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Goodbye DDR

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Es war ein Glanzpunkt der deutschen Geschichte. 70 000 Menschen demonstrierten auf dem Ring von Leipzig für die Freiheit. In den Seitenstraßen stand die Staatsmacht, schwer bewaffnet, und die Demonstranten – Frauen waren dabei, die Kinderwagen schoben –, sie alle mussten damit rechnen, dass es ebenso zu einem Blutbad kommen könne wie ein paar Monate zuvor in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Dass sie sich dennoch auf die Straße wagten, voller Angst und voller Mut, das war ihr Heldentum.

Es war der 9. Oktober 1989, und es war der Durchbruch. Jene Demonstrierenden der ersten Stunde, die »Wir sind das Volk« gerufen haben, wollten freilich erst mal nicht die deutsche Einheit, sondern eine bessere DDR. Die Kräfte aber, die ihr Mut entfesselt hatte, waren schließlich stärker als sie selbst. Und dennoch haben sie Erstaunliches vollbracht: Das scheinbar angepasste Volk der DDR kam aus den Nischen und machte Revolution – die erste deutsche Revolution, die glückte und die glücklich endete. Es war der Garaus für den viel zitierten Lenin-Spruch: »Wenn die Deutschen auf dem Bahnhof eine Revolution machen wollen, kaufen sie sich vorher eine Bahnsteigkarte.« Aber alle Kartenhäuschen hatten schon geschlossen.

Über anderthalb Jahrzehnte sind seitdem vergangen, und nach Jahren der Verdrängung steht die DDR erneut im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Exzellente Kinofilme à la »Goodbye Lenin« öffneten die Tür für »Ostalgie« -Shows mannigfacher Art, die Stars der alten DDR im FDJ-Hemd präsentierten, neben Trabis, Broilern, Spreewaldgurken und so manchem sonst noch gängigen Klischee. Eine Parallelwelt eigener, für Westaugen kurioser Marken und Gebräuche. All das zu belächeln ist wohlfeil. Es war schon eine Welt mit eigener Würde, eigenen Erfahrungen. Doch war es nicht die ganze Welt.

Wer wissen will, wie man gelebt, geliebt und überlebt hat in der DDR, der muss den ganzen widersprüchlichen Charakter dieses Staats erfassen: die ausgeprägte Solidarität der Menschen und den Unterdrückungsapparat der Stasi, den Stolz auf olympische Goldmedaillen und den Frust über die katastrophale Wirtschaftslage, anpassungsfähigen Pragmatismus ebenso wie bitter enttäuschten Idealismus.

Das Werden und Vergehen dieses zweiten deutschen Staates ist ein Lehrbeispiel der Zeitgeschichte. Der Grundstein für die Schaffung eines deutschen kommunistischen »Ost«-Staates wurde schon vor der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 gelegt. Zwar waren sich die Alliierten einig, die oberste Regierungsgewalt in Deutschland gemeinsam zu übernehmen. Über die Details jedoch gab es ganz unterschiedliche Auffassungen. Der Einzige, der wirklich wusste, was er wollte, war Stalin. Schon vor Kriegsende vertraute er Milovan Djilas, dem Stellvertreter Titos, an: »Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein.« Es kam auch nicht anders. Kurz nachdem Soldaten der Roten Armee das Banner mit Hammer und Sichel auf dem Reichstag gehisst hatten, begannen die Sowjets, den Teil Deutschlands, der ihnen zugefallen war, auch politisch zu erobern. Mit Demokratie hatte das nichts zu tun. Die Sowjets achteten genau darauf, dass an den Schaltstellen der Nachkriegs-Macht nur Männer saßen, die die Richtlinien aus Moskau absolut loyal umsetzen würden.

Ein solcher Mann war Walter Ulbricht. Ende April 1945 kehrte er mit neun weiteren deutschen Kommunisten, unter ihnen Wolfgang Leonhard, aus dem Moskauer Exil nach Berlin zurück. Einen Stamm linientreuer Genossen sollten sie heranziehen, der die Kerntruppe der neuen Magistratsverwaltung für Berlin ausmachte. Die »Gruppe Ulbricht« wurde angewiesen, in den Arbeiterbezirken sozialdemokratische Bürgermeister zu gewinnen und in den gehobeneren Stadtvierteln »bürgerliche Antifaschisten« einzusetzen. Doch es musste nur »demokratisch aussehen«. In Wahrheit bedeutete die »demokratische Umgestaltung« nichts anderes als eine von der Besatzungsmacht überwachte Verwaltung nach sowjetischem Vorbild. Dennoch: Tausende deutsche Intellektuelle knüpften nach dem Untergang der Hitler-Diktatur ihre Hoffnungen an einen sozialistischen Neuanfang in der sowjetischen Besatzungszone. Prominente wie Bert Brecht schienen dafür zu bürgen, dass dort das »bessere Deutschland« entstehen könne. Doch die Illusionen waren bald verflogen.

