkel einen Becher oder eine Kanne vor dem Herunterfallen und Zerbrechen bewahre, schütze die Verbindung der Hanse den Handelsverkehr vor schweren Schäden.
Neuere Forschungsbilder
Ob die Juristen der englischen Seite über die Argumentation Osthusens erstaunt waren, darüber kann man nur mutmaßen. Die Engländer hätten es aber sein müssen, denn das mittelniederdeutsche Wort „Hanse“ leitet sich natürlich nicht, wie Osthusen vorbrachte, vom lateinischen ansa (= Henkel) her, sondern lässt sich wortgeschichtlich auf einen germanischen Begriff für „Personenschar“ zurückführen. In seiner Bibelübersetzung hat etwa der Gote Wulfila (311–383) das Wort Hanse so benutzt. Diese Wortbedeutung, die zunächst sehr allgemein eine Personengruppe meinte, konkretisierte sich, seitdem das Wort in hochmittelalterlichen Zusammenhängen wieder auftaucht. Gemeint war mit „Hanse“ nunmehr immer häufiger und schließlich zumeist eine reisende Händlergruppe, die genossenschaftlich organisiert war und die man auch Gilde nannte. Im 11./12. Jahrhundert finden sich in Nordwesteuropa gehäuft solche als „Hansen“ benannte Kaufmannsgilden. Von der Bezeichnung der kaufmännischen Gemeinschaft sprang der Begriff schließlich über auf konkrete Erscheinungsformen der gemeinschaftlichen Aktivitäten der Fernhändler, etwa auf die zum Einstand in die Gilde zu zahlende Abgabe oder auf die aus der Teilhabe an der Gilde erwachsenden Rechte und Pflichten.
Zahlreiche „Hansen“ gab es bereits bevor die hier behandelte Hanse sich formierte, und keineswegs war ihr der Name in der Zeit ihres Bestehens exklusiv vorbehalten. Umso mehr spricht es für die historische Wirkung eben dieser Hanse, dass ihr heute im populären Bewusstsein das alleinige Namensrecht zugewachsen ist.
Bereits diese Überlagerung der vielen „Hansen“ durch die eine Hanse musste bei der Erforschung hansischer Geschichte für Irritationen sorgen. Weitere Schwierigkeiten kamen hinzu: Besonders missverständlich war, dass neben einer Gründungsurkunde und einer präzisen Mitgliederliste, von deren Fehlen wir schon hörten, ebenso weder Statuten noch eine Geschäftsordnung der Hanse überliefert sind. So ist die Hanseforschung bis heute gezwungen, auf das innere Gefüge ihres Gegenstandes zurückzuschließen. Dabei hat sie die längste Zeit einen Städtebund als Gerüst der Hanse angenommen. Doch sind in den letzten Jahrzehnten gegen diese Vorstellung erhebliche und wohlbegründete Zweifel erhoben worden. Denn erst nach 1400 und damit für die kürzere Zeit ihrer mittelalterlichen Existenz finden sich Ansätze für eine städtische Komponente in der Struktur der Hanse.
