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Rhea

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Der Ritt quer durch den Wald dauerte nun schon eine Ewigkeit. Cassios Arme wurden langsam lahm vom ungelenken Festkrallen an Jagos Schultern. Schweigend und in Gedanken versunken gab er sich Mühe, sich seine Unbeholfenheit nicht anmerken zu lassen. Er blickte vorsichtshalber weder nach rechts noch nach links. Er war verunsichert, weil er keine Vorstellung davon hatte, was ihn erwarten würde.

Jetzt gerade ging es ihm gar nicht so schlecht. Zumindest hatte er Gesellschaft, die ihn weniger ängstigte als ihn dieses Verlorenheitsgefühl gequält hatte, wenn er einsam war. Abwarten, wie sie ihn weiterhin behandeln würden. Vielleicht war es ja wirklich nicht das schlimmste, wenn er zu ihnen gehörte und nicht mehr allein und ziellos durch den finsteren, dichten Wald irrte. Schleichender Schmerz durchzog seinen Rücken. Wie gerne wäre er nur für einen kleinen Augenblick abgestiegen von diesem ihn unentwegt durchschüttelnden Pferderücken. Wie gerne würde er jetzt einfach nur ein paar Schritte gehen, damit seine Beine nicht einschliefen. Wie gerne würde er seine trockene Kehle mit etwas Flüssigkeit benetzen, um nicht vollends auszutrocknen.

Nach einer endlos langen Zeit – den Gedanken an eine Pause hatte er schon fast aufgegeben – hielt die Meute plötzlich. Vorsichtig blickte Bastian auf. Vor ihm baute sich eine hohe, grob verputzte graue Mauer aus Feldsteinen auf. An ihrem oberen Rand lugten hoch über ihnen mit Pfeil und Bogen bewaffnete Männer zwischen den Zinnen hervor. Der Zutritt zum Inneren des Mauerrings wurde der Jagdmeute durch ein großes, zweiflügeliges Holztor verwehrt. Die beiden grob gezimmerten Holzflügel bewegten sich und schwangen langsam knarrend nach außen auf, und die Meute ritt ein.

Hinter dem breiten Tor öffnete sich ein runder Hof, in dem reges Treiben herrschte. Cassio sah sich um. Von überall waren Rufe zu hören und irgendwo hämmerte ein Schmied auf einen nachklingenden Amboss. Die Ringmauer bestand hofseitig aus Stallungen, offenen Unterständen, in denen Werkstätten und Lagerplätze eingerichtet waren sowie Gesindequartieren. In der Mitte dieser Festung ruhte wie ein schlafendes Ungeheuer der gräulich schimmernde Palast der Rhea. Direkt vor Cassio erhob er sich majestätisch anmutend in der Mitte des Hofes mit seiner quadratischen Grundfläche und drei Stockwerken.

Mittig angeordnet im untersten Teil des Bauwerkes befand sich ein ähnliches Tor wie jenes in der Ringmauer, durch das sie herein gekommen waren. Nur war es kleiner und aus ähnlich grobem, schwerem Holz. Ansonsten durchbrachen in unregelmäßigen Abständen und von einem gewöhnlichen Menschen unerreichbare vergitterte Fenster das trutzige Mauerwerk. Die beiden oberen Stockwerke waren niedriger und kleiner als das unterste. Das oberste hatte sogar eine noch kleinere Grundfläche als das darunter liegende, so dass die beiden oberen Gebäudequader über je einen umlaufenden begehbaren Vorsprung verfügten.

Dort oben sorgten regelmäßig verteilte, bis zum Boden reichende Rundbogenfenster für ausreichend Licht und Belüftung der offensichtlich Wohnzwecken dienenden Räume. Bis auf die Fenstergitter, die üppigen Türbeschläge des augenscheinlich einzigen Hauseinganges, die Geländer der oberen Rundgänge und der Fensterleibungen wurde gänzlich auf Fassadenschmuck verzichtet. Anders als die Außenmauer war das aus großen, quaderförmigen Natursteinen bestehende Mauerwerk nicht verputzt. Den oberen Abschluss fand der Palast in einem von Zinnen umkrönten Flachdach.

