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Teil I Knospen bersten

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Der Jüngling

Über dem Wald liegt Dämmerung. Je heller das Licht wird, desto bleicher werden die Sterne am Himmel. Tief im Südwesten ist die Mondsichel noch schwach zu sehen. In der Rodung liegt wieder viel Schnee, unter den Bäumen nicht. Die ganze Woche lang hat es gleichmäßig geregnet. Kälteschwaden ziehen langsam ins Tal hinunter. In den Senken verdichten sie sich, und man kann nur die herausragenden Baumspitzen sehen.

Aus einem solchen Nebelpolster trottet ein kleines Geschöpf hervor. Ein Junge. Das bin ich. Ich heiße Yngve. Ich arbeite mich zielbewußt voran. Stapfe durch den klebrigen Schnee. Ich bin kaputt, schweißnaß. Die Haare kleben mir an der Stirn. Ich will oben auf den Hügel. Versuche, unter den Kiefern zu gehen, da ist weniger Schnee. Ich kämpfe mich über die weichen Schneewehen hinweg.

Endlich bin ich oben bei dem großen Stein. Unserem Stein. Ich taumle darauf zu und falle daneben, auf den Zweigen der Fichte krümme ich mich zusammen.

Mein keuchender Atem beruhigt sich nicht.

Bald heult es aus meinem Versteck, wie ein angeschossenes Tier.

Weinen ist schlecht, aber mir tut es gut. Nach einer Weile werde ich ruhiger und erhebe mich. Sehe, wie die Sonne durch die Baumwipfel auf den Bergrücken fällt. Ich schluchze noch ein bißchen, trockne mir mit der Hand das Gesicht ab und klettere auf den Stein. Auf unseren Stein. Dann setze ich mich auf ein Mooskissen und starre in das rotgelbe Licht, lasse die Sonne in mich eindringen, um alle Gefühle wegzupressen, alle Gedanken, alles. Aber das nützt nichts. Der Schrei baut sich auf. Ich muß das schreien, werfe mich über den Stein und schluchze: «Magnus, Magnus, Magnus ...»

Dann setze ich mich plötzlich auf und spreche, klar und verbissen: «Du bist feige, feige! Du hast mich immer gekannt. Ich kenne dich so gut wie du dich selbst. Du hast genauso mitgemacht wie ich. Wir waren immer zwei! Jetzt traue ich mich endlich, das beim Namen zu nennen, was wir seit zwei Jahren wissen, und da haust du ab, du Arsch. Mein schöner Arsch. Ich weiß ja, das ist wegen deiner scheinheiligen Familie und Gott und sonst wem und aller Welt. Du brauchst nur das Wort zu hören, das unaussprechliche Wort ‹homosexuell›, und schon donnert das Echo in deinem Kopf: Unnormal! Abnorm! Sünde! Ach, Herrgott, Magnus, mein Junge, was soll nur aus uns werden? Was soll aus dir werden? Und was soll ich mit mir anfangen? Ich liebe dich, Magnus, nur dich ...»

So liege ich da und wimmere, sehne mich und fluche.

Yngve Vilde heiße ich, und im Herbst werde ich sechzehn.

Die Sonne scheint kalt auf mich und den feuchten Stein. Unseren Stein.

Magnus

In der vierten Klasse wurden wir Freunde. Wir waren gerade von Toten, wo meine Mutter, mein Bruder und ich zwei Jahre lang allein gelebt hatten, nach Lambertseter umgezogen. Mein Vater arbeitete in Oslo, hatte zur Untermiete gewohnt und auf eine Wohnung gespart. Ich war froh, als die Familie wieder zusammen war, aber in der Schule hatte ich es zuerst verdammt schwer. Ich wurde ausgelacht und gehänselt, weil ich einen anderen Dialekt sprach. Niemand wollte mit mir zu tun haben. Aber einmal, als zwei von den starken Jungs mich ganz besonders piesackten, mischte Magnus sich ein. Er war der Sohn des strengsten und frömmsten Lehrers, und niemand traute sich an ihn heran. «Ihr seid feige, er ist doch kleiner als ihr», sagte Magnus.

Das reichte. Die starken Jungs verdrückten sich, und Magnus half mir hoch. Danach wurde ich ziemlich in Frieden gelassen, aber ich bekam weiterhin keinen richtigen Kontakt zur Klasse. Ich stand jetzt unter dem Schutz des «Schäferhündchens» und wurde verachtet. Aus Rache hatte ich immer die besten Noten, aber davon wurde die Sache auch nicht besser.

Unsere Freundschaft wuchs langsam. Magnus ging oft zum christlichen Jugendclub und schleifte mich mit. Damals gab es für mich keine andere Möglichkeit, mit Gleichaltrigen zusammenzusein, aber dort gefiel es mir nicht. Ich hatte nur wenig für Jesus und für Kirchenlieder übrig – eine Abneigung, die ich wohl schon mit der Muttermilch eingesogen hatte.

«Wenn du mit der einen Hand Gott um Speise bittest und in die andere hineinspuckst», sagte meine Mutter einmal, «was meinst du, in welcher Hand du nachher mehr hast?» Auch sie konnte in Gleichnissen reden, aber ihre waren sehr viel greifbarer als die aus der Heiligen Schrift. Ich ging weiter zum Jugendclub, Magnus zuliebe. Es dauerte länger als zwei Jahre, bis ich mir einzugestehen wagte, daß ich in ihn verliebt war. Diese Erkenntnis drängte sich mir unbarmherzig auf. Es war eine Katastrophe. Verwirrend und erschreckend. Einerseits die starken und warmen Gefühle. Guter Wille, Zärtlichkeit und Verlangen. Andererseits die Angst. Angst vor dem Unaussprechlichen. Vor der drohenden Verdammnis. Vor der eiskalten Einsamkeit. Ich konnte doch mit keinem darüber reden. Das war unvorstellbar.

Zum ersten Mal in meinem Leben betete ich abends. «Lieber Jesus, erlöse mich von dem Übel und von allen sündhaften Gedanken.»

Aber ich betete nur mit einer Hand – mit der anderen wichste ich. Ich konnte nicht schlafen, weil ich so geil war wie ein zum Platzen gefüllter Karnickelstall. Ich konnte einfach nicht anders. Ich dachte die ganze Zeit an Magnus, sah seinen Mund vor mir, seine Stupsnase, die großen braunen Augen und die dunklen Locken. Und seinen schönen Körper ... Ooooh! Danach betete ich weiter: «Lieber Gott und Jesus, Verzeihung! Bitte macht, daß ich nicht so bin, bitte macht, daß das vorbeigeht!» Aber es ging nicht vorbei. Die Wahrheit – die unveränderliche Wahrheit – legte sich um mich wie eine Zwangsjacke, immer enger, immer enger: Du bist homo!

Im Jugendclub sangen wir ein schönes Lied:

In der Jugend lernt man leicht,

Denk, wie diese Zeit verstreicht.

Wir gingen in Parallelklassen. Turnen hatten wir gemeinsam. Mit dreizehn wuchsen uns die ersten Haare über dem Pimmel, und im Sommer vor dem Konfirmandenunterricht kamen wir in den Stimmbruch. Wir trafen uns oft, lernten zusammen und brachten uns selber Gitarrespielen bei. Aber über vieles sprachen wir nicht. Ich traute mich einfach nicht, ihm zu sagen, wie es um mich stand. Denn was, wenn er mich dann nicht mehr sehen wollte? Dann wäre die Jugend jedenfalls vorbei. Für immer. Ich betete und wichste und weinte.

Als wir eines Herbstabends bei Magnus Hausaufgaben machten, kam sein Vater ins Zimmer. Er war ein großer, kräftiger Mann, hatte ein strenges Gesicht und viele Haare in den Nasenlöchern. Er befahl uns spazierenzugehen. Es sei ungesund, immer drinnen zu hocken. Und außerdem könnten wir dann eine Mappe holen, die er in der Schule vergessen hatte. Es sei nicht eilig. Wir bekamen einen Schlüssel und machten uns auf den Weg.

«Jetzt machen wir was Tolles!» rief Magnus. «Wir erforschen die Schule im Dunkeln. Das ist verboten, aber unheimlich spannend.»

Es war unheimlich spannend. Wir schlichen auf geheimer, gefährlicher Mission in Gängen, Winkeln und Ecken herum. Das Verbotene erregte uns sehr.

«Jetzt bin ich der Schurke, und du mußt mich fangen!» Magnus rannte in die Turnhalle, und ich hinterher. Wir waren überall, oben und unten. Tobten uns aus, so leise wie möglich. Schließlich fiel ich über ihn her und hielt ihn an den Beinen fest. Aber Magnus wand sich aus seiner Hose und entwischte. Ich mußte ihn sehr lange jagen, bis ich ihn in einer Ecke der Garderobe eingeklemmt hatte. Als ich ihn endlich festhielt, war er nackt. Unser Atem war warm, wir klammerten uns aneinander.

«Du mußt dich auch ausziehen, Yngve!» Er legte die Hände um meinen Kopf, während ich mir die Hose auszog. Dann zog er mich an sich. Nackte Haut an nackter Haut. Zum ersten Mal in unseren jungen Leben. Wir drückten uns hart und fest. Lange. Dann fingen wir an, uns anzufassen. Vorsichtig tastend, streichelten wir uns über den Rücken, durch die Haare. Die Tränen liefen. Keiner von uns wollte loslassen. Außer Atem legten wir uns auf die stinkenden Schweißturnmatten und liebten uns. Lange, lange. Lernten uns richtig gut kennen und lernten viel über uns selber.

«Ich hab mich so nach dir gesehnt!» sagte ich.

«Und ich mich nach dir!» sagte Magnus. Und wir küßten uns wieder und wieder. Lachten und weinten. Patschten einander ins Gesicht. Ich nahm seinen Schwanz in die Hand. Er war einfach schön. Und nicht größer als meiner.

«Sollen wir’s jetzt machen?» flüsterte ich.

«Was denn?»

«Kommen.»

«Wieso denn?»

Verstehen überflutete mich wie eine Welle von Zärtlichkeit. «Nein, aber, Magnus, o mein Junge, hattest du denn noch nie ... einen ... Orgasmus?»

«Nein ...» Er versteckte sein Gesicht an meinem Hals.

«Ach, Magnus, keinen Schreck kriegen, keine Angst haben, ich helf dir. Guck mal, es ist nicht gefährlich, nur schön.»

Wir halfen uns gegenseitig. Wir waren so geil, daß wir sofort kamen, gleichzeitig. Das war’s, wovon ich geträumt hatte; mit ihm, von dem ich geträumt hatte! Und diesmal war es kein Traum. Er war noch immer da – ich konnte ihn anfassen und fühlen. Er hing krampfhaft in meinen Haaren und stöhnte, ein kleines, überwältigtes Stöhnen.

«Geht’s dir gut, Magnus?»

«Ich weiß nicht, doch, gut, gut. Aber es ist bestimmt nicht gefährlich? Es war so ... stark.»

«Nein, ganz sicher nicht gefährlich. Sie sagen das nur, damit wir ... das nicht machen. Damit es uns nicht gutgeht.»

«Kannst du nicht das Licht anmachen? Ich möchte sehen, wie das aussieht. Der Schalter ist da hinten neben der Tür.»

«Da gibt’s nichts zu sehen. Es ist weiß und glänzt.»

«Ja, aber ich will es sehen. Du brauchst doch nur das Licht anzumachen. Niemand kann uns hier entdecken.»

Blink-blink-blink. Das Licht tat mir in den Augen weh. Aber jetzt konnte ich ihn auch sehen. Er lag noch mit dem Rücken auf der Gummimatte und schaute mit offenem Mund und mit erstaunten Augen über seinen glänzenden Bauch. Ich war sofort bei ihm und nahm seine Hand. Er hatte Angst.

«Wie kannst du überhaupt wissen, daß es nicht gefährlich ist?»

«Weil ich das jeden Tag mache, schon über ein Jahr, und weil es in Karl Evangs Arztbuch steht. Keine Angst, Magnus. War’s denn nicht schön?»

«Doch. O doch!» Sein ganzes Gesicht leuchtete auf, als er mich ansah.

Wir betrachteten uns lange.

«Ich finde dich schön», sagte er.

«Ich dich auch.»

Dann trockneten wir uns mit meiner Unterhose ab. Wir hatten nichts anderes. Als wir uns anzogen, umarmte er mich plötzlich hart und hatte wieder Angst. «Du sagst es doch keinem?»

«Nein, spinnst du? Natürlich sag ich’s keinem. Keiner Menschenseele. Das ist und bleibt unser Geheimnis ... und ... wir tun das doch wieder? Wir bleiben doch ... zusammen?»

Magnus hielt mich mit ausgestreckten Armen von sich ab. Ich sah in seinen glänzenden Augen die Stärke wachsen. Sein Entschluß leuchtete stark und schelmisch in seinem Blick. Mit einem «Jaaa!» warf er mich auf die Matte.

Ich war gerade vierzehn geworden. An diesem Abend fing mein Leben an. Auch innerlich wuchs ich – wuchs ich mich stark. Ich werde niemals vergessen, was da zwischen uns passiert ist. Magnus auch nicht, auch wenn er es mit aller Kraft versucht.

Von da an waren wir unzertrennlich. Aber wir verstanden instinktiv, daß wir uns in acht nehmen mußten. Vor allem in der Schule. Am meisten aber vor Magnus’ Vater. Wir wußten genau, daß etwas Schreckliches passieren würde, wenn man uns entdeckte. Die Erziehung der fünfziger Jahre hatte uns davon überzeugt, daß «nette Onkel» kein bißchen nett waren – und daß Wichser, Schwule, Arschficker und Exhibitionisten minderwertige gefährliche Tiere waren, vor denen brave Jungen sich hüten mußten. Das taten wir auch! Denn wir waren ja nicht so. Wir waren ineinander verliebt, mit den Kräften der Jugend in doppelter Potenz. Keine Macht der Welt hätte uns voneinander trennen können. Trotz der gründlichen Bearbeitung durch die Mächtigen und die Moral.

Ich hatte eine glückliche Hand gehabt bei der Wahl meiner Eltern. Gesundes Zusammenleben haben sie mich zwar nicht gerade gelehrt, aber sie versuchten auch nicht, die sexuellen Seiten des Lebens zu unterdrücken. Evangs Arztbuch stand bei ihnen im Regal, und darin las ich, bis meine Augen groß und feucht wurden – und mein Schwanz auch. Ich fand alles sozusagen auf eigene Faust heraus und brauchte nicht zu fragen.

Der arme Magnus hatte es da nicht so leicht. All sein Wissen über unsere Körperfunktionen verdankte er drohend gereckten Zeigefingern und einem «Gesundheitslexikon», das für armselige Knaben mit schmutzigen Lüsten und Lastern bestimmt war. Dort stand: «Onanie, siehe Selbstbefleckung». Und all die Ansteckungsgefahren, die im Pimmel lauerten, waren fürwahr kein Pappenstiel. Ich geriet völlig in Verzweiflung, als Magnus mir zeigte, was wir Selbstbeflecker für schicksalhafte Leiden zu erwarten hatten: Pickel, trockenes Haar, Schuppen, Haarausfall, bleiche Haut, unsteten Blick, Rückenmarkschwund. Und zum Schluß noch unheilbaren Irrsinn. Die einzige tröstliche von all den Prophezeiungen war: «Übersteigerte Reizung der Manneskraft führt zu übermäßigem Wachstum derselben.» Immerhin ein Trost! Aber erst nach einigen Monaten legte sich Magnus’ Angst vor Rückenmarkschwund und all den anderen Scheußlichkeiten. Ganz losgeworden ist er sie wohl nie. Es bleibt nicht ohne Folgen, wenn man seine ganze Kindheit hindurch mit den Händen auf der Bettdecke schlafen muß.

Aber nach und nach widerlegten wir gemeinsam diese blöden Behauptungen – durch theoretische und praktische Experimente. Leider zeigte es sich im Lauf der Zeit, daß wir uns mit einer gnadenlosen Übermacht angelegt hatten: mit dem Herrn und seinen eifrigen Dienern.

Bei Magnus zu Hause konnten wir nicht Zusammensein. Er war das vorletzte von sechs Geschwistern und teilte sein Zimmer mit einem älteren Bruder. Sein Vater hatte alle Kinderzimmerschlüssel eingezogen; also konnte, auch wenn Magnus’ Bruder nicht da war, jederzeit irgendwer hereinplatzen. Bei mir zu Hause ging alles leichter. Jedenfalls konnte ich meine Zimmertür abschließen. Aber diese Teure-Heimat-Blocks sind ja so verdammt hellhörig, daß wir einfach nicht zu wichsen wagten, wenn meine Eltern da waren. Zum Glück waren sie beide in der Gewerkschaft aktiv, wir hatten also meistens zwei oder drei Abende in der Woche für uns. Wir beide – allein. Ich war schon vorher krank vor Verlangen und Lust. Magnus auch. Was zwischen Magnus und mir entstand, gehörte nur uns, und ich bewachte es wie den kostbarsten Schatz der Welt – das war es ja auch.

In der Schule redeten wir so wenig wie möglich miteinander. Einfach, weil wir uns sonst verraten hätten. Ich war ganz sicher, wenn jemand gesehen hätte, wie Magnus mich verliebt anlächelte, hätte er sofort gewußt, was Sache war. Ich selber war bestimmt auch wie ein offenes Buch – also mußte ich mich schließen. Die meisten anderen Jungs wichsten zwar auch zusammen, aber niemand redete darüber. Statt dessen florierten Schwulen- und Arschfickerwitze, und wehe dem, der mit diesem Kainsmal gezeichnet war. Er bekam die Doppelmoral am eigenen Leib zu spüren. Natürlich wurden immer die Schwachen zu Sündenböcken gemacht – nach den Buchstaben der christlichen Moral. Die meisten warfen gern den ersten Stein. Lynchjustiz gab es schon damals oft. Seitdem ist es eher schlimmer geworden. Wir hatten Angst und lernten schon mit vierzehn Jahren, uns zu verstecken. Wir hatten ja auch etwas zu verbergen. Wir hatten ein Liebesverhältnis, das in uns und mit uns wuchs. Aber uns wurde beigebracht, daß dies unerwünscht und gefährlich war. Gefährlich für die anderen, wohlgemerkt. Für uns lagen darin alle Werte des Lebens, und die wollten wir um jeden Preis schützen.

Der Pastor Christian

Jeden Dienstagabend gingen wir zum Konfirmandenunterricht. Um auf die «Erneuerung unseres Taufgelöbnisses» vorbereitet zu werden, wenn ich mich recht entsinne. Wir waren hundertvierundzwanzig Jungen und Mädchen und hatten eine Menge Gemeinsames. Unter anderem wußten wir nicht mehr, was wir bei der Taufe gelobt hatten. Genau das hatte auch die Kirche kapiert, und sie benutzte die Gelegenheit, um ein Maximum an strenger Gottesfurcht und miefiger Sexualmoral in den Unterricht zu pferchen. Der Punkt war, daß das Taufgelöbnis für alle Zukunft gelten sollte. Als ob wir einmal einen Vertrag unterschrieben hätten, der jetzt plötzlich eine Menge Kleingeschriebenes auf dünnem Papier enthielt, ein paar tausend Seiten sogar. Im Grunde war das vergeudete Zellulose. Die Essenz von dem Ganzen war kurz und bündig: Alles, was guttut oder Spaß macht, ist Sünde!

Auch der Mammon war Sünde. Das mußten wir gründlich lernen, und das verstanden alle. Genau deswegen erschienen die meisten von uns, um mit dem Segen Gottes und der Kirche ihre Taufe zu konfirmieren. Im Jahr zuvor hatte Aages Bruder dreitausendsechshundert Kronen einkassiert. Das war der Rekord.