Wer in einem städtebündischen Charakter kein zutreffendes Deutungsmodell der mittelalterlichen Hanse zu erkennen vermag, steht in einem eminenten Gegensatz zu den skizzierten landläufigen Meinungen. Für seine Deutung spricht hingegen die zeitgenössische Praxis selbst, nach der die Hanse noch am Ende des 14. Jahrhunderts nicht Städte, sondern Personen für ihre Mitglieder zu halten geneigt war, obwohl sie zuweilen selbst von diesem Grundsatz abwich. „Hansekaufmann ist nicht, wer Bürger einer Hansestadt ist, sondern Hansestadt ist, wessen Bürger am Auslandshandel beteiligt sind und unwidersprochen an den Privilegien teilhaben“, brachte Ahasver von Brandt (1909–1977) diese hansische Praxis auf den Punkt. Demnach waren es also die Personen, die dadurch, dass sie hansische Privilegien genossen, ihre Heimatstädte zu Hansestädten machten. Damit hat die Hanseforschung mit dem Bild von der Hanse als „Staat der Städte“ gebrochen. Doch möchte man in einem Lehrbuch wie diesem natürlich nicht erfahren, was die Hanse nicht war, sondern was man sich trefflicherweise unter ihr vorzustellen hat. Eine maßgebliche Antwort hat Rolf Hammel-Kiesow in seiner wegweisenden Gesamtgeschichte der Hanse von 2000 gegeben. Sein Definitionsvorschlag lautet für die Zeit um 1400: „Die Hanse war eine Organisation von niederdeutschen Fernkaufleuten einerseits und von rund 70 großen und 100 bis 130 kleinen Städten andererseits, in denen diese Kaufleute das Bürgerrecht besaßen.“ Dies ist ein guter Ausgangspunkt, weil mit ihm die Fernhändlergemeinschaft als Träger der Hanse und die Heimatstädte auseinandergezogen werden. Man kann wohl noch schärfer formulieren: Die mittelalterliche Hanse war eine Organisation von niederdeutschen Fernkaufleuten. Durch die Identität der führenden Personen in kaufmännischer Interessengemeinschaft und städtischer Politik wurde die Hanse im 15. Jahrhundert auch als Städtegemeinschaft empfunden, ohne rechtlich jemals ein Städtebund zu sein.
Die kommenden Seiten gehen nicht länger vom Verständnis der Hanse als Städtebund und Staatsersatz aus und beschreiben somit nicht vornehmlich eine militärisch-politische Geschichte. In unserer Deutung ist die Hanse eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft niederdeutscher Fernhändler zum Erwerb und Erhalt von Handelsprivilegien an auswärtigen Handelsplätzen gewesen. Dieser Personenverband schuf dabei hansische Institutionen nicht als Selbstzweck, sondern um konkrete Ziele zu erreichen. Dabei veränderten sich die Personenzusammensetzung, ihre Interessen, die daraus abgeleiteten Strukturen und damit die Hanse im Laufe der Geschichte ganz erheblich.
Forschungsgeschichte
Natürlich wird sich jeder Leser fragen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass sich die Konturen von dem, was die Forschung für das Gefüge der Hanse hält, so grundlegend und fast bis zur Unkenntlichkeit gewandelt haben. Man könnte diesen Wandel für die Folge spektakulärer Quellenneufunde oder eines mengenmäßigen Zuwachses an Informationen halten. Doch hat es derartige Entdeckungen gerade nicht gegeben. Im Gegenteil liegt die Masse der politisch-diplomatischen Aktenstücke zur Geschichte der mittelalterlichen Hanse seit rund 80 Jahren gedruckt vor. Die Herausgabe von zehn Bänden des Hansischen Urkundenbuchs und der Hanserezesse der Zeit von 1256 bis 1530 in 24 Bänden war eine Glanztat der Hanseforschung der Epoche von 1870 bis 1918. So muss man folgern, dass sich nicht das, was wir über die Hanse an Quellenmaterial besitzen, sondern das, was wir daraus an Hypothesen über die hansische Vergangenheit ableiten, fundamental verändert hat. So verhält es sich tatsächlich, und dass dem so ist, liegt zum größeren Teil daran, dass auch ein Wissenschafter seine Geschichtssicht als ein Mensch in seiner Gegenwart entwirft, der von den Wünschen und Hoffnungen seiner Umwelt nicht frei sein kann. Populäre Bilder und wissenschaftliche Hypothesen sind also wechselseitig aufeinander bezogen, sodass die verschiedenen Forschungsepochen stets ihr eigenes Bild von der Hanse entworfen haben und es weiterhin tun werden. Jenseits von Politikermythen und Festrednerträumen wird man also für die Reden und Texte der Geschichtswissenschaft ebenfalls sagen können, dass in ihren Deutungen der mittelalterlichen Hanse stets auch die jeweilige Gegenwart und ihre Probleme eingeflossen sind und zukünftig einfließen werden. Die Geschichte der Hanseforschung zu überschauen, lehrt einerseits die Zeitgebundenheit von wissenschaftlichen Ansichten besser zu erkennen und macht andererseits bescheidener.