Nachdem die Reiter im Hof angekommen waren, schienen alle irgendein Ziel zu haben, verschwanden in alle Richtungen und wurden zu einem Teil des Trubels.

Jago ließ sein Pferd inmitten des großen Hofes halten. Nachdem er laute Anweisungen in verschiedene Richtungen gerufen hatte, stieg er so schwungvoll ab, dass sich Cassio unversehens im Staub auf der Erde wieder fand. Jago beachtete ihn nicht weiter, übergab die Zügel seines Pferdes einem herbeigeeilten Knecht und verschwand.

Cassio stand eine Weile regungslos und staunend da, bis ihn jemand ansprach und aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurückholte: »Geh dich waschen! Du siehst aus wie ein Waldschwein!«

»Wo denn?«, fragte Cassio und reckte seine Glieder.

»Wo wohl? Na dort drüben, wo sich alle waschen!«

»Danke!«, rief er dem Mann nach, der im Gewühle verschwand. Waldschwein? Was das auch für ein Tier war, besonders hübsch war es mit Sicherheit nicht, wenn er sich so betrachtete. Schweiß und Staub bildeten eine Masse, die nicht nur seine Haare zu Strähnen verklebte, sondern auch alles andere an ihm: sein Gesicht, seine Hände, seine Kleidung waren mit einem Schmutzfilm überdeckt. Das Gesicht und die Hände waren zudem zerschrammt. Der ihm in die Nase kriechende penetrante Gestank war sein eigener. Seine Beine schmerzten mit seinem Rücken um die Wette.

Mühsam schleppte er sich zu der Waschstelle, an der sich einige Männer erfrischten. Drei Fässer wurden über längliche Rinnen mit Wasser aus einem Brunnen gespeist, an dem ein in Lumpen gekleideter Bursche unablässig pumpte. Cassio stellte sich vor eines dieser Fässer und blickte in sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Das Wasser war ziemlich trüb, so dass er die Einzelheiten seines Gesichts nicht genau erkennen konnte.

Zum Glück, dachte er, holte tief Luft und tauchte den ganzen Kopf unter. So sehr ihn sein schmerzender Rücken auch peinigte, so sehr bescherte ihm das kühle Nass die ersehnte Erfrischung. Das Wasser fühlte sich angenehm weich in seinem Gesicht an und dämpfte die Geräusche um ihn herum. Cassio erhob sich und strich sich mit einer lässigen Handbewegung die Haare aus dem Gesicht, wobei er bemerkte, wie dreckig sie waren. Schnell wusch er sich und drückte anschließend sein Haar aus. Dann nahm er noch ein paar gierige Schlucke aus dem Hahn, setzte sich in einer ruhigen Ecke auf den staubigen Boden und betrachtete das Treiben auf dem Hof.

So saß er eine ganze Weile da. Niemand schien ihn zu beachten. Der Platz, auf dem sich eben noch unzählige Menschen getummelt hatten, leerte sich zusehends. Es wurde stiller. Nur hier und dort waren noch entfernte Stimmen zu hören. Langsam übermannte Cassio die Kälte wieder. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Sein leerer Magen knurrte auffällig und erinnerte ihn daran, dass er schon lange nichts mehr zu sich genommen hatte. Seine letzte Mahlzeit waren Tiefkühl-Tortellini gewesen. Das war eine Ewigkeit her, so genau wusste er das nicht mehr.

Er erschrak in dem Bewusstsein, wie unwirklich ihm sein bisheriges Leben mittlerweile erschien. Bis jetzt schien er noch nicht verrückt geworden zu sein, obwohl das zumindest eine mögliche Erklärung für diesen Ort hier wäre und wie er hierher gelangt war. Die einzige Antwort auf diese ungestellte Frage war die Stille, die ihn umhüllte und einnahm.

Cassio stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen. Der lange Marsch hatte ihn ermüdet. Er massierte sich die Schläfen und rieb sich die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er eine menschliche Gestalt sich ihm nähern. Das Dienstmädchen hatte ihre dunklen Haare zurückgebunden und trug ein langes, einfach geschnittenes Kleid, dessen Saum fast am Boden schleifte.