Ein junger und dynamischer Vikar namens Fuchsholm leitete den Grundkurs in Furcht und Sünde und bestand darauf, daß wir ihn Christian nannten. Er seinerseits hatte Augen für Magnus und mich. Es dauerte nicht lange, bis er uns zu sich rief. Mir war nicht ganz klar, was wir zu erwarten hatten, aber mir schwante Übles. Drohendes. Er war noch nicht lange in der Gemeinde, aber er kannte uns aus dem Jugendclub. Wir wurden zu ihm zum Essen eingeladen – um zu besprechen, wie wir die Konfirmanden in ein christlicheres Milieu bringen könnten.

Der Priester war schon mit Magnus’ Familie befreundet, und der Junge nahm die Einladung für uns beide dankend an. Ich hatte nicht die geringste Lust dazu. Aber es führte kein Weg daran vorbei. Ich konnte ja schließlich Magnus nicht allein gehen lassen. Die Pastorenwohnung lag bescheiden zurückgezogen in der besten Villengegend und unterschied sich durch nichts von den übrigen Häusern. Fünf vor fünf schellten wir an der Tür, aber niemand machte auf.

«Er ist wohl aufgehalten worden, er hat sicher viel zu tun», sagte Magnus.

Wir setzten uns auf die Treppe und warteten. Schlag fünf kam der Pastor in einem blauen Trainingsanzug den Gartenweg heraufgejoggt, ganz rotes Gesicht und weißes Lächeln.

«Nein so was, ihr seid ja zu früh, Jungs! Ja, ja, macht nichts, hoffich. Ich persönlich bin pünktlich. Immer pünktlich!»

Wir murmelten eine Art Entschuldigung, während der Pastor die schwere Eichentür weit aufmachte. «Wie ihr seht, schließe ich nicht ab, Jungs. Ihr hättet gleich reingehen können. Meine Tür steht immer offen für nette Jungs wie euch!»

Er schob uns in eine große Diele. «Hängt euch hier auf, Jungs, und zieht eure Schuhe aus. Ich hab was anderes zu tun, als Fußböden zu putzen, das könnt ihr euch bestimmt vorstellen. Ich hab ja keine Frau, die mich versorgt!»

Doch. Konnten wir uns vorstellen.

«Aber ihr müßt wissen, Jungs, daß ich eine sportliche Natur bin. An wirklich jedem Tag jogge ich ein paar Kilometer vor dem Essen ... außer sonntags natürlich ... und danach mach ich’s mir in der Sauna gemütlich. Das ist gesund und erhält jung, hehe, und hier im Haus gibt’s eine Sauna. Ihr könnt mir also Gesellschaft leisten, bevor wir essen. Ich habe einen schönen Lammbraten aus der Tiefkühltruhe genommen, in einer halben Stunde müßte der fertig sein. Also, kommt hier lang.»

Der Priester nahm uns beide um den Nacken und schob uns die Kellertreppe hinunter, hinein in einen großen Waschraum mit zwei Duschen. «Zieht euch schon mal aus, ich muß eben nach der Temperatur sehen», sagte er und verschwand durch eine Seitentür.

Ich sah Magnus skeptisch an, aber der zuckte nur mit den Schultern. «Keine Sorge. Das ist doch nicht gefährlich.»

«Natürlich nicht gefährlich, aber, um Gottes willen, was will er denn bloß von uns?»

«Nun mach dir doch keine Gedanken, er ist doch ein Pastor!» sagte Magnus und fing an, sich auszuziehen. Widerstrebend folgte ich seinem Beispiel. Und dann standen wir da, nackt. Ich sah auf den Körper meines Liebsten und mußte einen Klumpen im Hals hinunterschlucken.

«Na, kommt schon! Hier spielt die Musik!» Der Pastor steckte seinen Kopf durch die Saunatür. Wir gingen hinein. «Macht schnell die Tür zu. Hier sind jetzt über achtzig Grad. Setzt euch hier nebeneinander. Ich lauf am liebsten ein bißchen herum», sagte der Pastor Christian. Und das tat er. Magnus und ich saßen ganz blöd da. Wir waren beide ziemlich gleich und durchschnittlich ausgerüstet, aber der Priester hatte einen Hammer, wie wir noch nie einen gesehen hatten. Und auf den war er offenbar reichlich stolz. Er hüpfte und sprang herum und schüttelte sich und das Seine.

Ich fühlte mich unangenehm berührt, und mir wurde langsam ziemlich flau. Als ich mich umdrehte und Magnus ansah, bekam ich wirklich einen Schreck: Er saß da mit großen Augen und weit offenem Mund und starrte wie hypnotisiert den Riesenschlegel des Priesters an, der da vor ihm hin und her schwang. Er hatte sogar einen stehen und beugte sich vornüber, um das zu verbergen. In mir krampfte sich alles zusammen. Ich konnte kaum noch atmen. Ich war wütend und hatte Angst und verstand plötzlich, was Eifersucht ist. «Scheiß Pope, verdammter!» dachte ich, so laut ich konnte.

«Ihr müßt mich auf jeden Fall Christian nennen», sagte der Pastor. «Im Kurs gibt es anscheinend viele, die das nicht wollen, aber ihr kennt mich doch schon so gut, das fehlte gerade noch!» Er sah uns schelmisch auf Erwachsenenweise an und zeigte dann seine Zähne.

Wir sahen beide zu Boden. Magnus, weil er sich nicht wohl fühlte, und ich, weil ich mir überfahren vorkam und weil ich merkte, wie der Widerwille drohend immer mehr in mir wuchs.

«Wollt ihr euch denn nicht ein bißchen bewegen?» rief der Mann aufmunternd und setzte sein linkes Bein auf die Bank. Dann fing er an, sich vor und zurück zu strecken, und sein Schwanz bammelte einen halben Meter vor Magnus’ Gesicht.

Ich konnte keine Sekunde länger mehr ruhig sitzen und sprang auf – ich hatte jedenfalls keinen stehen. Meiner war aus lauter Protest total eingeschrumpft.

«Sieh mal!» rief der Pastor. Er griff nach einer alten Birkenrute, die auf der obersten Bank lag, und schlug mir damit über den Hintern, daß es brannte. Ganz automatisch riß ich sie ihm aus der Hand. «Toll!» rief er begeistert. «Jetzt kannst du mich ein bißchen peitschen!» Darum brauchte er mich nicht zweimal zu bitten. Ich schlug aus voller Wut und ohne nachzudenken auf ihn ein, und der Pastor drehte mir den Arsch zu und rief: «Aaaah! Schön ... mehr!» Okay, also machte ich weiter, bis der Mann seinen Hintern in die Luft streckte und wie ein Schwein grunzte.

Erst da konnte ich mich soweit zusammennehmen, daß ich die widerliche Birkenrute hinwarf. Was sollte ich damit? Was tat ich denn bloß hier?

Der Pastor war jetzt richtig geil und fiel über Magnus her. «Und jetzt massieren wir uns ein bißchen!» sagte er befehlend und fing an, meinem Liebsten mit der einen Hand über die Brust und mit der anderen über den Rücken zu reiben. Magnus richtete automatisch seinen Oberkörper auf, und sein niedlicher Schwanz stand in die Luft. Und der Pastor erzielte den Weltrekord in Blitzmassage und war schon bei Magnus’ Schritt angekommen.

Da reagierte ich spontan. Ich packte die schlaffe, schweißnasse Popenschulter, schleuderte ihn fast einen Meter weit weg auf die Bank und schrie: «Zum Teufel, nimm dich endlich zusammen, du geiler Idiot!»

Das hatte er nicht erwartet. Er war ganz überrascht und kam mit einem ziemlich zahmen und wirren Kommentar: «Aber, was ist denn mit dir los, junger Mann? Du hast doch nicht etwa Angst vor ein paar gesunden Leibesübungen?»

Ich konnte nicht antworten, Tränen und Wut saßen mir im Hals. Der Pastor kapierte offenbar, daß es mir ernst war. Er tarnte rasch, was er zwischen den Beinen hatte, und begann, alles wegzuerklären. Ich stand mit geballten Fäusten vor ihm.

«Jetzt beruhig dich doch und hör mir zu», sagte er eindringlich mit seiner salbungsvollen Stimme, die er sich auf dem Priesterseminar anstudiert hatte. «Ihr wißt beide gut, daß ich ein Anhänger des liberalen Christentums bin. Ich bin ein positiver Mensch. Ich bin gern richtig schön und gemütlich mit meinen Mitmenschen zusammen. Ich habe nun sieben, acht Jahre Theologie studiert und kann nicht einsehen, was daran falsch sein sollte, wenn wir Jungs uns auch ein bißchen ... zusammen amüsieren. In meinem innersten Gewissen bin ich davon überzeugt, daß Gott nichts dagegen hat, wenn Menschen sich untereinander Gutes tun! Stimmst du mir zu, Yngve?»

«Doch, schon», preßte ich mit belegter Stimme hervor. «Aber das wissen Magnus und ich schon lange, ganz von alleine.» Ich ging zu meinem Jungen hinüber und nahm seine Hand. Und brach in Tränen aus. «Wir sind zusammen, und du darfst dich da nicht einmischen! Wir haben uns gern, und wir kommen allein zurecht ... ohne fremde Hilfe.»

Ich hatte gehofft, daß Magnus auch etwas sagen würde, aber das tat er nicht. Er stand nur da und sah zu Boden.

«Ach so, ja. So ist das also. Ja, ja, dann versteh ich alles viel besser!» Der Pastor war wieder obenauf. Fast ein bißchen drohend. Langsam und eindringlich sprach er weiter: «Und ihr zwei jungen hübschen Knaben wollt alles für euch selber behalten. Ihr wollt mit keinem teilen ... am allerwenigsten mit einem ungeschickten dreißigjährigen Pastor, der ein bißchen menschlichen Kontakt braucht. Na gut, Jungs! Das ist eure Entscheidung!»

Magnus ließ mich los und versteckte sein Gesicht in den Händen. Ich war noch immer so sauer, daß die Moralpredigt von mir abprallte, aber trotzdem wußte ich nicht, was ich sagen sollte. «Ja, meinst du denn, daß ...»

«Ich meine nur eins, und merk es dir, Yngve: Jesu Gebot der Nächstenliebe gilt für alle. Auch für euch!»

In der schwülen Sauna herrschte gefährliche Stille. Das Atmen machte mir Mühe, und der Pastor musterte mich streng und gründlich. Ich versuchte, trotzig zurückzustarren. Zum Schluß befahl er: «Ihr könnt schon mal duschen gehen. Ich komm gleich nach!»

Wir beeilten uns. Magnus hatte Gott sei Dank keinen mehr stehen. Als wir glücklich draußen im Duschraum waren, blieben wir stehen und sahen uns an.

«Zum Teufel, so was Widerliches!» sagte ich.

«Aber du hättest doch nicht so böse zu werden brauchen?»

«Böse? Herrgott, Magnus, was hätten wir denn machen sollen?» Ich war ganz verzweifelt und wollte ihn berühren, aber er schob mich weg.

«Faß mich nicht an!» sagte er irritiert und stellte die Dusche an.

Ich merkte, wie meine Tränen stärker wurden als mein Zorn. Ich fühlte mich krank und zitterte am ganzen Körper, wollte nur noch weg von dort. «Können wir nicht gehen? Wir müssen doch darüber reden!»

Magnus sah mich ernst an und nickte. Der Pastor hatte sich noch nicht wieder blicken lassen. Als wir wieder im Erdgeschoß waren, fiel mir das Atmen leichter.

«Wolltest du wirklich so eine Orgie mit dem Typ veranstalten?»

«Quatsch, spinnst du? Aber er hat’s bestimmt auch nicht so leicht. Du hättest ruhig etwas freundlicher sein können. Hast du nicht gesehen, daß du ihn schrecklich verletzt hast ...»

«Aber, du hast doch gehört, was er gesagt hat! Nächstenliebe bedeutet, das mit ihm zu machen. Er will uns ausnützen! Findest du nicht, daß wir mit uns selbst genug haben?»

«Ja, klar, aber er hat doch auch recht, man soll nett zu seinen Mitmenschen sein und so ...»

Genau da kam der Pastor die Kellertreppe hochgejoggt, wieder so munter und dynamisch wie zuvor. «Ja, ja, Jungs. Jetzt lassen wir’s uns jedenfalls schmecken. Ihr mögt doch Lammbraten? Der muß jeden Augenblick fertig sein. Hilfst du mir den Tisch decken, Magnus?»

Ich war alles andere als hungrig. Mir war übel, und ich wollte nur weg – aber nicht ohne Magnus. Der wiederum war der nette, wohlerzogene Konfirmand zu Besuch beim Pastor und übernahm für uns beide die Unterhaltung. Ich konnte kein Theater spielen, war stumm und verschlossen, aber der Pastor ließ sich davon nicht beeinflussen. Er konzentrierte statt dessen alle Aufmerksamkeit auf Magnus und war richtig gut aufgelegt. Schließlich fühlte ich mich noch elender als in der Sauna – und aß gar nichts.

«Hast du denn keinen Hunger, lieber Yngve?» Der Pastor hatte eine aufrichtige, bekümmerte Miene aufgesetzt.

Und davon kamen mir erneut die Wut und die Tränen. «Mir ist der Appetit vergangen.»

«Also, wirklich, Yngve! Nimm das doch nicht so schwer. Du hast überhaupt keinen Gund, hier zu sitzen und zu schmollen. Wir werden schon noch wieder gute Freunde, wart’s nur ab.» Er nahm einen großen Bissen Fleisch, bevor er weitersprach. «Denk nur an Jesus und seine Jünger! Die moderne theologische Forschung ist zu dem Ergebnis gekommen, daß sie alles andere als nur platonische Freunde waren. Jesus mochte vor allem Johannes leiden. Ihr habt vielleicht gemerkt, daß sich Johannes in seinem eigenen Evangelium als ‹der Jünger, den Jesus liebte› bezeichnet? Das kann nur eins bedeuten, nämlich, daß sie buchstäblich ... äh, zusammen schliefen. Das sind historische Fakten, die natürlich nicht täglich in der Lehre der Kirche zu ihrem Recht kommen, und dagegen kann man ja auch nichts machen. Aber wir, die wir auf diese Weise fühlen, müssen wissen, daß wir von Gott nichts zu befürchten haben!» Der Pastor lächelte sein selbstsicheres Lächeln.

Magnus lächelte verlegen zurück und sagte unsicher: «Toll.»

Ich fühlte instinktiv, daß es jetzt gefährlich wurde. Wenn ich weiter opponierte – gegen den Pastor und gegen Gott –, würde ich eine schreckliche Niederlage erleiden. Also sagte ich: «Nein, es kann doch auch nicht falsch sein, wenn Leute sich mögen.»

«Nein, genau! Und daß wir ab und zu ein bißchen nett zueinander sind, ist nur gut und richtig! Ja, ja. Wenn ihr jetzt satt seid, räumst du vielleicht das Geschirr weg, Yngve, und dann setzen wir uns ins Wohnzimmer und trinken ein Glas Portwein zum Kaffee. Das lehnt ihr doch wohl nicht ab, Jungs! Auch Jesus trank Wein, wißt ihr. Mit Maßen natürlich. Alles mit Maßen, das ist mein Wahlspruch. Ihr werdet ja ohnehin bald zum Abendmahl gehen, da schadet es nicht, wenn ihr euch ein Gläschen gönnt. Ich persönlich rauche nach dem Essen auch gern eine Zigarre. Ein kleines Laster muß man sich doch ab und zu erlauben dürfen. Es ginge vielleicht zu weit, euch Tabak anzubieten, oder? Obwohl, an mir soll’s nicht liegen. Na gut, dann nicht. Nein, nein, das ist ja nur vernünftig, Jungs, aber wenn ihr probieren möchtet, könnt ihr ja einen Zug von meiner nehmen ...»

Ich verabscheute schon den Gedanken an seine Zigarre. Magnus dagegen zog vorsichtig daran.

«Zigarren dürfen nicht inhaliert werden. Blas den Rauch leicht wieder aus und genieße den Geschmack.» Der Mann dozierte weltgewandt. Magnus ließ sich instruieren, nickte anerkennend und sagte, sie schmecke sehr gut. Der Pastor bot auch mir die Zigarre an, aber ich schüttelte ablehnend den Kopf. Er hob die Augenbrauen: «Dann nicht, Yngve. Niemand hier will dich zwingen. Zu nichts. Aber, ehrlich gesagt, ich finde, du bist ein kläglicher Tropf. Du machst nur alles für dich kaputt und setzt die gute Meinung der anderen ... ja, vielleicht auch ihre Freundschaft ... aufs Spiel, wenn du dich weiter so aufführst. Ich habe wirklich nichts gegen dich. Ich halte euch beide für nette, nicht zuletzt auch für intelligente junge Männer, und ... wie ich schon gesagt habe ... dieses Haus steht euch offen, wann immer ihr wollt. Und es täte mir weh, wenn ihr dieses Angebot nicht annehmen würdet.»

Die Worte hingen genauso schwer in der Luft wie der Zigarrenrauch. Dann warf mir Magnus einen langen Blick zu, und mir sackte das Herz in die Hose: Der Junge wollte alles versprechen! Und wenn ich nicht nachgab, konnte ich alles verlieren. Deshalb ging ich den ersten Kompromiß meines Lebens ein: «Das ist schrecklich nett von dir ... Christian. Wir können ja eigentlich sonst nirgendwo hingehen ... Bei uns beiden zu Hause sind so viele neugierige Leute. Bisher haben wir das ja trotzdem geschafft ... Aber es ist sicher gut, wenn wir einen erwachsenen Freund haben, der uns mag und ... respektiert.» Das letzte sagte ich leise und sah dabei meine gefalteten Hände an. An den Knöcheln waren sie blau.

«Yngve!» sagte der Pastor. «Da machst du mir aber wirklich eine Freude! Jetzt trinken wir auf uns. Auf die drei verschworenen Brüder im Geiste ... und im Fleische. Wir werden noch viel Spaß miteinander haben, und ... By the way, das bleibt doch unter uns, oder? Unsere Privatangelegenheiten gehen niemand anderen etwas an, nicht?»

«Ja, ganz klar!» Magnus war begeistert.

Ich nickte beifällig, aber ich traute mich nicht, die beiden anzusehen, denn innerlich schrie ich lauthals Protest.

Der Pastor füllte unsere Gläser. Vorher mußte Magnus noch ganz schnell seines austrinken. Er hatte noch größere und glänzendere Augen und war so schön, daß es weh tat. Er sah ganz hingerissen aus, aber er war es nicht meinetwegen. Das brachte mich wenigstens auf klare Gedanken: Herrgott, wie leichtgläubig du bist! Mein lieber, unschuldiger Junge, du merkst nicht, was echt ist und was falsch ... Aber das mußt du lernen! Was ist bloß los mit dir?

Pastor Christian beantwortete mir diese Frage. «Ich bin wirklich beeindruckt von euch Jungen heutzutage. Beeindruckt, weil ihr in bezug auf eure persönliche Entwicklung und in menschlicher Hinsicht schon so weit seid. So weit wie ihr sind natürlich noch nicht alle, ihr gehört ja immerhin zur Elite, und das darf euch auch nicht beunruhigen. Die Gesellschaftsentwicklung deutet darauf hin, daß die Intelligenzija die neue Oberklasse sein wird ...»

Jawohl, ja. Die Taktik war leicht zu durchschauen. Er lobte die Jugend, besonders uns, über den grünen Klee und brachte Magnus um Sinn und Verstand. Der Junge kapierte einfach nichts. Er saß nur da, glotzte, lächelte und fühlte sich anerkannt – von einem Erwachsenen! Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Aber nicht mit mir! Ich wollte mich nicht durch Schmeicheleien oder Überredungskünste zu irgend etwas bringen lassen, und ich wollte nichts von meinem Verhältnis zu Magnus hergeben. Um keinen Preis. Ich war noch nie eifersüchtig gewesen, auch wenn ich jeden Tag meinen Jungen mit einer Menge Leute teilen mußte. In der Schule. Im Jugendclub. Zu Hause bei der Familie. Das war ja ganz natürlich. Aber dieser Pastor hier wollte ihn mir wegnehmen. Er lockte und zog ihn zu sich hin, und ich mußte die Zähne zusammenbeißen und gute Miene zum bösen Spiel machen. Aber in mir wuchs der Haß auf diesen hinterhältigen Bibelprediger. Der Haß war so groß, daß ich Angst vor mir selber bekam.