Höchst spürbar ist die Bindung an die politische Gegenwart bereits in demjenigen Werk, das für gewöhnlich und durchaus zutreffend als der Beginn der hansischen Wissenschaftsliteratur gilt. Es handelt sich um die Studie „Über die Geschichte des Hanseatischen Bundes“ von Georg Sartorius (1765–1828). Sie erschien von 1802 bis 1808. Sartorius begann sie, als das Heilige Römische Reich noch bestand; er schloss sie in einer gewandelten Welt ab. Der Vergleich mit einem Volkswirt, der über die Wirtschaft der DDR forschte und dem sein aktuelles Thema fast über Nacht verloren gegangen ist, weil es innerhalb nicht einmal eines Jahres nur noch wirtschaftsgeschichtlichen Wert besaß, ist so unzutreffend nicht. Wie für den Ökonom die friedliche Revolution von 1989 wandelte für Sartorius der Untergang des Alten Reiches im Jahre 1806 den Charakter seines Gegenstandes grundlegend. Die Hanse war seit ihrer Aufnahme in den Osnabrücker Friedensvertrag von 1648 auf die Verfassung des Alten Reiches bezogen gewesen. Wer danach über die Hanse schrieb, verfasste also aktuelle Staatsrechtsliteratur. Erst die verfassungsrechtlichen Umwälzungen im Zuge der Napoleonischen Kriege zogen die Hanse hinaus aus aktuellen juristischen und politischen Überlegungen. Durch den Zusammenbruch des Alten Reiches wurde die Hanse zu einem historischen Thema. Hellsichtig sah dies bereits Sartorius selbst: Ihr Heraustreten aus dem Streit der Tagespolitik und ihr Übergang in den Bestand gewesener Geschichte habe die Hanse zu einem beschaulichen Gegenstand antiquarischen Interesses gemacht. Überraschenderweise gewann er diesem Wandel etwas Positives ab, denn für ihn habe die Beschäftigung mit der Thematik dazu beigetragen, so Sartorius weiter, „die Greuel der Gegenwart wenigstens augenblicklich zu vergessen“, denn „ein harmloserer … Gegenstand“ als die Hansegeschichte sei nicht zu finden gewesen.
Derart unbedeutend hätte schon die nachfolgende Generation der Hanseforscher des 19. Jahrhunderts die Bedeutung ihres Themas nicht mehr einschätzen mögen. Vielmehr wollten viele ihrer Angehörigen mit einer liberal-romantischen Rückbesinnung auf die Stadt des Mittelalters der bürgerlichen Identitätssuche in einer monarchischen Welt dienen. Dabei schienen hansische Kaufleute, die gleichzeitig Ratsherren waren, geeignete Leitbilder zu liefern, die attraktiver anmuteten als die Berufung auf das goldene Handwerk eines protektionistischen mittelalterlichen Zunftbürgertums. So sah es etwa der Hamburger Ratsarchivar Johann Martin Lappenberg (1794–1865), der am Beginn der bereits erwähnten Tradition hansischer Quelleneditionen steht. Man kann im Vergleich zu Sartorius von einer Repolitisierung der Hanse sprechen. Und diese erfolgte, je länger das 19. Jahrhundert andauerte, auf einem immer mächtigeren nationalen Fundament.