»Rhea möchte, dass du ihr beim Essen Gesellschaft leistest«, sprach sie ihn freundlich an und senkte dabei unterwürfig ihren Blick, darauf bedacht, ihm nicht in die Augen zu sehen. »Bitte folge mir.«

Der Schmerz in seinen Beinen machte ein Aufstehen nahezu unmöglich, doch beachtete er ihn einfach nicht und erhob sich zitternd. Er folgte dem Mädchen ins Innere des Palastes. Über eine großzügige Steintreppe führte sie ihn in das erste Obergeschoß. Durch viele Türen gingen sie, bis sie schließlich in einem prächtigen Zimmer stehen blieb und sagte: »Hier kannst du dich frisch machen und saubere Kleider anziehen, damit du ihrer Hoheit angemessen gegenübertreten kannst.«

Cassio bedankte sich kopfnickend, worauf die junge Frau verschwand. Dann stand er ein paar Augenblicke lang mitten in diesem Zimmer und sah sich um. Die Balken der Holzdecke waren üppig mit Schnitzereien und Farbornamenten geschmückt. Die Ausstattung des Raumes beschränkte sich auf einen kleinen Stuhl, einen riesigen, massiven Holzschrank und eine Kommode, auf der sich eine mit Wasser gefüllte irdene Schüssel, ein Stück beige-gelblicher Seife sowie ein hölzerner Kamm befanden. Ein zugezogener, reich verzierter Stoffvorhang verbarg das große Fenster und schützte Cassio so vor neugierigen Blicken. An der Wand hing ein riesiger Spiegel mit einem goldenen, ornamentreich verzierten Rahmen. Er sah hinein und seufzte.

»Cassio, hm«, setzte er an, zu seinem Spiegelbild zu sprechen, das ihm ein äußerst mitgenommenes Gesicht offenbarte. Er meinte, sich zu erinnern, diesen Namen schon einmal irgendwo gelesen zu haben. Warum eigentlich nicht? Er klang geheimnisvoll, und das war auch die Lage, in der er sich befand.

Cassio, dachte er und lächelte. Jetzt fand er endlich Zeit, sich richtig zu waschen. Zuerst entledigte er sich aller Kleidungsstücke, die er sorgsam über die Stuhllehne hängte. Dann ging er zu der Kommode und wusch sich noch mal von Kopf bis Fuß. Die kurze Waschung vorhin am Regenfass verhinderte nicht, dass sich das klare Wasser in der Waschschüssel dunkel verfärbte. Die aufgeschürften Stellen auf seiner Haut brannten wie Feuer. Vorsichtig trocknete er sich mit den bereitgelegten weichen Tüchern ab und kämmte sein Haar.

Jetzt brauchte er nur noch etwas zum Anziehen. Neugierig ging er auf den Schrank zu und öffnete knarrend die Tür. Drinnen fand Cassio eine Auswahl prachtvoller Kleidung bis hin zu aufwendigen Jacken, Mänteln und Schuhen. Es war auch eine der Uniformen dabei, wie sie die Männer aus Rheas Jägertrupp trugen. Für die entschied er sich. Zum einen, weil er das Gefühl hatte, getestet zu werden und zum anderen, weil sie ihm am praktischsten erschien. Schließlich hatte er tatsächlich keine entfernteste Ahnung, was noch auf ihn zukommen würde.

Als er die Uniform angelegt hatte, stellte er fest, dass sie ihm seltsamerweise vorzüglich passte, sogar die Stiefel waren wie maßgeschneidert. Cassio sah in den Spiegel und war zufrieden. Die Uniform war nicht so üppig verziert wie die anderen Kleidungsstücke. Dafür verlieh sie ihm eine gewisse Würde und machte ihn weniger verletzlich. Außerdem passte sie besser zu seinem etwas lädierten Gesicht. Sie stand ihm wirklich gut, wie er fand. Er blickte in das entschlossene Gesicht, das ihn aus dem Spiegel heraus ansah, und fühlte sich gleich weniger allein. Jemand klopfte an die Tür. Auf seinen Ruf hin trat ein Diener ein.

»Ihre königliche Hoheit lässt bitten«, näselte er, drehte sich um und ging voran. Cassio folgte ihm gehorsam.