Als wir endlich loskamen, konnte ich noch durchhalten, bis wir vom Pastorenhaus aus nicht mehr zu sehen waren. Und dann platzte die Reaktion aus mir heraus. Ich weinte und kotzte.

Magnus bekam Angst. «Mein Güte, was ist denn los mit dir? Bist du krank? Verträgst du keinen Wein?»

«Wir dürfen da nie mehr hingehen, Magnus! Er ist gefährlich. Er lügt!»

«Nein, jetzt übertreibst du. Du warst sauer und fies. Ich finde, er ist okay. Versetz dich doch mal an seine Stelle. Er ist einsam und alleine und ... Pastor und so.»

«Er mußte ja nicht Pastor werden!»

«Sag so was nicht. Er muß doch seiner Berufung folgen.»

«Seiner Berufung, uns zu quälen?»

«Er hat uns nicht gequält! Was glaubst du, wie es dir einmal geht, wenn du dreißig bist?»

«Weiß ich doch nicht. Aber ich werde bestimmt nicht versuchen, anderen alles kaputtzumachen, wenn sie zusammen sind und sich mögen. Magnus, du mußt mir glauben! Der Typ ist sicher in Ordnung, aber wir sind wichtiger. Wir müssen alles festhalten, was wir zusammen haben. Wir können nicht mit ihm teilen! Ich kann das nicht!»

«Das mein ich doch auch nicht. Daß wir mit ihm schlafen sollen ... Aber wir können doch trotzdem nett zu ihm sein. Ihn besuchen und so.»

«Dann mußt du alleine gehen. Ich kann den Kerl nicht ausstehen. Dir ist doch wohl klar, daß er unheimlich scharf auf dich ist?»

Im Laternenlicht sah ich, wie Magnus rot wurde. Bei dem Schnee war außer uns niemand auf der Straße. Ich drehte mich um und umarmte ihn. Fühlte seinen Körper durch den dicken Wintermantel. Er legte seine Arme sanft um meinen Hals.

«Wir dürfen nicht böse aufeinander sein, Magnus. Wir haben doch nur uns.»

Die Kapuzen unserer Mäntel berührten sich. Es war, als wenn wir in einem Zelt stünden. Ich weinte. Magnus auch.

«Verzeih mir, Yngve! Ich will doch nur dich. Das weißt du doch. Christian hat mir nur leid getan.»

«Würdest du mich denn mit irgendwem teilen?»

«Nein. Um nichts in der Welt.» Zwei Autos fuhren vorbei, während wir uns küßten. Eines hupte.

Confirmare

Auf die Dauer wurde der Pastor Christian ganz schön nervig. Er hatte offenbar beschlossen, daß er Magnus um jeden Preis haben wollte, und er zog ihn ganz offen allen anderen Konfirmanden vor. Der Junge wurde zu einer Art Kirchendiener ernannt und mußte jedesmal das Eingangsgebet lesen. Ansonsten sollte er als Christians rechte Hand fungieren. Aber es lief nicht so, wie der Pastor sich das vorgestellt hatte. Es dauerte lange, bis ihm aufging, daß seine Taktik ganz falsch war. Magnus führte alle Aufträge aus, aber nur aus Pflichtgefühl: nicht, weil es ihm gefiel. Die meisten anderen hoffnungsvollen Sünder waren natürlich entzückt, daß sie nichts zu tun brauchten. Mich versuchte der Pastor völlig zu ignorieren, aber trotzdem hatte ich den Hauptgewinn. Das Verhältnis zwischen Magnus und mir wurde nicht davon berührt, daß Christian versuchte, ihn mit Beschlag zu belegen. Wir schlossen uns nur noch enger aneinander. Natürlich paßte ich die ganze Zeit auf wie ein Luchs. Mit der Eifersucht konnte ich gut fertig werden. Ich vertraute Magnus.

Es war ein schöner Winter.

Wir besuchten den Pastor nie mehr – zusammen.

O ja, mit meinem Magnus wuchs ich und wurde stark. In dieser Zeit hatte ich selten Angst. Der Jugendclub kam uns zu trist vor, wir gründeten eine Theatergruppe. Genau das hatte gefehlt. In wenigen Monaten stieg die Mitgliederzahl von sechzig auf hundertdreißig, und jeden Freitag war der Bär los. Wir führten alle Sketche auf, die wir finden konnten, und schafften es immer, eine Menge draus zu machen. Wir hatten einen irren Spaß. Kostüme in allen Varianten erbettelten wir von enthusiastischen Müttern, und unsere Ausgaben für Schminke waren «unverantwortlich hoch», meinten die Verantwortlichen. Von denen gab es viele. Es gab immer ein paar Verantwortliche, die unser Programm zensierten, bevor es zur Aufführung kam. Auf diese Weise konnten sie eine Menge Vergnügen verhindern.

Aber wir lernten bald, sie zu linken. Wir veränderten unser Programm, wenn wir schon auf der Bühne waren. Frode und ich konnten das besonders gut. Er war in denselben Häuserblock wie ich gezogen und ging in meine Klasse. Wir freundeten uns ziemlich schnell an, denn ich wußte noch, wie das war, neu in der Schule zu sein. Er war ein lebhafter Typ mit viel Humor und vielen Pickeln, und wir wollten beide unbedingt Theater spielen. Wir spezialisierten uns darauf, Der Schneider und das Pusterohr aufzuführen, eigentlich zwei Sketche, zusammengerührt zu einem. Es ging darin um einen schwerhörigen Schneider, der alles falsch verstand, und zwar in immer deutlicherer erotischer Richtung. Womit wir unsere Aufführung auch anfingen, es ging immer in Der Schneider und das Pusterohr über. Jedesmal lachte das Publikum mehr.

Und jedesmal mußte nachher einer der Verantwortlichen extra deutlich betonen: «Es ist ja schön und lustig, wenn gelacht und gescherzt wird, aber trotz allem sind wir hier versammelt, um die christliche Botschaft zu hören!»

Das war eine glatte Lüge. Die meisten kamen nur, um andere zu treffen und unsere Vorführung zu sehen. Vor der Andacht gingen sie wieder – bis die Verantwortlichen eine wirkungsvolle Maßnahme ergriffen. Während des Programms wurden die Türen abgeschlossen. Sie schlössen hundertfünfzig Jugendliche eine halbe Stunde lang ein, um ihnen zu erzählen, wie sehr Jesus seinen Nächsten geliebt hat.

Aber sie wurden ja durch ihre allumfassende Bibel darin gedeckt. Autorisiert von höchster Stelle. «Weidet meine Lämmer!» sagt nämlich der Meister an irgendeiner Stelle, und das muß ja genauso wörtlich ausgelegt werden wie der Rest der Schrift.

Und da ist ein Schafstall gerade richtig.

In dieser Hinsicht war Christian schlimm. Eine ansteckende Popenpest! Ach, wie grau und freudlos alles sein sollte! Wahrscheinlich beurteilte er das Unterhaltungsrepertoire meinetwegen besonders streng – aber das soll kein mildernder Umstand sein. Je mehr er einsah, daß er Magnus nicht kriegen konnte, um so offener versuchte er, mich kaputtzumachen. Aber er hielt sein Publikum für genauso dumm wie eine gewisse andere biblische Größe. Solange ich Magnus hatte, war ich unschlagbar, und außerdem waren neunzig Prozent der anderen im Jugendclub auf meiner Seite.

Aber Christian hatte ja die Macht und konnte vieles ruinieren. Es war, als ob er mit einer nassen Wolldecke herumlief und jeden kleinsten Funken von Leben zu ersticken versuchte. Der Kriminaltango wurde ganz verboten, als er entdeckte, daß Mona (das wird ausgesprochen mit einem Kuß—M) auf einer Schubkarre voll Trauben und Bananen auf die Bühne gefahren werden sollte, und Das Blut wurde nach nur einer Aufführung aus dem Programm gerissen. «Das geht einfach zu weit. Es muß doch gewisse Grenzen geben!» quakte die Popenpest.

«Ja, alles mit Maßen!» antwortete ich. Er starrte mich haßerfüllt an. Ich starrte zurück. Christian Anstand!

Im übrigen war er ein ungewöhnlich begabter Prediger. Das muß man ihm lassen. Christian konnte das wirklich, Jugend erwecken und so – aber dafür hatte er ja auch mehrere Jahre studiert. Ich will mich hier darauf beschränken, eine seiner schlagenden Andachten mit Zeugnisablegen zu referieren – stark verkürzt:

«Die Jugend ist faul und träge, sagen heute viele Erwachsene. Die Jugend kehrt Gott den Rücken! Wenn ich das höre, nehme ich euch immer in Schutz. Vor nicht mehr als fünfzehn Jahren war ich selbst in eurem Alter, und ich werde mich immer daran erinnern, wie schwer es war zu glauben. Sehr lange spürte ich in mir einen nagenden Zweifel. Gibt es Gott wirklich? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Am Ende wurde der Zweifel in mir zur Besessenheit. Ich mußte eine Antwort haben. Ich wollte Gott auf die Probe stellen. Zu Ostern war ich mit anderen christlichen Jugendlichen auf einer Berghütte, und da geschah es. Wir machten eine lange Skiwanderung, und plötzlich war ich allein. Ohne es zu merken, war ich vor lauter Grübelei zurückgeblieben. Da fiel ich in meiner Verzweiflung auf die Knie und rief zum Herrn: Allmächtiger Gott, nimm diesen schrecklichen Zweifel von mir. Gib mir ein Zeichen deiner Existenz! Nur ein winzig kleines Zeichen! Und da geschah es. Ich hörte ein fernes Getöse und spürte, wie die Erde unter mir bebte. Ich sah auf, und da, ein Stück entfernt am Berghang, ging eine Lawine ab. Nur meinetwegen hatte Gott eine Schneelawine ausgelöst! Und dieser gewaltige und großartige Anblick erfüllte mich mit Glauben und Gottesfurcht. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete ich, es könnten Menschen darunter gewesen sein, aber sofort wußte ich die Antwort: Gott hätte das nicht zugelassen!

Als die anderen mich endlich fanden, lag ich noch immer auf den Knien und betete. Sie hatten nichts gehört oder gesehen. Sie freuten und wunderten sich, als ich erzählte, was geschehen war: daß ich nun bekehrt sei und daß ich mein Leben dem Herrn weihen und Priester in seiner Kirche werden wolle.

Euch Jugendlichen, die ihr heute abend hier versammelt seid, will ich sagen: Lernt aus meinem Erlebnis! Werft allen Zweifel über Bord und wendet euch dem Herrn zu. Ohne ihn geht alles verloren. Mit ihm gewinnt ihr alles ... das ewige Leben. Lasset uns beten!»

Die Konfirmation ist ein ekelhaftes Ritual. Ich glaube, so fühlen die meisten, die diese demütigende Vorstellung mitmachen. Die sich stillschweigend dazu zwingen lassen, öffentlich zu lügen. Die Prüfung war eine glatte Farce. Die Jungen und Mädchen standen in alphabetischer Reihenfolge zu beiden Seiten des Mittelgangs. Mit jugendlicher Würde schritt der Pastor einher und stellte rein zufällig Ausgewählten leichte Fragen – immer denen, die die Antwort sicher wußten.

Er war schon an mir vorbeigegangen, als er sich plötzlich umdrehte und mit einem glatten, demütigen Lächeln um den Mund fragte: «Kannst du, Yngve, uns bitte den ersten Teil des Glaubensbekenntnisses aufsagen?»

«Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!» antwortete ich, ohne zu zögern.

«Nein, das stimmt nicht ... das ist nicht das Glaubensbekenntnis. Weißt du, was du aufgesagt hast, Yngve?»

«Jesus sagt, das ist das wichtigste Gebot.»

«Nein, das sagt er nicht. Er sagt, es ist genauso wichtig wie das wichtigste Gebot ... und wie lautet das?»

«Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!» Ich sah eine nervöse Röte auf seinen Wangen.

«Vera!» kommandierte er mild.

Sie konnte alles auswendig und verstand kein Wort, die Arme. Auch jetzt nicht: «Ich glaube angottdenvaterdenallmächtigendenschöpferdeshimmelsunddererde ... einatmen ... ich glaube anjesuschristusseineneingeborenen ... und so weiter ... Auferstehung dertotenunddasewigelebenamen!»

«Ja, das war das Glaubensbekenntnis, Yngve. Kannst du das in Zukunft auseinanderhalten?»

«Ist das Gebot der Nächstenliebe genauso wichtig wie das Glaubensbekenntnis?»

«Ja, das ist es, genauso wichtig, ja!»

In dem Moment war ich richtig zufrieden mit Luther. Hätte der Pastor einen katholischen Weihwasserwedel in der Hand gehabt, er hätte mich wohl auf der Stelle totgeschlagen! Statt dessen bekam er ein paar merkwürdig weiße Flecken zwischen all dem Roten.

Jedenfalls wurden wir konfirmiert, und das war wirklich ein schöner Moment. Diesmal ging es nicht alphabetisch, und niemand konnte verhindern, daß Magnus und ich zusammen am Altar knieten. Wir hielten uns dicht nebeneinander und drückten uns mit den Ellbogen. Magnus hatte die Augen geschlossen – und er betete. Er versuchte trotz allem, seiner Konfirmation eine Bedeutung zu geben.

Und das respektierte ich, denn im Grunde betete ich ja auch: «Lieber Gott, wenn es dich gibt. Ich danke dir für Magnus und dafür, daß wir zusammen sind. Danke für alles, was du für uns getan hast. Bitte, laß es so bleiben ... immer. Amen.»

Der Pastor Christian stellte sich vor Magnus, legte ihm die Hand auf den Kopf und las einen Bibelvers vor. Magnus drückte fester gegen meinen Arm, und ich erwiderte seinen Druck. Der Pastor zögerte und sagte ein paar unpersönliche, wohlgesetzte Worte. Magnus hatte ja seine ganze fromme Familie in der Kirche.

Für mich hatte der Pastor einen richtig düsteren Vers hervorgefischt, und schon lange, bevor er damit fertig war, versuchte ich gar nicht mehr, ihn zu verstehen. So ein gutgemeinter Rat auf dem Weg ins Leben! Ich konzentrierte mich auf den Körperkontakt mit meinem Liebsten. Der Pastor kratzte mich ein wenig auf der Kopfhaut, als er seine Hand wegnahm. Boshaft wie König Christian der Siebte!

Unser Familienfest war eigentlich schön. Unter normalen Arbeitern macht man nicht soviel Gedöns. Niemand behauptete, ich wäre nun in die Reihen der Erwachsenen eingetreten, und darüber war ich froh. Die Verwandtschaft aß und trank und machte sich einen schönen Tag. Ich dachte viel an Magnus, der jetzt bei seiner Familie sitzen mußte, der Familie mit sauren Betmündern und strammen Haarknoten.

Mein armer, schöner Junge!

Ich bekam tausendvierhundert Kronen, und das war klasse. Dafür kaufte ich mir unter anderem meine erste Schreibmaschine.

Unser Frühling

Gleichzeitig brach der Frühling los. Der Schnee schmolz, die Birken schlugen aus – und auch wir sprangen auf wie die Knospen. Wir waren fast jeden Tag im Wald. Nahmen unsere Schulsachen mit und taten, als wollten wir Aufgaben machen. Die meisten machten wir übrigens auch – aber zuallererst waren wir zusammen, zusammen, zusammen.

Wir waren zwei schmusige, heiße Kälber. Wir kletterten und sprangen und hüpften und liebten. Oft konnten wir stundenlang zusammen in einer Höhle aus Fichtenzweigen liegen, oder oben auf dem Stein, nackt in der Hitze der Sonne, und unser liebes Spiel spielen. Wir beobachteten neugierig, wie das Leben sich in der Natur rings um uns Bahn brach – und nicht zuletzt auch in uns selbst. An einem Sonntagmorgen sahen wir eine Schar Graugänse in Formation nach Norden fliegen. Als wir zusammenlagen, sagte Magnus: «Du bekommst ein paar schöne Haare am Arsch.»

«Hast du schon lange», antwortete ich.

Das heißt jetzt nicht, daß wir, rein sexuell, technisch besonders avanciert waren. Danach hatten wir noch kein Bedürfnis. Vorläufig war es für uns mehr als genug, daß wir uns nah waren, zusammen, nackt. Der Orgasmus kam ganz von selbst.

In jeder Hinsicht wuchsen wir zusammen. Es gab keine verbotenen Themen mehr. Wir diskutierten über alles mögliche. Durch die ganze Pubertät hindurch waren wir gleich groß gewesen und näherten uns jetzt beide den eins achtzig. Magnus hatte ein bißchen breitere Schultern als ich, aber sonst waren wir ziemlich gleich. Nicht nur körperlich übrigens – und das ist wichtig: Wir waren gleichgestellt und gleichwertig. Und verliebt. Es war ein Jubelfrühling!

Magnus schlug ein lockeres Trainingsprogramm vor, um unsere neue Muskulatur richtig zu entwickeln. Ich wies darauf hin, daß wir bei unserer Samenproduktion darauf achten mußten, genügend Proteine abzubekommen. Wir fraßen unheimliche Mengen Eier – und wurden geiler und geiler aufeinander. Seitdem habe ich nie mehr so intensiv gelebt. Magnus auch nicht. Das geht einfach nicht.

Ich habe mich oft darüber gewundert, wieso in dieser Zeit niemand etwas gemerkt hat. Fast niemand jedenfalls. Wir gingen uns in der Schule nämlich nicht mehr aus dem Weg. Die Antwort ist sicher, daß unser Verhältnis uns so viel Lebensmut und Kraft gab, daß niemand auf die Idee kam, wir könnten etwas «Häßliches oder Falsches» tun. Wir erlebten das, was wir zusammen taten, als das genaue Gegenteil – als schön und richtig –, und deshalb hatten wir im Grunde nichts zu verbergen. Wir hatten keine Angst mehr, entdeckt zu werden, und darum wurden wir auch nicht entdeckt. Außerdem waren wir wegen unseres Theaterspielens ziemlich beliebt und konnten uns allerlei erlauben, ohne ernst genommen zu werden. Einmal trug Magnus mich quer über den Schulhof, während ich heulte und zappelte. So direkt provozierten wir die Vorurteile nur selten. Wir konnten gut mit dem Umarmen warten, bis wir allein im Wald waren. Wir wußten ja beide, daß wir auf etwas Gutes und auch nicht vergeblich warteten.

Ich war fast nie zu Hause, aber die Familie konnte mir sicher ansehen, daß irgendwas anlag. Daß ich übermütig und froh war und sehr in Anspruch genommen, darüber freuten sie sich dann auch – ohne sich aufzudrängen.

Nur Harald, mein Bruder, fragte mich direkt. Er war drei Jahre älter als ich und ging auf das Gymnasium. Er war übrigens immer der Kronprinz in der Familie gewesen – tüchtig und strebsam. «Was treibst du eigentlich jetzt? Wir kriegen dich ja fast nie mehr zu sehen.»

«Ich bin mit Magnus zusammen.»

«Ja, soviel hab ich auch mitgekriegt. Aber, was macht ihr? Wo treibt ihr euch rum?»

«Wir haben im Wald eine Lieblingsstelle.» Er sah mich neugierig an, und ich beschloß, ihn zu schockieren. «Du hast doch gesagt, daß du das kapiert hast. Ich bin zusammen mit Magnus. Wir lieben uns.»