Nichts ist dafür sprechender als die Gründung des Hansischen Geschichtsvereins im Jahre 1870. In der Anlage des Vereins als Honoratiorenvereinigung und in den Ansichten seiner Gründungsväter weist die Gründung zurück auf die liberal-patriotische Gesinnung eines Johann Martin Lappenberg. Doch in der bewusst gesuchten Verbindung der Vereinsgründung mit dem 500. Jahrestag des Stralsunder Friedens, an dem im Jahre 1870 der Sieg der Hanse über einen dänischen König begangen wurde, ist die Verwobenheit mit zeitgenössischen Ereignissen offenkundig. War doch die „schleswig-holsteinische Frage“, die seit 1848 das deutsche Bürgertum emotionalisiert hatte, erst wenige Jahre zuvor im Jahre 1864 in einem blutigen Krieg zwischen dem Deutschen Bund und Dänemark entschieden worden. Die im Kaiserreich von 1871 im Gefühl vieler Bürger so glänzend realisierte nationale Einheit und Größe wurde hineingelesen in die mittelalterliche Welt der Hanse, die als mächtiger Bund von Städten erschien, der mit Flottenmacht die Interessen des Reiches im Norden vertreten habe. Dass Deutschlands Schicksal zur See liege, war schon zuvor politisches Schlagwort gewesen, wurde aber auch aus der Geschichte der Hanse abgeleitet. Weil es um Seegeltung in der Vergangenheit als Unterpfand für Flottenherrlichkeit in der Zukunft ging, drängte das Forschungsinteresse hin zu den hansischen Seestädten und übersah oftmals die binnenhansische Welt.
Für ein solches Verständnis der Hanse wirkte vor allem der streitbare Dietrich Schäfer (1845–1929). Freilich wäre seine Rolle unangemessen beurteilt, wenn man aus seiner nationalistisch-monarchischen Gesinnung auf eine wissenschaftliche Rückständigkeit schließen wollte. Seine wissenschaftliche Haltung wäre ebenfalls missverstanden, wenn man sie als Ergebnis von bornierter Engstirnigkeit eines bürgerlichen Schreibstubengelehrten präsentierte. Denn Schäfer kannte die Welt des Handels und des Hafens aus eigener Lebenserfahrung sehr genau. Als Sohn eines Bremer Hafenarbeiters hatte er zwischen den Warensendungen aus aller Welt gespielt und war in einer Kellerkneipe am Hafen aufgewachsen. Eine solche Sozialisation findet man unter Mittelalterforschern derselben Generation ansonsten nicht. Auch unter Hanseforschern sind solche persönlichen Prägungen höchst selten auszumachen. Am ehesten ist Schäfers Lebensweg noch mit der Vita von Karl Koppmann (1839–1905) zu parallelisieren, dem als Sohn eines Hamburger Fleischermeisters der Sprung auf eine Professur lebenslang versagt blieb. Jedenfalls war es nicht Unwissen oder seiner Ignoranz gegenüber der Prägekraft wirtschaftlicher Verhältnisse geschuldet, wenn Schäfer der Hanseforschung einen anderen Weg wies. Rückblickend hat Schäfer in seinen Lebenserinnerungen seine Grundhaltung beschrieben. Fast schon in einem bedauernden Ton stellte er fest: „Beschäftigung mit der Geschichte der Hanse hatte mich zuerst zum wissenschaftlich ausgereiften Arbeiten geführt. Sie hat sich ihrer Art nach besonders viel mit wirtschaftlichen Dingen zu beschäftigen; es handelt sich um Betätigung von Bürgern.“ Doch sollte diese wirtschaftliche Dimension für ihn nicht das Zentrum historischer Bemühungen sein: „Auch die Geschichte der Hanse lehrt wie die aller anderen merkantilen Staatenbildungen, dass wirtschaftliche Größe, nur zu erringen und zu behaupten ist durch politische Macht.“ Für Schäfer war wirtschaftlicher Erfolg mithin eine bloße Ableitung von staatlicher Macht. Die wirtschaftlichen Erfolge der Hanse im Nord- und Ostseeraum galten ihm nicht als das Ergebnis besserer wirtschaftlicher Strategien, effizienterer Handelstechniken oder billigerer Transportmöglichkeiten, sondern als Folge staatlicher Machtentfaltung. Durfte aber das Forschungsfeld erweitert werden, wenn das für die innere und äußere Politik der Hanse ergiebige Quellenmaterial ediert und ausgewertet war? Auch diese Überlegung verneinte Schäfer entschieden. Nicht die Einbeziehung weiterer gleichzeitiger Facetten hansischer Geschichte, sondern die nachmittelalterliche Ausweitung einer politischen Geschichte der deutschen See- und Flottengeschichte bis in die Gegenwart empfahl er 1908 in Lübeck den versammelten Hansehistorikern.
