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Die Schlacht um Ostpreußen

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Im letzten Kriegswinter ritt Alexander Fürst Dohna mit russischer Pelzmütze durch die Wälder rund um Schloss Schlobitten. Er nahm Abschied: »Fast niemand konnte und wollte daran glauben, dass wir bald unser ganzes bisheriges Leben würden aufgeben müssen.« Düstere Vorahnungen, die allmählich zur Gewissheit wurden, ließen ihm keine Ruhe: »Ich ritt die langen Alleen entlang und fragte mich, wer würde in den Wäldern künftig das Holz schlagen, wer würde die jungen Bäume in die Kulturen pflanzen, wer würde unsere Rinder, Schafe, Pferde weiterzüchten, wer unsere Felder abernten?«

Das prächtige Schloss mit all den dazugehörigen Ländereien war der Stammsitz des Hauses Dohna-Schlobitten. Sollte das gesamte Anwesen etwa bald in Trümmern liegen? Solche Gedanken plagten den Fürsten. Dass sich der 45 Jahre alte Schlossherr, der Stabsoffizier beim LXXV. Armeekorps in Italien gewesen war, mitten im »totalen« Krieg auf dem heimatlichen Gut aufhalten konnte, hatte seinen Grund: Dohna war Ende April 1944 unehrenhaft aus dem Wehrdienst entlassen worden, weil er sich geweigert hatte, die Erschießung von mehreren US-Gefangenen anzuordnen. Die daraufhin verhängte Strafe lautete: Schanzeinsatz am »Ostwall«. Doch in dieser Situation kamen ihm seine Beziehungen als Gutsherr zugute. Der Kreisbauernführer von Preußisch Holland machte seinen Parteigenossen klar, dass der Mann in seinem verwaisten landwirtschaftlichen Großbetrieb viel nützlicher sei. Zu dieser Zeit standen schon fast alle Männer an der Front. Hinzu kam: Seit Herbst 1944 wurde nahezu jeder, der bislang zu jung oder zu alt für den Militärdienst gewesen war beziehungsweise für die Kriegswirtschaft als »unabkömmlich« galt, zum »Volkssturm« einberufen – also sämtliche »Volksgenossen« im Alter zwischen 16 und 60 Jahren. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung, die in Ostpreußen zurückblieb, waren daher nun Frauen, Kinder und alte Leute. Auf den dortigen Schlössern, den Gütern oder den Bauernhöfen taten aus diesem Grund viele Kriegsgefangene Dienst: Polen, Franzosen und Russen. Sie waren als Zwangsarbeiter den jeweiligen Stätten zugeteilt worden.

Die unmenschliche Kriegführung bedrückte mich am meisten. Wir hörten von Massenerschießungen, vom Wüten der SS-Einsatzgruppen. Aber es war gefährlich, über diese Vorgänge zu sprechen. Und so schwieg man, wodurch die Schuld noch drückender wurde.

Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten

Fürst Dohna war nicht der Besitzer irgendeines Schlosses in dieser Region. Im Kreis Preußisch Holland südöstlich von Elbing (polnisch: Elblag) gelegen, zählte dieses Anwesen zu den prächtigsten in Ostpreußen. Die Ruine heute lässt immer noch erahnen, dass hier einmal ein wahrhaft imponierendes Bauwerk stand. Beeindruckende Fotografien von damals bestätigen diesen Eindruck. Kaiser Wilhelm II. gastierte einst hier, um mit Fürst Richard zu Dohna in den Wäldern zu jagen. Hermann Göring kam zur Jagd, der landwirtschaftlich interessierte Heinrich Himmler wurde im Horch-Cabriolet des Fürsten Alexander zu Dohna durch die schöne Landschaft chauffiert.

Der Fürst räumte später ein, bei den Wahlen im November 1932 für die NSDAP gestimmt zu haben. Es gab sie lange, die Schnittmenge gemeinsamer Interessen, bei national-konservativ gesinnten Adligen und Protagonisten der NS-Bewegung. Der Versailler Vertrag sorgte parteiübergreifend für Erbitterung. Ostpreußen war durch den polnischen Korridor vom restlichen Reichsgebiet abgetrennt. Die Weimarer Republik war verpönt, zumindest »ungeliebt«, der Kommunismus das gemeinsame Feindbild. Auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg hatte einst Hitlers Aufstieg gutgeheißen, bevor er sich angesichts der Verbrechen des Regimes zum entschlossenen Gegner wandelte. In den Abgründen des Vernichtungskriegs schieden sich die Geister. Nach dem gescheiterten Attentat des 20. Juli spürte die Gestapo auch dem Fürsten Dohna nach. Doch dieser war gewieft genug zu verschleiern, was er schon seit dem Frühjahr 1944 plante: die Flucht seiner Familie und all der Menschen, die ihm als Gutsherren anvertraut waren.

Dohna war Realist. Er zählte zu den wenigen, die sich schon früh mit dem Gedanken trugen, die Heimat verlassen zu müssen. Er beschaffte sich Kartenmaterial der Wehrmacht im Maßstab 1: 300 000 und nahm sich viel Zeit, um eine sichere Route für den Treck zu finden. Welche Straßen würde die Wehrmacht benötigen? Wo könnte es bei einer Massenflucht zu Engpässen kommen? Solche Gedanken waren in den Augen des Regimes Hochverrat. Man musste sich vorsehen, wem gegenüber man sich offenbarte. Die militärische Lage gab dem Fürsten Recht. Am 22. Juni 1944, es war der dritte Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, begann die Rote Armee ihre Großoffensive gegen die Heeresgruppe Mitte. Dass der Krieg einmal zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren könnte, war für viele – Zivilisten und Soldaten – schwer zu begreifen.

Als ich Ende Januar 1943 aus Stalingrad zurückkehrte, war es mir zur Gewissheit geworden, dass wir nicht nur den Krieg, sondern auch unsere Heimat verlieren würden.

Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten

Die Übermacht von Stalins Streitmacht war jedoch enorm: Im Bereich der Heeresgruppe Mitte standen 2,2 Millionen Soldaten der Roten Armee gegen nur eine halbe Million der Wehrmacht. Nach der Landung der Westmächte in der Normandie am 6. Juni 1944 hatte Hitler viele Reserven an die Front im Westen abgerufen. Im Osten wiederholte der deutsche Kriegsherr nun den gleichen Fehler, den Stalin beim Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion gemacht hatte. In seiner wahnhaften Haltung befahl der NS-Diktator, keinen Meter Boden preiszugeben und eine bewegliche Verteidigung nicht zuzulassen. Das führte zu einer militärischen Katastrophe: Von 38 deutschen Divisionen wurden zwei Drittel vernichtet, etwa 350 000 Soldaten wurden verwundet, getötet oder gerieten in Gefangenschaft. Die Heeresgruppe Mitte brach vollständig zusammen. Die Folgen dieses Schlages waren noch verheerender als die Niederlage von Stalingrad. Wie eine riesige Welle drangen die sowjetischen Verbände durch eine 350 Kilometer breite Schneise nach Westen vor. Die Lage war derart bedrohlich, dass Hitler sogar die »vorübergehende Evakuierung« der nicht kampffähigen Bevölkerung aus dem Memelland genehmigte.

Ende Juli 1944 zogen die ersten Flüchtlingstrecks durch Ostpreußen. Die Hitler-Propaganda posaunte ritualgemäß, dass die deutsche Wehrmacht die Sowjets zurückschlagen werde. In der Tat sollte es zwar bald gelingen, den russischen Einbruch abzuriegeln. Das führte dazu, dass sich viele Bewohner der Provinz in trügerischer Sicherheit wogen. Die Front war aber nur vorübergehend stabilisiert worden. Der nächste Schlag gegen Ostpreußen folgte aus der Luft. In zwei Nächten Ende August klinkten britische Bomber Hunderte Tonnen tödliche Fracht über Königsberg aus. Neue Brandstrahlbomben schürten einen grauenvollen Feuersturm. Mehr als 5000 Menschen kamen in den Flammen um, 150 000 Menschen wurden obdachlos.

Nach dem Bombenangriff auf Königsberg ist vieles in den Menschen kaputtgegangen.

Hannelore Thiele,

Jahrgang 1932

Manche hohen Militärs waren in ihren Einschätzungen realistischer als die Parteibonzen in den Gauen und Kreisen. Generalleutnant Friedrich Hoßbach, der seit Juli 1944 Oberbefehlshaber der 4. Armee in Ostpreußen war, regte bereits Ende August die Evakuierung der gesamten Zivilbevölkerung aus den östlichen Gebieten der Provinz an. Er wollte dadurch verhindern, dass Frauen und Kinder in die Kampfhandlungen einbezogen wurden. Doch Gauleiter Erich Koch erklärte kategorisch: »Jede Räumung wird die Moral der Truppe und der Zivilbevölkerung schwächen.« Ein Bauernhof voller Kinder werde hartnäckiger verteidigt als ein leeres Gehöft – so die menschenverachtende Devise der obersten Führung. Fluchtversuche standen unter Strafe.

Überdies brüstete sich Koch in seiner Funktion als »Reichsverteidigungskommissar« mit der Errichtung des so genannten Ostwalls. Hunderttausende Menschen wurden dafür von ihrem Arbeitsplatz in das grenznahe Gebiet zum Graben und Schanzen geschickt. Erich Koch behauptete Hitler gegenüber, die Volksgenossen würden aus »Liebe zum Führer« freiwillig Dienst leisten. Tatsächlich aber schufteten Tausende von Menschen einzig auf Befehl. Koch war davon überzeugt, mit Schützen- und Panzergräben den Vormarsch der Roten Armee aufhalten zu können. Als Generaloberst Georg-Hans Reinhardt forderte, die Linie weiter im Landesinneren zu ziehen, warf der Parteimann dem Militär Defätismus vor.

Wir fanden es unerträglich, dass man der Bevölkerung nicht die Möglichkeit gegeben hatte, sich rechtzeitig auf eine Flucht einzustellen. Das ist eine schwere Schuld, die besonders auf dem damaligen Gauleiter Erich Koch lastet. Er selbst hat sich natürlich rechtzeitig in Sicherheit gebracht.

Bernd Freytag von Loringhoven, letzter Adjutant von Generaloberst Guderian

Für sich selbst traf Koch längst Vorkehrungen, um im Ernstfall das sinkende Schiff rechtzeitig verlassen zu können. Er wusste, was er in der Sowjetunion, als Reichskommissar der Ukraine, hinterlassen hatte: ein Meer aus Blut und Tränen. »Wir sind die Herrenrasse«, das hatte er immer wieder von sich gegeben. »Ich werde das Letzte aus diesem Land herauspressen ... Der niedrigste deutsche Arbeiter ist biologisch tausendmal wertvoller als die Bevölkerung hier.« Ausbeutung, Zwangsarbeit, Hungersnot und Massenmord – das war damals die grausame Bilanz des Erich Koch und seiner Schergen im besetzten Land.

Mein Vater hat gesagt, bei uns waren die Russen schon 1914. Die kommen wieder, aber die hauen auch wieder ab. Alles bleibt so, wie es ist.

Heinz Grönling, Jahrgang 1931

Nun drohte all das auf das deutsche Volk zurückzuschlagen. Im Herbst 1944 sollte es zu einer weiteren sowjetischen Offensive kommen. Wertvolle Wochen waren von Mitte August bis Oktober verstrichen, in denen sich die Bewohner grenznaher Gebiete noch in Sicherheit hätten bringen können. Im Streit zwischen der Gauleitung und der Heeresgruppe entschied letztlich Hitler. Er weigerte sich strikt, Ostpreußen zum Operationsgebiet zu erklären. Damit war dem Militär die Kontrolle auch über den zivilen Bereich entzogen.