«Jesses!» sagte Harald. Ich dachte: Gleich fällt er vom Stuhl. «Spinnst du? Bist du denn sicher ...? Weißt du überhaupt, was das bedeutet?»

«Das bedeutet, daß wir uns gern haben und daß wir unheimlich gern zusammen sind. Und du hältst die Fresse, wenn du das so schrecklich findest. Ich hab dir das erzählt, weil du gefragt hast, und nicht, damit ...»

«Nein, nein, beruhig dich doch, Yngve! Ich erzähl’s nicht weiter, das versprech ich. Es ist nur so ungewohnt für mich, mir meinen kleinen Bruder vorzustellen, wie ...»

«Mensch! Ewig mußt du in allem das Schlimmste sehen! Du hast wohl noch nie mit einem zusammen gewichst, hm? Oder was?»

«Doch, ja. Als ich in deinem Alter war, klar. Aber du hast ja gesagt, ihr wärt zusammen. Das klingt so ... so gewaltig.»

«Ja, ist es auch!»

«Na gut, mir egal. Aber was ist mit Mädchen? Hast du keine Lust, mit Mädchen zusammenzusein?»

«Nein, weiß ich nicht. Das ist irgendwie nicht dasselbe.»

«Nein, das ist was ganz anderes!»

«Ja, fragt sich bloß, was du da machst. Oder hast du etwa schon oft richtig gefickt?»

«Nein, sicher nicht. Wenn du ehrlich bist, kann ich’s ja auch sein. Eigentlich hab ich das nur einmal richtig gemacht. Die Mädchen haben zuviel Angst, weil sie dann nicht mehr Jungfrau sind. Aber man kann ja trotzdem zusammenliegen ...»

«Ganz recht! Genau das machen wir auch.»

«Was! Du und Magnus ... Macht ihr noch mehr?»

«Was meinst du denn?»

«Ach, du weißt genau, was ich meine. Arschficken!»

«Nein, tun wir nicht, das ist nicht ... nötig. Wir kommen auch so gut klar.»

«Ihr seid also nicht so widerliche Arschficker?»

«Genausowenig wie du ein Arschloch!»

«Jetzt reg dich doch nicht auf, Yngve. Ich mach doch nur Witze.» Harald mußte lachen. «Weißt du, mir fällt was ein. Früher, als ich noch zur Volksschule ging, und vielleicht auch noch später, hab ich geglaubt, daß das neunte Gebot genau davon handelt. Daß es verboten ist, daran zu denken, also, an den Arsch.»

«Sag bloß! Steht denn auch was davon drin?»

«Klar. Bei all dem Latein im alten Katechismus. Da steht schwarz auf weiß: ‹Du sollst nicht begehren deines Nächsten Asinus ... ›» Wir lachten, bis wir am Boden lagen. Harald hielt sich den Bauch und brachte stockend heraus: «Für mich ist’s okay, Yngve. Nur den Esel von Johansens aus der fünften Etage darfst du nicht ficken. Den soll er für sich behalten dürfen.»

Als wir endlich wieder einigermaßen ernst sein konnten, saßen wir noch lange da und redeten miteinander. Wir klärten eine ganze Menge alter Mißverständnisse und beschlossen, daß es langsam Zeit wäre, Freunde zu werden. Als ich gehen mußte, sagte Harald: «Herzlichen Glückwunsch, Yngve. Mach, was für dich am besten ist. Aber sag’s keinem. Nicht mal unseren Alten. Die kapieren das nicht!»

«Teufel auch, Harald! Hätt ich bloß vorher gewußt, daß ich so einen tollen Bruder hab!» Damit ging ich hinaus in den Maitag, um meinen Jungen zu treffen.

Übrigens gab es noch einen Menschen, der verstand, was vorging, und das war Magnus’ Mutter. Sie war eine kleine, graue Frau, die immer zu Hause war und sich für ihren respektablen Mann und die sechs Kinder abplackte.

Einmal blieb ich eine Weile bei ihr in der Küche sitzen, und wir klönten ein bißchen. Sie stand wie üblich am Herd: «Du und Magnus, ihr seid doch jetzt richtig unzertrennlich?» sagte sie plötzlich und drehte sich mir zu.

Sie hätte uns genausogut im Bett überraschen können, denn ich sah, daß sie alles begriffen hatte. Ich wurde feuerrot und konnte sie nur anstarren. Sie hatte einen putzigen Ausdruck im Gesicht – als ob sie sich amüsierte –, und dann lächelte sie aufmunternd und sagte eindringlich: «Aber, Yngve, nein! Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Du darfst ruhig wissen, daß ich mich freue, daß ihr zusammen seid. Ich merk es Magnus an, daß es ihm gutgeht, und das kann ich von den anderen im Haus nicht sagen ... leider. Ich mag dich wirklich sehr, Yngve, also bleibt ruhig zusammen. Solang ihr könnt.»

Ich mußte einen dicken Kloß hinunterschlucken und sagte nur: «Vielen Dank.»

Und in dem Moment kam Magnus herein: «Ich bin fertig. Gehen wir?»

Die Mutter lächelte und sagte hinter uns her: «Aber seid ein bißchen vorsichtig, Jungs.»

Das ist der schönste Segen, der mir je zuteil geworden ist. Als ich das Magnus erzählte, freute er sich: «Sie erzählt das bestimmt nicht dem Alten. Sie hat uns immer gegen ihn unterstützt. Aber trotzdem bestimmt immer nur er.»

Und das stellte sich als schrecklich wahr heraus.

Inzwischen gingen wir in die erste Realschulklasse und schafften es, genug Zeit für die Hausaufgaben abzuzweigen. Beim Examen am Ende des Schuljahres hatten wir keine Probleme und bekamen gute Noten. Aber trotz allem geschahen im Wald wichtigere Dinge. Wir hatten nämlich eine neue Stelle entdeckt. Nachdem wir einem großen Bach einige Kilometer lang durch ziemlich unwegsames Gelände gefolgt waren, standen wir auf einmal oben an einem glitzernden Wasserfall. Ungefähr fünf bis sechs Meter hatte das Wasser freien Fall, und es hatte sich im Lauf der Jahre eine tiefe Kuhle gegraben, in der Forellen standen. Wir haben nie versucht, sie zu fangen. Statt dessen lebten wir mit ihnen zusammen. Mit den Fischen und den Vögeln – und einer Kreuzotternfamilie, die zuerst in unser Paradies gekommen war. Sie blieben im Geröll auf der Sonnenseite, und wir respektierten ihren Bereich. Wir haben nie andere Menschen in der Nähe gesehen.

«Sollen wir ihn Sündenfall taufen?» fragte ich und küßte Magnus vorsichtig unterm Ohr. Aber das gefiel ihm nicht, dem Armen – der Name, wohlgemerkt.

«Können wir ihn nicht lieber Segen nennen, oder Liebesdusche oder so was?»

Klar konnten wir das – und wir machten dem Namen keine Schande. Dort schwammen und spielten wir zusammen. Dort liebten wir uns bei Sonnenschein, Regenwetter und Mondschein. Dort verwuchsen wir zu einer Einheit, die nie hätte getrennt werden dürfen. In der ersten Woche der Sommerferien zogen wir dorthin, mit dem Zelt und einem Schlafsack für jeden – um den Schein zu wahren. Wir haben immer nur in einem geschlafen. Wir lebten so einfach wie möglich, mit einer Feuerstätte, einer Bratpfanne und zwei Kochtöpfen. Tagsüber machten wir Wanderungen, angelten ein bißchen und waren ein Teil von der Erde um uns und dem Himmel über uns.

In der Mittsommernacht blieben wir die ganze Nacht auf und redeten. Über die Welt, das Christentum und unsere Zukunft. Wir waren uns einig, daß unser Verhältnis, und was wir zusammen machten, unmöglich eine Sünde gegenüber Gott sein konnten. «Nein, und das hat ja sogar Christian gesagt», erinnerte sich Magnus.

«Ach, red doch nicht von dem! Er hat ja trotz allem auch noch ganz andere Sachen gesagt.»

«Ja, aber was er über Jesus und Johannes gesagt hat: ‹Der, den Jesus liebte?›»

«Ja, sicher. Wir wollen’s wirklich hoffen, daß sie sich liebten, so wie wir. Daß sie es genauso gut zusammen hatten und sich genauso gerne mochten. Aber ganz sicher werden wir das bestimmt nie erfahren. Wir können das ja nicht beweisen. Sicher ist jedenfalls, daß wir zusammen sind und daß das gut und richtig ist. Gott weiß das und segnet uns.»

«Komm», sagte Magnus, «wir gehen rauf und sehen uns den Sonnenaufgang an. Wenn Gott etwas gegen uns hat, kann er uns ja ein Zeichen geben.»

Und Gott gab uns ein eindeutiges Zeichen: Er ließ seine Sonne aufgehen und über Gerechte und Ungerechte scheinen. Das goldene Licht ließ die Welt erglühen, und wir standen mitten in der Welt und glühten mit. Wir entblößten uns vor Gottes Sonne und empfingen das lebensspendende Licht. Ich habe nie etwas so wunderbar Schönes gesehen wie Magnus an jenem Morgen. Und dann empfingen wir einander. Legten uns in das glühende Heidekraut und spielten sanfte Liebesmelodien – Gott ist die Liebe. Dort im Heidekraut bliesen Magnus und Yngve einander zum ersten Mal. Und auch das glühte. Gott lächelte gerührt auf uns herab – und mußte schlucken.

Ein paar Tage danach verlobten wir uns. Nicht mit Ringen – aber mit Halsketten. Ich wollte, daß wir einander ein Herz geben sollten, aber wegen seiner Familie durfte Magnus das nicht. Deshalb hängte ich meinem Jungen ein Kreuz um den Hals.

Er gab mir ein Herz aus Gold.

Magnus als Kreuzritter

Am ersten Clubabend nach den Ferien war unheimlich viel los. Sozusagen als ganz besonderen Aperitif hatte die Leitung ein junges Ehepaar aus Norwegens christlichem Jugendbund eingeladen, das der ganzen Sache zusätzlichen Glanz verleihen sollte. Nach ihrer Hochzeit im Frühling hatten sie den Sommer in Frankreich verbracht. Sie beglückten uns mit einer feierlichen Diaplauderei, in der mindestens sechzig Kathedralen und Kirchen vorkamen, aber kein Tropfen Rotwein und nicht auch nur ein Käsekrümel.

Als endlich unsere Theatergruppe an die Reihe kam, hatten Frode und ich längst erkannt, was hier not tat, damit ein bißchen Witz in die Sache kam: Der Schneider und das Pusterohr auf französische Art. Frode mit Baskenmütze, Schnurrbart und wahnsinnigem gallischen Temperament. Ich mit pomadigem, glattgelecktem Haar, französischer Aussprache und einer Menge Spitzen. Es kam natürlich ganz toll an. Schon kurz nach dem Anfang heulte das Publikum vor Begeisterung. Ich glaube, wir hatten es an diesem Abend so leicht wie richtige Schauspieler im Kabarett, obwohl wir nicht ein einziges Mal «Arsch» sagen durften. Aber das war eigentlich auch gar nicht nötig. Unser Sketch artete zu einer wilden Eierschlacht auf der Bühne aus, bevor es den Verantwortlichen gelang einzuschreiten. Riesenerfolg.

Ich sah, wie die junge Predikantenfrau nach Herzenslust lachte und applaudierte.

Danach sollte sie die Andacht halten – aber irgendwie war sie nicht so ganz bei der Sache. Sie versprach sich ein paarmal, und dann passierte etwas Unerwartetes; sie sollte Christus am Kreuz zitieren: «Da wandte Jesus sich dem Schächer zu und sprach: Wahrlich, ich sage dir, noch heute bist du mit mir in Paris!» Sie fuhr entsetzt zusammen und schlug die Hand vor den Mund, während der Saal in Gelächter ausbrach. Sie verlor die Nerven. Frode und ich waren gerade aus dem Hinterzimmer gekommen und standen in der Tür, zusammen mit dem Pastor Christian und ihrem Mann. Sie kam auf uns zugelaufen, das Gesicht in den Händen versteckt.

«Los, rein hier, schnell!» zischte der liebende Ehemann. Er schubste sie ins Hinterzimmer und knallte die Tür zu. Dann enterte er mit vier Sprüngen die Bühne und brüllte: «Ruhe da unten, ihr Brüllaffen! Hier gibt’s nichts zu lachen. Und eins merkt euch gefälligst: Nur der eine Schächer ... der nicht über Jesus gelacht hatte ... durfte mit ihm ins Paradies. Der andere Schächer, und alle, die gelacht hatten, endeten im heißesten Höllenfeuer!»

Natürlich wurde es sofort still im Saal. Auch im Hinterzimmer hörten wir keinen Laut mehr. Ich wollte nach ihr sehen, aber Christian der Schreckliche versperrte mir den Weg.

«Du bleibst hier!» stieß er zwischen den Zähnen hervor. Danach übernahm der Gatte die Wache. Der Schweinepriester mußte etwas kundtun: «Nun beginnen wir also ein neues Schuljahr und damit eine neue Saison in unserem Jugendclub. Das ist eine gute Gelegenheit, ein paar ernsthaftere Aktivitäten in Angriff zu nehmen. Wir wollen Bibelgruppen gründen, aber andere als die, die wir sonst kennen. Wir gründen einen Bibelgruppenring, und ich möchte ihn ‹Kreuzritterbruderschaft› taufen. Alle Kreuzritter bekommen eine Liste mit den Namen aller Mitglieder, die müssen sie immer und überall bei sich tragen. Wir legen ein Kreuzrittergelübde ab. Wir versprechen, jeden Tag für mindestens zehn andere Kreuzritter zu beten. Und eins sage ich euch: Alle, die mitmachen, werden die Macht des Gebetes kennenlernen!»

«Nein, Magnus! Das ist einfach zuviel! Bei der Konfirmation irgend etwas versprechen, ohne den Mund aufzumachen, na gut! Aber jeden Abend zehn Namen von einer Liste aufsagen, und das auch noch schwören? Und wofür sollen wir denn überhaupt beten? Daß alle gute Noten kriegen und keiner von einem Bus überfahren wird? Himmelarsch, wenn es irgendwo Heuchelei gibt, dann doch wohl hier! Niemals mach ich da mit.»

«Dann laß es bleiben! Du hast verdammtes Glück, daß du nein sagen kannst. Ich kann’s nicht. Ich muß da mitmachen, bei dieser ... Bruderschaft. Mein Vater zwingt mich bestimmt dazu, ich hab gar keine Wahl ...»

«Aber, er kann dich doch nicht zwingen, wenn du nicht willst. Weiger dich doch einfach!»

«Doch, er kann. Du weißt, wie’s bei uns zu Hause zugeht. Wahrscheinlich hat er uns schon angemeldet, alle sechs. Ach, Yngve, ich würde so gerne ...» Er fiel mir um den Hals und schluchzte heftig.

«Magnus, Magnus, ich liebe dich doch. Junge, was ist denn bloß los mit dir?»

«Ich habe solche Angst, Yngve. Ich hab Angst vor Vater, und vor allen anderen auch. Die sind nicht ... so wie wir. Sie wollen mich festbinden!»

«Magnus! Hör zu! Du darfst keine Angst haben. Du hast doch mich. Ganz und gar und für immer. Niemand kann uns etwas tun, solange wir zusammen sind. Ich komm auch mit zu den Kreuzrittern!»

«Nein, Yngve. Das brauchst du nicht. Ich schaff das schon ... wenn wir nur zusammenhalten. Du darfst mich nicht verlassen, Yngve!»

«Nie, Magnus. Nie!» Dieses Versprechen hielt ich. Lange.

Der Herbst wurde ganz schön hektisch. Zusätzlich zur Schule hatten wir beide eine Menge zu tun, und alles erforderte viel Zeit. Jeden Dienstag und jeden Donnerstag trafen sich die Kreuzritter bei Christian Priestermann, um ihre Gebete aufzusagen und ihre Moral zu stärken. Wir sahen uns in der Schule und im Jugendclub, aber nur an den Wochenenden hatten wir die Möglichkeit, miteinander zu schlafen. Das wurde dadurch nur noch schöner.

Ich war in der Zeit sehr aktiv. Lernte unheimlich fleißig und war dem Pensum weit voraus. In dem Herbst entdeckte ich auch die Literatur. Alles, was die Mühlen des Norwegischunterrichts vorher zu Müll gemahlen hatten, bekam plötzlich einen Sinn! Jawohl: Jens Björneboe mit seinem Jonas öffnete mir die Augen! Ich bekam das Buch von Harald zum Geburtstag und las es in einem Rutsch. Und damit war das Eis gebrochen: mehr von Björneboe, Agnar Mykle (zwei Bücher von ihm hatten seit Jahren bei uns im Regal gestanden, und ich hatte nichts davon gewußt!), Arnulf Överland und Sigurd Hoel. Jede Nacht las ich, bis das Buch mir aus der Hand fiel. Und ich merkte, wie ich von Buch zu Buch wuchs.

Aber ich konnte das nicht mit Magnus teilen. Natürlich sprach ich viel über meine Bücher und lieh ihm einige davon, aber ich glaube nicht, daß er auch nur ein einziges aufgeschlagen hat. Wenn ich so richtig davon loslegen wollte, brachte er mich mit Küssen zum Verstummen. Auch von sich selber mochte er nicht mehr sprechen. Und wenn ich nach der Bruderschaft fragte und wie er damit fertig werde, antwortete er ausweichend, daß «es so gehe».

Jetzt im nachhinein sehe ich, daß sich alles, was später kommen sollte, damals schon abzeichnete. Einzelheiten, die mir im Moment nicht wichtig vorkamen: ab und zu ein weher, hoffnungsloser Blick. Seine ungeheure Heftigkeit, wenn wir miteinander schliefen. Seine Art, sich nachher an mich zu klammern, ohne daß ich sein Gesicht sehen durfte. Alles war da. Er wußte schon, daß sich unsere Beziehung ihrem Ende näherte. Ich merkte das nicht. Ich war gerade fünfzehn geworden.

Beim ersten Clubabend im Advent gab Magnus mir einen Zettel, auf dem stand:

Yngve.

Mein Vater will, daß die Familie von jetzt ab Samstag abends zusammen ist und sonntags in die Kirche geht. Und nach dem Gottesdienst ist dann noch ein Treffen im Gemeindehaus. Außerdem muß ich für das Weihnachtsexamen sehr viel wiederholen, deshalb kann ich dich eine Weile nicht treffen. Hoffentlich geht’s dir gut. Gruß, Magnus

In meinem Kopf ging der Alarm los. Im ganzen Körper. Wieso schrieb er mir einen Brief, anstatt es mir selbst zu sagen? Es war doch so wichtig! Als ich ihn fragen wollte, war er fort. Am nächsten Tag war Samstag und keine Schule, und ich bekam ihn vor Montag nicht zu sehen. Samstag abend ging ich zu ihm nach Hause, aber seine Schwester sagte mir, er sei nicht da. Alarm! Ich machte allein eine Wanderung. Das half nichts. Als ich dann endlich in der großen Pause mit ihm allein war, bekam ich wirklich Angst. Er sagte, sein Klassenlehrer und sein Vater hätten ihm beide streng befohlen, sich einstweilen nur um die Schule zu kümmern.

«Das ist es nicht! Ich seh’s dir doch an, Magnus, du kannst mich nicht belügen, das weißt du!»

«Yngve! Frag mich nicht mehr. Bitte. Quäl mich nicht! Es ist schon schlimm genug, ohne daß du mir auch noch Vorwürfe machst!»

«Ja, aber, was ist mit mir? Du kannst doch nicht einfach so verschwinden ...»

«Gib mir Zeit! Zeit zum Überlegen. Ich möchte nicht darüber reden, bevor ich ... darüber reden kann.»

«Also, hör mal ...»

