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Leuchtturm

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Julia Boege

Blog: Juju’s Universe

»Erinnerst du dich noch an unser erstes Treffen?«

Jenny nickte nur ein einziges Mal, wobei ihr Blick aber auf das Meer gerichtet blieb, das wild tosend gegen die steilen Klippen prallte. Die Spritzer flogen bis zu ihnen hinauf und hinterließen dunkle Punkte auf ihrem weißen Kleid. Sie kämpfte mit den Tränen, die sich in ihren Augen sammelten. Jerry aber sprach ungerührt weiter.

»Du saßt auf dieser Bank, genau wie wir jetzt und schienst so verloren.« Seine Stimme hatte diesen Klang angenommen, welchen die eigene Stimme automatisch annimmt, wenn man über die Kindheit spricht. »Ich war verloren.« Jennys Stimme dagegen klang gepresst, rau und voller Trauer.

»Ja das warst du.« Es war nur eine Feststellung. Ohne Wertung, ohne Emotionen.

»Ich habe dich gefunden, hier, als dich alle zurückgelassen haben. Du hast mit deinen roten Haaren gestrahlt wie ein Leuchtturm, der vollkommen alleine auf der Klippe steht und darauf wartet, dass endlich ein Schiff vorbeikommen würde. Nur damit er endlich Gesellschaft haben würde. Auch wenn es nur für wenige Augenblicke wäre. Dein Schluchzen konnte man auch von Weitem hören, wie der Gesang einer Sirene, die unerfahrene Seefahrer anlocken will. Jenny, dein kleines weißes Gesichtchen war so rot vom vielen Weinen und du hast gezittert wie Laub im Wind. Du hast mir so Leid getan. Weißt du noch was das Erste war, was ich zu dir sagte, Jenny?«

Nun hatte sich doch eine Träne aus ihrem Auge geschummelt und lief ihre Wange herab. Die heiße Spur brannte sich in ihre Haut. Ihr Make-up war sicher bereits jetzt schon ruiniert. Dennoch musste sie bei dieser Erinnerung lächeln.

»Du hattest gefragt, welche Eissorte ich am liebsten esse.« Dies war genau die richtige Frage gewesen. Es hatte sie damals aus dem Konzept gebracht und das Überlegen hatte ihre Tränen trocknen lassen. Ihre Antwort war Schokolade gewesen. War es noch immer. Seit diesem Tag waren sie Freunde gewesen. Wie sehr hatte sie sich einen Freund gewünscht. Wie sehr hatte sie genau in diesem Moment einen Freund gebraucht. Manchmal glaubte sie, dass Jerry aus ihrem Wunsch heraus entsprungen war. Wie ein mystischer Geist, der den Helden in ihren Büchern zur Seite stand. So passend war der Zeitpunkt seines Erscheinens gewesen. So perfekt seine Worte und Taten.

Jenny seufzte. »Meine Jenny.« Als Jerry weiter sprach, konnte sie deutlich ein Lächeln in seiner Stimme hören. »Und erinnerst du dich an all die Abenteuer, die wir erlebt haben? Gemeinsam.«

Sie hatten schon viel angestellt. Da hatte Jerry Recht. Er hatte sie aus ihrem Schneckenhaus gelockt, mit dem Versprechen, ihr die ganze Welt und alles was dahinter lag zu zeigen. Jerry hatte sie angestiftet zu Dingen, die ihr selbst nur im Traum eingefallen wären. »Erinnerst du dich an den Tag, als wir das Boot gestohlen haben?«

»Ausgeliehen.« Unterbrach Jenny ihn schnell. Ihren Einwurf quittierte er mit einem lauten Lachen, das selbst Jenny zum Lachen brachte. Sie zum Lachen bringen, das hatte Jerry immer geschafft.