Bis wenige Kilometer vor der Front hatte Erich Koch allein das Sagen. Und er meldete dem Kriegsherrn: »In Ostpreußen gibt es nur einen Glauben und das ist der Glaube an den Führer. Wenn es nötig ist, mein Führer, werden Mann, Frau und Kind die Heimat mit nackten Fäusten verteidigen.« Dies war nur ein Beispiel jener völligen Verblendung angesichts der drohenden Katastrophe.

Der sowjetische Angriff Mitte Oktober 1944 sollte frontal in Richtung Königsberg erfolgen. Am 16. Oktober überschritt die Rote Armee die Grenze nach Ostpreußen. Das Grollen der Front versetzte die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Zum ersten Mal rollten sowjetische Panzer auf deutschen Boden. Nach wenigen Tagen standen sie fünf Kilometer tief auf ostpreußischem Gebiet. In drei Richtungen spaltete sich der Angriffskeil auf, wobei die beiden Kreise Gumbinnen und Goldap in der Mitte dieser Offensive lagen. Am 21. Oktober 1944 schließlich erreichten Verbände der 11. Gardearmee Nemmersdorf. Eine nun eilends gestartete deutsche Gegenoffensive warf die Rotarmisten jedoch zurück. Am 5. November waren die Russen fast wieder von deutschem Boden vertrieben – vorerst. Doch die zwei Wochen hatten ausgereicht, um den Menschen einen bitteren Vorgeschmack auf das zu geben, was sie in den kommenden Monaten erwartete: Soldaten und Männer des Volkssturms fanden in vielen der zurückeroberten Orte fast nur noch Tote vor – erschossen, erschlagen oder auf andere Weise misshandelt. Es waren all die Menschen, die vor Ort geblieben waren. Ein Ortsname geriet von da an zum Symbol für die Gräuel der Roten Armee auf deutschem Boden: Nemmersdorf. »Die bestialische Bluttat von Nemmersdorf wird die Bolschewisten teuer zu stehen kommen«, ließ Joseph Goebbels in sämtlichen deutschen Zeitungen am 27. Oktober 1944 verkünden. Das Massaker war auch sofort Thema der Wochenschau. In immer neuen Variationen rief die Nazi-Führung zur »Rache für Nemmersdorf!« auf. Der Reichspropagandaminister wollte die schrecklichen Ereignisse ausschlachten, um den Kampfeswillen der Wehrmacht neu zu beleben. Flugblätter informierten die Soldaten an der Front über die grausigen Vorfälle in der Heimat. Für die erschöpften Soldaten sollten die Nachrichten über die Ereignisse in Ostpreußen ein Ansporn sein, die letzten Kräfte im Kampf gegen den vielfach überlegenen Gegner zu mobilisieren.

Bei den ersten Kämpfen in Ostpreußen schworen wir: »Die deutschen Frauen und Männer werden noch hundert Jahre an den Aufenthalt der russischen Panzerfahrer zurückdenken!« Das haben wir genau erfüllt. Wir haben Schrecken gesät.

Andrej Gez, Soldat

Inzwischen ist nach kritischer Prüfung zeitgenössischer Quellen und diverser Augenzeugenberichte eindeutig geklärt, dass viele der Schilderungen zu den Vorgängen in Nemmersdorf übertrieben waren und dass die Opfer damals für Filmaufnahmen »öffentlichkeitswirksam« präsentiert wurden: die Frauen mit entblößtem Unterleib, daneben tote Kinder und Greise. Mit eiskalter Berechnung instrumentalisierte Goebbels das Leid der Menschen. Sein Kalkül ging jedoch nur zum Teil auf. Mag sich mancher Soldat, Hitlerjunge oder Angehörige des Volkssturms dadurch mehr denn je angespornt gefühlt haben, das eigene Vaterland, Frauen, Kinder und Familien zu verteidigen – bei der Mehrheit der Bevölkerung weckte die Propaganda nicht den Willen zum Widerstand, sondern den Entschluss, die Heimat so schnell wie möglich zu verlassen. Im grenznahen Bereich brach sogar Panik aus. Eine erneute unkontrollierte Fluchtbewegung setzte ein, sodass die Gauleitung schließlich auf Drängen des Militärs die Evakuierung eines etwa dreißig Kilometer langen Streifens hinter der Front gestattete.

Die Sowjets unternahmen noch weitere Vorstöße, diesmal ohne nennenswerten Geländegewinn, und blieben dann auf einer Länge von 150 Kilometern etwa vierzig Kilometer tief im Grenzland von Ostpreußen stehen. Für das Oberkommando der Roten Armee war dies ein Misserfolg: »Die unbefriedigenden Ergebnisse des Oktobers zeigten, dass wir den schon länger im Einsatz befindlichen Divisionen eine Ruhepause gönnen, unsere Truppen umgruppieren, die rückwärtigen Dienste nachziehen und die für die anschließende Entwicklung der Operation erforderlichen materiellen Vorräte anschaffen mussten.« Das mochte auf deutscher Seite noch einmal die Illusion wecken, dass Stalins Armeen vielleicht doch nachhaltig erschöpft waren. Tatsächlich bedeutete die Zurückhaltung der russischen Militärs jedoch nichts anderes, als dass sich entlang der Grenze zum Deutschen Reich innerhalb von wenigen Wochen einer der gewaltigsten Truppenaufmärsche der Geschichte vollziehen sollte.

Ich testete, wie lange man brauchen würde, um abseits der großen Straßen etwa 45 Kilometer zurückzulegen. An einem regnerischen Novembertag ritt ich die Strecke von Schlobitten nach Prökelwitz im Galopp in einer Stunde und zwanzig Minuten – so hatte ich einen gewissen Erfahrungswert.

Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten

Auf Schloss Schlobitten gingen inzwischen die Vorbereitungen zur Flucht weiter. Einen großen Treck zu organisieren, erforderte sehr viel Weitsicht. So erwies es sich in Kriegszeiten als gar nicht so einfach, eisenbereifte Ackerwagen durch moderne gummibereifte Fuhrwerke zu ersetzen. Auch die sonst für die Wagen üblichen Seitenbretter wurden durch Leitern mit Sprossen ersetzt. Das machte sie wesentlich leichter. Während sich die Bevölkerung – von der Propaganda getäuscht – mehrheitlich in Sicherheit wähnte, verließ ein Mann bei Nacht und Nebel heimlich sein ostpreußisches Quartier. Kurz zuvor hatte er noch verkündet, er wolle in keinem Falle fortgehen, ganz egal, wie lange die Krise auch andauern würde: Es war der »Führer« selbst. Schon vor Beginn des Russlandfeldzugs hatte sich der Kriegsherr im Wald bei Rastenburg die so genannte Wolfsschanze errichten lassen. Diese Unterkunft wurde im Laufe der Jahre mit mächtigen Betonmauern und Bunkern immer wieder verstärkt. Nun aber rückten die sowjetischen Truppen bedenklich näher. Und daher drängten Hitlers Helfer Wilhelm Keitel und Alfred Jodl den Diktator, das Hauptquartier zu wechseln. Dies geschah dann auch am 20. November 1944.

Nun wurde von dem bei Bad Nauheim gelegenen »Adlerhorst« aus Krieg geführt. Am zweiten Weihnachtsfeiertag, dem 26. Dezember, fand sich der Chef des Generalstabs des Heeres dort ein, Generaloberst Heinz Guderian. Er warnte Hitler eindringlich vor der Überlegenheit der Sowjets und rechnete mit einer neuen Großoffensive gegen Ostpreußen im Januar. »Der größte Bluff seit Dschingis Khan«, kommentierte der deutsche Diktator die Zahlen, die Guderian von der Aufklärungsabteilung »Fremde Heere Ost« mitgebracht hatte: eine elffache Überlegenheit bei der Infanterie, eine siebenfache bei den Panzern, eine zwanzigfache bei den Geschützen. Auch Heinrich Himmler, dessen militärischer Einfluss nach dem 20. Juli erheblich gewachsen war, spielte die Zahlen herunter: »Ich glaube nicht, dass die Russen überhaupt angreifen. Ich bin fest davon überzeugt, dass im Osten nichts passiert.«

Guderian war ein sehr temperamentvoller Mann, der es verstand, die Lage in ihrer ganzen Gefährlichkeit darzustellen. Aber er machte trotz seiner eindringlichen Worte letztlich doch keinen Eindruck auf Hitler.

Bernd Freytag von Loringhoven, letzter Adjutant von Generaloberst Guderian

Schon Wochen zuvor hatten Hitlers Truppenverschiebungen im Oberkommando des Heeres heftige Diskussionen ausgelöst. Obwohl die Rote Armee schon an der Weichsel stand, hatte der Diktator kampfstarke Divisionen von der Ostfront abkommandiert und an die Westfront geschickt, in die Ardennen. Hitlers Plan sah vor, die Linien der Westalliierten auf der gesamten Breite zwischen Echternach und Monschau zu durchbrechen und mit einem raschen Durchstoß über die Maas die Briten und Amerikaner auseinander zu treiben, die Stadt Antwerpen zurückzuerobern und die englischen Verbände in Belgien zu vernichten. Was hieß das für Ostpreußen? Hitler hielt auch nach den beschwörenden Worten Guderians an seiner Entscheidung fest: »Keine Verstärkung der Truppen im Osten – dort kann ich noch Boden verlieren, im Westen nicht. Der Osten muss sich allein helfen!« Wenn die Bevölkerung dort auch nur geahnt hätte, welch kolossale Militärmacht jenseits der Grenze in Stellung ging, es hätte sicher einen Aufschrei gegeben. Stattdessen aber verbrachten viele Familien in der Provinz das Weihnachtsfest fast in gewohnter Idylle. Einige Flüchtlinge waren sogar wieder in die Heimat zurückgekehrt. Manche sahen im Stillstand an der Front schon die ersehnte Kriegswende.

Auf Gut Falkenau – nicht weit von Deutsch Eylau entfernt – war die Stimmung an den Feiertagen jedoch nicht ungetrübt. Aber nicht etwa, weil man Angst vor den Russen hatte. »Keiner hatte gedacht, dass der Zusammenbruch kommt, dass wir hier nun das letzte Weihnachten verbringen würden, und schon gar nicht, dass wir die Heimat verlieren werden«, erzählt heute die Tochter des Gutsherrn, Felicitas Lieberoth-Leden, geborene Ritgen. Sie hatte auf dem einstigen Rittergut ihre Kindheit und Jugend verbracht. Es gab einen anderen Grund: Zwei von drei Ritgen-Söhnen waren an der Ostfront gefallen.

In jenem Jahr, wie schon in all den Jahren zuvor, waren sämtliche Bediensteten zum Festessen geladen gewesen, vom Stubenmädchen bis zum Kutscher. Das war auf vielen Gütern so üblich, ganz gleich, ob in Schlobitten oder auf Groß-Falkenau: »Es war relativ dunkel im Esszimmer, nur die vielen Kerzen brannten. So etwas Stimmungsvolles habe ich später nie wieder erlebt«, erinnert sich Felicitas Lieberoth. Die Eltern wollten den anderen Kindern in jenen schweren Tagen das Gefühl von Geborgenheit vermitteln, ihnen zeigen, dass das Leben weitergeht. Es sollte das letzte Weihnachtsfest auf Gut Falkenau sein.

Wir wollten es einfach nicht wahrhaben, dass wir die Heimat aufgeben mussten. Wir dachten: Irgendwann werden die Russen wieder zurückgeschlagen werden.