Seitdem war für die Hanseforschung nicht nur der Kontakt zur Kulturgeschichte, sondern gerade auch zur wirtschaftswissenschaftlichen Forschung blockiert. Wie fruchtbar eine solche Kooperation auf dem Feld mittelalterlicher Wirtschaftsgeschichte mit der Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie hätte sein können, zeigt sich exemplarisch am Erforscher der Familie Veckinchusen, Wilhelm Stieda (1852–1933), der von Hause aus Nationalökonom war. Noch ein anderer Mediävist mit nationalökonomischen Kenntnissen wirkte höchst belebend für die Hanseforschung: Heinrich Sproemberg (1889–1966). Obwohl bei Dietrich Schäfer in Berlin promoviert, galt sein Interesse zunächst nicht hansischen Fragen, sondern der Geschichte Westeuropas, woraus ein enger Kontakt zum belgischen Historiker Henri Pirenne erwuchs. Über die deutsche Kriegspolitik in Belgien kam es 1917 zum Bruch mit Dietrich Schäfer, der Sproemberg offen versicherte, dass er es zu verhindern wissen werde, dass er „je ein deutsches Katheder besteigen würde“. Aus dieser erzwungenen Außenseiterrolle innerhalb der mediävistischen Zunft motivierte sich ironischerweise Sproembergs Eintritt in den Hansischen Geschichtsverein im Jahre 1921, zu dem ihm Schäfers Meisterschüler Walter Vogel (1880–1938) geraten hatte. Sproembergs eigentliche Wirksamkeit für eine hansische Wirtschaftsgeschichte setzte ab 1946 ein, als er eine Professur in Rostock erhielt. Zahlreich sind die in den nachfolgenden Jahren in Rostock, Leipzig und Berlin von ihm angeregten Arbeiten zu sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Themen. Im Jahre 1950 wechselte Sproemberg an die Leipziger Universität. Von dort aus übernahm er auch die Leitung der Arbeitsgemeinschaft des Hansischen Geschichtsvereins in der DDR. Dem Verein musste er indes zunächst wieder beitreten, nachdem man ihn 1938 als politisch untragbar hinausgedrängt hatte.