»Also gut, als wir uns das Boot ausgeliehen haben und zur Höhle gefahren sind. Das war ein Abenteuer. Als wir den Piratenschatz gefunden haben. Voller Gold und Juwelen. Was haben wir uns gefreut und getanzt, bis plötzlich die Piraten aufgetaucht sind.« Jerry bekam sich kaum noch ein vor Lachen, während sich in Jennys Augen schon wieder die Tränen sammelten. »Ach, die fanden das gar nicht witzig und wollten uns als Geiseln nehmen. Erinnerst du dich noch daran, Jenny?«

Jenny schluckte schwer, in der Hoffnung ihre Stimme dadurch gefasst klingen zu lassen. »Natürlich erinnere ich mich.« Es gelang ihr nicht besonders gut. »Aber dadurch, dass wir so klein waren, sind wir durch ihre Beine hindurchgeschlüpft.« Jerry nickte heftig. »Doch nur dieser Sprung über die Klippe auf unser Boot konnte uns retten. An dem Tag warst du sehr mutig.« Jenny lächelte. Sie liebte es, wenn Jerry sie als mutig bezeichnete. Sie selbst würde sich diese Eigenschaft nie zusprechen.

»Nicht so mutig wie du.« Jerry winkte ab. »Ach Papperlapapp, für mich ist es nicht schwer, mutig zu sein.«

Beide schwiegen einen Moment und starrten in die Ferne. So sehr das Meer auch gegen die Klippen tobte, so ruhig wirkte es am Horizont.

Jenny holte einmal tief Luft, doch bevor sie anfangen konnte zu sagen, was sie sagen wollte, sprach Jerry schon wieder.

»Oh Jenny, ich musste gerade an unsere Begegnung mit dem Drachen denken. Das war ein Abenteuer. An deinem Geburtstag war das, oder? Ganz alleine warst du und hattest nicht einmal einen Kuchen. Doch dann habe ich dich abgeholt und dich zu den Tunneln geführt. Weißt du noch Jenny?«

Jerry sprach ganz schnell und verhaspelte sich dabei sogar, so aufgeregt ließ ihn diese Erinnerung werden. Natürlich erinnerte sich auch Jenny an diesen Tag. Früh morgens war sie aufgewacht und wie jedes Jahr zuvor nach unten gelaufen, um ihre Geschenke auszupacken. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und es war schrecklich kalt gewesen im Haus, denn niemand hatte den Kamin angemacht. Sie hatte furchtbar gefroren, als sie auf Söckchen nach unten gelaufen war. Doch in diesem Jahr war alles anders gewesen. Kein einziges Geschenk hatte dort auf sie gewartet und keiner hatte Kuchen für sie gebacken. Als sie, das einsame kleine Mädchen, dort unten vollkommen alleine in der Dunkelheit gestanden hatte und anfing zu weinen, da stand Jerry draußen vor der Tür mit einem Kuchen und dem Plan in den Tunnel unter der Stadt zu klettern, um diesen zu erforschen.

»Ich hatte gar nicht gewusst, dass wir ein Tunnelsystem unter uns haben.«

Jerry lachte voller Euphorie. »Ich glaube, dass war unser spannendstes Abenteuer. Erst die Erkundung des Tunnels, der immer tiefer in die Erde führte. Als die Dunkelheit uns so umgab und wir einfach nicht mehr wussten, wo Vorne und wo Hinten ist, das war schon gruselig. Wir hatten uns total verlaufen und dann hattest du sogar angefangen zu weinen. So wie du es jetzt tust.«

Jenny selbst hatte gar nicht gemerkt, wie ihr die Tränen die Wangen herunterliefen. Na toll… dachte sie, nun war ihr stundenlang aufgetragenes Make-Up total ruiniert. »Aber ich konnte dich ja wie immer beruhigen und wir sind den richtigen Weg weitergegangen. Ach, ich liebe Labyrinthe. Du nicht auch, Jenny?« Sie hatte ein Taschentuch aus ihrer kleinen Tasche gefischt und versuchte nun zu retten, was noch zu retten war. Doch sie ahnte, wie schwarz die Ränder unter ihren Augen aussehen mussten. »Ich liebe alle Arten von Rätseln.« »Das stimmt, und am Ende dieses Rätsels hat der Drache auf uns gewartet. Hätten wir ihn bloß nie aufgeweckt, doch du musstest ja unbedingt weinen. Aber ein merkwürdiger Drache war das schon. Ich meine, wer hat schon von einem Drachen gehört, der von weinenden Kindern Migräne bekommt. Kein Wunder, dass er so tief unter der Erde lebte. Ich hatte wirklich Angst, als er versuchte dich zu entführen.«

»Na frag mich mal. Plötzlich war da dieser riesige Drache, der mich erst entführte, nur um mich unbedingt aufzuheitern. Da hatte ich schon panische Angst. Ein dummer Drache war das, der nicht verstand, warum ich nur noch mehr weinte, als er mich einfach packte und mitnahm. Ich hatte solche Angst und du warst nirgends zu sehen. Ich hatte Angst, dass du mich verlassen hast, weil du dich vor dem Drachen fürchtest.«