Der Diener führte ihn zu einem großen Saal, den Cassio alleine betrat. Feinstes Tafelparkett knarrte unter seinen schweren Stiefeln. Über seinem Kopf spannte sich eine geradezu luxuriös mit Schnitzwerk geschmückte Holzkassettendecke. Die Wände waren mit kostbarstem Stoff bespannt. Im ausladenden Kamin in der hinteren Ecke knisterte ein Feuer, das wohlige Wärme und gemütliches Licht im Saal verbreitete. In der Mitte des Raumes stand ein riesiger ovaler Holztisch, reich gedeckt mit verschiedensten Speisen. Beim Anblick der wundervoll duftenden Gerichte lief Cassio das Wasser im Mund zusammen. Er trat näher an den Tisch. Sein Blick glitt über frisches Gemüse, knuspriges Fleisch, saftiges Obst und blieb schließlich an einem Brathuhn hängen.

»Bedien dich nur!«, vernahm er Rheas dunkle, fast schon männliche Stimme aus dem Halbdunkel. Er sah auf. Unter lautem Scharren rutschte Rhea mit dem Stuhl nach hinten, stand auf und schritt um den Tisch herum auf Cassio zu. Ihr Blick schien ihn fast zu durchbohren. Ihre Augen hatten etwas Bezwingendes. Rhea wusste um ihre Überlegenheit und ihre Wirkung auf ihn. Lachend musterte sie ihren Gast von oben bis unten.

»Du hast einen ausgezeichneten Schneider«, sagte sie leise. Cassio spürte den Schweiß aus seinen Poren drängen. Dann widmete sich Rhea wieder ganz der Tafel. Cassio atmete auf: Er stand nun nicht mehr im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Rhea bediente sich, indem sie von überall etwas auf ihren Teller legte und nahm dann wieder Platz. Jetzt wagte es auch Cassio, sich an den Tisch auf den zweiten Stuhl ihr gegenüber zu setzen und machte sich daran, das große Stück Geflügelbrust, das er sich auf den Teller gelegt hatte, zu verzehren. Als seine Zunge den ersten Bissen berührte, schloss er die Augen und ergab sich den Gefühlen der Zufriedenheit und Wohltat. Es war zu schön, um wahr zu sein. Das zarte, saftige Fleisch zerging ihm auf der Zunge. Auf ähnliche Weise, nur viel schneller, fanden auch die nächsten Bissen den Weg in seinen Magen, bis von dem Bratenstück nur noch Knochen übrig waren.

Rhea hatte indessen die Füße auf den Tisch gelegt, aß weiter und beobachtete die Szene mit Wohlwollen.

»Wie ich sehe, hat es dir gemundet.«

»Es war köstlich, Eure Hoheit. Ich danke Euch für diese Ehre.«

»Ich weiß, ich weiß«, winkte sie ab, »und jetzt sag mir, woher du kommst. Deine Augenfarbe ist äußerst ungewöhnlich in diesem Land. Um ehrlich zu sein, sehe ich so etwas zum ersten Mal. Du kommst wohl von weither.«

Wenn sie nur wüsste, wie Recht sie hatte. Er war der einzige hier mit grüngrauen Augen. Wann immer er in ein Augenpaar blickte, sah er dunkles Braun oder tiefes Schwarz.

»Es ist wahr«, antwortete er, »ich bin nicht von hier. Meine Heimat ist sehr weit entfernt, so weit, dass ich nicht einmal weiß, wie weit.«

»Wie bist du denn hierhergekommen?«

»Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht.«

Rhea hatte wieder die Augenbrauen zusammengekniffen. Aus irgendeinem Grund schien Rhea ihm Glauben zu schenken, obwohl er sich selbst nicht sehr glaubwürdig vorkam.

»Vielleicht hat dich dein Schicksal hierher geführt.« Sie lehnte sich zurück und faltete die Hände so, dass nur ihre Fingerspitzen sich berührten und beide Zeigefingernägel ihre Nasenspitze. Triumphierend sagte sie: »Und es hat dich direkt zu mir geführt.«

Die Art, wie sie das sagte, behagte Cassio nicht. Warum war er sich nur wieder so sicher, dass alle mehr über ihn zu wissen schienen als er selbst?

»Erzähl mir von deiner Heimat«, erhob Rhea ihre Stimme.