«Nein, hör du! Wenn du mich noch magst, dann tust du, was ich sage. Wenn nicht, machst du alles kaputt. Jetzt muß ich weg. Und laß mich in Ruhe!»

«Ja, aber wann können wir denn miteinander reden?»

«Ich seh dich zu Silvester im Jugendclub», sprach mein Liebster und verschwand. Magnus, der Angsthase.

Meine schlimmste Erinnerung an dieses Weihnachtsfest ist, daß ich Kindheit eines Chefs von Sartre las. Es war ein grausames Erlebnis. Er schildert darin einen Jungen, der von einem älteren homosexuellen Mann verführt wird. Es ist eine realistische und ziemlich brutale Erzählung. Und ratet mal, wen ich dabei vor mir sah! Meinen Magnus und Christian Priestermann. Außerdem erlebte ich zum ersten Mal Homosexualität in der Literatur, das waren ganz schön drastische Sachen. Unerträglich aufgeilend! Ich las und wichste abwechselnd, und zwischendurch ging ich vor Verzweiflung und Eifersucht die Wände hoch. O selige Weihnachtszeit!

Gott, wie ich mich nach Magnus sehnte. Ein paarmal erwischte ich mich auf dem Weg zu ihm, fest entschlossen, irgendwie zu ihm zu kommen. Aber immer, wenn ich das große Haus sah, verließ mich der Mut. Ich lief stundenlang draußen herum – und kotzte fast das ganze schöne Weihnachtsessen wieder aus.

Im Grunde traute ich mich vor allem deshalb nicht, ihn aufzusuchen, weil er selbst gesagt hatte, ich solle ihn in Ruhe lassen. Aber, meinte er das denn wirklich? Wollte er das, oder hatte ihm das jemand eingeredet? Im tiefsten Herzen wußte ich ja die Antwort, aber ich dachte, ich würde alles nur noch schlimmer machen, wenn ich mich aufdrängte.

Der Silvesterabend war der reine Alptraum. Es sollte ein festlicher Abend im Jugendclub werden, und natürlich sollte ich mir all das Festliche aus den Fingern saugen. Aber ich ging doch überhaupt nur wegen Magnus, wegen meiner Erwartung und meiner Hoffnungen auf ihn dorthin. Der ganze Club mit seinen ewigen Verantwortlichen kotzte mich restlos an.

Magnus sah krank aus. Blaß und angespannt und blaue Ringe um die Augen. Wie ich befürchtet hatte, wich er mir und meinen Blicken aus.

Als Frode und ich an die Reihe kamen, hatte ich das Gefühl, wahnsinnig zu werden, und wir gaben die hysterischste Darstellung aller Zeiten von Der Schneider und das Pusterohr zum besten. Mit Kleidern und Hüten, Konfetti und Luftschlangen. Ich hatte heimlich die Rotfuchsboa meiner Mutter «ausgeliehen». Die ging während einer Balgerei auf der Bühne in Stücke, daß die Pelzflocken nur so flogen. Ich bombardierte Frode mit Knallfröschen. Als er auch ein paar Feuerwerkskörper hervorzog, griffen die Verantwortlichen ein. Der Sketch war zu Ende. Um elf sollte es einen Fackelzug zur Kirche geben, danach den Mitternachtsgottesdienst. Ich stand vor der Tür und wartete auf Magnus. Die anderen hatten sich schon in Reih und Glied aufgestellt. Endlich kam er – und mit ihm Christian, natürlich. Der Pastor warf einen Blick auf mich, und aus irgendeinem Grund verkannte er die Situation – zum letzten Mal: «Okay, ihr macht die Nachhut, Magnus. Ich geh nach vorne!»

Damit war der Fackelzug für uns beendet. Als er sich in Bewegung setzte, brach ich in hilfloses Schluchzen aus. Ich sah Magnus’ gequältes Gesicht. Dann zog er mich in den Schatten hinter der Hausecke. Ich weiß nicht, wie lange wir dort standen und wieder zusammen waren, schließlich gingen wir nach Hause. Wir waren beide völlig außer uns. Verängstigt und zitternd – nach so langer Zeit würden wir endlich wieder alleine sein. Wir warfen unsere Mäntel in den Flur und stürzten in das nächstbeste Zimmer, das Schlafzimmer meiner Eltern. Wir ließen die Kleider fallen – doch plötzlich sprang Magnus (noch in der Unterhose!) ins Bett und sagte mit brechender Stimme: «Mach das Licht aus, Yngve!»

Und ich sah ihn und fiel über ihm ins Bett und weinte und weinte ...

Erst nach langer Zeit wurden wir zusammen ruhig und warm. Aber trotzdem war es nicht wie früher. Magnus war ganz seltsam. Er veränderte sich dauernd: Erst war er weich und nah, dann krümmte er sich in Embryostellung und wimmerte, dann warf er sich über mich, wild und aggressiv. Wir redeten nicht. Immer, wenn ich etwas fragte, legte er mir seine Hand auf den Mund oder küßte mich. Und ich dachte, ich könnte bis nachher warten. Magnus kam zuerst. Quer durchs Zimmer und voll in die Gardinen meiner Mutter. Ich küßte ihn sanft im ganzen Gesicht. Er flüsterte: «Ach, Yngve. Zum ersten Mal seit damals. Ich hab aufgehört zu wichsen ...»

«Ach, Junge! Warum warst du denn nur die ganze Zeit weg? Frohes neues Jahr, übrigens!»

Er wurde steif unter mir. Ich sah in ein Gesicht, das sich vor Entsetzen verzerrte. «Nein!» jammerte er. «Herrgott! Wie spät ist es?»

«Nun beruhig dich doch. Mach nicht so ein Gesicht!»

Er riß sich von mir los und sprang aus dem Bett. «Es ist Viertel vor eins! Ich sollte doch in der Kirche das Eingangsgebet vorlesen!» Er zog sich in Windeseile an.

Ich sprang auch auf. «Jetzt hör doch auf, Magnus! Es ist sowieso schon zu spät, und außerdem können auch noch andere lesen. Beruhig dich doch! Wir stehen jetzt beide auf, und ich mach uns Tee. Und dann reden wir in Ruhe über alles. Wir haben uns doch so lange nicht ...»

Aber er war schon im Flur und sprang in seine Stiefel. «Ich muß los. Muß losrennen! Zu Hause sind sie sicher stinksauer auf mich. Ach, was soll ich denn bloß sagen?»

«Magnus, du darfst nicht! Du bleibst jetzt hier. Heute kommt hier keiner nach Hause, wir müssen doch reden. Du darfst jetzt nicht weglaufen!»

Er versuchte, sich den Mantel anzuziehen, aber da warf ich mich auf ihn und hielt ihn von hinten fest. «Du kommst hier nicht weg!»

«Laß mich los, Yngve! Laß mich los, dann sag ich dir auch, was los ist ...»

Seine Stimme war heiser und scharf. Ich drehte ihn herum, und er drückte mich auf einen Stuhl. Und dann kam’s: «Du bist schuld, daß ich meinen einzigen Neujahrsvorsatz gebrochen habe. Ich hatte Gott versprochen, dich nie mehr zu treffen. Weil es eine Sünde ist, Yngve! Was wir tun, ist eine Widerwärtigkeit vor Gott!»

«Nein, nein, nein! Hast du denn den Verstand verloren? Es ist keine Sünde! Weißt du nicht mehr, in der Mittsommernacht ...»

«Ja, genau, und weißt du was? Gott gab uns ein Zeichen! Aber wir haben es nicht verstanden! Konnten es nicht deuten. Wir sahen ein rotes Licht! Yngve, die Sonne war rot! Und das bedeutet stopp!»

«So was Bescheuertes hab ich noch nie gehört!»

«Na gut. Leb du nur weiter in Sünde und spotte Gott! Aber nicht mit mir. Nie mehr mit mir!»

«Magnus!»

«Laß, Yngve. Es nützt nichts. Es ist aus. Ich werde um Verzeihung bitten, bis Gott mich erhört ... und es beten ja noch viele andere für mich. Komm mit zu den Kreuzrittern, Yngve, dann kommst du auch drüber weg.»

«Magnus, sie haben dich kaputtgemacht! Sie lügen, sie lügen! Das stimmt doch alles nicht. Glaub das doch nicht!»

«Halt doch den Mund! Es steht in der Bibel, Christian hat’s mir gezeigt ...»

«Christian! Den bring ich um!»

«Das tust du nicht, Yngve. Ich werde für dich beten.» Und dann war er fort. Magnus nach der Gehirnwäsche.

Ich will gar nicht erst versuchen, diesen Winter zu beschreiben. Ich schaff es doch nicht. Ich hab mich damals nur nicht umgebracht, weil ich immer noch eine Hoffnung hatte. Die verzweifelte Hoffnung, daß Gott gut sei. Außerdem hatte ich Harald. Er war der einzige, dem ich mich anvertrauen konnte. Er half mir, so gut es ging. Harald hatte begriffen, daß es wichtiger war, mit mir zu reden, als für mich zu beten. Er hatte genug Zuneigung, mit ihm erlebte ich eine echte Bruderschaft.

Ich will nur ein paar Episoden aus dieser Zeit erzählen: In der Schule will ich allein sein. Es hat auch keinen Zweck, mich Magnus zu nähern. Er geht mir aus dem Weg. Eines Tages stehe ich in der Pause mit Frode in meiner Ecke, und Magnus kommt mit Vera Auswendig aus der Tür. Hand in Hand! Sie gehen Hand in Hand über den Schulhof. Ich bin schon wieder kurz vorm Kotzen. Frode sieht mich an. Er hat es sich natürlich längst gedacht. «Kannst du meine Tasche mit nach Hause nehmen? Ich muß ein bißchen laufen», frage ich schnell und gebe ihm mein Pausenbrot.

«Kümmer dich doch nicht um die, Yngve», sagt Frode.

Ich gehe. Renne. Mechanisch bewege ich mich über den vom Schnee geräumten Weg auf Magnus’ Haus zu. Ich sehe seine Mutter durch das Küchenfenster. Sie bekommt einen Schreck, als sie mich bemerkt, und macht eine abwehrende Handbewegung. Sie wirft mir einen traurigen und verständnisvollen Blick zu. Ich drücke auf den Klingelknopf.

Der mächtige Vater steht in der Tür: «Guten Tag, junger Mann.»

«Tach ...»

«Und womit kann ich dem Herrn behilflich sein?»

«Ich möchte gern Magnus sprechen.»

«Ich bedaure, aber Magnus hat im Moment so viel für die Schule zu tun, daß er dem Lernen all seine Zeit opfern muß. Wäre das nicht übrigens auch für andere eine gute Idee?»

«Ja, aber, ich muß mit ihm reden ...»

«Dann finde ich, ehrlich gesagt, daß du wieder zum Jugendclub gehen solltest, Yngve. Du wirst da von vielen vermißt, und da kannst du reden, mit wem du willst ...»

Ich stehe im Gebüsch bei der Pastorenwohnung. Im Gürtel unter dem Mantel habe ich ein Messer. Christian kommt nach Hause gejoggt. Ich stehe und stehe. Dann gehe ich zur Tür und fühle nach. Abgeschlossen. Ich schelle. Der Pastor öffnet einen Spalt – so weit, wie die Sicherheitskette es erlaubt. Christian mit dem Flammenschwert.

«Was willst du?»

«Mit dir reden.»

«Ich hab keine Zeit. Jetzt nicht, und auch sonst nie.»

«Weißt du, was du getan hast?»

«Das weiß ich sehr gut, und es hat keinen Zweck, hier herumzuschreien. Verschwinde und komm nicht wieder her!»

Knall. Klick.

Ich gehe. Ich renne. Ich kann keinen töten.

Es ist Nationalfeiertag. Alle gehen mit im Festzug. Ich mag nicht. Ich gehe allein spazieren. Früh am Abend kommt Frode und überredet mich, mit zum Jugendclub zu gehen. Ich war bei keinem anderen Fest mehr, mir ist alles egal.

Alle freuen sich sehr, mich zu sehen. Mir ist alles egal. Magnus kommt zu uns herüber, auch er freut sich. Mit seinen Augen stimmt irgendwas nicht. Da ist etwas Schreckliches. Er verspricht mir einen Spaziergang, damit wir uns aussprechen können.

Wir

gehen spazieren. Er redet. Ich spreche das Unaussprechliche aus: «Kriegst du das denn nicht in deine Birne? Du weißt ganz genau, daß wir füreinander gemacht sind! Wir sind homosexuell!»

Er schreit. Er schlägt. Er geht.

Ich bin wieder ganz unten. Ich weine. Ich renne.

Jetzt fliehe ich in den Wald! Jetzt komme ich zu unserem Stein! Jetzt sehe ich den Sonnenaufgang! Allein! Rotes Licht! Yngve, der Verkehrssünder.

Aber es passierte etwas Unerwartetes. Eines Tages Anfang Juni schellte Magnus an meiner Tür. Zuerst wollte ich ihn nicht hereinlassen, denn er war so verändert. Er versuchte ein fröhliches Lächeln, aber in seinen Augen sah ich etwas anderes. Etwas Schlimmes. Dann sprach er. Es tue ihm alles so leid. Er sei so müde und überarbeitet gewesen und habe es nicht so gemeint. Wir müßten weiter wie Freunde zusammenhalten und uns nicht mehr streiten. Meine Skepsis schmolz dahin, je länger er sprach. Es tat so gut, seine Stimme zu hören. Schließlich war ich so hingerissen, daß ich höchstens die Hälfte von dem verstand, was er sagte. Als er ging, umarmte er mich, eine kleine, aufmunternde Umarmung. Aber da hatte ich ihm schon versprochen, mit dem Jugendclub ins Sommerlager zu fahren. Als Unterhaltungschef.

Ich zitterte vor Hoffnung.

Strandholmen

Die Ferienstätte Strandholmen liegt wunderschön am inneren Oslofjord. Es ist ein ansehnliches Gelände mit mehreren hundert Metern Strand und fünf großen Gebäuden. Norwegens christlicher Jugendbund bekam es zu Anfang der sechziger Jahre von irgendeinem reichen Macker vermacht.

Als am 16. Juni die Lagerteilnehmer aus Oslos Satellitenstädten zu Schiff das Paradies erreichten, bot sich ihnen ein merkwürdiger Anblick. Am Strand, ein Stück vor der Landungsbrücke, war ein großer Sperrmüllhaufen aufgeschichtet, der offenbar ein Johannisfeuer werden sollte. Aber es war nicht irgendwelcher Müll. Es waren Möbel. Zerschlagene Schränke, Tische und Stühle aus Mahagoni und Birke. Polierte Möbelsplitter lagen verstreut umher. Lagerleiter Eirik hatte eine Woche früher Quartier genommen, «um ein wenig aufzuräumen». Er sagte das selbst in unbestimmbar konservativem Westnorwegisch. Das Haupthaus war voll gewesen von altem Plunder und schweren unmodernen Möbeln – die sich nicht anders wegschaffen ließen als mit einer Axt. Eirik war ein Gottesdiener der Tat. In wenigen Tagen war aus dem alten, ehrwürdigen Gebäude alles entfernt, was der Mann beim Kampf um die Rettung sündiger Jugendlicher für hinderlich hielt. Hinein kamen Stahlrohrstühle und Resopaltische.

Die anderen Leiter, die mit uns im Boot ankamen, konnten nur dastehen und den Trümmerhaufen anglotzen. Die Lagerchefin, die einen Haarknoten und zuviel Zahnfleisch hatte, deutete zart an, dies wäre denn doch vielleicht ein wenig zu radikal.

«Wir sollen die Jugend zu Christus bekehren, nicht zu Krösus», antwortete Eirik unbeeindruckt.

«Aber, schließlich waren das doch wertvolle Möbel», versuchte Aase es noch einmal.

«Trachtet nicht nach irdischen Schätzen, die Motten und Rost zerfressen ...» verkündete Eirik.

«Hier zersetzen wahrlich nicht nur Rost und Motten», bellte Aase mit zusammengezogenem Mund. Viele von uns hörten das und sahen den Blick, den Eirik ihr zuwarf. Er wußte sich schnell Respekt zu verschaffen, der Lagerleiter.

Bei der Abendandacht fragte er die Versammlung, ob jemand etwas zu bekennen habe.

Nach einer langen drückenden Stille erhob sich Aase mitten im Saal, zwischen zweihundert Jugendlichen, und sagte mit piepsiger, gequälter Stimme und krampfhaft gefalteten Händen: «Lieber Jesus. Blicke gnädig auf uns arme sündige Menschen, die dich beleidigen mit Gedanken, Worten und Werken und die in ihren Herzen böse Lust verspüren. Heute habe ich schlimm gegen dich gesündigt, lieber Jesus. Ich habe einem Beschluß deiner Obrigkeit widersprochen, der von dir inspiriert war. Ja, viele von euch hier haben gehört, wie ich Eirik kritisierte, weil er die Möbel im Haupthaus in Stücke geschlagen hat. Ich dachte nur an ihren Wert ... an Geld! ... ich dachte einfach nicht daran, was dir am besten dient, lieber Jesus. Und jetzt bitte ich dich: Vergib mir diese schlimme Sünde, Herr, und gib mir die Kraft, in Zukunft meinen unbändigen Sinn zu beherrschen! Amen.»

Es war lange still, bis Eirik vom Pult herunter hinzufügte: «Ja, wahrlich, unerforschlich sind die Wege des Herrn! Hat sonst jemand etwas zu bekennen?»

Nein. Niemand. Die meisten im Saal starrten zu Boden. Ich hatte mich noch um jemand anderetwillen so elend und gedemütigt gefühlt. Leider – oder vielleicht zum Glück – sollte ich das teuerste Johannisfeuer des Sommers verpassen.

Magnus ging mir demonstrativ aus dem Weg. Er hatte sogar dafür gesorgt, daß er einen Schlafplatz in einem anderen Schlafsaal erwischte. Das tat mir unheimlich weh. Ich hatte gehofft, der Junge habe mehr damit beabsichtigt, als er mich zum Mitkommen überredete ... als daß ich einfach nur mitkommen sollte. Ich blieb allein, ich wollte mit den anderen im Lager keinen Kontakt. Am zweiten Tag gab es eine Morgenandacht und Bibelgruppen. Die Leiter bedrängten uns, etwas zu sagen: irgendwas zu bekennen. Sie schafften es, einige Mädchen zum Weinen zu bringen. Ich fühlte mich total elend.

Vormittags gab es körperliche Ertüchtigung. Magnus war bei allem wahnsinnig aktiv. Rannte herum, organisierte und riß die Leute mit. Eine «vielversprechende Führerbegabung». Schöner Junge. Niemand konnte nein sagen, wenn Magnus ihm die Hand auf die Schulter legte oder ihn kameradschaftlich in den Arm nahm. Ich saß auf der Treppe der Jungenbaracke und kaute Fingernägel. Magnus drehte sich plötzlich um und rief: «Komm und mach mit beim Völkerball, Yngve!»

Ich schüttelte nur den Kopf.

Magnus lief über den Platz, aufgeregt und irritiert. «Was ist denn los mit dir? Willst du gar nichts mitmachen?»

Ich schluckte. «Ist dir klar, daß das jetzt das erste ist, was du zu mir sagst, seit wir aus Oslo weggefahren sind? Hast du wirklich so wenig Zeit?»

«Also, jetzt hör mal!» Magnus senkte die Stimme. «Du bist doch wohl nicht mitgekommen, um irgendeine Sonderbehandlung zu kriegen? Ich hatte das jedenfalls nicht beabsichtigt. Ich dachte, wir wollten von jetzt ab ganz normale Freunde sein! Oder stimmt das vielleicht nicht?»

«Und nie miteinander reden?» Ich kämpfte mit den Tränen.

«Jetzt nimm dich doch zusammen! Für so was hab ich wirklich keine Zeit!»