Auf einmal war Jerry sehr ernst geworden und jegliches Lachen war aus seiner Stimme verschwunden. »Aber ich habe dich nicht im Stich gelassen, so wie ich dich noch nie im Stich gelassen habe. Ich hatte euch verfolgt und dich mit einem Trick aus den Fängen des Drachens gerettet.« Jenny lächelte ihn aufmunternd an. Sie kannte ihren Jerry gar nicht so ernst. Das sah ihm gar nicht ähnlich. »Es war sehr klug von dir, ein Radio mitzubringen, damit die Musik einfach alles übertönte. Es war irgendwie klar, dass Drachen klassische Musik lieben. Ich glaube, er hatte seitdem ein sehr ruhiges Leben.« Ein zaghaftes Lächeln erschien wieder auf Jerrys Lippen.

Der Wind hatte zugenommen und zerrte nun an Jennys langem Kleid und an ihrer Frisur. Perfekt sah diese bestimmt nicht mehr aus. Es war ein Wunder, dass ihr Kopfschmuck überhaupt noch hielt. Er war wirklich gut festgesteckt worden.

»Jerry, du warst immer mein bester Freund.« Dieser nickte heftig. »Dein einziger, meine liebe Jenny. Seit deine Eltern dich verlassen haben, war ich doch für dich da. Selbst als du älter wurdest und tagsüber zur Schule musstest, habe ich immer hier auf dich gewartet. Um dann noch mehr Abenteuer zu erleben. Selbst, als du den ganzen Tag beschäftigt warst, habe ich dich nachts besucht und dich mitgenommen in meine Welt. So wie in der einen Nacht, als wir mit Meerjungfrauen geschwommen sind. Was war das für eine schöne Nacht! Die Schönste von allen.

Weißt du noch, Jenny, wie ich in dieser Nacht an dein Fenster geklopft hatte? Ganz verschlafen warst du gewesen und wolltest mir erklären, du könntest nicht mitgehen. Dass du eine Mathearbeit schreiben musst am nächsten Morgen. Aber ich konnte dich dennoch überreden.« Jennys Miene hatte sich verdunkelt. »Ich habe eine Sechs geschrieben in dieser Arbeit.« Aber wieder winkte Jerry nur ab. »Ach, was bedeuten schon Noten. Abenteuer zu erleben, das ist, was zählt. Auch damals habe ich dich schließlich überreden können. War es nicht herrlich gewesen durch das kalte Meer zu schwimmen. Hach.« schwärmte er. »Waren die Meerjungfrauen nicht schön? Ja, Meerjungfrauen sind die schönsten Wesen von allen. Sie sind so elegant, wie sie durch das Meer gleiten. Fast als würden sie tanzen.«

Jenny schwieg und schlang die Arme fest um ihren Körper, während Jerry unerlässlich weiter sprach. Ihre Erinnerungen an diese Nacht waren nicht annähernd so schön wie seine. Es war unglaublich kalt gewesen im Meer und es hatte um sie herum getobt und gewirbelt, als wollte es sie umbringen. Die Meerjungfrauen, von denen Jerry nun so schwärmte, waren auch nicht besonders freundlich zu ihr gewesen. Ständig hatten sie Jenny mit hinunterziehen wollen. Sie hatten nicht verstanden, dass dies ihr Tod gewesen wäre. Am Ende hatte sich Jenny vollkommen alleine am Strand wiedergefunden. Das Meer hatte sie zu ihrem Glück an den Sandstrand gespült und nicht gegen die Klippen geschmettert. Ihr war schrecklich kalt gewesen und sie hatte gezittert. So schrecklich gezittert. Unter größter Anstrengung hatte sie sich nach Hause geschleppt und war ins Bett gefallen. Die Schule hatte sie geschwänzt und die Mathearbeit hatte sie nicht mitschreiben können. Natürlich durfte sie diese auch nicht wiederholen und hatte eine Sechs dafür bekommen. Dabei hatte Jenny so sehr dafür gelernt.