Felicitas Lieberoth-Leden, Tochter des Gutsherrn von Falkenau

An Flucht dachte dort zu diesem Zeitpunkt aber noch niemand. Im Herbst 1944, als es gefährlich zu werden schien, hatte Gutsherr Ritgen versucht, einige seiner Stuten, Hengste und besonderes Zuchtvieh zum großelterlichen Gut in Westfalen zu bringen: »Doch das war nicht möglich«, weiß Tochter Felicitas. »Mein Vater erhielt keine Erlaubnis. Es war nicht einmal gestattet, einen Koffer aufzugeben. Den Eisenbahnmitarbeitern war es verboten worden, derartiges Gepäck Richtung Westen anzunehmen. Auch unsere schon fertig gepackten Kisten mit dem Porzellan konnten wir nicht zu den Großeltern schicken. Die Parteileute hatten Angst, dass dadurch die allgemeine Stimmung niedergedrückt werden und dass eventuell sogar Panik ausbrechen könnte.«

Am Neujahrstag ging per Reichsrundfunk eine Ansprache über den Äther, in der nicht von Bedrohung, sondern von einem »Endsieg« die Rede war. Diese Stimme hatten die Menschen schon seit Monaten nicht mehr gehört: Sie gehörte Adolf Hitler. »Wir sind zu allem entschlossen. Mein Glaube an die Zukunft unseres Volkes ist unerschütterlich«, sagte der Diktator. Allzu viele Deutsche an der Front und in der Heimat ließen sich noch einmal täuschen. Dabei hatte sich die militärische Lage inzwischen weiterhin erheblich verschlechtert. Die Ardennenoffensive scheiterte im Bombenhagel der amerikanischen und britischen Kampfflugzeuge. Hitler hatte die Ostfront gegen den Rat seiner höchsten Militärs ausgedünnt und unternahm auch jetzt keine Anstalten, dies zu ändern.

Bei der Heeresgruppe habe ich die große Lagekarte gesehen und wusste, was da auf uns zukam: Unsere Verbände waren blau eingezeichnet und gegenüber war ein großes rotes Meer. Das waren die Sowjets, die gegen Ostpreußen anrannten.

Hans Joachim Paris, Kriegsberichterstatter

Unterdessen baute Stalin an Weichsel, Narew und Memel eine gewaltige Angriffsarmee auf. Allein die Truppen von Marschall Schukow und Konjew, die die Hauptlast der Offensive tragen sollten, umfassten 2,2 Millionen Soldaten, 7000 Panzer und fast 5000 Flugzeuge. Die 2. und 3. Weißrussische Front weiter nördlich stellten die Hauptkontingente für die »Operation Ostpreußen«. Dies waren noch weitere anderthalb Millionen Soldaten, 3800 Panzer und 3000 Flugzeuge. Der sowjetische Generalissimus plante einen regelrechten Blitzkrieg gegen die östliche Provinz. Die Rote Armee sollte dieses Gebiet innerhalb von 18 Tagen durchqueren und bei Elbing bis an die Ostsee vorstoßen. Am 11. Januar 1945 wurde Generaloberst Guderian ein entschlüsselter Funkspruch der Sowjets vorgelegt: »Es bleibt bei alter Einladung. Festbeginn 13. früh. Musik komplett, Tänzer ausgeruht und unternehmungsfreudig.« Das bedeutete noch zwei Tage Galgenfrist, bis im ostpreußischen Grenzland die Erde beben sollte.

Guderian war äußerst besorgt. Alles deutete darauf hin, dass eine Winteroffensive der Sowjets absehbar war. In den Brückenköpfen an der Front waren Dutzende von Divisionen und Panzerverbänden mit Tausenden von Geschützen und Panzern versammelt.

Bernd Freytag von Loringhoven, letzter Adjutant von Generaloberst Guderian

Schließlich kam der große Schicksalstag, der 13. Januar 1945. Aus bis zu zweihundert Geschützen und »Stalinorgeln« pro Kilometer brach ein Feuersturm über die deutschen Stellungen herein. Der russischen »Dampfwalze«, wie es im Jargon der Wehrmachtssoldaten hieß, konnten die geschwächten deutschen Divisionen kaum noch standhalten. Ehemalige Soldaten erinnern sich, wie manche ihrer Kameraden schon aufgrund der enormen Lautstärke der Detonationen im Schützengraben den Verstand verloren. Der ununterbrochene Beschuss hatte es ihnen nicht erlaubt, auch nur einen Moment aus der Deckung zu gehen. Die Januar-Offensive der Roten Armee erfolgte an insgesamt drei Abschnitten mit jeweils eigener Stoßrichtung: Auf der Höhe von Warschau und etwas weiter südlich stieß Marschall Georgij Schukow mit der 1. Weißrussischen Front über die Weichsel Richtung Oder vor – mit dem Ziel Berlin. Aus den Stellungen nördlich von Warschau (bis auf die Höhe von Augustow) sollte die 2. Weißrussische Front unter Marschall Rokossowskij bis nach Pommern marschieren, dabei Schukow im Norden Deckung geben und die Reichshauptstadt von der Ostsee-Seite her abschneiden. Im Norden griff Marschall Tschernjachowskij mit seiner 3. Weißrussischen Front an. Stoßrichtung war das Samland.

Der Angriff begann mit einem starken Artilleriefeuer. Wir dachten, dass nach so einer Artillerievorbereitung kein Widerstand mehr zu erwarten sei. Aber als unsere Armeen vorstürmten, stellte sich dann doch heraus, dass das Verteidigungssystem der Deutschen noch vollständig intakt war.

Pjotr Ilich Kirichenko, Soldat

In Ostpreußen standen auf deutscher Seite die 3. Panzerarmee nordöstlich von Königsberg, die 4. Armee im Abschnitt bis zur Narew und weiter südlich die 2. Armee. Die Truppen der Wehrmacht und des Volkssturms sollten dem Angriff schon an den äußeren Linien Einhalt gebieten, was jedoch angesichts der sowjetischen Übermacht einem Himmelfahrtskommando gleichkam. 25000 Geschütze und Granatwerfer, unterstützt von Schwärmen sowjetischer Kampfflugzeuge und schweren Panzern, ließen die grenznahe Verteidigung wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Nur mit flexiblen Operationen und ausgeklügelten Rückzugsgefechten konnte die Eroberung Ostpreußens zumindest eine Zeit lang hinausgezögert werden. Als Tschernjachowskij im Norden auf immer härteren Widerstand stieß, musste Rokossowskij auf Befehl Moskaus seine Stoßrichtung ändern: Er sollte nun von Süden her den Druck auf die Provinz erhöhen. Rokossowskij griff die 2. Armee an und drängte sie in nördliche Richtung zur Ostsee. Von da an begann ein dramatischer Wettlauf mit der Zeit.

Die Russen griffen mit drei Armeen an. Eine Armee auf der Linie nach Königsberg, eine Armee in Richtung Danzig und die dritte Armee drückte uns gegen das Haff. Da war der Kessel zu. Und es gab nur noch einen Ausweg: über das zugefrorene Haff.

Werner Möllenkamp, Offizier bei der 21. Infanteriedivision

Das erkannte auch Fürst Dohna. Mitte Januar 1945 war auf Schlobitten schon der Kanonendonner zu hören, Flüchtlinge zogen an den fürstlichen Gütern vorbei. Plötzlich stellte sich offizieller Besuch ein – der so genannte Kunstoffizier für den nördlichen Teil der Ostfront rückte an, Ernstotto Graf zu Solms-Laubach. Er und seine Mitarbeiter hatten 1941 das legendäre Bernsteinzimmer aus Schloss Zarskoje Selo ausgebaut. Nun sollten auch wertvolle Kunstwerke aus Schlobitten in Sicherheit gebracht werden. Bezeichnenderweise stand dafür nur ein einziger Lastwagen zur Verfügung, der allerdings in so schlechtem Zustand war, dass er für Transporte nicht mehr zu gebrauchen war.

Aber Fürst Dohna hatte ganz andere Sorgen. Um den Treck auf den Weg zu bringen, musste zumindest ein Teil der Männer vom Dienst im Volkssturm freigestellt werden. So kam es zum Disput mit dem zuständigen Ortsgruppenleiter Gehrmann in dessen Büro. Gehrmann wollte den Fürsten nicht ziehen lassen: »Ich kann Sie unmöglich freistellen!

Es war gefährlich, den Zivilisten zu sagen: »Packt eure Sachen und verschwindet!« Denn das galt schon als Defätismus.

Werner Möllenkamp, Offizier bei der 21. Infanteriedivision

Mit Ihrer militärischen Erfahrung sind Sie für den Volkssturm unverzichtbar. Wo kämen wir denn hin, wenn sich die besten Männer vor der Verantwortung drückten und sich weigerten, das Vaterland zu verteidigen!« Daraufhin entgegnete ihm der Fürst und ehemalige Stabsoffizier: »Ohne mich haben die Menschen wenig Chancen, heil nach Westen zu kommen!« Davon wollte der Ortsgruppenleiter allerdings nichts wissen: »Sie werden der Einberufung Folge leisten!« Der Fürst aber beschloss, sich nicht an seine Anweisung zu halten.

Am 19. Januar 1945, dem sechsten Tag der Offensive, war die Rote Armee auf einer Breite von 200 Kilometern mehr als 160 Kilometer tief in das ostpreußische Kernland vorgestoßen. Viel zu spät hatte Gauleiter Koch die Räumung der frontnahen Kreise angeordnet, so auch in Osterode, Allenstein, Gerdauen, Gumbinnen oder Insterburg.

Was befürchtet wurde, trat nun ein. Anderthalb Millionen Zivilisten begaben sich völlig überstürzt auf die Flucht. Inzwischen war das Thermometer auf minus 25 Grad gesunken. Die vereisten Straßen füllten sich binnen weniger Stunden. Bahnhöfe in Stadt und Land wurden regelrecht gestürmt. Es spielten sich dramatische Szenen ab, Menschen wurden dabei zu Tode getrampelt. Vielerorts wurden die Flüchtlingstrecks von sowjetischen Panzern regelrecht überrollt, aber auch Fahrzeuge der Wehrmacht drängten die Wagen rücksichtslos ab. Die Parteiprominenz war auch beim Flüchten an erster Stelle – mit Autos, Sonderzügen und Schiffen setzten sich die »Bonzen« der NSDAP in den kommenden Tagen und Wochen ab. Die allgemeine Angststimmung hätte sicher noch schneller um sich gegriffen, wenn die Menschen geahnt hätten, wie rasch die Zangenbewegung der Roten Armee Richtung Ostsee erfolgte. Ostpreußen drohte die Einkesselung. Bei den Ritgens auf Gut Falkenau brach der Krieg in eine von Zerstörungen noch völlig verschonte Welt ein. Felicitas Lieberoth-Leden erinnert sich an den für ihre Familie schicksalhaften 20. Januar: »Gegen vier Uhr morgens klingelte es Sturm an unserer Haustür und ein Kaufmann, den wir sehr gut kannten, rief meinem Vater zu: ›Herr Ritgen, schnell, die Russen sind schon vor Deutsch Eylau.‹« Der Bürgermeister der kleinen Stadt hatte die Glocken läuten lassen und sämtliche Sirenen heulten. Die Bevölkerung machte sich sofort auf den Weg, zu Fuß, auf Rädern, auf Planwagen und mit noch funktionsfähigen Kraftfahrzeugen – viele nahmen den Weg Richtung Groß-Falkenau. »Es hieß dann, wir sollten ungefähr 1500 Flüchtlinge aufnehmen«, so Felicitas Lieberoth. »Alle Güter wurden angerufen und jeder bekam eine entsprechende Zuteilung.« Es kamen in der Tat unzählige Menschen. Das alte Rittergut glich einem Durchgangslager. Felicitas Lieberoth-Leden weiter: »Das Haupthaus versank im Chaos. Kinder wurden auf dem Klavier gewickelt, unser edles Mobiliar diente allen erdenklichen Zwecken, die Toiletten quollen über, die Küche stand unter Wasser, die Menschen lagen auf den Fluren. Jeder nahm mit, was er gebrauchen konnte. In diesem unsäglichen Durcheinander erblickte auch ein Kind das Licht der Welt.« Noch immer dachten die meisten der Flüchtenden: Dieser Aufbruch kann kein endgültiger sein, es gibt ein Zurück. Auch Felicitas Lieberoth-Leden war davon überzeugt: »Ich habe noch kurz vor unserem Aufbruch angeordnet, dass sämtliche Bilder und Gemälde umgedreht werden, dass die Glasvitrinen mit der Vorderfront zur Wand hin gestellt und alle Teppiche aufgerollt werden – immer in der festen Annahme, wir kommen wieder zurück.«

In dem großen Durcheinander versuchte ich, für uns zu packen. Ich wollte nur das Wichtigste mitnehmen: Papiere, Schmuck, Geld und Unterlagen. Und das steckte ich alles in eine große Handtasche.