»Nun, sie unterscheidet sich sehr von diesem Ort, es liegen gewissermaßen Welten dazwischen«, begann Cassio zögerlich.

»Wie meinst du das?«

Er überlegte kurz.

»Nun, verzeiht, falls Euch diese Frage vermessen erscheint. Was tut Ihr den ganzen Tag?«

Ein Anflug von Zorn machte sich daran, Rhea in Rage zu versetzen. So etwas hatte sich noch nie jemand sie ungestraft zu fragen gewagt. Doch schlagartig beruhigte sie sich wieder. Ihr ungezügelter Gast war schließlich ein Fremder, dem vorerst noch Nachsicht zustand. Nahezu sichtbar gewann ihr Verstand wieder die Herrschaft über ihre Gefühlsregungen.

»Wir stehen kurz vor einem Krieg mit einem benachbarten Königreich«, berichtete sie kühl. »Dieser Zustand ist jedoch nicht besonders besorgniserregend, wenn man bedenkt, dass er schon seit Jahren andauert. Seit Voland, dieser räudige Hund, dort den Thron bestiegen hat.« Ihre Augen funkelten. »Du hast übrigens Glück, dass du nicht ihm in die Arme gelaufen bist, denn das Beste, was dir dann hätte widerfahren können, wäre dein schneller Tod gewesen.

Wem das Glück weniger hold gesonnen ist, der könnte immerhin noch seinen Männern zum Vergnügen gereichen. Solange sie ihr Spielzeug nicht kaputtgemacht haben. Oder du landest in der Folterkammer oder im Arbeitslager, wo bei deiner Statur jeder mit dir machen würde, was er will, falls du nicht vorher zu Tode geprügelt wirst oder verhungerst. Es könnte aber auch sein, dass du wirklich Pech hast und Volands Interesse erregst, denn dieser Bastard ist vollkommen wahnsinnig und absolut unberechenbar. Eines lässt sich nicht leugnen: Er ist außerordentlich kreativ. Manche behaupten sogar, er sei ein Dämon. Ich sage dir, es liegt daran, dass er mittlerweile mehr Diamina als Blut in seinem Körper hat.«

»Diamina

»Diamina nennt man eine pflanzliche Substanz. Man kann sie auf verschiedene Arten zu sich nehmen. Sie wirkt berauschend und steigert die Kräfte. Man kann sich schnell daran gewöhnen, und dann zerstört sie einen langsam. Er behauptet, sie erweitere seinen Geist. Wenn du mich fragst, dreht er langsam durch.«

Cassio lief es bei diesen Erzählungen eiskalt den Rücken herunter. Er hoffte inständig, nie Gelegenheit zu bekommen, ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Rhea weidete sich sichtlich an seiner Furcht und lachte amüsiert.

»Die meiste Zeit des Tages werde ich mit Regierungsgeschäften behelligt, wenn ich nicht gerade auf der Jagd bin oder in der Bibliothek. Der Abend gehört dann ganz mir.« Bei diesem Satz lächelte sie vielsagend. »Und nun sag mir, wie sieht das Leben aus, wo du herkommst?«

Es herrschte ein paar Sekunden Stille, dann begann Cassio zu sprechen: »Vielleicht ist es gar nicht so anders.« Auch in seiner Welt würden Kriege geführt, nur gäbe es keine Sieger. Cassio berichtete von Drogen, und dass immer mehr Jugendliche sie nähmen und in Abhängigkeit gerieten. Er erzählte ihr von internationalen Konzernen, vom großen Geld, der Korruption in der Politik und von der Armut eines großen Teils der Bevölkerung. Während die einen Geld vom Staat erhielten, um nicht zu verhungern oder zu erfrieren, kauften sich die anderen eine Grabstelle auf dem Mond oder ließen sich ihre Gesichter nach den gängigen Schönheitsidealen anpassen.

Er sprach den unumstößlichen Glauben an den Fortschritt an und klärte sie auf über die Kriege zwischen den Religionsgemeinschaften. Rhea hörte ihm geduldig zu und unterbrach ihn nur, wenn er Ausdrücke benutzte und Gegenstände beschrieb, die sie nicht kannte.