Erst jetzt bemerkte sie, dass Jerry aufgehört hatte zu sprechen. Stattdessen sah er sie mit seinen traurigen Augen an. Sie erwiderte seinen Blick mit dem Wissen, dass die Zeit nun gekommen war. Doch bevor Jenny sagen konnte, was sie sich zurechtgelegt hatte, begann auch Jerry wieder zu sprechen. »Ich war immer für dich da, egal was passiert ist. Nicht wahr, Jenny? Selbst als die bösen Männer aus deinen Albträumen kamen, war ich bei dir. Habe ich dich nicht vor ihnen so gut es ging beschützt, Jenny? Vor den bösen Männern, vor denen du solche Angst hattest. Auch als sie versucht haben, dich von mir fortzureißen, war ich standhaft geblieben. So lange ich es konnte, so lange es in meinen Kräften gelegen hatte.«

Er starrte traurig auf seine Hände. »Ich konnte einfach nicht verhindern, dass sie dich von hier fortbrachten. Dich verfolgen konnte ich auch nicht. Ich habe es versucht, das weißt du. Doch an diesen Ort konnte ich dich einfach nicht begleiten.« Nun hatte er Tränen in den Augen.

Jenny griff nach seiner Hand und drückte sie. »Es ist in Ordnung, Jerry. Ich weiß, du warst als Kind immer für mich da, wenn ich dich gebraucht hatte. Doch nun, mein lieber Freund, brauche ich dich nicht mehr. Dieses eine Abenteuer, das größte meines Lebens, muss ich ohne dich bewältigen.«

Tränen liefen seine Wange herunter und auch ihr Gesicht war vom Weinen heiß und gerötet.

»Er hat dich mir weggenommen.« Seine Stimme war plötzlich voller Hass.

»Nein, mein alter Freund, unsere Zeit war schon immer begrenzt. Das wussten wir doch. Sie musste irgendwann ein Ende haben und dieses ist nun gekommen. Ich liebe Simon und hoffe, du kannst es verstehen. Oder zumindest akzeptieren,« fügte Jenny schnell hinzu, als sie seine unversöhnliche Miene sah.

»Also willst du mich einfach im Stich lassen? Nach allem, was wir erlebt haben?« Ganz leicht schüttelte Jenny ihren Kopf, wobei die einzelnen losen Strähnen um ihr Gesicht herumwirbelten. »Ich möchte, dass du mich erwachsen werden lässt, so wie du es schon längst hättest tun sollen. Du warst so lange mein Freund. Mein bester Freund und noch so viel mehr. Du warst meine Familie, doch nun habe ich eine neue. Nun ist Simon mein bester Freund.« Jenny lächelte. »Nun brauche ich dich nicht mehr.«

Simon blickte aus dem Fenster des Hauses. Schon seit einigen Stunden saß Jenny alleine auf dieser Bank und starrte hinaus auf das tosende Meer. Ihr perfektes weißes Kleid, das er eigentlich noch nicht sehen durfte, war nun eher gräulich. Ihr Schleier hielt nur unter größtem Protest dem Reißen des Windes stand, dem die aufwendige Hochsteckfrisur schon längst zum Opfer gefallen war. Er seufzte bedauernd. Natürlich wusste er, dass sie diese kurze Auszeit brauchte. Jenny hatte es ihm erklärt und er hatte es verstanden. Er würde jede ihrer Absonderlichkeiten verstehen, schließlich tat sie das mit seinen Ticks auch. Seine Hände waren noch immer gerötet vom langen Schrubben und um seine Fliege richtig zu binden, hatte er fast zwei Stunden gebraucht, bevor er annähernd zufrieden war. Seine persönliche Bestzeit. Jenny hatte einen positiven Einfluss auf ihn und er glaubte, dass beruhte auf Gegenseitigkeit. Schließlich hatte sie aufgehört ständig mit sich selbst zu sprechen. Und auch ihre Selbstmordversuche hatten aufgehört, seitdem sie sich kennen gelernt hatten.

Doch erst, als sie von der Bank aufstand und mit einem Lächeln und Tränen in den Augen zum Haus zurückkehrte, konnte er beruhigt ausatmen. Als hätte sie es gehört, blickte Jenny zu ihm auf und winkte ihm lächelnd zu. Sie hatte geweint. Das verrieten die schwarzen Spuren unter ihren Augen und die geröteten Wangen. Doch in dem Moment, in dem sich ihre mit Simons Augen trafen, strahlten sie wie Sterne.

(un)gewöhnliche Freundschaften

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