Es ist symptomatisch, dass Sproemberg in dem von Dietrich Schäfer geprägten Milieu nicht zu reüssieren vermochte. Fast halsbrecherisch mutet vor diesem Hintergrund die entschiedene Hinwendung zur Wirtschaftsgeschichte der Hanse an, die in den 1920er-Jahren einsetzte. Dieser Neuansatz ist aufs engste mit dem Namen von Fritz Rörig (1882–1952) verbunden. Rörig selbst hat über seinen Ansatz und dessen Wegmarken und Ziele selbst mehrfach reflektierend geschrieben. Sein Konzept der Hansegeschichte entwickelte er in einer doppelten Frontstellung. Die politische Geschichte der Hanse als Vertretung Deutschlands zu See schien ihm unangemessen und nach 1918 wohl auch unzeitgemäß zu sein. Genauso wenig stimmte er mit den wirtschaftsgeschichtlichen Ansätzen der Nationalökonomen Karl Bücher und Werner Sombart überein, in deren Modellen der Fernhandel des Mittelalters unbedeutend und die Welt des Kaufmanns eng erschien. Die Widerlegung dieser Ansätze gelang Rörig aus dem Lübecker Archiv heraus. Mit den hier geborgenen Bausteinen entwarf er eine Geschichte der Hanse auf wirtschaftlichem Fundament. Dabei blickte er weniger auf Umsätze und Waren, sondern ihm waren „die Wirtschaft treibenden Menschen, ihre Zusammenhänge und Organisationsformen, ungleich wichtiger … als die von ihnen umgesetzten Güter“. Gleichsam die Summe dieser Forschungen der Rörigschen Zeit zog sein Schüler Ahasver von Brandt im Jahre 1963 in seinem Aufsatz „Die Hanse als mittelalterliche Wirtschaftsorganisation“. In Umkehr der Schäferschen Prämissen hielt er fest: „Die politische, auch machtpolitische Betätigung der Gemeinschaft ist nicht Selbstzweck …, sondern Mittel zur Sicherung jener wirtschaftlicher Belange.“
Als Brandt eine positive Bilanz des Rörigschen Paradigmenwechsels zog, unterließ er es leider, daran zu erinnern, dass in der Zeit des „Dritten Reiches“ die Taten einiger Hanseforscher erschreckende Beispiele dafür liefern, wie Historiker die Indienstnahme von Geschichte für infame politische Ziele befördern können. Durchaus renommierte Hanseforscher wirkten an den Publikationen von Heinrich Hunke (1902–2000), dem Leiter der Auslandsabteilung im Propagandaministerium, mit, deren Titel „Hanse, Downing Street und Deutschlands Lebensraum“ (1940) und „Hanse, Rhein und Reich“ (1942) die Zielsetzung bereits erkennen lassen. Beide Propagandaschriften suchten die Ausdehnung des hansischen Wirtschaftsraums im Mittelalter mit den nationalsozialistischen Plänen für eine europäische Nachkriegsordnung zu überblenden. In beiden Bänden wird das Reich als europäische Ordnungsmacht geschildert und ungeniert behauptet, die neue Ordnung, die das nationalsozialistische Deutschland zu etablieren suche, sei eine Wiederbelebung der Hanse. Solche Ansichten von einer Ordnungsbedürftigkeit des Kontinents durch deutsche Vormacht paarten sich zuweilen zudem mit rassistischen Überlegenheitsvorstellungen und ließen einige Historiker nicht davor zurückschrecken, an verbrecherischen Plänen für die Umsiedlung von Menschen und zur Neuaufteilung der militärisch eroberten Gebiete in Osteuropa mitzuwirken. Die Beteiligung der Hanseforschung und der Hanseforscher an diesen Verbrechen wird erst seit Kurzem eingehender thematisiert. Der Anstoß dazu kam nicht aus der Hanseforschung selbst, sodass eine detaillierte Bewertung der Rolle von Hansehistorikern in der Zeit des Nationalsozialismus dringend geboten erscheint. Offenkundig scheint schon jetzt zu sein, dass der Neuansatz nach 1918, der Politik und Diplomatie beiseite schob, gerade deshalb zu den verbrecherischen politischen Zielen kompatibel wurde, weil in ihm anders als in Frankreich nicht Gesellschaft, sondern Gemeinschaft, und nicht Mentalität, sondern Solidarität durch Sprache und Blut, als zentrale Bindekräfte galten. Dass man mit der Hanse eine Wirtschaftsgemeinschaft vor sich habe, „die zurückgeht auf das gemeinsame Band des Blutes, mehr noch, die selbst erst durch das Planen und Ausführen blutsverwandter Menschen entstanden ist“, scheute sich selbst Fritz Rörig nicht im Jahre 1928 der internationalen Historikerschaft auf ihrem Kongress in Oslo vorzutragen. Die Hanseforschung hat sich nach 1945 mit diesen Verfehlungen zunächst gar nicht auseinandergesetzt. Es kann kein Trost sein, dass sie sich damit nicht anders verhielt als die gesamte deutsche Geschichtswissenschaft.