Felicitas Lieberoth, Tochter des Gutsherrn von Falkenau

Viele Menschen hier hatten die Dimension des »totalen Krieges« noch nicht begriffen – denn das Gebiet zwischen all den Wäldern und Seen war bisher verschont geblieben. Was hatten hingegen die Menschen aus den Städten in den zahlreichen Bombennächten schon alles erleiden müssen. Wie viel Zerstörung, Leid und Elend hatte es in den von den Deutschen eroberten Gebieten gegeben, wie viele Millionen Menschen waren den Verbrechen der Nazis schon zum Opfer gefallen. Und es schien, als drohe nun denen, die all das nicht wussten oder nicht wissen wollten, der umso tiefere Sturz in die Katastrophe.

Bei 25 Grad Frost verließ die Familie Ritgen das Gut Falkenau. Die Straßen waren völlig verstopft, die Pferde glitten aus und brachen sich die Beine. Felicitas Lieberoth-Leden erinnert sich: »Wir konnten uns nur wie in Zeitlupe fortbewegen. Am ersten Tag sind wir lediglich drei Kilometer weit gekommen, statt der geplanten dreißig. Unterwegs sahen wir völlig zerschundene deutsche Soldaten geschlagener Armeen. Wir fanden kein Nachtquartier, für die Säuglinge hatten wir kein warmes Wasser und keine trockenen Windeln. Zuerst starben die Kleinsten und die Schwächsten. In der Not legte man die toten Kinder im Straßengraben ab und deckte sie mit Schnee zu. Die alten Menschen, die auf der Flucht starben, begrub man genauso. Bald schon machte ich mir keine Gedanken mehr darüber. Es hieß nur noch vorwärts, weiter und immer weiter. Wir erfuhren, dass ein Treck aus unserer Nähe, aus Januschau, von den Russen überrollt worden war. Diese Nachricht löste große Angst bei uns aus.«

Als Letztes ordnete mein Vater an, die Kühe loszubinden und die Schweineställe zu öffnen, damit das Vieh herauskonnte. Das ganze Viehzeug lief durcheinander. Es war ein schrecklicher Abschied.

Felicitas Lieberoth-Leden, Tochter des Gutsherrn von Falkenau

Im Kreis Preußisch Holland, in dem sich Schloss Schlobitten befand, wurde erst am 21. Januar 1945 die offizielle Erlaubnis zum Aufbruch erteilt. Fürst Dohna hatte die Route bei seinen Planungen so angelegt, dass Hauptverkehrswege, die das Militär vielleicht beanspruchte, umgangen werden konnten. Der Treck sollte von zwei Orten aus starten, von Schloss Schlobitten und dem weiter westlich gelegenen Gut Prökelwitz. Der Plan sah vor, von Elbing aus in Richtung Danzig zu ziehen, um noch vor der Hafenstadt Richtung Westen einzuschwenken. Der erste vereinbarte Treffpunkt war Sobbowitz, eine Ortschaft, die hinter der Weichsel lag. Von da aus sollte der Weg weiter an Kolberg und Schwerin vorbei führen. Ziel war die norddeutsche Tiefebene.

Zunächst jedoch galt es, ein Schreiben zu organisieren, welches den Fürsten ermächtigte, die beiden Trecks nach Westen zu führen. Dohna versuchte es beim stellvertretenden Ortsgruppenleiter. Dieser war ein älterer zuvorkommender Großbauer, der aber erklärte: »Ich bin nicht befugt, Ihnen derartige Dokumente auszustellen.« Mehr Verständnis fand Fürst Dohna bei der etwa zwanzigjährigen Tochter. Als ihr Vater für kurze Zeit den Hof verließ, um nach dem Rechten zu sehen, sagte sie zu Dohna: »Kommen Sie! Diktieren Sie mir den Text für Ihre Bescheinigungen in die Schreibmaschine. Wir müssen dann nur noch einen geeigneten Moment abwarten, um sie meinem Vater vorzulegen.« Als dieser von seinem Rundgang zurückkam, stellte der Fürst eine Flasche Schnaps auf den Tisch. »Ich möchte mich für Ihre Gastfreundschaft bedanken. Lassen Sie uns einen Schluck trinken!« Einige Stunden später, gegen sechs Uhr früh, setzte ein sichtlich betrunkener stellvertretender Ortsgruppenleiter tatsächlich seine Unterschrift auf die Papiere. Auf dem Tisch standen zwei leere Schnapsflaschen. Die Tochter fügte heimlich noch das Wichtigste hinzu: den Stempel mit dem Hakenkreuz.

Am Tage, bevor es richtig losging, wurde ich als Defätist verwarnt. Ein Mann von der Gauleitung kam und sagte: ›Es werden härteste Maßnahmen gegen Sie ergriffen.‹ Meine defätistischen Maßnahmen waren lediglich, dass ich auf den Gütern für die Leiterwagen, die man damals hatte, Gerüste bauen ließ, die als Dach obendrauf gesetzt wurden.

Marion Gräfin Dönhoff

Am 22. Januar 1945 befanden sich die beiden Trecks auf dem Weg. Mehr als 300 Menschen waren in ein ungewisses Schicksal aufgebrochen. Eine lange Odyssee stand ihnen bevor. Bei Marienburg war die Brücke über die Nogat bereits gesprengt worden. Doch hier half der Frost. Die Wagen konnten den zugefrorenen Fluss überqueren.

Am Treffpunkt in Sobbowitz wurde »Kriegsrat« gehalten. Die Wagen wurden kontrolliert und alles überflüssige Gepäck abgeladen. Viele mussten sich schweren Herzens von lieb gewonnenen Gegenständen trennen. Oft wurde auch Protest laut. »Ich kann doch das Sofa nicht einfach zurücklassen. Das ist ein Erbstück von meiner Großmutter!«, echauffierte sich eine Frau. »Aber es ist zu schwer und nimmt darüber hinaus noch unnötig Platz weg«, entgegnete Fürst Dohna. Auf sämtliche Fuhrwerke wurden Satteldächer genagelt, um die Insassen vor Schnee und Regen zu schützen.

Das große Sterben ging unter den Tieren los. Dann folgte ein großes Sterben unter den Älteren. Wir Soldaten kamen zum Schluss. Wir wussten, wie man sich verteidigt und wie man sich wehrt.

Werner Möllenkamp, Offizier bei der 21. Infanteriedivision

Auf dem Weg bot sich ein Bild des Jammers. Einzelne Flüchtende mit Handkarren, die sich auf den vereisten Straßen nur mühsam vorwärts bewegten, Mütter mit apathischem Gesichtsausdruck, die ihre weinenden Kinder auf dem Arm trugen. Am Wegesrand lagen immer wieder tote Menschen und Pferde. Im Hintergrund grollte ständig Kanonendonner. Je länger der Treck unterwegs war, desto mehr Flüchtlinge wurden krank. Neun Kinder – meist noch Babys – starben. Die Leichen wurden in ein Tuch gewickelt und in den Straßengraben gelegt. Der gefrorene Boden war zu hart, um sie zu beerdigen.

Aber das Schlimmste blieb dem Schlobitter Treck auf den rund 1500 Kilometern bis nach Niedersachsen erspart. Er wurde weder aus der Luft beschossen noch von sowjetischen Truppen überrollt. Es gab auch keine Vergewaltigungen und kein Morden wie andernorts. Selten war eine Route schon im Vorfeld so minutiös geplant und ausgekundschaftet worden. Dies lag sicherlich daran, dass dieser Treck von einem weitsichtigen Mann angeführt wurde, dem wiederum andere helfend zur Seite standen. Nach allem, was bis heute bekannt ist, handelte es sich bei diesem Treck um den größten, der geschlossen in den Westen gelangte. Zu ihm gehörten insgesamt 330 Personen, 140 Pferde und 38 Wagen.

Doch dies ist nur ein Teil der Geschichte von den Menschen aus der Umgebung von Schlobitten. Es ist der glücklichere Teil. Denn es gab andere Familien – aus den »Vorwerken« des Gutes und der weiteren Schlossumgebung –, die ebenfalls vorhatten, sich dem Treck anzuschließen, es aber nicht mehr rechtzeitig geschafft hatten, ihn zu erreichen. »Wir kamen bei dem Eis und dem Schnee nicht mehr über die Höhe hinweg«, schildert Hilde Fink den Beginn ihrer Tragödie. Die Treckwagen der Menschen waren für den verschneiten Weg hoffnungslos überladen. Der Verwalter schrie die Leute an: »Schmeißt den ganzen Mist runter, sonst kommt ihr hier nicht weg.« Was auf dem Spiel stand, war zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht allen klar. Noch immer wurden wertvolle Teppiche oder andere schwere Gegenstände aufgeladen. »Die Nähmaschine ist doch mein Broterwerb«, rief eine Mutter in ihrer Verzweiflung. Der dadurch entstandene Zeitverlust war aber nicht mehr aufzuholen, zumal die Straßen ab einem bestimmten Punkt hoffnungslos mit Militärfahrzeugen verstopft waren.

Die sowjetische Artillerie rückte immer näher. »Plötzlich waren die Russen da«, erinnert sich Hilde Fink. Bei der ersten Begegnung mit der Besatzungsmacht hieß es vonseiten sowjetischer Offiziere: »Geht nach Hause, Leute!« Es kam zu keinen Übergriffen, allerdings mussten die Fluchtwagen stehen bleiben. Nach wenigen Tagen wurde die Lage kritischer. Rotarmisten ließen sich im Ort nieder, in dem Hilde Fink mit ihrer Mutter wohnte: »Plötzlich tauchten vier oder fünf Russen auf, einer kam sogar ins Haus geritten und schoss in die Decke. Meine Mutter sagte nur: ›Wehr dich nicht, Kind, sonst erschießen sie dich!‹ Dann war sie plötzlich verschwunden. Ich wusste nicht mehr ein und aus. Schließlich holten die Russen auch mich. Ein Soldat schlug mir mit der Pistole auf den Kopf. Es hat fürchterlich geblutet, aber eine Russin hat mich verarztet. Ich weiß nicht, wie oft sie mir dann noch Gewalt antaten, es waren unzählige Male, dabei war ich doch noch nicht einmal fünfzehn Jahre alt. Ein russischer Offizier hatte so eine Art Wörterbuch dabei. Da stand drin: ›Kein Laut, sonst werden Sie niedergemacht! ‹ Schlimm war darüber hinaus, dass wir uns nicht waschen konnten. Bald waren wir alle verlaust und hatten Durchfall. Viele von uns erkrankten an Typhus. Wir haben Schnee geleckt vor Durst und Hunger.«

Natürlich hatten die Deutschen Angst vor uns, besonders diejenigen, die es nicht geschafft hatten, zu fliehen. Der Krieg ist etwas Schlimmes.