Während er sich in seine Rede hineinsteigerte, kamen ihm Zweifel, ob es ratsam war, jetzt schon so viel zu erzählen. Rhea würde ihm vermutlich sowieso nicht glauben.

»Das ist ja unglaublich!«

Rheas Augen waren weit geöffnet. »Du musst mir unbedingt mehr darüber erzählen, und zwar von Anfang an.«

Plötzlich öffnete sich die Türe und Jago trat ein.

»Was willst du?«, rief sie ungehalten.

»Verzeiht, aber es ist Zeit für …«

»Das kann jetzt warten, du darfst dich entfernen«, unterbrach sie ihn brüsk.

»Sehr wohl, Eure Hoheit«, entgegnete er und blickte Cassio hasserfüllt an. Rhea schien es nicht zu bemerken, obwohl Cassio ernsthaft bezweifelte, dass irgendetwas ihrer Aufmerksamkeit entging. Dann verließ Jago den Raum, und Cassio setzte seine Erzählung fort. Er begann am Anfang, wie Rhea es gewünscht hatte, und er war überrascht, wie viel seines Schulwissens er ihr präsentieren konnte. Natürlich improvisierte er an einigen Stellen. Wer sollte das schon bemerken. So vergingen mehrere Stunden und schließlich schien auch Rhea müde zu werden.

»Erzähl mir morgen mehr davon. Ich erlaube dir, mich bei der Jagd zu begleiten.«

Dann zog sie an einem dicken Seil zu ihrer Rechten, worauf augenblicklich der Diener von vorhin wie aus dem Nichts im Saal erschien.

»Bring meinen Gast auf sein Quartier.«

»Sehr wohl, Eure Hoheit«, antwortete der Diener mit einer leichten Verbeugung.

»Vielen Dank für Eure Großzügigkeit«, sprach Cassio und neigte seinen Kopf im Gehen. Rhea nickte und beachtete ihn nicht weiter. Dann folgte er dem Diener durch endlos lange Korridore in eines der Zimmer.

»Angenehme Nachtruhe«, wünschte ihm der Diener höflich und überließ ihn sich selbst und seinen Gedanken. Cassio war mittlerweile todmüde. Gerade noch schaffte er es, sich die Stiefel von den Füßen zu ziehen und die Uniform abzulegen, um sich dann erschöpft in das wohl bequemste Bett fallen zu lassen, das je gebaut worden war.

In seinem Kopf kreisten tausend Gedanken, aber kein einziger erreichte ihn. Stattdessen wichen sie einer sich ausbreitenden Betäubung seines Gehirns. Nicht einmal die Schmerzen in seinen Beinen nahm er noch wahr. War er es eigentlich gewöhnt, nächtelang wach zu liegen, so verging diesmal keine Minute, und er sank in einen erlösenden, traumlosen Schlaf.

»Ihr müsst aufstehen. Rhea erwartet Euch schon!«

Cassio öffnete ein Auge und blickte in das vertraute Gesicht des Dieners, der ihn gestern in dieses Zimmer geführt hatte. Cassio streckte sich und fühlte jeden Muskel seines Körpers. Langsam erhob er sich und sah sich um. Der Diener verzog sich unbemerkt.

Das Zimmer ähnelte in seiner Ausstattung und seiner Möblierung dem Raum, in dem er sich tags zuvor umgezogen und gewaschen hatte. Nur stand hier anstatt eines großen Schrankes dieses wundervolle Bett, das ihn an sein eigenes erinnerte. Auch hier befand sich eine Waschschüssel auf einer Kommode.

Cassio stand auf und tauchte seine Hände in das kühle Wasser. Aus der Ferne näherte sich ihm ein Gedanke: Das alles war unmöglich wahr. Doch ahnte er die Gefährlichkeit, sich mit diesem Aspekt seines Abenteuers auseinanderzusetzen. So verdrängte er diesen schädlichen Gedanken sofort und warf sich stattdessen eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Die Wirkung setzte prompt ein. Er fühlte sich jetzt halbwegs wach und verspürte den starken Drang, Wasser zu lassen. Er erblickte einen Nachttopf in der Ecke des Zimmers. Es schien hier keine Toiletten zu geben.