Magnus drehte sich auf dem Absatz um und lief zu den anderen, die sich schon in zwei Parteien aufgestellt hatten.

Ich blieb auf der Treppe sitzen und schluckte, die Hände vor den Augen. Dann hörte ich etwas hinter mir und nahm mich krampfhaft zusammen.

«Kümmer dich nicht um den Typ, du. Der ist nichts für dich ...»

Ich fuhr herum. In der Türöffnung stand einer und lächelte schief zu mir herunter. Ich hatte ihn zwar vorher schon bemerkt, wußte aber nicht, wer er war.

«Was ... was meinst du damit?» stotterte ich.

«Ach, tu nicht so. Ich hab doch gehört, was ihr gesagt habt. Aber vor mir brauchst du wirklich keine Angst zu haben. Ich bin ganz okay. Komm mit, wir gehen schwimmen. Hat doch keinen Sinn, hier zu sitzen und zu motzen.»

Er nahm mich am Arm und zog mich hoch. «Ich heiße Janne und komme aus Lilleström. Komm, wir ziehen uns um.»

Er gebrauchte eifrig seine Augen, während ich mir die Badehose anzog.

Auf dem Weg zum Strand redete er eine Menge, bevor er fragte: «Was ist denn so Besonderes an dem Magnus?»

«Ich will nicht darüber reden.»

«Wichst ihr zusammen?»

«Herrgott, halt die Fresse! Das geht dich ja wohl nichts an.»

«Nein, nein, reg dich doch nicht auf. Man wird ja wohl noch fragen dürfen.»

«Nein, darf man nicht.»

«Okay, also Entschuldigung. Wer zuerst an der Schäre ist!»

Weg war er. Ich stand auf dem Sprungbrett und sah ihm nach. So was von Frechheit! Aber irgendwie war der Typ schon in Ordnung. Im Grunde mochte ich ihn leiden. Ich sprang hinein und schwamm ihm nach.

«Vorsicht, tritt nicht auf die Muscheln. Komm hierhin, ich helf dir. Auf der anderen Seite kann man gut sitzen. Hier, siehst du!» Er wies auf einen großen flachen Absatz im Felsen. Ich setzte mich. «Und außerdem kann uns hier vom Land aus niemand sehen», sagte Janne und zog seine Badehose aus, während er sich neben mich setzte und mir den Arm um die Schultern legte.

Ich war total überrumpelt. «He! Laß das! Das wollte ich nicht ...»

Aber Janne hatte schon seine rechte Hand in meiner Badehose und warf sich über mich. «Sei doch nicht so wählerisch! Ich bin bestimmt so gut wie der andere Typ ... wahrscheinlich sogar viel besser. Ich bin schon lange mit Jungen zusammen ... Wie alt bist du übrigens?»

«Fünfzehn. Und du?»

«Ich bin achtzehn, also darfst du keinem was verraten! Versprichst du das?» sagte Janne und drückte mich fast platt.

«Ja, klar», sagte ich atemlos und drückte mich ein bißchen hoch, damit er mir die Badehose ausziehen konnte.

Der Abend brachte ein Lagerfeuer, Unterhaltung, Bekenntnisse und frischen, jugendlichen, christlichen Gesang:

Kommt, wir künden jetzt von Stadt zu Stadt,

Daß uns Christ aus Tod und Sünden losgebunden hat.

Ich wußte nur eins: Jetzt mußte ich mit Magnus sprechen. Wegen der Sache mit Janne hatte ich ein schlechtes Gewissen, aber ich war auch ein bißchen stolz. Nicht nur Magnus konnte mit anderen Zusammensein – aber ich wußte ja nicht sicher, ob er sich von dem Pastor hatte verführen lassen. Vielleicht hatte Christian sich gedacht: Wenn er ihn nicht kriegen kann, darf ich ihn auch nicht haben. Gott sei Dank war der Pastor nicht im Lager. Diesen Vorteil wollte ich ausnützen. Leider hatte er eine Handvoll Stellvertreter.

Ich sah Magnus auf dem Weg zum Lagerfeuer. In einer schwarzen Kordhose, den weißen Wollpullover über der Schulter. Strahlend wie die Sonne, das dunkle Haar stand wild nach allen Seiten ab. Schön wie ein Gott – und um ihn herum eine ganze Schar Bewunderer. Jungen und Mädchen drängten sich um ihn. Mir wurde schwer ums Herz. Sollte ich denn nie mit meinem Jungen allein sein können? Der Teufel hole seine Fans!

Magnus ließ sich mitten unter den Leuten nieder, ohne mir auch nur einen Blick zuzuwerfen. Ich setzte mich unter einen Baum, um mit mir allein zu sein.

Sofort setzte sich Janne neben mich. «Na, war doch schön!» Er stieß mich kameradschaftlich an.

Ich antwortete nicht.

«Du bist jetzt doch nicht sauer, oder? War’s nicht gut?»

«Nein, ich bin nicht sauer auf dich, und das war wirklich ... ganz in Ordnung. Aber ich möchte jetzt gerade allein sein. Ich will mit keinem reden.»

«Oi, joi, joi! Hast wohl Schiß, daß der Stern da uns zusammen sieht, was! Da mich dir man keine Sorgen. Der ist da so beschäftigt, der kriegt nicht mit, was du machst. Der wird bestimmt berühmt, wenn er groß ist. Der weiß, wie man’s macht!»

«Halt die Fresse.»

«Du bist jetzt doch nicht sauer, oder? War’s nicht gut?»

«Nein, ich bin nicht sauer auf dich, und das war wirklich ... ganz in Ordnung. Aber ich möchte jetzt gerade allein sein. Ich will mit keinem reden.»

«Oi, joi, joi! Hast wohl Schiß, daß der Stern da uns zusammen sieht, was! Da mich dir man keine Sorgen. Der ist da so beschäftigt, der kriegt nicht mit, was du machst. Der wird bestimmt berühmt, wenn er groß ist. Der weiß, wie man’s macht!»

«Halt die Fresse.»

«Guck doch nur, wie er die Mädchen anlächelt und wie er sie ab und zu anfaßt. Die werden Wachs in seiner Hand ... die Jungs übrigens auch. Die Spannung spür ich bis hier. Aber es gibt nur eins, worauf dein Magnus Lust hat: sich selber!»

«Er hat Lust auf mich!» Ich sagte das ganz leise durch die Zähne.

«Ja, da hast du sicher recht. Er ist genauso scharf drauf, mit dir zu schlafen, wie ich, aber mehr auch nicht. Hat ’nen Pißbammel vor dir. Niemand soll rausfinden, wie’s in ihm wirklich aussieht. Minderwertigen Kram kann der sich nämlich nicht leisten.»

«Wenn du jetzt nicht endlich still bist, hau ich dir eine rein!» Ich wollte wirklich gerade zuschlagen, da stieg der Lagerleiter Eirik auf das Plankenpodium, um Andacht zu halten.

«Okay, ich halt den Mund», sagte Janne, bevor die Andacht losging.

«Alle, die wir hier versammelt sind, sind sünnnndige Menschen!» Eirik hatte eine schnarrende Fistelstimme, er brauchte keinen Lautsprecher.

«Jetzt kommt sicher der Spruch von Jesu Blut», flüsterte Janne erwartungsvoll.

Es folgte Gesabbel von Sünde und Schande und Buße und Besserung, und dann – ganz richtig: «Denn er, ein für allemal, hat unsere Sünden fortgewaschen durch Jeesuuu Belluuuut!» Das hörte sich ganz merkwürdig an mit seiner schnarrenden Aussprache, und in der Versammlung gab es auch viele, die ihre Gesichter abwendeten und kicherten, während andere diskret «Psst!» machten. Janne lachte auch.

«Jesses, ist das sooo komisch?»

«Ja, weißt du das nicht? Er wird danach genannt ... Jesu Blut. Weil er fast über nichts anderes redet. Und dann braucht er auch so lange, um das zu sagen.»

Es war befreiend, wieder zu lachen. Janne war wirklich nett und lustig – und außerdem war er geil auf mich.

«Du brauchst mir nichts von dir und Magnus zu erzählen, wenn du keine Lust hast. Wir haben ja sonst auch noch viel, worüber wir reden können.» Er strich mir über den Rücken und zog mich an den Haaren.

Wir saßen ziemlich lange und redeten. Ich vergaß zwischendurch sogar, Magnus zu beobachten. Es ging mir gut. Aber plötzlich merkte ich, wie Janne erschrak, und folgte seinem Blick genau in Magnus’ Augen. Magnus hatte sich umgedreht und starrte uns an. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Habichtsblick. Wachsam und tödlich. Janne hob sacht die Hand zu einem ironischen Gruß. Magnus wandte sich brüsk ab.

«Na, jetzt werden wir sehen, ob er sich was aus dir macht», sagte Janne leise.

Ich hatte Herzklopfen. Der Blick hatte so unendlich viel enthalten. «Da hast du’s gesehen! Er mag mich doch!»

«Und er muß ja auch sein Eigentumsrecht wahren, oder?»

«Sei nicht so gemein. Denk doch dran, daß ich ihn auch mag.»

«Also, hör mal, Yngve. Ich sag das jetzt nicht, um fies zu sein. Oder um irgendwas zwischen euch kaputtzumachen. Außerdem ist schon alles kaputt, glaub ich. Auf jeden Fall wird er es kaputtmachen. Ich kann ihm das ansehen! Und ich sag das nicht, um mich anzupreisen. Aber ich finde, du bist in Ordnung, und ich möchte dich gern richtig kennenlernen ... und ich hab dauernd Lust, mit dir zu schlafen.» Er kniff mich ins Ohr. «Ich weiß eine schöne Stelle, wo wir nachher hingehen können. Im Wald hinter der Jungenbaracke ...»

«Ich muß mit Magnus reden.»

«Ja, das mußt du wohl. Aber hör zu: Wenn du mit ihm redest und hast die Nase voll von ihm, dann komm hinter die Baracke und pfeif nach mir.»

«Ich versprech dir nichts.»

«Ich bin da.»

Ich fand Magnus auf halbem Weg zum Strand. Es waren nur noch drei Fans übrig. Ich ging zu ihm und faßte ihn am Arm: «Ich muß mit dir reden. Kannst du die Leute hier nicht loswerden, die so an deinem Hemdzipfel hängen?»

«Über das Unterhaltungsprogramm morgen?» Magnus war abweisend.

«Nein», sagte ich mürrisch. Die anderen gingen widerstrebend weiter. Und wir waren allein. Keiner von uns sagte etwas. Ich versuchte, seine Hand zu nehmen, aber er zog sie weg.

«Das hat keinen Zweck, Yngve! Kapier das doch endlich!»

«Wozu hast du mich denn hierher geschleift?»

«Weil du das nötig hast. Du brauchst Gott, Yngve, und hier kannst du ihn finden.»

«Ich brauch keinen außer dir!» Ich warf die Arme um ihn und klammerte mich an.

«Laß mich los, Yngve! Loslassen! Ich hab Gott geschworen, das nie mehr zu tun. Das ist Sünde. Hörst du, Sünde!»

«Erst, seit du mit Christian geschlafen hast!»

«Nein, aber er hat mich dazu gebracht, das einzusehen.»

«Ach, zum Teufel! Also hast du doch mit ihm geschlafen. Das Schwein!»

«Sieh dich vor! Und wo wir gerade von Schweinen reden: Wer ist dieser andere Typ?»

«Darauf kannst du doch scheißen!»

«Nein, tu ich nicht. Oder eigentlich doch. Ich wohl, aber nicht Gott! Was ihr da treibt, ist Sünde, und ich erlaube dir nicht ... Gott erlaubt dir nicht, das noch länger zu tun! Das ist Sünde, das ist Sünde, das ist Sünde!» Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich.

Ich brach zusammen und blieb dort auf dem Hügel liegen und weinte. Als ich aufsah, war Magnus weg. Ich kroch unter einen Karren und blieb dort stundenlang liegen. Nur eines wußte ich ganz sicher: Ich wollte mir auf keinen Fall das Leben nehmen. Das wagte ich nicht.

Am nächsten Morgen wollte ich nicht aufstehen. Blieb im Schlafsack liegen, das Gesicht zur Wand, den Kopf voll von bitteren Gedanken. Ich wurde ein paarmal in den Rücken geknufft, reagierte aber nicht. Als die anderen endlich zur Andacht gegangen waren, beschloß ich abzureisen. Ich sprang aus dem Bett – genau auf Janne zu, der mit seinem Lächeln in der Tür stand. «Ich fahr nach Hause!»

«War’s so, wie wir es gestern prophezeit haben?»

«Wie du es prophezeit hast, ja. Genau so. Ich hau ab.»

«Ich hab auf dich gewartet. Und dich auch gesucht.»

«Ich ... ich wollte nicht. Wollte allein sein.»

«Solltest du nicht tun, dich mit deinen Problemen zu verkriechen. Du solltest mit jemand reden. Abhauen nützt nichts. Auch jetzt nicht. Du läufst nur vor all den Schwierigkeiten davon. Meinst du, davon wird’s leichter?»

«Ich hab hier nichts mehr zu suchen. Das ganze Lager macht mich krank.»

«Weil du nicht kriegst, was du willst?»

«Nein, zum Teufel. Sag mir doch nur einen Grund zum Bleiben.»

«Ich sag dir zwei: Zum einen solltest du hierbleiben und Magnus zeigen, daß er dich nicht kaputtmachen kann. Zum anderen hab ich unheimlich Lust zum Schwimmen!»

Ich glotzte nur. «Du gibst wohl nie auf, was?»

«Nein, und du solltest das auch nicht!»

«Okay, Janne. Wer zuerst an der Schäre ist!»

Nach dem Essen kam Magnus zu mir und tat sehr geschäftig und geschäftsmäßig. «Wir sind für das Unterhaltungsprogramm heute abend verantwortlich. Hast du etwas vorbereitet?»

«Nein. Ich hatte an anderes zu denken.»

«Dann fängst du vielleicht gleich damit an, oder?»

«Ja, klar doch. Du bist sowieso überall gleichzeitig, kannst du nicht für in einer halben Stunde ein Gruppentreffen im Haupthaus einberufen? Dann hab ich das Programm fertig.»

Ich setzte mich unter einen Baum und überlegte, womit ich zwei Stunden Unterhaltung füllen sollte. Es gab genug fähige Mitwirkende. Der halbe Club gehörte inzwischen zur Theatergruppe, und fast die ganze Gruppe war mit im Lager. Und dann hatte ich die Idee Blut! Natürlich mußten wir das herrliche Blut aufführen, das der Pastor Christian nach nur einer Aufführung wegzensiert hatte. Das sei zu weit gegangen. Teufel auch! Wenn sie Widerstand haben wollten, sollten sie den auch kriegen. Ich fegte los, um Frode zu finden.

Ein paar Stunden später war unten am Strand zur Unterhaltung gedeckt, und jetzt mußt du dir vorstellen, du bist in einem christlichen Jugendlager. Schönes Wetter, Sonnenuntergang und Lagerfeuer, und du sitzt mitten zwischen einigen hundert Jugendlichen. Die eine Hälfte ist da, um dem Teufel zu entsagen – weil Gott will, daß sie alle kleine Sonnenkinder sind. Die andere Hälfte will baden und sich amüsieren. Außerdem sind sie neugierig auf den Teufel – und der haust in der Unterhose.

Magnus eröffnet den Abend mit einer kurzen Andacht – denn alles Festliche muß einen ernsten Rahmen bekommen. Dann singen wir in hunderttausend Sprachen Michael, row the boat ashore. Hallelujah!, begleitet von Gitarre und Akkordeon auf der Bretterbühne.

Mitten in der letzten Strophe passiert oben auf dem Weg etwas, und alle müssen sich danach umdrehen. Da oben stehe ich in einem bodenlangen glänzenden lila Kleid und einem Hut mit unglaublich breiter Krempe und einer grünen Feder. Ich bin geschminkt wie Kleopatra – schwarz, lila und grün, passend zur Kleidung – und trage eine Menge Perlenketten und Ringe. Rosa Pumps. Vor mir habe ich einen Kinderwagen, Modell fünfziger Jahre, und darin sitzt Frode mit nacktem, haarigem Oberkörper, aufgemaltem Veilchen und Baskenmütze.

Der Gesang ebbt ab, und beim letzten «Hallelujah» setzt sich unser Umzug den breiten Weg hinunter in Bewegung. Ich scheine die Kontrolle über den Kinderwagen zu verlieren und heule und kreische, während wir zur Bühne hinunterschlittern.

Frode brüllt entsetzlich, und alle schreien. Ich fuchtle mit den Armen und sage mit Fistelstimme: «Guten Abend, meine Damen und Herren, dies ist eine Überraschung. Eigentlich sollte mein Mann hier heute abend auf der Strandpromenade einen Vortrag halten, aber leider ist mein Mann anderweitig beschäftigt, und ich muß einspringen! Und weil mein Mann leider ganz anderweitig beschäftigt ist, muß ich meinen kleinen Sohn mit herbringen.»

Frode brüllt wie ein Tier und zerrt und reißt an seiner Puppe.

«Er heißt Frank, nach meinem Mann, Herrn Frankenstein, und ist so ein liebes Kind! Wenn er nur genug zu essen bekommt. Bei uns zu Hause essen wir hauptsächlich Blutwurst. Hoppla! Nein, nein, Frank, nicht jetzt!»

Frode hat ein großes Jagdmesser aus dem Kinderwagen genommen und sticht nach mir, und dabei sabbert und grunzt er.

«Hast du Hunger, mein Goldkind? Ja, ja, wart nur einen Moment, gleich gibt die Mama dir die Flasche, ja, jaaaa ...» Ich ziehe eine Babyflasche mit dunkelrotem Inhalt hervor und gebe sie dem Kind, das sich gierig darüber hermacht. «Gibt es vielleicht einen Gentleman in dieser Versammlung, der mir und meinem kleinen Sohn auf das Podium helfen kann, damit ihr alle uns besser sehen könnt, wie seinerzeit die Großmutter zu Rotkäppchen sagte, aber wie ihr alle wißt, war das ja in Wirklichkeit der Wolf, und nachher hatte er richtig Blut geleckt, kann ich euch sagen ... hohohohoho.» Ich lache hysterisch und zeige herausfordernd auf Magnus, der blaß geworden ist und Skandal wittert.

Er springt auf und eilt herbei: «Das darfst du nicht, Yngve! Dieser Sketch ist einfach zu schlimm ...»

Ich lasse ein paar kranke Schreie hören und wende mich direkt ans Publikum: «Dieser edle Jüngling hier will nicht, daß ich euch heute abend diesen phantastischen Vortrag halte! Werdet ihr das zulassen?»

Das Publikum brüllt «Neiiiin!» und pfeift. Frode bricht in Gorillagebrüll aus und beißt Magnus in den Schenkel. Magnus flüchtet.

«Gibt es vielleicht noch andere Gentlemen, die mir mit meinem kleinen Sohn behilflich sein wollen? Er wiegt nur fünfundsiebzig Kilo und ist wirklich nicht gefährlich. Er mag nämlich nur Christenblut.» Zehn bis zwölf Jungen stürmen herbei und heben den Kinderwagen auf die Bühne. Alle klatschen. Ich schreite würdevoll die drei Stufen hinauf und werfe Handküsse: «Ihr sseid ein ssöness Publikum!»