Maria Efimova Neveleva, Ärztin

Auch Gertraud Grudinski stammt aus dem Kreis Preußisch Holland. Sie wuchs in Adlig Blumenau auf und war damals acht Jahre alt. Später schrieb sie ihre Erinnerungen auf: »Es war um den 20. Januar herum gewesen. Uns fiel auf, dass Großvater immer häufiger vor dem Radio saß und die Nachrichten verfolgte. Einmal hörte ich, als er zu Großmutter sagte: ›Wir dürfen den Russen nicht in die Hände fallen, sie werden sich für Hitlers Schandtaten böse an uns rächen. Wir müssen fort, bevor sie hier einmarschieren.‹ Dann kam die Nacht, als Mutter uns mit tränenerstickter Stimme weckte: ›Kinder, steht schnell auf und zieht euch warm an. Wir müssen fort, der Russe kommt.‹ Vom Küchenfenster aus sahen wir unseren Planwagen, an dem Laternen befestigt waren. Großvater hatte alles für die Flucht organisiert.«

Das Gehöft der Grudinskis befand sich nicht im Ortskern von Adlig Blumenau, demzufolge waren die Wege nicht ausgebaut. »Und dann geschah genau das, wovor wir alle so Angst hatten. Die Pferde sanken mit dem bespannten Leiterwagen im Schnee ein. Es gab kein Vorwärtskommen mehr. Die ganze Aktion musste schließlich nach mehreren Anläufen abgebrochen werden. Wir mussten aufgeben!«

Nach wenigen Tagen war die Schlacht um Preußisch Holland vorüber, die ersten sowjetischen Soldaten erschienen auf dem Hof. »Wir hatten eine große Kaffeekanne mit Muckefuck auf dem Tisch und etwas zu essen, als einige Soldaten zur Tür hereinkamen. Meine Großmutter reagierte so freundlich wie nur irgend möglich. Sie sagte zu ihnen: ›Ihr seid sicher hungrig, ich mache euch schnell etwas zu essen.‹ Die Russen lächelten uns an und damit war das Eis fürs Erste gebrochen. Obwohl wir fünf Kinder in der Küche saßen, fragten sie nicht nach den Müttern. Darüber waren unsere Großeltern sehr erleichtert.«

Das Ansehen der Wehrmacht ist zur Zeit angeschlagen. Bei den Treckbewegungen erschütternde Bilder und fehlende Organisation.

Aus dem Kriegstagebuch des OKW, 16. Februar 1945

Am nächsten Tag sollte es aber schlimmer kommen. »Die Straße war voll von russischen Truppen. Plötzlich eröffneten einige der Rotarmisten das Feuer und gaben gezielte Schüsse auf eine Gruppe von Menschen im Dorf ab. Unter ihnen waren zwei Schwestern meiner Mutter mit ihren vier Kindern. Meine Tante Grete hatte ihre fünfjährige Tochter auf dem Arm. Als ihre Tochter von einer Kugel getroffen wurde, warf sie sich mit ihr in den Schnee, in der Hoffnung, dass Irmtraut vielleicht nur verletzt worden sei und noch leben würde. Meine beiden Vettern, sie waren damals erst neun und zwölf Jahre alt, waren auf der Stelle tot. Christel, eine meiner Cousinen, schrie noch minutenlang, bis es dann mit einem Male ganz still wurde. Tante Grete blieb noch lange schützend über ihrer kleinen Tochter liegen. Dass alle anderen um sie herum längst tot waren, wusste sie, aber sie wagte nicht, sich aufzurichten. Sie war die einzige Überlebende.«

Jüngere Frauen wurden immer wieder vergewaltigt. Und es kam auch zu Deportationen. Gertraud Grudinski berichtet: »Einige Frauen wurden nach Schlobitten gebracht und in der Ortskirche einige Tage lang eingesperrt. Es gab keine Toilette. Hinter dem Altar wurde die Notdurft verrichtet. Wer nichts zu essen dabei hatte, musste hungern. Von dort aus wurden sie dann bis in den Ural verschleppt.«

Wir waren erstaunt darüber, dass sich die Wut des Gegners an der Zivilbevölkerung entlud, insbesondere an den Frauen. An ihnen rächten sich die russischen Soldaten für das, was geschehen war. Das verbitterte uns sehr.

Werner Möllenkamp, Offizier bei der 21. Infanteriedivision

Wie viele Gefahren lauerten, zeigt auch eine andere Begebenheit. Gertraud und ihr Bruder wollten in diesem Durcheinander wieder in ihre alte Kinderwelt eintauchen: »Horst fiel ein, dass unser Opa bestimmtes Spielzeug auf dem Boden versteckt hatte. Uns war aber nicht klar, warum er das getan hatte.« Es handelte sich bei dem Spielzeug um einen etwa dreißig Zentimeter langen Panzer, der Erbsen über weite Strecken katapultieren konnte. »Ohne vorher den Großvater zu fragen, spielten wir mit dem Panzer und schossen auf die Zinnsoldaten«, erzählt Gertraud Grudinski. Dabei bemerkten die beiden Kinder nicht, dass sie von einigen Rotarmisten beobachtet wurden. »Die Soldaten packten Horst und mich und warfen uns in den Schnee, dann durchlöcherten sie den Spielzeugpanzer mit einer Maschinenpistole. Anschließend gingen sie wieder ins Haus zurück, trieben alle verbliebenen Personen nach draußen und befahlen ihnen, sich an der Hauswand aufzustellen.«

Zunächst wurden sämtliche Vorräte, alle Gläser mit Eingemachtem, vor ihren Augen zerschossen. Gertrauds Großvater redete auf die Kinder ein, um sie zu beruhigen. Sie hatten Todesangst: »Danach wurde einem der Soldaten der Befehl gegeben, uns alle zu erschießen. Er holte einen großen Holzklotz, stützte sein Maschinengewehr darauf und zielte auf uns. Wir Kinder waren wie erstarrt. Sogar meine kleine zweijährige Schwester weinte nicht. Plötzlich schoss der Russe ein paar Meter vor unseren Füßen in den Schnee, der Schnee spritzte uns ins Gesicht. Dann schleuderte er das Gewehr weg und ging fluchend mit den anderen Russen ins Haus.« Der Rotarmist hatte es nicht übers Herz gebracht, die wehrlosen Menschen umzubringen. Später sagte er zu Gertrauds Großvater: »So ruhig und andächtig wie die Kinder da standen, hätte ich niemals auf sie schießen können.«

Die Menschen aus Adlig Blumenau machten während der Zeit der sowjetischen Besatzung sehr unterschiedliche Erfahrungen. Manche Rotarmisten schreckten vor gewaltsamen Übergriffen nicht zurück, andere wiederum prügelten sich sogar mit ihren Kameraden, um zu verhindern, dass den Zivilisten Unheil geschah. Einmal hatte sich ein Kind schwere Verbrennungen an beiden Händen zugezogen. Das einzig verfügbare Medikament war Schweineschmalz. Doch ein sowjetischer Soldat riss den Schmalztopf an sich, weil er den Inhalt für sich behalten wollte. »Plötzlich geschah etwas, was keiner in diesem Moment für möglich gehalten hätte«, erinnert sich Gertraud Grudinski. »Es kam zu einer Schlägerei unter den Russen. Ein junger Soldat nahm den Topf an sich, beschimpfte seinen Kameraden mit den gemeinsten Schimpfwörtern und übergab das Gefäß schließlich meiner Großmutter. Sie war sehr ergriffen und dankte ihm überschwänglich.« Später kam dieser freundliche Soldat noch einmal mit einem Motorrad auf den Hof gefahren. Er fragte: »Wo ist das Kind mit den verbrannten Händen?« Die Großmutter rief Gisela zu sich. Der Russe kniete sich vor das kleine Mädchen. Gertraud Grudinski: »Als er sah, dass die Hände wieder gut verheilt waren, küsste er sie. Alle, die dabei waren, hatten vor Rührung Tränen in den Augen.«

Ich ging in ein Haus rein und sah, dass ein Soldat eine Frau vergewaltigte. Ihr Kind war im selben Zimmer. Ich riss ihn weg: »Raus mit dir!«, schrie ich und ging mit ihm zusammen raus. Ich habe ihm zwar eine Standpauke gehalten, aber das Kind hatte dennoch alles miterlebt.

Iwan Zelnik, Soldat

In vielen Schilderungen über die ersten Wochen der sowjetischer Besatzung überwiegen Berichte von Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Demütigung. Auf Nemmersdorf folgten weitere Massaker an der Zivilbevölkerung. Es gibt verschiedene Antworten auf die Frage, warum sich die siegreichen Soldaten zu solchen Gräueltaten hinreißen ließen. Sicher waren manche Exzesse die Folge gezielter Hasspropaganda, ganz entscheidend aber dürften die Erfahrungen während der vorangegangenen vier Kriegsjahre auf sowjetischem Boden gewesen sein – mit all ihren Grausamkeiten. Die Politoffiziere der Roten Armee hatten das im Blick. Der abgründige Hass auf den Gegner erfüllte aus ihrer Sicht zunächst einen rein militärischen Zweck. Um die Soldaten zu motivieren, den Krieg auch außerhalb der eigenen Heimat mit aller Vehemenz zu führen, wurden daher Versammlungen einberufen, zu denen die Einheiten vor Beginn einer jeden Offensive erscheinen mussten. »Wie werde ich mich an den deutschen Eroberern rächen?«, lautete das Thema solcher Gesprächsabende, die von den Propagandaabteilungen veranstaltet wurden, und das Prinzip, das den russischen Soldaten dort eingeschärft wurde, lautete: Auge um Auge, Zahn um Zahn. »Hier ist es nun, das verfluchte Deutschland« schrieb ein russischer Soldat nach einer solchen Versammlung auf ein selbst angefertigtes Schild und stellte es neben einem niedergebrannten deutschen Haus auf. Vladimir Sanevich Schafir, der Militärstaatsanwalt war, erinnert sich: »Zuvor waren für unsere Soldaten Plakate mit einem kleinen hübschen Jungen aufgehängt worden. In großen Buchstaben stand auf diesen geschrieben: ›Papa, töte den Deutschen! ‹«

Durch die Wand gedämpft ein Stöhnen: Lebend finde ich noch die Mutter. Waren’s viel auf der Matratze? Kompanie? Ein Zug? Was macht es! Tochter, Kind noch, gleich getötet. Alles schlicht nach der Parole: Nichts vergessen! Nichts verzeihn! Blut für Blut! Und Zahn für Zahn! Wer noch Jungfrau, wird zum Weibe, und die Weiber Leichen bald.