Er erledigte, wozu die Natur ihn drängte und zog sich dann die Uniform und die Stiefel wieder an, die er am Abend achtlos auf den Fußboden geworfen hatte, atmete tief ein und wieder aus, bevor er durch die Tür schritt. Wie aus dem Nichts erschien der Diener und führte ihn in den Thronsaal.

Rhea wartete schon ungeduldig.

»War dein Bett unbequem? Du siehst nicht gerade wach aus.«

»Ganz im Gegenteil, Eure Hoheit«, entgegnete Cassio mutig.

»Dann war es wohl zu bequem«, sagte sie lachend.

»Ich habe ein Geschenk für dich.« Sie kam auf ihn zu und nahm etwas von ihrem Gürtel. Es war ein Dolch, etwa zwanzig Zentimeter lang, mit kleinen Verzierungen am Griff. »Jeder meiner Männer hat so einen, und da du jetzt zu uns gehörst, solltest auch du einen bei dir tragen. Vielleicht wirst du ihn noch brauchen.«

Ihre Worte erzeugten in ihm das warme Gefühl dazuzugehören und einen gewissen Schutz zu genießen. Sie waren ihm allerdings eine direkt ausgesprochene Drohung und Mahnung zugleich.

»Ich danke Euch für Euer Vertrauen«, sagte er schüchtern.

Rhea lachte. »Ich traue niemandem außer mir selbst. Aber du könntest mir nicht einmal schaden, wenn du ein Schwert hättest und ich nur mit meinen bloßen Händen dastünde.«

Daran hatte er keinen Zweifel und steckte den Dolch in seinen Gürtel.

»Folge mir«, befahl Rhea.

Cassio gehorchte und folgte ihr durch den Palast in den Hof hinunter, den er schon kannte. Doch jetzt, da die Sonne herab schien, kam er ihm etwas freundlicher vor als am Vortag. Jago und einige Männer erwarteten sie schon, jeder auf einem Pferd. Der Gedanke, dass auch er auf so einem Ungetüm sitzen sollte, erzeugte ein flaues Gefühl in Cassios Magengegend.

»Wird er etwa mit uns kommen?«, knirschte Jago.

»Hast du dagegen irgendwelche Einwände?«, entgegnete Rhea. Ihr Tonfall ließ keine Zweifel offen, dass ihre Frage nach keiner Antwort verlangte.

»Wir wissen nicht, ob wir ihm trauen können. Vielleicht ist er einer von Volands Spionen.«

»Willst du etwa mein Urteilsvermögen in Frage stellen?«, rief Rhea gereizt.

»Nein, aber …«

»Das möchte ich dir auch nicht raten, Jago«, unterbrach sie ihn unwirsch. »Du vergisst wohl, mit wem du redest!«

»Bitte verzeiht mir, Eure Hoheit, ich bin nur auf Eure Sicherheit bedacht.« Jago senkte ergeben sein Haupt.

»Dein Mundwerk ist in letzter Zeit ein sehr loses. Vielleicht wäre es an der Zeit, dir um deine eigene Sicherheit Gedanken zu machen«, sprach sie ruhig.

»Ich bitte Euch nochmals um Verzeihung, Eure Hoheit«, antwortete er und schielte zu Cassio hinüber.

»Gut jetzt! Wir brauchen noch ein Pferd für meinen Gast!«

»Verzeiht, Eure Hoheit«, meldete sich Cassio leise zu Wort, »ich kann gar nicht reiten.« Jago schüttelte den Kopf. Einige der Männer begannen, verhalten zu lachen. Rhea blickte ihren Gast verständnislos an.

»Gibt es in deiner Heimat keine Pferde?«

»Oh doch, aber wir reisen in Wagen. Wir reiten nicht.«

»Dann wirst du heute bei Jago aufsitzen«, entschied sie. Cassio blickte zu Jago hinauf, der schon auf dem Pferd saß. Cassio streckte ihm die Hand entgegen, und nach einer Pause reichte Jago ihm seine, als griffe er nach einem ekelhaften Getier. Cassio betete für einen halbwegs würdevollen Aufstieg, der ihn nicht noch mehr blamierte und schwang sich nach oben.