Das Ausblenden der fachlichen Zeitgeschichte zugunsten der Anforderungen des Tages betraf im Falle der Hanseforschung den Westen wie den Osten Deutschlands gleichermaßen. Denn auch in der DDR besaß die Hanseforschung stets einen hohen Stellenwert. Man könnte überrascht darüber sein, dass bürgerliche Fernhändler und oligarchische Führungsschichten nicht dem Verdikt erlagen, Klassenfeinde gewesen zu sein. Die Argumentation in der DDR lautete aber, dass dem Städtewesen und den Städtebünden eine fortschrittliche Rolle bei der Überwindung des vollentfalteten Feudalismus zugekommen sei. Doch auf diese dialektische Betrachtungsweise kommt es hier weniger an, als auf das bewusste Anknüpfen an die Traditionen der Hanseforschung. So firmierte Fritz Rörig († 1952) in einem 1989 publizierten Sammelband gar als ein „Wegbereiter“ der DDR-Geschichtswissenschaft. Neue Ansätze finden sich in der Hanseforschung der DDR, die später insbesondere in Greifswald betrieben wurde, vor allem dort, wo auf die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Hansestädte geblickt wurde. Hingegen hielt man bei der Beschreibung des inneren Gefüges der Hanse recht apodiktisch am Bild vom Städtebund fest und akzentuierte den Gegenstand in recht nationaler Sicht. Man findet diese unterschiedlichen Tendenzen etwa in der nützlichen Gesamtdarstellung aus der Feder von Konrad Fritze, Johannes Schildhauer und Walter Stark von 1974 gespiegelt. Es gehört zu den Besonderheiten deutsch-deutscher Wissenschaftsgeschichte, dass der Hansische Geschichtsverein immerhin bis 1970 als gesamtdeutsche Vereinigung weiterbestehen konnte.
In der Bundesrepublik berief sich die Hanseforschung ebenfalls auf Fritz Rörig, dessen Neuansätze für die breitere mediävistische Fachöffentlichkeit allerdings nicht recht sichtbar wurden. Das war dem Umstand geschuldet, dass es an einer Gesamtdarstellung hansischer Geschichte aus seiner Feder mangelt. Das im Jahre 1942 und seitdem mehrfach nachgedruckte Werk von Karl Pagel ist von den Rörigschen Forschungen noch weitgehend unbeeinflusst und mithin eher die Summe des Schäferschen Hansebildes. Eine Änderung trat erst ein, als das Werk „La Hanse“ von Philippe Dollinger, das 1964 in Paris erschien, seit 1966 auch in deutscher Übersetzung vorlag und alsbald zur Standardlektüre wurde. Die Hanseforschung fand so den Weg zurück in europäische Diskussionszusammenhänge, worin überhaupt ein besonderer Reiz der Hanseforschung liegen dürfte. Dollingers Buch konnte indes die erhebliche Erweiterung der Themenfindung innerhalb der hansischen Forschung noch nicht einfangen, die nach 1945 einsetzte und sich seit den 1960er-Jahren beschleunigte. Man kann diese Weitung als überfällige Horizonterweiterung hochschätzen oder als Zersplitterung des Forschungsgegenstandes herabsetzen. Für letztere Ansicht könnte sprechen, dass die Hanseforschung immer mehr zu einer mittelalterlichen Stadtgeschichte Niederdeutschlands geworden ist, wobei es häufig schwerfällt, wertvolle Arbeiten zu stadtgeschichtlichen Phänomenen als hansische Veröffentlichungen aufzufassen. Die Breite von dem, was mittlerweile als hansische Forschung gilt, kann man recht gut an den Unterschieden dreier neuerer Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Hanse ablesen, die von Klaus Friedland (1991), Heinz Stoob (1995) und Rolf Hammel-Kiesow (2000) verfasst worden sind.