Alexander Solschenizyn, »Ostpreußische Nächte«

Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg war einer der schlimmsten Hassprediger. Berüchtigt ist sein Aufruf »Töte!... Wir erinnern uns an alles. Wir haben verstanden: Deutsche sind keine Menschen ... Wir werden nicht reden. Uns nicht empören. Wir werden töten. Wenn du nicht an einem Tag wenigstens einen Deutschen getötet hast, ist dein Tag verloren ... Es gibt für uns nichts Fröhlicheres als deutsche Leichen.« Diese Zeilen stammen aus dem Jahr 1942. Als die Rote Armee die Grenze zu Ostpreußen überschritten hatte, stachelte er die Soldaten in der Frontzeitschrift auf: »Jetzt ist die Gerechtigkeit in dieses Land eingezogen. Wir befinden uns in der Heimat Erich Kochs. Wir haben es oft genug wiederholt: Das Gericht kommt. Jetzt ist es da!« Gauleiter Koch hatte in der Ukraine furchtbar gewütet, nun traf die Rache der sowjetischen Soldaten allerdings nicht ihn, sondern die ostpreußischen Zivilisten. Für Ilja Ehrenburg war diese Unterscheidung bedeutungslos. Unter dem Titel »Deutschland – eine Hexe« heißt es in einem seiner Pamphlete: »Wir sind in Deutschland. Die deutschen Städte brennen und ich bin glücklich darüber. Die Deutschen haben keine Seele. Ein englischer Politiker hat einmal gesagt, die Deutschen seien unsere Brüder. Nein! Es ist eine Blasphemie, wenn man diese Kindermörder zu der großen Völkerfamilie rechnet.« Es stellt sich trotzdem die Frage, warum seine Worte Gehör fanden. Die sowjetischen Truppen waren durch den Westen Russlands, die Ukraine und das Baltikum gezogen. Und dort hatten sie die Dörfer und Ortschaften gesehen, die Hitlers Befehl der »verbrannten Erde« zum Opfer gefallen waren. Der Blutzoll, den die Menschen in der Sowjetunion während des Krieges zu entrichten hatten, ließ sich in Millionen von Toten bemessen. Es gab kaum einen Soldaten, der durch Hitlers »Vernichtungskrieg« keine Angehörigen oder Freunde verloren hatte. Pjotr Ilich Kirichenko gibt die Stimmung unter seinen Kameraden wieder: »All die Menschen, die im Krieg ihr Elternhaus verloren hatten oder deren Angehörige als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden waren, verhielten sich äußerst grausam gegenüber den Deutschen. Sie fühlten sich moralisch im Recht, genauso mit den Deutschen umzugehen, wie diese mit ihren Familien und Freunden umgegangen waren.«

Manche Historiker meinen, es habe solcher Aufrufe, wie sie Ehrenburg und andere Autoren verfasst haben, gar nicht bedurft, denn den Menschen sei im Vorfeld bereits genügend Schlimmes widerfahren. Auch habe es sowjetische Ausschreitungen nicht nur gegen Deutsche, sondern auch gegen Polen, Ungarn und Rumänen gegeben. Bei Kriegsende habe sich die lange aufgestaute Gewalt eben mitunter völlig willkürlich entladen.

Wir hatten viel Leid erlebt, jetzt sollten die Deutschen leiden. Die Psychologie der Sieger. Das ist unvermeidlich. Das alles ist natürlich traurig, aber es war so.

Vladimir Sanevich Schafir, Militärstaatsanwalt

Die Rotarmisten wurden gerade auf ostpreußischem Boden noch mit etwas ganz anderem konfrontiert, das ihren großen Zorn gegenüber den Deutschen möglicherweise zusätzlich angestachelt haben mag: Sie lernten hier ungeahnten Reichtum kennen. Ein Unterleutnant aus Irkutsk, Pavel Vasilevic, schreibt in einem Brief nach Hause von »herrschaftlichen Palästen« und berichtet von dem Gutshof eines reichen Deutschen: »Überall sind Diwane, mit Seide überzogene Sessel, der Fußboden glänzt wie ein Spiegel.« Auch die Ärztin Maria Efimova Neveleva traute ihren Augen nicht: »Immer wenn ich ein Haus betrat, war ich erschüttert: So ein Reichtum. Selbst die kleinen Häuser waren schön eingerichtet, mit verzierten Bodenplatten, hübschen Wandkacheln. Die Dächer der Häuser waren mit Ziegeln abgedeckt, die Zufahrtswege asphaltiert. Und ich dachte bei mir: Wieso sind die Deutschen überhaupt zu uns nach Russland gekommen, wenn es doch bei uns so arm und bei ihnen so reich war? Wozu brauchten sie Russland?« Vielleicht erklärt dieses Unverständnis die blinde Zerstörungswut vieler Soldaten. Auch Schloss Schlobitten wurde niedergebrannt.

Natürlich hatten wir Mitleid mit den Flüchtlingen und Verständnis für ihr Unglück, denn Menschen bleiben Menschen. Wir hatten ja selbst bereits vieles erlitten, was sie jetzt erleiden mussten. Wie in einem Spiegel sahen wir, was wir in Russland erlebt hatten, als die Deutschen kamen und sich unsere Bevölkerung verstecken und fliehen musste.

Gregorij Michailovitsch Ivanitzkij, Aufklärungschef in einem Artillerieregiment

Manche Dokumente zeichnen dagegen ein anderes Bild: Hier wird von sowjetischen Offizieren berichtet, die deutsche Frauen vor der Vergewaltigung bewahrten, von russischen Vätern, die einen Teil ihrer knappen Lebensmittel an hungernde deutsche Kinder abgaben, und von jungen Soldaten, die alten Frauen behilflich waren, sich einem Flüchtlingstreck anzuschließen. Eine Soldatin aus Moskau schrieb in einem Brief an ihre Familie: »Ich dachte, wenn ich nach Deutschland komme, werde ich niemandem gegenüber Mitleid empfinden. Warum muss ich das Kind eines Deutschen verschonen, wenn dieser meines umgebracht hat? Warum muss ich eine Mutter verschonen, wenn ein Deutscher meine aufgehängt hat? Warum muss ich ein Haus unversehrt lassen, wenn ein deutscher Soldat das meine angezündet hat? Aber als ich dann in ein deutsches Dorf kam und die Augen der hungrigen Kinder sah, habe ich meine Soldaten um alles gebeten, was von unserer Mahlzeit zu erübrigen war, auch um ein paar Zuckerstücke, und habe alles den deutschen Kindern gegeben. Ich habe nicht vergessen, was die Deutschen meinem Land angetan haben, aber ich konnte nicht mit ruhigem Gewissen in die Augen dieser armen Kinder schauen.«

Es gibt Historiker, die die These vertreten, Stalin habe den Hass auf die Deutschen unter anderem deshalb so bewusst schüren lassen, um seinem großen politischen Ziel näher zu kommen: nämlich der Westverschiebung Polens und der Einverleibung eines Teils von Ostpreußen. Künftig sollten dort keine Deutschen mehr leben. Die Exzesse seien daher ein Instrument zur Entvölkerung der deutschen Ostgebiete gewesen. Anhand von Befehlen oder Anordnungen des Kremlchefs lassen sich diese Behauptungen allerdings nicht beweisen.

In einigen Dokumenten ist nachzulesen, dass die Verwüstung ganzer Ortschaften und die Misshandlung von deutschen Zivilisten auf erobertem Gebiet für die Sowjets mit der Zeit zum Problem wurden. Man fürchtete, bei den Westmächten in Misskredit zu geraten und dem gemeinsamen Ziel, dem Sieg über NS-Deutschland, zu schaden. Als sich die Lage schon bald nach Beginn der Januar-Offensive zuspitzte, bemühten sich die sowjetischen Verantwortlichen um eine rasche Zügelung der zuvor entfesselten Kräfte.

Diese Gräueltaten mussten aufhören, denn man erschoss Kinder und Frauen, eigentlich jeden, der im Weg stand. Im Krieg wurde aber kein Buch darüber geführt, wie viel kleine Jungen oder Mädchen von einem Infanteristen umgebracht wurden, wie viel Kinder oder Erwachsene. Krieg ist Krieg.

Jurij Michajlowitsch Chuchrikow, Jagdbomberpilot

Bereits am 21. Januar 1945 erließ Marschall Rokossowskij den Befehl, »den Hass auf die Ausrottung des Feindes auf dem Schlachtfeld zu richten«. Marodieren, sinnlose Zerstörungen, Raub und Mord an Zivilisten wurden unter Strafe gestellt. Das hatte jedoch zunächst weniger humanitäre Gründe. Der Marschall machte sich vor allem Sorgen um die Disziplin in der Truppe. Ein geheimes Protokoll der Propagandaabteilung von Rokossowskijs 2. Belorussischer Front belegt, dass »Trinkgelage, Plünderungen, Vergewaltigungen, sinnlose Brandstiftung und so weiter« der Militärführung Sorge bereiteten: »Die Gefährlichkeit dieser Erscheinungen besteht darin, dass sie die militärische Ordnung und Organisiertheit untergraben.« Hinzu kam, dass durch den Vandalismus der Rotarmisten auch für die Sieger ein enormer materieller Schaden entstand. Ein abgebranntes Haus konnte schließlich nicht mehr genutzt, zerstörtes Inventar war wertlos und konnte nicht mehr in die Sowjetunion geschickt werden.

Doch noch wochenlang wurden die neuen Befehle missachtet. Die Führung der Roten Armee wurde die Geister, die sie gerufen hatte, so schnell nicht wieder los. Viele Soldaten, aber auch einige Offiziere, verstanden nicht, warum sich der Umgang mit den Deutschen mitten im Siegeszug ändern sollte. So wurden brutale Exzesse oft nur halbherzig oder gar nicht geahndet. Zu Verurteilungen kam es noch seltener. Vladimir Sanevich Schafir etwa erlebte einen Prozess gegen den sowjetischen Kommandeur eines Zuges, der »vor aller Augen« eine junge Deutsche vergewaltigt hatte: »Der Fall kam bis vor das Tribunal. Der Vorsitzende erließ den Beschluss, die Sache einzustellen. Der Grund war, dass die gesamte Familie dieses Offiziers im Krieg von Deutschen umgebracht worden war. Das waren mildernde Umstände.« Der russische Schriftsteller Lew Kopelew hingegen, der mit seinen Appellen versucht hatte, deutsche Zivilisten vor Mord und Totschlag zu bewahren, wurde für viele Jahre in sowjetische Straflager geschickt.

Die Lage war besonders dramatisch für uns, weil wir als ostpreußische Soldaten unsere Heimat verteidigen mussten. Doch die Skepsis, ob wir das schaffen würden, war groß.

Werner Möllenkamp, Offizier bei der 21. Infanteriedivision

Die Situation im untergehenden Ostpreußen spitzte sich in der letzten Januarwoche dramatisch zu: Menschen auf der Flucht, Menschen, die unter sowjetische Besatzung gerieten, Menschen, die gerade noch dem Schlimmsten entrinnen konnten, und andere, die die Hölle auf Erden erlebten. Das deutsche Militär war hin- und hergerissen in seiner Rolle als Verteidiger an der Front und als Beschützer der Zivilbevölkerung. Die militärische Lage der Wehrmacht war fatal. Die Truppen der Roten Armee waren südlich von Tolkemit zum Frischen Haff vorgestoßen, die Einkesselung von Hunderttausenden von Zivilisten und Soldaten stand ummittelbar bevor. Um das zu verhindern, befahl General Friedrich Hoßbach, Oberbefehlshaber der 4. Armee, einen Ausbruchsversuch: Seine Divisionen sollten sich über Elbing zur 2. Armee durchschlagen. Hitler tobte, untersagte jeglichen Stellungswechsel. Gauleiter Erich Koch goss zusätzlich Öl ins Feuer und bezeichnete Hoßbachs taktisches Manöver als »feige Flucht ins Reich«. Vollmundig verkündete Koch, er werde Ostpreußen dann eben mithilfe des Volkssturms halten. Hitler ergriff noch weiter reichende Maßnahmen gegen seinen General und enthob Hoßbach seines Amtes. Sein Nachfolger an der Spitze der 4. Armee wurde Friedrich-Wilhelm Müller, die Heeresgruppe Nord übernahm Lothar Rendulic, ein hitlertreuer General aus Österreich. Nach diesen Neubesetzungen konnte der Diktator sicher sein, dass seine Weisungen blindlings ausgeführt wurden. Rendulic erließ wenig später den Befehl, alle Soldaten standrechtlich zu erschießen, die »ohne verwundet zu sein« angaben, »Versprengte zu sein« oder »ihre Einheit zu suchen«. Im Chaos der Flüchtlingstrecks und zurückweichender Einheiten machten deutsche Feldgendarme und »fliegende Standgerichte« regelrecht Jagd auf tatsächliche und vermeintliche Fahnenflüchtige. Ein damals 15-jähriger Landarbeiter erinnert sich, »wie am Geländer der Weichselbrücke Soldaten aufgehängt wurden – das war furchtbar«.

Hitler gab immer wieder Befehle, irgendwelche Orte zu einer Festung zu ernennen. Aber da war nichts. Es gab dort weder Befestigungswerke noch die nötigen Besatzungen, die solche Plätze hätten verteidigen können. Es war eigentlich immer nur eine Illusion.