»Hier haben wir keine Wagen, also wirst du das Reiten lernen müssen«, sagte Rhea ohne Cassio anzusehen und galoppierte los. Die Männer folgten ihr, allen voran Jago mit Cassio. Der klammerte sich mit aller Kraft an Jago fest und hatte trotzdem die größte Mühe, nicht langsam vom Pferd zu rutschen.

In schnellem Galopp verließen sie Rheas Hof und ritten über ausgedehntes Grasland, bis sie schließlich direkt in einen Wald hinein kamen. Sie waren so schnell unterwegs, dass die Bäume nur als vermischtes Grün vorbeirasten, ohne dass ihm Zweige ins Gesicht peitschten. In dieser Beziehung setzte er vollstes Vertrauen in Jago und nahm sich vor, reiten zu üben, bis er es ihm gleich machen konnte. Noch heute wollte er damit beginnen. Und wie er reiten würde!

Allmählich ritten sie langsamer, bis sie sich nur noch im Trab und schließlich im Schritttempo fortbewegten. Cassios Haar war vollkommen zerzaust. Deswegen trug Rhea ihr Haar so kurz. Im Gegensatz übrigens zu Jago, der offensichtlich sehr stolz auf seinen langen Zopf war. Cassio lachte innerlich darüber und dachte an die Märchen seiner Kindheit, an die Prinzessinnen mit den langen blonden Mähnen und den wallenden Kleidern. Es war seltsam, aber mit diesem Bild im Hinterkopf verspürte er so etwas wie Erleichterung darüber, gerade hier gelandet zu sein.

Schließlich kamen sie zum Stehen. Anscheinend hatten die anderen etwas gehört. Cassio lauschte angestrengt, vernahm aber nichts Außergewöhnliches. Ganz anders Jago, der Rhea ein Zeichen gab. Langsam nahm sie ihren Bogen, spannte mit ruhiger Hand einen Pfeil aus dem Köcher eines neben ihr stehenden Reiters ein. Sie zielte kurz auf ein Gebüsch. Ein paar Sekunden hielt sie in ihrer Bewegung inne, dann ließ sie den Pfeil losschnellen, der erbarmungslos sein Ziel traf. Ein herzzerreißendes Quieken war aus dem Busch zu hören, und kurz darauf sprang in panischer Todesangst ein wildschweinähnliches Tier hervor.

Fast im selben Moment startete die Meute die Verfolgungsjagd. Fest an Jago geklammert hoffte Cassio, dass die Beute bald zusammenbrechen würde. Doch die Hetzjagd dauerte noch eine ganze Weile. Er machte die Erfahrung, welche außergewöhnlichen Kräfte ein Lebewesen entwickelte, wenn es dem Tod direkt ins Auge sah. Es rannte um sein Leben, als wäre es noch zu retten.

Schließlich geschah jedoch das Unvermeidliche, und das schwer verletzte Tier brach zusammen. Es lebte noch, doch war es nur mehr eine Frage der Zeit, bis es den aussichtslosen Todeskampf verlieren würde.

Einer der Männer stieg vom Pferd und ließ einen mitgebrachten Knüppel schwer auf den dicken Kopf des bedauernswerten Geschöpfes sausen. Dessen Schädel zerbarst krachend. Nach den letzten Todeszuckungen, zog der Jäger den Pfeil heraus und wischte ihn mit einem Lappen ab. Von seinem flauen Magen ausgehend, durchfuhr Cassio ein Gefühl der Verachtung für dieses Vorgehen. Er sah verständnislos zu Rhea, die offenbar bester Laune war und mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen ihren Ritt fortsetzte, während der Mann das tote Tier an seinem Sattel befestigte. Das könnte ich nicht tun, dachte Cassio noch, während sich die Truppe in Bewegung setzte, um ihrer Anführerin zu folgen.

Auf ähnliche Weise erlegten sie noch zwei weitere Exemplare dieser eigentümlichen Waldbewohner, ehe sie endlich den Heimritt antraten.

»Diese Waldschweine werden ein vorzügliches Abendessen geben!«, rief Rhea Cassio fröhlich zu, als sie an ihm vorbeiritt. Damit war die Frage beantwortet, die ihm bereits auf der Zunge lag.

Bastians Traum

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