Sie klatschen und pfeifen. Ich nehme mein Manuskript hervor, räuspere mich affektiert und fuchtle mit den Armen: «Bellluuuut ist im Herzen und im Daumen!» Totenstille im Publikum. Keiner wagt zu atmen. «Das sehen wir, wenn wir uns schneiden!» Gelächter bricht los. «Es gibt auch Leute mit Belluut im Urin, und wenn das Belluut durch das Herz fließt, klopft das. Manche haben dünneres Belluut als andere, andere haben dickeres Belluut, aber Nonnen haben das dickste Belluut. Wißt ihr, was das ist? Es ist schwarz und weiß und rot und fliegt durch die Luft? Nicht? Das ist eine Nonne, die auf eine Mine getreten ist! Aus dem Herzen fließt das Belluut in die Zehen ... und dann wandert es wieder nach oben. Viele haben zuviel Belluut in der Nase, und das kommt raus, wenn man auf die Nase fällt. Wenn uns das Belluut zu Kopf steigt, ja, dann werden wir rot! Sch-sch-sch, Frank, jetzt sei still!» Frode hat sein Jagdmesser zwischen den Zähnen und manövriert den Kinderwagen auf der Bühne herum wie einen Rollstuhl. Er versucht dauernd, mich umzufahren, grunzt und brüllt gierig.

«Aber das Beste am Belluut ist zweifellos sein ungeheuer hoher Nährwert! Deswegen machen wir daraus eine Menge leckere kleine Gerichte, wie zum Beispiel Belluutwurst, Belluutpudding, als Vorspeise und als Nachtisch, Belluutkuchen und natürlich auch Belluutklöße, gute Leute!

Mein Mann und ich sind Mitglieder in einer Reihe von exklusiven Belluutclubs und haben sechsundfünfzig Belluutumläufe gewonnen. Auf Steinbahnen, Nierensteine! Des weiteren gibt es viele schöne Spiele, bei denen Belluut eine ganz zentrale Rolle spielt. Wir können da zum Beispiel das «Egelspiel» nennen, oder «Finde die Aorta». Mein kleiner Sohn hier spielt allerdings am liebsten Blütchen-Blütchenwechsledich. Das hat er bis vorige Woche immer mit seinem kleinen belluutarmen Spielkameraden gespielt.»

Frode hüpft rasend in seinem Kinderwagen auf und nieder.

«Ja, ja, mein Lämmchen. Wir werden dir schon einen neuen Spielkameraden besorgen, wart’s nur ab. Einen, der ein bißchen länger hält!» In dem Moment erblicke ich Eirik und sehe, daß alles Belluut aus seinem Gesicht verschwunden ist. Mir wird klar, daß ich die Stelle mit dem Sakrament und mit dem, daß wir alle im Belluut des Lammes gebadet sind, überspringen muß. Statt dessen gehe ich gleich zum letzten Akt über. «Drakula ist ein schrecklich belluutdürstiger Fürst und hat bellaues Belluut in den Adern und den Eckzähnen. In seiner berühmten Belluutbank in Transfusionanien befindet sich die garantiert größte Sammlung von Jungfrauenbelluut!»

Jetzt springt Eirik hoch und rennt auf die Bühne zu.

«Und jetzt, meine Damen und Herren, scheint es auch hier endlich ein wenig belluutig zu werden. Darf ich Ihnen unseren lieben heiligen König Eirik Belluutaxt vorstellen, der jetzt die Ehre haben wird, eine alte und festliche Tradition mit Namen Belluutbad vorzuführen. Sie hat viel gemeinsam mit Belluutsturz, denn das Belluut hat es sehr eilig und stürzt hinaus!»

Schon ist Eirik auf der Bühne und sieht wirklich aus, als wollte er mich umbringen. Drei Sekunden lang ist alles still, dann reißt Frode eine Startpistole hervor und feuert in rascher Reihenfolge sechs Schuß ab. Ich schreie total wahnsinnig, greife mir an meine schwellende Brust und zerdrücke eine große Plastiktüte voll Ketchup, das nun hervorspritzt. Dann falle ich sacht und theatralisch um und verschmiere das Hemd von Eirik, Der will mich auffangen und hat nichts kapiert. Frode versucht, mich mit dem Kinderwagen zu überfahren, und Magnus zupft Eirik am Ärmel und erklärt, daß das alles nur Spiel ist. Das Publikum schart sich heulend um die Bühne. Chaos! Ich wälze mich im Ketchup. Eirik und Magnus ziehen mich auf die Beine und werden noch verschmierter. Ich schwanke einen Augenblick, und dann verzieht sich mein Gesicht. Ich entblöße angsteinjagende Vampirzähne, die ich mir heimlich aufgesteckt habe, und überschreie den Tumult: «Und wenn die Familie sich gegenseitig umbringt ... dann heißt das Belluutrache!»

Damit gehe ich auf Frode im Kinderwagen los – der hat eine Ketchuptüte in der Baskenmütze – und schlage und trete und kratze und beiße. Eirik und Magnus geraten in Panik und versuchen dazwischenzufahren. Das Ketchup spritzt in alle Richtungen. Die Zuschauer sind außer sich vor Vergnügen und Schock. Ich halte den Moment für gekommen, den Kinderwagen von der Bühne und die Treppe hinunterzustoßen. Der kippt um, und Frode wirft sich blutig in die Menge – nur mit der Pistole und einer kleinen Windel bekleidet. Der Jubel will kein Ende nehmen.

Er endet erst, als Eirik sich soweit wieder im Griff hat, daß er mehrmals «Still!» schreit. «Ihr solltet euch schämen!» brüllt der Mann. «Das hier ist ein christliches Lager, und so was wollen wir hier nicht. Das ist Blasphemie! Das ist Gotteslästerung! Ihr solltet euch schämen!» Er stampft von der Bühne. Alle Aufmerksamkeit konzentriert sich auf mich, der ich jetzt allein dort oben stehe.

Ich wische mir das Ketchup aus dem rechten Auge, rücke meinen Hut gerade und sage mit genau einstudierter Zarah-Leander-Stimme: «Und alle, die sich jetzt über diesen Vortrag schämen, machen sich der Belluutschande schuldig!» Damit segle ich von der Bühne und lasse mich von Frode unter wildem Jubel durch die Menge geleiten. Ich merke, daß sich ein Gutteil der Zuschauer aus der Gefechtslinie zurückgezogen hat und in einem blöden Haufen zusammensteht. Wir werfen ihnen Handküsse und Ketchup zu und verschwinden den Weg hinauf.

Oben im Haupthaus bekommen wir beide einen total krampfhaften Lachanfall.

«Wir sind bekloppt!»

«So was Witziges hab ich noch nie erlebt!»

Wir beschmieren uns mit Ketchup und Schminke und lachen uns halbtot.

Und dann steht Magnus in der Tür, ganz weiß um die Nasenwurzeln. «Ja, ihr habt jetzt allen Grund, stolz zu sein! Alle sind wütend auf uns. Ach, halt’s Maul! Ihr habt wirklich keine Entschuldigung. Yngve! Bist du dir klar darüber, daß der Sketch, den du eigentlich aufführen solltest, jetzt gleich beginnt? Und den spielst du zusammen mit mir, also benimm dich jetzt anständig und wasch dir den ganzen Dreck ab, auch die Schminke, und sei in genau fünf Minuten da!» Magnus packt sein Kostüm, das aus einer Anzugjacke und diversem Zubehör besteht, und verschwindet mit rasendem Blick.

«Okay, okay», rufe ich ihm nach. «Okay. Wenn er noch nicht genug hat, wir haben noch mehr auf Lager. Frode, such mir den orangen Minirock von Mona und einen BH und etwas für die Bluse. Ich wasch mir nur eben das Ketchup ab!»

Inzwischen bin ich so aufgeregt und aggressiv, daß ich vor Kraft strotze. Vor Kraft, die wir alle haben, die ihr Dasein aber leider zumeist hinter einer dicken Mauer, die Untertanenmoral heißt, fristet. Jetzt sind aber weder Selbstverachtung noch Hemmungen mehr im Spiel. Jetzt bin ich am Zug, und ich werde voll ausspielen. Und gewinnen will ich auch.

Unten am Strand versucht Magnus, alles wieder hinzubiegen. Er bedauert, daß der vorhergegangene Sketch dermaßen ausgeufert ist, und verspricht, daß sich das nicht wiederholen wird. Er läßt einen kurzen Appell vom Stapel und macht sich dafür die Worte des Paulus zu eigen: «Für mich ist Christus das Leben und der Tod ein Gewinn!» Dann sagt er den nächsten Sketch an: «Er heißt Unnötige Fragen und handelt von einem Mann, der müde von der Arbeit heimkommt. Und jetzt warten wir nur noch auf die Frau des Hauses, die nichts anderes zu tun hat, als sich den ganzen Tag zu langweilen und den Mann mit dummen Fragen zu belästigen.»

Oben auf dem Weg halte ich Einzug. Eigentlich hätte ich abgeplackt und dumm sein sollen und ein Kopftuch aufhaben. Statt dessen trage ich Pfennigabsätze, einen ganz kurzen Minirock, einen riesigen Busen in der ausgeschnittenen Bluse, einen breitkrempigen Hut und eine Zigarettenspitze. Unter erneutem stürmischen Applaus und entzückten Pfeifen gehe ich hüftschwenkend an Magnus vorbei – der ist irgendwie ein bißchen zusammengesunken, der Arme – und auf die Bühne, wo ich mich herausfordernd niederlasse und Rauchringe blase. Die Kleopatraschminke habe ich verdoppelt. Magnus steht hilflos vor der Bühne und hat die Hoffnung allem Anschein aufgegeben. Ich werfe den Kopf in den Nacken und rufe, noch immer mit Zarah-Leander-Stimme: «Aber, nun komm doch nach Hause, lieber Mann!»

Magnus reißt sich zusammen, entert mit zwei Sätzen die Bühne und legt seinen Regenschirm ab: «Hallo ... Geliebte!»

Ich wechsle zu heiserer Vampstimme über: «Aber, bist du’s denn wirklich, mein kleiner Ole?»

«Ja, wer denn sonst?»

Ich rede noch vamphafter weiter, und zwar anders als im Manuskript vorgesehen: «Aber, wie soll ich das denn wissen, lieber Freund! Regnet’s draußen?»

Magnus hat Schwierigkeiten mit der Antwort: «Wieso ... glaubst du, daß der Regenschirm sonst naß wäre?» Er holt unbeholfen Brille und Zeitung hervor.

Ich lege mich sexy über den Tisch: «Vielleicht hast du ja geduscht, mein Lieber, oder dich in dem Eimer da hinten naß gemacht? Willst du die Zeitung lesen?»

Zu früh schlägt Magnus mit der Brille auf den Tisch. Das Glas bricht. «Ja, natürlich!»

Ich gehe zu schockierter Zarah Leander über: «Aber, süßer, kleiner Ole, hast du deine Brille zerbrochen? Wie kannst du denn jetzt lesen? Soll ich vielleicht deine Kontaktlinsen holen?»

Magnus verliert völlig den Faden und starrt mich bitterböse an, während er seine Pfeife hervorholt: «Äh ... was gibt’s denn zu essen?»

Voller Wut fahre ich auf: «Nein, das geht zu weit! In diesem Haus stelle ich die unnötigen Fragen, nicht du, lieber Ole! Steht denn etwas Interessantes in der Zeitung, mein Schatz? Und außerdem ... willst du rauchen?»

Magnus schmeißt die Pfeife auf den Tisch, kann aber kein Wort sagen.

Ich frage zuckersüß: «Ist die Pfeife auch kaputt?»

Jetzt hat er genug. Er fällt über mich her und hebt mich auf wie eine Braut, und ich heule und kreische mit dem Publikum um die Wette. Das gehört eigentlich mit zum Sketch – der Mann soll die Frau aus dem Fenster werfen –, aber mir wird bald klar, daß ich nicht der einzige bin, der hier vom Manuskript abweicht. Magnus ist wirklich stinksauer, und mit großer Kraft hievt er mich über das Bühnengeländer – zur falschen Seite hin, zur See. Ich verliere seine Jacke aus dem Griff, kann mich aber noch irgendwie aufrichten, bevor ich auf allen vieren einen steilen Felsen hinunterrutsche und direkt in den Fjord falle. Da bleibe ich zerkratzt im seichten Wasser liegen, die hochhackigen Schuhe und der breitkrempige Hut schwimmen neben mir. Im nächsten Augenblick ist Magnus da: «Yngve! Ist dir was passiert? Ist alles gutgegangen? Um Gottes willen, verzeih mir! Das wollte ich nicht, ich wußte nicht, was ich tue! Ich war nur so schrecklich wütend, als ich dich festhielt und dich ansah ... Du siehst schrecklich aus. So darfst du nicht aussehen!»

Mein linkes Bein tut entsetzlich weh, weshalb ich stöhne.

Magnus reißt Jacke und Hemd von sich, taucht das Hemd ins Wasser und fängt an, mir die Schminke abzuwischen! Hart und gründlich. Er ist ganz außer sich! «So darfst du nicht aussehen! Du bist doch keine Frau!» Ich weine. Magnus hört auf: «Nicht weinen, Yngve! Tut das weh? Hast du dir was gebrochen?» Das Bein hat zu bluten angefangen.

«Ich weiß nicht. Macht aber nichts, Magnus. Ich weine, weil ich dich so gern hab. Weil du dir doch noch was aus mir machst.»

Magnus’ Gesicht öffnet sich. Wechselt von Zorn zu Zärtlichkeit. Er faßt mich unter den Nacken und küßt mich. Gründlich und lange. Ich umarme ihn.

Da bemerken wir eine Bewegung über uns, einen Laut von oben, und sehen gleichzeitig hoch. Dort – drei bis vier Meter über uns – stehen zweihundert Menschen in Reih und Glied und verfolgen gebannt unseren Auftritt. Sie gaffen. Sie glotzen.

Einige Sekunden lang ist alles still. Dann bin ich mit einem Sprung auf den Beinen und verkünde mit gellender Stimme den Schlußsatz des Sketchs: «Lieber Ole! Hast du mich hinausgeworfen?»

Ein Ruck geht durch die Menge, als wären alle vom Sturm erfaßt, von einer Flutwelle. Sie trauen ihren eigenen Ohren nicht – und noch weniger ihren Augen. Und sie lachen. Schlagen sich auf die Schenkel, knuffen einander in den Rücken und hüpfen auf und nieder. Lachen Tränen.

Wir sehen uns an und lachen auch. Dann entdeckt Magnus mein aufgeschrammtes blutendes Bein. Er bindet sein Hemd stramm darum. «Wir müssen dich verbinden. Kannst du gehen?»

Ich kann gehen. Die anderen klatschen jetzt. Magnus nimmt mich an der Hand und verneigt sich tief. Ich knickse. Das tut weh! Magnus trägt mich mehr oder weniger über den Platz durch die Menge und die Hurrarufe. Auf dem Weg zum Haupthaus wende ich mich um und mache mit meinem lädierten Bein ein paar Cancanschritte.

«Belluut gibt es auch im Schienbein ...» Magnus hebt mich auf und trägt mich weiter.

In Eiriks Büro sind wir allein. Mit beiden Händen leert Magnus den Medizinschrank aus. Bedeckt den halben Tisch mit Pflaster, Tuben und Flaschen. «Also, nun guck dir diesen ganzen Kram an!» Er muß lachen. Oh, wir lachen! Ich bin ganz tatterig von allem, was passiert ist, und zittere unkontrolliert. Krieg den Rock nicht aus, und Magnus muß mir helfen.

«Die haben gedacht, das gehört mit zum Sketch!» keuche ich. «Die haben gedacht, das sollte so sein!»

Magnus zieht mir den Rock aus und packt mich gleich darauf. Nimmt mich ordentlich in den Arm und küßt mich. Wir prusten und keuchen und stöhnen und lachen. So glückselig waren wir! Magnus hält mich von sich ab und sieht mich an. Da stehe ich – in Hemdverband und Unterhose und hab einen stehen. Er streichelt mich vorsichtig über Rücken und Bauch, und ich sehe und fühle und weiß, daß er mindestens so geil wird wie ich. Das Blut hämmert in den Schläfen und im Hals, und wir sagen fast im Chor mit belegter Stimme: «Mein Junge!»

«Ich liebe dich!» flüstert Magnus.

Wir klammern uns aneinander und werden ganz wild. Magnus hat auch nichts am Oberkörper, und ich versuche, seine Hose, die sich beult, zu öffnen. Aber da schnappt er nach Luft und wird stocksteif. Ich weiß, was das bedeutet, weil ich das schon früher erlebt habe. Er hat Angst. Hier stehen wir wahrhaftig in Eirik Blutaxts heiligem Büro und lieben uns! Und jeden Moment kann Jesu Blut mit Bibel und Kruzifix in der Tür stehen! Magnus befreit sich aus meinem Griff. «Dein Bein, Yngve. Wir müssen dich doch verbinden, Junge!»

Und niemals ist jemand so leidenschaftlich verarztet worden wie ich damals. Er verbraucht eine ganze Flasche Pyrisept zum Reinigen und eine ganze Schachtel Bacimycin-Wundpulver und Kompressen und Bandagen. Er ist schrecklich eifrig und fließt über vor Zärtlichkeit. Küßt mich immer wieder auf die Wange oder den Mund und streicht mir durchs Haar. Saugt an meinen Brustwarzen und in meinem Nabel: «Mmmm, du schmeckst nach Salz!» Er bohrt sein Gesicht in meine Unterhose: «Ach, du riechst so gut, Yngve. Du bist so schön! Hör zu: nachher, heute nacht! Wir verstecken uns. Hast du das kleine Zimmer im Wirtschaftsgebäude gesehen? Ganz hinten? Es hat einen Riegel und ist voll mit alten Matratzen. Da gehen wir heute nacht hin, wenn die anderen eingeschlafen sind!»

«Magnus, ich liebe dich!»

Es ist gar nicht so leicht, sich zu verstecken in einem Lager voller lebensgeiler Leute, denen nichts erlaubt ist. Aber schließlich schaffte ich es, mich unbemerkt ins Wirtschaftsgebäude zu schleichen. Magnus kam direkt darauf zu. Er war so aufgeregt, daß er zitterte. «Ach, Yngve, ich hab nachgedacht ... eigentlich ist das ja Wahnsinn, was wir machen, das ist nicht richtig ...»

«Nein, Magnus. Hör jetzt auf mit dem Quatsch! Denk doch so was jetzt nicht! Wir mögen uns und wollen lieb zueinander sein. Das ist das einzige, was jetzt zählt, und ich liebe dich. Komm her!»

Ich umarmte ihn und lotste ihn in den hintersten Raum, verschloß die Tür mit einem soliden Riegel, und dann waren wir alleine. Lange standen wir nur da und umarmten uns wieder. Atmeten wieder zusammen. Liebkosten uns wieder. Spürten den gesegneten Geruch von dem, den wir am liebsten hatten. Wir standen da und wurden zusammen geil. Spürten, wie sich enorme Kräfte in uns aufbauten. Endlich!

Wir zogen uns gegenseitig aus. Langsam und sorgfältig. Küßten uns auf den Bauch, in die Kniekehlen, in die Achselhöhlen. Dann zogen wir uns die Unterhosen aus, und dabei standen wir eng zusammen und spürten, wie unsagbar gut es ist, wenn der, den du lieb hast, dein Geschlecht liebkost. Ja, wahrlich. Genau da hatte Strandholmen wirklich etwas mit dem Himmel zu tun! Draußen vor dem Fenster war die Sommernacht und gab uns genügend Licht. Wir konnten alles sehen, was wir fühlten, all das Gute, was wir miteinander machten. Wir lagen auf einer alten Matratze und liebten uns so sanft, so sanft. Teilten unsere verlangenden warmen Körper und gaben einander alles, was wir wußten.

Magnus legte sich über mich. Er flüsterte: «Komm jetzt.» und gab mir eine Reise zur Milchstraße. Eine schwindlig machende Sternenreise zu einer Explosion durch die Schallmauer – und dann zurück zu meinem Jungen. Ich nahm ihn in den Mund. Lutschte seinen unschuldsreinen, sündenbehafteten Schwanz. Zuerst vorsichtig und sanft. Dann fester und regelmäßig. Magnus lag auf dem Rücken in meinem Schoß und umschlang mich mit den Beinen. Er hielt mich mit beiden Händen in den Haaren und kam wie ein Geysir mit Lärm und Getöse – und mit einem Schrei der eingesperrten Kräfte, die sich Bahn brachen. Wollust und Süßigkeit und Liebe, Selbstverachtung, Scham und Angst.