Bernd Freytag von Loringhoven, letzter Adjutant von Generaloberst Guderian

Hitler, der den Offizieren der Wehrmacht zunehmend kritisch gegenüberstand, ernannte nun Heinrich Himmler zum Kommandeur der »Heeresgruppe Weichsel« – ein weiterer Affront gegen die Generalität. Der SS-Chef war zwar ein militärischer Dilettant, doch der Diktator vertraute in dieser Phase des Krieges nur noch seinen engsten Paladinen und hoffte auf ein Wunder, wie es im Jahre 1762 Friedrich dem Großen widerfahren war. Damals hatte der Siebenjährige Krieg durch den Tod der Zarin Elisabeth eine entscheidende Wende genommen, und Friedrich konnte einen Separatfrieden mit Russland schließen. Seit Monaten schon hing über dem Schreibtisch Hitlers ein Porträt des preußischen Königs.

Doch Wahn und der Glaube an Wunder ersetzen keine Armeen. Seit die sowjetischen Angriffsspitzen am 27. Januar 1945 Tolkemit am Frischen Haff eingenommen hatten, war Ostpreußen fast vollständig abgeriegelt – für die Soldaten und Flüchtlinge eine traumatische Situation. Der Weg über die Weichsel nach Westen war versperrt, so gab es noch die Möglichkeit, von der Frischen Nehrung aus über das gefrorene Haff in die Danziger Bucht zu gelangen. Wer sich zum Hafen Pillau durchschlagen konnte, vermochte sich von dort aus über den Seeweg in Sicherheit zu bringen, sofern er Platz auf einem Schiff fand. Im Rücken der Flüchtlinge kämpfte die 4. Armee verzweifelt, um Zeit zu gewinnen, damit über die Häfen die Evakuierung der Zivilbevölkerung stattfinden konnte. Um die Hauptstadt Königsberg entbrannte unterdessen ein unerbittlicher Festungskampf. Nachdem die Reichsstraße zwischen Königsberg und Pillau zunächst von den Rotarmisten besetzt worden war, konnten schließlich deutsche Einheiten die Verbindung zum Hafen am 19. Februar wieder freikämpfen.

Der ostpreußische Kessel stand von allen Seiten unter Druck. Die materielle Überlegenheit der Roten Armee ließ keinen Ausbruch zu. Hinzu kamen Nachschubprobleme, die den deutschen Soldaten sehr zu schaffen machten. Werner Möllenkamp, der aus dem ostpreußischen Osterode stammte, war damals Artillerist bei der 21. Infanteriedivision. Verzweifelt fügte er sich seinem Schicksal: »Was sollten wir machen? Wir waren dorthin bestellt worden, um die Ostpreußenstellung zu halten. Wie immer wartete man auf ein großes Wunder.«

Wir hatten die Front im Rücken, den Kessel von Heiligenbeil. Von oben sind wir heftigst beschossen worden – die Flugzeuge haben einfach völlig wahllos zwischen die Menschen gefeuert. Es war in etwa so, wie wenn man sich bei Gewitter draußen aufhält. Es grollte und blitzte um uns, Tag und Nacht.

Hannelore Thiele, damals Ostpreußen

Der Kessel schrumpfte binnen sechs Wochen von sechzig Kilometern auf einen Radius von etwa zwanzig Kilometern. Mitte März zog er sich wie ein schmaler, in der Mitte etwas breiter werdender Streifen auf einer Länge von fünfzig Kilometern entlang der Küste zum Frischen Haff- in seinem Zentrum lag die historische Kreisstadt Heiligenbeil. Später wurde das noch verbleibende Schlachtfeld als der »Kessel von Heiligenbeil« bezeichnet.

Es erging ein Befehl von Hitler, dass wir alle am Haff sterben müssten. Auch sollten Soldaten am Ufer aufgestellt werden, um Flüchtlinge zu erschießen. So ein brutaler Befehl! Wir fühlten uns verraten und verkauft.

Werner Möllenkamp, Offizier bei der 21. Infanteriedivision

Die deutschen Soldaten fühlten sich hier in ihren Schützengräben und den provisorischen Bunkern auf völlig verlorenem Posten. »Wir buddelten uns Löcher, immer im Abstand von zwei bis drei Metern«, erinnert sich Werner Möllenkamp. »Da lagen wir dann drin. Mit einer Maschinenpistole oder einem Karabiner schossen wir, sobald die Russen auftauchten. Und wenn man keine Munition mehr hatte, zog man sich wieder ein Stück zurück. Auf diese Weise wurden viele getroffen, andere schafften es, ans Ufer des Haffs zu gelangen, und hofften darauf, dass sie von dort aus wegkamen.«

Da die sowjetischen Kommandeure wussten, dass die Soldaten der Wehrmacht mit dem Rücken zur Wand standen, warnten sie die eigenen Truppen vor einer heftigen Gegenwehr: »Sie werden bis zum letzten Mann kämpfen, bis zur letzten Patrone.« Das bekamen auch viele der Rotarmisten bitter zu spüren. Einer der russischen Soldaten berichtete später: »Die Angst, die war da. Wer erzählt, an der Front habe jeder furchtlos seinen Mann gestanden, der lügt. Ein solcher Mensch war vielleicht nie im Krieg. Immer war diese große Angst da. Wir waren vor jedem Angriff so angespannt, dass wir nicht mehr als ein paar Krümel Brot und eine halbe Tasse Tee herunterbekamen. Erst wenn wir uns am Abend von dem Einsatz erholten, waren wir wieder halbwegs normal und konnten etwas essen.«

Und die Situation der deutschen Zivilisten? Die russische Krankenschwester Ljudmilla Wernikowskaja hatte am Kesselrand viele zerstörte Häuser gesehen: »In einem Unterstand saß ein alter Mann, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Neben ihm an der Wand entdeckte ich zwei etwa fünfjährige Kinder. Der Mann hatte den beiden Kindern ebenfalls die Pulsadern aufgeschnitten. Das war fürchterlich.« Auch der damals dreizehnjährige Lothar Woelke aus Heiligenbeil erinnert sich an ein furchtbares Erlebnis aus jenen Tagen: »An einem Straßenrand lagen deutsche Soldaten, die atmeten noch, die lebten noch, die waren nur verwundet. Aber kein Mensch hat sich um sie gekümmert. Ich wollte noch von dem einen Soldaten den Ausweis entgegennehmen, um ihn seiner Familie zu schicken. Aber meine Mutter sagte: ›Lass das, das hat doch alles keinen Zweck, die werden das nicht überleben.‹ Es war grauenhaft.«

Ich sehe heute noch die Trecks, die von russischen Schlachtfliegern zusammengeschossen wurden. Das war das Schlimmste, was ich je gesehen habe. Noch grauenvoller wird es den Trecks ergangen sein, die ihren Weg über die Nehrung in Richtung Danzig nehmen mussten.

Fritz Busse, Soldat

Auch für die Flüchtlinge wurde die Lage immer verzweifelter. Sie hofften, der Umklammerung von Heiligenbeil zu entgehen, indem sie sich zu einer Flucht über das Meer entschlossen. Am 18. Februar machte sich Eva Droese aus dem nahen Balga, das direkt am Haff lag, auf den Weg. Sie war damals zwanzig Jahre alt und hochschwanger. Ihr Vater war ein Seemann, sein Schiff lag in Pillau vor Anker, und er war von dort aus zu seiner Familie hinübergeeilt, um sie zur Flucht zu bewegen. Der Bürgermeister von Balga stellte der Familie einen Leiterwagen mit drei Pferden zur Verfügung. Als Gegenleistung nahm Familie Droese seine Tochter und eine weitere Verwandte mit. Für diese Menschen begann eine Reise mit Irrungen und Wirrungen.

Der Weg zu den scheinbar sicheren Häfen Pillau und Danzig führte über das Haff, eine bis zu zwanzig Kilometer breite und achtzig Kilometer lange Ostseebucht, die durch eine fünfzig Kilometer in die Länge gezogene Landzunge, die Nehrung, von der offenen See getrennt ist. Nach Einbruch der Dunkelheit setzten sich Eva Droese, die Eltern und die Verwandten des Bürgermeisters in Bewegung. Die kleine Gruppe musste sich in einen Treck einreihen und wurde anschließend ans Haff geleitet – dorthin, wo die Wehrmacht einen Weg auf dem Eis abgesteckt hatte. Damit das Eis nicht einbrach, hatten die Flüchtlinge von den Wagen abzusteigen. Bei Dunkelheit und eisiger Kälte überquerten die Menschen die – so hofften sie – rettende Bucht.

»Am nächsten Morgen erreichten wir schließlich völlig erschöpft die Nehrung«, erzählt Eva Droese. Sie und ihre Treckgefährten hatten großes Glück gehabt und waren in jener Nacht von den sowjetischen Luftangriffen verschont geblieben. Nicht jedoch andere Flüchtlinge aus diesem Treck. Erst bei Tageslicht bot sich Eva Droese das Bild der schrecklichen Verwüstung: Tote Pferde lagen herum, Planwagen waren verlassen, Hab und Gut war überall verstreut, Menschen, denen niemand helfen konnte, waren am Rande der Verzweiflung. Es ist ein Bild, das sich bis zum heutigen Tag tief in ihr Gedächtnis eingeprägt hat.

Ich kann mich an eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm erinnern, das war gefroren – tot. Die war richtig durchgedreht, aber was sollten wir Jungs denn machen? Wir haben sie weiter geschickt. Wer weiß, wie weit sie gekommen ist.

Rudi Powilleit, als Hitlerjunge im Einsatz am Haff

Da sich der Weg nach Pillau als zu gefährlich erwies – das Donnern der sowjetischen Artillerie war aus dieser Richtung immer lauter zu hören –, folgten die Flüchtlinge der Nehrung nach Südwesten, Richtung Danzig. Doch von dort preschten plötzlich Fahrzeuge der Wehrmacht heran. Es hieß: zurück aufs Eis. »Wir mussten uns wieder in eine endlose Schlange einreihen. Von der Luft aus muss unser Treck wie eine schwarze Ameisenstraße ausgesehen haben«, meint Eva Droese. Sowjetische Jagdbomber warfen nun ihre tödliche Fracht ab und feuerten aus ihren Bordwaffen. »Meine Mutter warf sich bei jedem Beschuss über mich, um mich zu schützen.«

Der Russe Jurij Chuchrikow war damals als Pilot an der Frischen Nehrung im Einsatz. Seine Erinnerung: »Wir flogen in Gruppen von sechs Flugzeugen. Und es war unübersehbar: Zehntausende von Deutschen zogen auf schmalen Wegen dahin. Da konnten wir das Ziel nicht verfehlen. Es ist heute unvorstellbar, wie viele Menschen wir mit unseren Bomben und Granaten in den Tod schickten. Es war ein einziges Abschlachten.« Hatte er kein Mitleid? »Nein. Ich dachte immer daran, was die Deutschen unserem Land angetan hatten.«

Nicht weit von der Nehrung entfernt ging jedoch auch das Morden auf deutscher Seite unvermindert weiter, in den Lagern und auf den Todesmärschen. Bei Königsberg wurden Tausende von Häftlingen aus einem Nebenlager des KZ Stutthof an schnee- und eisbedeckten Stränden der Ostsee erschossen oder ins Meer getrieben. Auch das gehörte zur schrecklichen Wirklichkeit in Ostpreußen im Jahr 1945.

Ich war an der vordersten Linie. In meiner Akte steht, ich habe 260 bis 280 Menschen getötet. Bis zum Ellbogen stecke ich in Blut.