Seit 1989 hat sich die Hanseforschung erneut gewandelt. Die politischen Umwälzungen, die zur Wiedervereinigung Deutschlands und des europäischen Kontinents geführt haben, erhöhten die Popularität der Hanse ganz erheblich, schien es manchem doch so, als habe die Hanse die aktuelle Integration Europas vorweggenommen. Beim Blick auf eine Karte der Hansestädte mag dies einem unbekümmerten Betrachter tatsächlich evident erscheinen. So liegen ehemalige Hansestädte in acht europäischen Staaten (Deutschland, Niederlande, Belgien, Polen, Russland, Lettland, Estland, Schweden). Wer noch Kontore und Handelsverbindungen hinzuzählt, vermag zu errechnen, dass 25 der heute 46 europäischen Nationen von der Hanse erfasst worden seien. Allerdings liegt eine Schwäche dieser Rechnung schon darin, dass die Hanseforschung so erneut zur Hilfswissenschaft für politisch Wünschenswertes werden könnte, dessen Zeitbedingtheit zukünftige Generationen ebenso erkennen werden, wie wir den nationalen Überschwang der hansischen Geschichtsarbeiten des 19. Jahrhunderts kritisieren. Inhaltlich muss man bei aller Sympathie für die neuerliche Entdeckung der Hanse in den osteuropäischen Städten zudem festhalten, dass die mittelalterliche Hanse stets eine Angelegenheit niederdeutscher Fernhändler geblieben ist, also eine Vereinigung war, die zwar nicht von einem modernen Nationalgefühl getragen wurde, aber mittels Sprache, Sitte und Recht deutscher Kaufleute integrierend wirkte.
Von Helden zu europäischen Netzwerkern, von überlegenen Militärs zu Unternehmern, so könnte man den Wandel der Hanseforschung zwischen 1878 und 2009 schlagwortartig umreißen. Damit freilich sind bereits die Schwierigkeiten angedeutet, die sich dem Versuch entgegenstellen, eine kompakte Wissensübersicht zur Geschichte der mittelalterlichen Hanse vorzulegen. Womöglich war niemals zuvor eine Generation von Wissenschaftlern so uneinig darüber, was die Hanse eigentlich war und was somit in einer Gesamtgeschichte vorgestellt werden müsste. Weil diese knappe Darstellung der Hanse jedoch nicht nur Spezialisten erreichen soll, ist sie nicht denkbar ohne eine klare Vorstellung von ihrem Gegenstand. Schon gesagt wurde, dass in dieser Arbeit die Hanse nicht als Städtebund und damit gleichsam territorial, sondern mit Blick auf die Personen und ihre wirtschaftlichen Interessen beschrieben werden soll. Sachlich handelt das Buch von einem wichtigen Stück nicht deutscher Politik-, sondern europäischer Wirtschaftsgeschichte. Nicht militärische Erfolge und Vertragsschlüsse, sondern wirtschaftliche Umschwünge sollen vorzugsweise Entstehung, Vormacht und Niedergang der Hanse erklären. Zeitlich handelt dieses Buch von der Hanse im Mittelalter. Obwohl zuletzt und mit guten Gründen wiederholt eingefordert worden ist, die frühneuzeitliche Geschichte der Hanse aufzuwerten, sind die Proportionen hier anders gesetzt worden, weil es an Vorarbeiten mangelt und der Verfasser sich für die frühneuzeitliche Epoche aufgrund eigener Forschungen nicht zutrauen kann, Wichtiges von weniger Wichtigem zu scheiden. Das alles ist zwar eine begründete, aber doch immer noch eine Auswahl, die aber selbst für ein Handbuch der Hanse, das es nicht gibt, notwendigerweise zu treffen wäre. Vielleicht vermag es daher manchen Leser beruhigen, dass ältere Denktraditionen und Deutungen immer wieder genannt werden, auch wenn ihnen nicht gefolgt wird.