Ich trank meinen Liebsten ganz leer.

Wir lagen nebeneinander und kämpften um Atem. Magnus drehte mir den Rücken zu. Ich strich ihm über den Arm. Er zuckte zusammen: «Du ... hast du das runtergeschluckt?»

«Ja. Und Mykle hat auch da wirklich recht. Es schmeckt nach Rosen. Nach weißen Rosen.»

«Du hättest das nicht tun sollen!»

«Aber, Magnus. Wieso denn nicht? Es war schön. War das für dich denn nicht auch gut? Ich hab das doch nur gemacht, weil ich dich lieb hab!»

«Faß mich nicht an! Ich ertrag das nicht mehr. Das ist eine Schweinerei! Das ist unrein. Du besudelst mich. Ich hatte Gott versprochen ... O Gott!»

Ich sehe in sein verquältes Gesicht. Ich sehe, jetzt wird es ernst. Ernster als je zuvor in meinem Leben. Ich sage scharf: «Magnus! Kein Wort mehr davon! Du mußt aufhören, dich zu verfluchen ... und mich ... bloß, weil wir uns mögen. Was wir zusammen machen, ist keine Sünde. Wie, zum Teufel, könnte das Sünde sein? Wir machen doch nur Gutes zusammen, nur das Beste, was wir kennen. Gott hat überhaupt nichts dagegen. Gott ist Liebe ... nicht Vorurteil oder Haß oder Bosheit! All die Angst und die Schuldgefühle hat dir die Kirche gegeben. Die Priester. Christian. Und dein Vater!»

Aber da schlägt Magnus auf mich ein. Hart und wild. Er schreit und schluchzt: «Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!»

«Verzeih mir, Magnus. Ich wollte nicht gemein zu dir sein. Aber früher oder später mußt du das endlich kapieren: Du bist homosexuell, genau wie ich!»

«Nein. Neeiinn! Sag das nicht! Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!» Magnus verliert total die Fassung. Er schreit und brüllt hysterisch. Ich versuche, ihn festzuhalten, versuche, ihn zu beruhigen, aber das nützt nichts. Er reißt sich von mir los und fegt durch die Tür. Nackt. Irgendwie bekomme ich meine Hose an, scheuere meine Wunde auf, achte aber nicht darauf. Laufe ihm nach. Und sehe, wie der Junge in vollem Galopp auf die Anlegestelle zustürzt.

Als ich endlich unten angekommen bin, hat er schon das eine Ruderboot losgerissen und stößt ab. Er steht nackt im Boot und grinst richtig wahnsinnig: «Du kriegst mich nie! Und die anderen auch nicht! Ich werd euch alle reinlegen und von euch wegrudern. Ganz weit wegrudern!»

«Magnus! Komm zu dir! Du darfst jetzt nirgend wohin rudern.» Ich versuche, ruhig und eindringlich zu reden, aber ich habe solche Angst. Schreckliche Angst davor, daß er auf die Idee kommt, sich etwas anzutun.

Magnus setzt sich und schwenkt die Ruder aus. Dann sagt er bestimmt: «Ich rudere nur ein bißchen. Ich muß nachdenken ...»

«Kann ich nicht mitkommen? Ich faß dich auch nicht an. Ich werd kein Wort sagen ...»

«Nein, du darfst nicht mit!» Er rudert ein paar Schläge, aber dann scheint er sich zu besinnen und sagt etwas ruhiger: «Du brauchst keine Angst zu haben, Yngve. Ich werd mir nichts antun. Aber ich muß selber aus all dem herausfinden.»

«Okay, Magnus. Ich bleib hier sitzen und warte auf dich. Ich verlaß mich auf dich!»

Magnus rudert sachte in den Sonnenaufgang hinein. Ich setze mich an den Rand der Anlegestelle. Die Luft ist kühl.

Zwei Stunden später sitze ich noch immer da. Magnus ist zur Fjordmitte gerudert, aber ich kann ihn noch im Boot erkennen.

Dann zucke ich zusammen, weil der Lagerchef Eirik über mir steht. «Was machst du hier, mitten in der Nacht? Weißt du, wo Magnus ist?»

Ich schüttle den Kopf.

«Hat Magnus das Boot genommen? So antworte doch, Junge!»

«Hör zu. Magnus hat Schwierigkeiten. Er will allein sein und darüber nachdenken, und ich finde, das muß er dürfen. Also misch du dich da auf keinen Fall ein!»

«Ist er mitten in der Nacht allein in dem Boot? Aber das ist ja streng verboten! Wo ist er? Wo ist er hingerudert? Antworte!»

«Es ist nicht gefährlich! Du kannst ihn von hier aus sehen. Er sitzt da draußen im Boot, und es passiert ihm bestimmt nichts ...»

«Bei meiner Arbeit in Gottes Weinberg hab ich schon viel Seltsames erlebt, aber das hier ist wirklich das Ärgste!» zischt der Mann. Dann verschwindet er in Richtung Haupthaus. Nach fünf Minuten kommt er mit einem anderen Leiter zurück, schließt das Bootshaus auf und holt eine Jolle mit Außenbordmotor heraus.

«Nein! Ihr dürft nicht zu ihm fahren. Er will allein sein. Versteht ihr das denn nicht? Ihr werdet ihn nur erschrecken!» Ich versuche, ihnen das begreiflich zu machen, aber es nützt nichts. Die Verantwortlichen übersehen mich einfach, werfen den Motor an und jagen davon.

Ich kann nicht sehen, was vor sich geht, aber ich spüre es. Fühle Magnus’ erstickende Angst, als das Boot näherkommt. Spüre, wie er in Panik ausbricht, als er sieht, wer ihm nachgefahren ist.

Was werden die denken, wenn sie ihn nackt in einem Boot finden? Was wird er sagen?

Ich kann hören, wie Magnus sie anschreit: «Geht weg! Nicht näherkommen!»

Ich kann fühlen, wie das Entsetzen ihn packt. Ich spüre den Sprung. Den Fall. Und das Wasser, das sich über meinem Jungen schließt.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich mit ihm kamen. Ich merkte, daß sie sich die Zeit genommen hatten, das Ruderboot in Schlepptau zu nehmen. Magnus lag auf dem Boden des Bootes, eingehüllt in eine Persenning. Er rührte sich nicht. Ich war ganz steif vor Angst und Schrecken.

«Habt ihr ihn gerettet? Wird er’s überstehen?»

Eirik musterte mich scharf und antwortete kurz: «Das weiß ich nicht. Lauf ins Haus, weck Aase und bitt sie, ein Krankenzimmer fertig zu machen. Und beeil dich gefälligst!»

Ich flog. Weckte mehrere auf, eh ich Aase fand. Großer Aufstand. Und dann brachten sie Magnus. Ich konnte gerade einen Blick auf sein Gesicht werfen. Es sah blaß und verrückt aus – aber nicht tot.

Ich ging hinter den anderen die Treppe hinauf, aber oben drehte Eirik sich um: «Du gehst raus und wartest draußen auf mich.»

«Ja, aber ...»

«Verstanden?!»

Ein anderer Leiter schob mich die Treppe hinunter und zur Tür hinaus, die mit einem Knall geschlossen wurde. Ich sank in mich zusammen und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich hatte Angst. Versuchte, in all dem Chaos klar zu denken. Warum reagiert Magnus so? Warum hat er so entsetzliche Angst vor sich und seinen Gefühlen? Ich bin doch nicht gefährlich!

Es war ein schöner Morgen. Die Sonne stand hoch am Himmel und wärmte schon ein bißchen. Mein Bein tat schrecklich weh – alles übrige auch. Ich saß auf der Treppe und war todunglücklich.

Es läutete zur Morgenandacht. Aase kam heraus und schlug die Tür sofort hinter sich zu. Ich sprang auf: «Wie geht es Magnus?»

«Ja, wir haben ihn gerettet. Jetzt ist er außer Gefahr.» Sie sah mich vorwurfsvoll an und zog den Mund noch mehr zusammen als jemals zuvor.

«Du glaubst doch wohl nicht, daß das meine Schuld ist?»

«Nicht?» blaffte Aase und ging.

Gott sei Dank! Es geht ihm besser! Ich jubelte innerlich, aber dann kam die Unruhe wieder durch meinen Bauch heraufgekrochen, in die Arme, bis in die Haarwurzeln. Was hatte Aase nur gemeint? Was für eine Teufelei heckten sie denn nun wieder aus? Die Frage zitterte in mir, und zum Schluß konnte ich einfach nicht mehr dasitzen wie ein Idiot. Ich hämmerte gegen die Tür. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie plötzlich vom Lagerleiter höchstpersönlich aufgerissen wurde.

«Ach, so, Yngve! Bei dir ist wohl nie Schluß mit dem Lärm!»

«Wie geht’s Magnus?»

«Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber Magnus wird das alles heil überstehen, diesmal ging’s nicht nach Plan!»

Ich begriff nicht, was er meinte.

«Komm jetzt mit ins Büro. Laß uns das mit Gottes Hilfe hinter uns bringen!»

«Wovon redest du eigentlich?»

«Setz dich! Jetzt mußt du die Wahrheit erzählen. Magnus hat nämlich gebeichtet. Er hat alles zugegeben, und das waren ja wirklich keine Kleinigkeiten. Ich bin zutiefst schockiert, das muß ich wirklich sagen. Jedenfalls, Gottes Gnade kennt keine Grenzen. Magnus wird die Vergebung seiner Sünden erlangen. Dafür, daß er versuchte, sich das Leben zu nehmen ... und für die schrecklichen Taten, zu denen du ihn verleitet hast!»

Ich war völlig baff. Er fuhr fort: «Das war wirklich im letzten Moment, Yngve. Du solltest Gott dafür danken, daß ich so schnell war. Ich war schon ziemlich nah an seinem Boot, als er gesprungen ist. Er war wie vom Teufel besessen ... oder vielleicht von dir? Was hast du mit dem Jungen gemacht? Wie hast du all dieses Elend zustande gebracht? Antworte!»

Ich kam schnell wieder zu mir. Meine Stärke kam zurück mit der Gewißheit, daß nichts von all dem Gerede mit mir zu tun hatte. Ich hatte nichts Schlimmes getan. «Eins sag ich dir: Ich bin mir völlig darüber im klaren, was ich gemacht hab ... was Magnus und ich zusammen gemacht haben. Und ich schäme mich deswegen nicht. Weder vor dir noch vor Gott noch vor sonst irgendwem!»

Eirik blies sich gewaltig auf, während ich sprach: «Danke, daß du dich so klar ausdrückst, junger Mann. Das macht es mir leichter, meine Pflicht zu tun. Du mußt sofort hier weg! Solche wie dich wollen wir nicht in unseren Lagern. Des weiteren werde ich die Eltern ... deine und die von Magnus ... über diese Vorfälle unterrichten. Und falls mir das nötig erscheint, werde ich auch deine Schule informieren. Das wird die Zeit zeigen ... Wir werden jedenfalls in Zukunft ein waches Auge auf dich haben!» Der Mann konnte sich nur mühsam beherrschen.

Ich antwortete so klar und deutlich, wie ich nur konnte: «Du hast kein Recht, irgendwas zu berichten. Magnus und ich haben uns nichts zuleide getan, und er wollte nicht Selbstmord begehen. Er wollte allein sein, und du bist daran schuld, daß er gesprungen ist, weil du so blöd warst und ihn erschreckt hast. Und außerdem weigere ich mich, nach Hause zu fahren.»

«In diesem Fall, junger Mann, werde ich dich persönlich nach Oslo zurückfahren.»

«Nein, danke, Herr Lagergeneral!»

«Raus! Raus mit dir, sage ich! In meinem Lager lasse ich mir so was nicht bieten!»

«Ich habe für Kost und Unterbringung für eine ganze Woche bezahlt ...»

«Ja, natürlich, geizig bist du auch noch, du kleiner ...» Er riß sich mit Gewalt zusammen, öffnete eine Schublade und holte eine kleine Kasse hervor. «Dieses Lager dauert acht Tage und kostet hundertfünfzig Kronen. Du warst dreieinhalb Tage hier, also bekommst du hundert Kronen zurück. Das ist mehr, als dir zusteht ... verschwinde jetzt!» zischte er und schmiß den Hunderter über den Schreibtisch.

«So hab ich das nicht gemeint. Ich muß hierbleiben, weil Magnus mich braucht!»

«Dich braucht!» Der Mann explodierte. «Dich braucht er am allerwenigsten auf der Welt! Er braucht Gooottt! Er braucht Gottes Vergebung für seine Süüünnnnnden!»

«Aber, Magnus hat doch gar nicht Schlimmes getan!»

«Sag mal, Yngve, wie alt bist du eigentlich?» Er versuchte auf einmal, freundlich und beherrscht zu klingen.

Ich begriff, worauf er hinauswollte, und eine Welle des Triumphs durchfuhr mich: «Ich werde im Oktober sechzehn.» Die Augen auf der anderen Schreibtischseite verengten sich, und genauso freundlich redete ich weiter: «Magnus ist im April sechzehn geworden ...»

Aus dem zusammengekniffenen Gesicht zischte es: «Dafür kannst du deinem ... kannst froh sein, junger Mann!» Dann brüllte er: «Wenn es nämlich umgekehrt gewesen wäre, hätte ich dich persönlich wegen Verführung Minderjähriger angezeigt. Denn das hast du doch eigentlich getan, oder etwa nicht? Du bist listig wie eine Schlange! Du bist erfahren! Für dich war es doch kein Problem, einen unschuldigen Jungen wie Magnus aufs Kreuz zu legen! Das arme Kind!» Plötzlich sah er aus, als wollte er sich in die Hosen machen. Er beugte sich vornüber und zischte: «Großer Gott! Wie lange geht das denn schon so?»

«Das geht dich nichts an!» Ich war hellwach.

Der Mann explodierte wieder: «Was du treibst, ist gegen das norwegische Gesetz, weil es pervers ist. Das ist gegen Gottes Gebot! Das ist ein Verbrechen wider den Heiligen Geist!»

Immer noch konnte ich mich beherrschen und unterbrach ihn: «Ich kenne einen Pastor, der das genaue Gegenteil behauptet. Der nennt Homosexualität Nächstenliebe. Der hat übrigens auch mit Magnus geschlafen!»

Der Mann schnappte nach Luft. «Wer, in aller Welt ... Nein! Das ist gelogen! Du lügst, du kleiner Teufel! Du versuchst, Gottes und der Kirche eigene Diener anzuschwärzen! Du bist ein besessener Psychopath! Du bist von Satan besessen ...»

Ich biß die Zähne zusammen und wartete auf eine Pause, um den Namen von Christian Teufelpastor sagen zu können, aber irgend etwas hielt mich zurück. Nicht einmal Christian hatte es verdient, diesem geisteskranken Unmenschen auf der anderen Tischseite in die Hände zu fallen.

In dem Moment schnappte er zu: «Ja, und wer ist das? Von wem redest du? Antworte!»

«Auch das geht dich nichts an!»

«Das wußte ich! Vor Gott wagst du nicht zu lügen. Du fürchtest die Kraft Gottes ... Denn die habe ich!»

Da platzte es aus mir heraus: «Ich hätte nicht gedacht, daß Gott so verdammt laut schreien müßte, um gehört zu werden!»

In dem Moment war der Mann schon aufgesprungen. «Setz dich hin, du Lümmel! Ich bin noch nicht fertig!»

«Du bist hier nicht beim Militär!»

Er kam auf mich zu. «Du bist ein verderbtes, verlorenes Geschöpf. Du hast eine junge, reine Seele verführt ... aus einem christlichen Heim ... Du hast ihn in den Schmutz gezogen! Du hast ihn besudelt und ihn fast ums Leben gebracht! Und darüber hinaus wagst du es, hier zu stehen und Gott zu spotten!»

Der Mann stand nur einen Meter von mir entfernt. Ich ballte die Fäuste fester und fester und hielt ihn mit meinem Blick von mir ab.

Er sprach leise und eindringlich weiter: «Aber ich gebe dir eine letzte Chance, denn darauf haben alle Sünder Anspruch. Fall hier und jetzt auf die Knie! Bekenne vor mir und vor Gott deine schrecklichen Sünden und entsage dem Teufel, dann werden dir deine Sünden vergeben. Das verspreche ich dir!»

«Fahr zur Hölle!»

Ich renne zur Tür, nehme die Treppe zum ersten Stock in vier Sprüngen und reiße die erste Tür auf. Leer. Die nächste, leer. Ich höre, wie der Mann die Treppe heraufkommt. Eine neue Tür auf. Da – Magnus. Ich beuge mich über ihn: «Magnus, mein Junge! Wie geht es dir?» Keine Reaktion.

Der Mann in der Tür: «Das hilft dir auch nichts, junger Mann.»

«Was hast du mit Magnus gemacht, du Schwein!» Ich gehe mit geballten Fäusten auf ihn los.

Er züngelt scharf: «Aber, beruhig dich doch jetzt, Junge! Er schläft, das siehst du doch!»

«Was hast du mit meinem Liebsten gemacht?» Ich packe den Mann am Revers und schüttle ihn.

«Laß los! Das ist nicht gefährlich. Ich bin Arzt! Er hat nur ein mildes Schlafmittel bekommen. Er brauchte das. Laß los, sag ich!»

Ich fasse fester zu und stoße den Mann gegen den Türrahmen. «Das ... war ... deinetwegen!» Ich will schlagen, aber dann höre ich etwas und drehe mich um. Magnus sitzt aufrecht im Bett. Mit einem Schrei im Gesicht. Und dann schreit er. Ich werfe mich über ihn. Magnus schreit, beißt, kratzt, schreit. Ich auch: «Mein Junge! Ich bin’s. Yngve!»

«Geh weg! Geh weg, ich will dich nie mehr sehen!»

«Magnus! Ich liebe dich!»

«Geh weg! Hau doch ab! Geeeehhh ...» Dann kommt der Mann mit der Spritze. Magnus ist weg.

«Ich werde gnädig sein, obwohl du, Gott weiß, etwas ganz anderes verdient hast.» Der christliche Jugendleiter-Arzt Eirik starrt mir haßerfüllt ins Gesicht. Eirik Blutspritze!

«Ich könnte die Polizei anrufen. Ich könnte dich wegen Körperverletzung anzeigen. Ich könnte dich verhaften und einsperren lassen. Aber das werde ich nicht tun. Ich werde dich gehen lassen! Unter ganz wenigen Bedingungen! Du mußt Magnus in Ruhe lassen. Du mußt deine perversen Gelüste bekämpfen und dich in Zukunft von allen anderen Jungen fernhalten! Du mußt Gottes Wort lesen und dich durch das Gebet von ihm leiten lassen! Du mußt ...»

«Fahr doch zur Hölle, du scheiß Teufel ...» Das sage ich leise. Hoffnungslos. Ich gehe aus dem Büro.

«Willst du dein Geld nicht mitnehmen?» ruft dieser Unmensch mir doch tatsächlich nach.

Ich gehe völlig benommen. In den Schlafsaal. Packe meinen Rucksack. Rolle den Schlafsack zusammen. Gehe wieder hinaus. «Magnus, Magnus!»

Ich taumle zum Tor hinaus. Merke, wie die Tränen kommen. Werfe mich in den Graben und weine. Sehne mich. Hasse. Rede mit mir selber. «Zum Schluß hast du doch verloren, Yngve. Die anderen haben gewonnen. Die anderen haben ihn dir weggenommen. Magnus! Mein Junge.»

Ich gehe zur Hauptstraße. Zwischendurch schluchze ich heftig. Im Herbst soll ich mit dem Gymnasium anfangen.

Ich bin ganz allein.

Der Irrläufer

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