Jurij Michajlowitsch Chuchrikow, Jagdbomberpilot

Der Treck, in dem sich Eva Droese befand, hatte nun die nächsten Herausforderungen zu meistern: Das Haffeis, das sie überschreiten mussten, begann brüchig zu werden. Völlig unvermittelt taten sich tödliche Spalten auf. »Wir wussten überhaupt nicht, wie uns geschah«, erinnert sich Eva Droese, »Wagen und Menschen versanken von einer Sekunde auf die andere in den Fluten. Es war einfach furchtbar. Ich sehe noch heute vor meinen Augen einen Pferdefuß aus einem Eisloch ragen, von dem Wagen war nichts mehr zu sehen.« Plötzlich schlug eine Granate in der Nähe der Flüchtlinge ein. Ein Splitter traf den Vater von Eva Droese am Auge. Nur notdürftig konnte die Tochter die Wunde verbinden. Immer wieder wurde der Treck von Tieffliegern attackiert. Schließlich gelang es der kleinen Gruppe aber dennoch, Gotenhafen zu erreichen. Von dort aus gelangte sie mit einem Schiff nach Dänemark.

Die russischen Flieger hatten wunderbar freien Blick, um auf uns mit ihren Bordwaffen zu schießen. Flogen die Flugzeuge zu tief, scheuten unsere Pferde, die Wagen fuhren aufeinander, einige brachen ein und gingen unter.

Stephanie Lingk, flüchtete über das Haff

Hunderttausende von ostpreußischen Flüchtlingen versuchten in jenen Tagen über das Haff zu fliehen, um über die Frische Nehrung nach Danzig oder Pillau zu gelangen – zu Fuß, mit Schlitten oder mit Pferdewagen brachen sie auf, in der Hoffnung, ein rettendes Schiff zu erreichen. In den letzten Januarwochen war das Eis noch stark genug, um die schwere Last zu tragen. Dann wurde der Gang über das zugefrorene Haff jedoch ein Wettlauf mit dem Tod. Ohne ausreichend schützende Kleidung und geschwächt durch unzureichende Ernährung starben auch hier zuerst die Jüngsten und die Ältesten. Schon an Land war es wegen des gefrorenen Bodens unmöglich gewesen, die Opfer angemessen zu begraben. Auf dem Eis konnten die Toten erst recht nicht beerdigt werden. So schwer es den Angehörigen fiel, sie mussten ihre Verstorbenen zurücklassen, sie hatten keine andere Wahl. Sie mussten so schnell wie möglich weiter in Richtung Westen.

Vater und Tochter Ritgen aus Groß-Falkenau hatten Glück im Unglück. Der Gutsbesitzer musste den eigenen Treck verlassen, weil er an der Ruhr erkrankte. Felicitas überredete den 63-jährigen Mann zu diesem Entschluss, da er kaum noch Kraft besaß. Der Vater stimmte schließlich zu und verließ die lange Kolonne schweren Herzens in Preußisch Stargard. In der Annahme, dass von dort aus noch Züge fahren würden, begaben sich der Gutsherr und seine Tochter zum Bahnhof. Sie konnten zwar in einen Waggon einsteigen, doch es gab keine Lokomotive. Sie warteten eine Weile, dann verließen sie den Zug wieder und stellten sich zu den vielen anderen Flüchtlingen auf den Bahnsteig. Keiner wusste, wie es weitergehen sollte.

Und dann geschah etwas, was der Familie noch heute unfassbar erscheint: »Plötzlich sah ich von weitem einen Mann in Uniform auf uns zukommen. Ich schaute einmal, ich schaute zweimal, und schließlich schrie ich: ›Udo, wie kommst du denn hierher?‹« Udo war Felicitas’ jüngster Bruder. »Wir hatten ihn ja gar nicht hier vermutet«, erzählt Felicitas Lieberoth-Leden weiter. »Wir dachten, er sei an der Ostfront. Und jetzt kam er wie ein Engel daher, der uns vom Himmel geschickt wurde.« Udo Ritgen gab seiner Schwester und dem Vater zu verstehen, dass es schon seit längerem keine Möglichkeit mehr gab, mit dem Zug in den Westen zu kommen. Da er jedoch zu jener Zeit der Chef der Seeleitstelle auf der vor Danzig gelegenen Halbinsel Hela war und in dieser Funktion auch die Verantwortung für den Abtransport von Flüchtlingen hatte, wollte er nun alle Hebel in Bewegung setzen, um seine Angehörigen in Sicherheit zu bringen.

»Wir sind mit dem Auto meines Bruders in Richtung Norden gefahren und kamen nach Gotenhafen«, berichtet Felicitas Lieberoth-Leden. »Durch die Vermittlung von Udo erhielten wir einen Platz auf einem Schiff. Wir gingen an der Kaimauer entlang, und ein Matrose wollte gerade unsere Koffer auf die Wilhelm Gustloff bringen.«

Just in jenem Augenblick stoppte Udo Ritgen den Matrosen und meinte, sie seien für ein anderes Schiff vorgemerkt. Auf diese Weise entgingen die Schwester und der Vater einer der größten Katastrophen der Seegeschichte. Die Gustloff wurde am 30. Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot torpediert. Mehr als 9000 Menschen kamen bei diesem Angriff in den eisigen Fluten um. Auch für Udo Ritgen war die Versenkung des Passagierschiffs ein Schock: »Bis zur Torpedierung der Gustloff waren wir davon ausgegangen, der Weg über die Ostsee bis Pillau sei sicher. Nach dieser Katastrophe wussten wir, dass wir von nun an stets mit dem Schlimmsten zu rechnen hatten.« Schiffe wie die Gustloff, die Goya oder die Steuben stehen für mehr als 20 000 Tote auf dem Fluchtweg über die Ostsee während der ersten Monate des Jahres 1945. Doch dieser Zahl steht eine größere gegenüber: Trotz der Schiffskatastrophen wurden zwischen dem 15. Januar und dem 8. Mai 1945 mindestens zwei Millionen Menschen über das Meer nach Westen gebracht, auch Felicitas Lieberoth-Leden und ihr Vater.

Es hat Fliehende gegeben, die beim Anblick des rettenden Hafens umkehrten und in die brennenden Städte liefen. Die Furcht vor der See war größer als die Furcht vor dem näher rückenden Krieg.

Arno Surminski, flüchtete aus Ostpreußen

Die Schlacht um Ostpreußen dauerte noch an. Doch bald gab es nur noch wenige Stellen, an denen gekämpft wurde. Die Reste der 4. Armee wurden im Kessel von Heiligenbeil zusammengedrückt. Hunger und Kälte, Angriffe aus der Luft und vom Boden aus waren die ständigen Begleiter der deutschen Soldaten und Zivilisten.

Auch für die Rotarmisten war der Kampf um Ostpreußen mit vielen Opfern verbunden. In Moskau zeigte man sich verwundert, dass die Wehrmacht hier um jeden Meter Boden focht, während amerikanische, britische und kanadische Truppen ohne größeren Widerstand durch westdeutsche Ortschaften ziehen konnten. Die oft eng nebeneinander agierende Masse von Soldaten und Zivilisten war im Osten eine Schicksalsgemeinschaft angesichts einer tödlichen Bedrohung. Doch auch diese befand sich nun in Auflösung. Bald fehlte es der 4. Armee vielerorts an Munition. Tausende von Soldaten retteten sich mit Holzflößen, Brettern und Balken zur Frischen Nehrung hinüber. Der Kriegsmarine gelang es, Tausende von Menschen aus dem Heiligenbeiler Kessel zu evakuieren, allein mehr als 60 000 Verwundete und fast 5000 Flüchtlinge. Das Ende des Kessels war am 29. März besiegelt. Sowjetische Panzer überrollten die letzten gefechtsfähigen Stellungen. Die Rote Armee machte 50000 Gefangene. Wohl kaum einer der deutschen Soldaten hatte am Ende noch für Hitler gefochten – und auch nicht für den »Endsieg«, den das marode Regime immer noch verkündete. Zuletzt ging es nur noch darum, Zeit zu gewinnen. 10000 leicht verwundete Soldaten, die man nach Königsberg abtransportiert hatte, sahen dort nur noch eine sterbende Stadt. Quälend zog sich der Todeskampf in der Metropole am Pregel hin – bis in den Frühling hinein. Dann verlor selbst General Otto Lasch, der Festungskommandant, die Zuversicht. »Der Kampf schien sinnlos geworden zu sein«, erinnert er sich später an diese Tage. Das sich permanent wiederholende Trommelfeuer, die Tiefflieger, die jede Bewegung am Tag fast unmöglich machten, zermürbten die Menschen.

Ein Flüchtlingswagen stand am andern. Das war ein riesiges Feld, man konnte es gar nicht überschauen, so viele Fahrzeuge standen da. Da hatte ich das Gefühl: Das ist Ostpreußens Reichtum. Das ist alles, was übrig geblieben ist. Das verdanken wir diesem verfluchten Hitler. Das war das erste Mal, dass ich diese Verbindung begriffen habe.

Irmela Ziegler, damals Ostpreußen

Am 9. April gegen fünf Uhr nachmittags erstarb schließlich das Feuer. Sowjetische Wochenschaubilder zeigten, wie Panzer der Roten Armee in die Stadt rollten. In der Hafenstadt Pillau hingegen wurde zwei Wochen später noch um jede Straße gerungen. Es tobte eine Schlacht um jedes Haus, Marine- und Infanteriesoldaten waren gleichermaßen in Nahkämpfe verwickelt gewesen. Sowjetische Panzer schossen mitten hinein – ohne Rücksicht auch auf eigene Verluste.

Am 25. April 1945 wurden mit Landungsbooten, kleinen Fischereifahrzeugen und Lastkähnen noch einmal fast 20 000 deutsche Soldaten und 7000 Verwundete evakuiert. An der Pier herrschte allerdings totale Panik. Nur noch unter Androhung von Waffengewalt gab es ein geordnetes Einsteigen, viele der Wartenden waren so verzweifelt, dass sie ins Wasser sprangen und dabei ertranken. Die letzten befestigten Stellungen brachen ein. Seekommandant Kapitän Strobel vermerkte in diesen Stunden: »Der Kampf um Pillau ist beendet. Pillau selbst ist nur noch ein rauchender Trümmerhaufen.«

Wegen Hitler haben wir alles verloren. Wegen ihm haben wir den Krieg angefangen, wegen ihm sind meine Brüder gefallen, wegen ihm haben wir Haus und Hof verloren. Schuld sind Adolf Hitler und seine Kumpanen.

Felicitas Lieberoth-Leden, Tochter des Gutsverwalters von Falkenau

Die letzte Bastion auf ostpreußischem Gebiet war jetzt jene Landzunge, über die schon so viele Menschen einen Ausweg gesucht hatten, die Frische Nehrung. Um Narmeln, das etwa in der Mitte des Landstreifens lag, bildeten die sowjetischen Soldaten einen Ring, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Mit einem wirkungsvollen Abwehrfeuer gelang es den Soldaten des deutschen VI. Armeekorps zwar noch, ein Landeunternehmen zu vereiteln, bei dem sogar russische Gefangene gemacht wurden. Aber es war der Abgesang der fast fünf Monate währenden Schlacht um die Provinz. Am 3. Mai 1945 ging der letzte Flecken ostpreußischen Bodens verloren. Seit Beginn der sowjetischen Winteroffensive waren nun insgesamt 111 Tage vergangen. Dabei hatte sich schon sehr schnell gezeigt, dass Ostpreußen nicht zu vergleichen war mit den anderen Schlachtfeldern des Krieges. Durch den Starrsinn des NS-Regimes waren Millionen von Zivilisten dazu verdammt, Teil des militärischen Geschehens zu werden: getrieben von der Front, zwischen den Linien hin- und hergeworfen und schließlich im besetzten Gebiet der Willkür der Siegerarmee ausgesetzt. Viele verloren in diesem Chaos das Leben. Die Überlebenden verloren ihre Heimat.

Der Sturm

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