Nach der DDR-Gründung im Oktober 1949 wurde zwar der Altkommunist Wilhelm Pieck zum Präsidenten gewählt, aber hinter den Kulissen hatte Ulbricht als SED-Chef alle Fäden in der Hand. Wenn Zeitgenossen sich später wunderten, warum gerade Ulbricht die politische Spitze erreichte – war er doch eher unscheinbar, alles andere als sprachgewaltig, formulierte weder denkwürdige Worte noch originelle Ideen –, dann liegt die Antwort genau darin. Er war der perfekte Apparatschik, der den Anweisungen aus der Sowjetunion penibel und kritiklos Folge leistete.

Dass das SED-Regime in diesen Jahren weder Legitimität noch Akzeptanz besaß, zeigen die Ereignisse um den 17. Juni 1953. Der im Juli 1952 proklamierte schnelle »Aufbau des Sozialismus« war ein Reinfall. Die Versorgungslage hatte sich dramatisch verschlechtert. Die Menschen waren äußerst unzufrieden; Missstimmung gegen das Regime machte sich breit. Um den wirtschaftlichen Schwierigkeiten entgegenzuwirken, beschloss der Ministerrat der DDR eine Erhöhung der Arbeitsnormen für Industriebetriebe und das Baugewerbe. Das bedeutete nichts anderes als die Verminderung des Arbeitslohns. Es kam zu Streiks und Demonstrationen, die sich schließlich in einer Massenbewegung entluden. Am Ende ging es nicht mehr nur um Arbeitsnormen, sondern um politische Freiheit und die nationale Einheit. Das SED-Regime war nachgerade paralysiert; nur mithilfe der sowjetischen Besatzungsmacht konnte es der Lage Herr werden. Wie viele Verhaftungen, Verurteilungen, Gefängnisstrafen und Todesurteile wirklich ergangen sind, wurde lange Zeit vertuscht. Wir wissen heute, dass während dieses Volksaufstandes etwa 125 Menschen getötet und Hunderte verwundet wurden. Mehr als 1500 Angeklagte wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Von einem »sozial gerechten, neuen Deutschland«, das sich so viele Idealisten erträumt hatten, konnte danach in der DDR nicht mehr die Rede sein. Die SED zeigte ihr wahres Gesicht. Und dieses offenbarte, dass die DDR-Bürger geradewegs in ein totalitäres Regime manövriert wurden – mit dem SED-Politbüro als Lotsen und der Sowjetunion als Kapitän.

Die Tragik des 17. Juni 1953 lag vor allem darin, dass der Aufstand, der sich gegen das Regime des Walter Ulbricht gerichtet hatte, ihm am Ende half, noch einmal seine Macht zu sichern. Zuvor war Ulbricht auch parteiintern in die Kritik geraten; und die Moskauer Genossen waren nach dem Tod Stalins ebenfalls drauf und dran, den ungeliebten Apparatschik abzusägen. Die Entmachtung war schon vorbereitet. Doch der Volksaufstand machte alle Pläne zunichte. Nach dem 17. Juni 1953 saß Ulbricht fester im Sattel denn je.

Um diese Position zu sichern, war er auf die Stasi angewiesen. Sie verstand sich als »Schild und Schwert« der Partei, legte über alles und jeden eine Akte an und versuchte, die Ostdeutschen in ein Volk von Spitzeln zu verwandeln. Abertausende »inoffizielle Mitarbeiter« des Ministeriums für Staatssicherheit spielten mit bei der gegenseitigen Überwachung – manche aus Überzeugung, viele aus Opportunismus. Ihre Berichte, meist in peniblem Beamtendeutsch festgehalten, zeichnen ein vielschichtiges Gesellschaftsbild. Das gewitzte Katz-und-Maus-Spiel mancher Dissidenten mit der Staatsmacht wird hier ebenso dokumentiert wie erschütternde Denunziationen oder der immerwährende Drang der DDR-Bürger nach mehr Reisefreiheit.

Tausende versuchten, mittels spektakulärer Fluchtversuche dem Regime zu entkommen. Die Stasi unternahm alles, um die Fluchtbewegung schon im Keim zu ersticken. Sie entwickelte Strategien, um geheime Fluchtpläne auszuspionieren und Fluchthilfeorganisationen zu zersetzen. Dabei schreckte sie auch vor Mordanschlägen nicht zurück.

Über drei Jahrzehnte stand mit Erich Mielke ein Mann an der Stasi-Spitze, dessen Laufbahn prototypisch für den Machtanspruch, die Unbarmherzigkeit und die finale Wirklichkeitsverweigerung der Staatsmacht war.

Begonnen hatte die Karriere Mielkes im August 1931 – mit dem Doppelmord an zwei Berliner Polizisten. Er floh nach Moskau, wo ihm das tschekistische Know-how beigebracht wurde. Als »Tscheka« wurde die von Lenin begründete bolschewistische Geheimpolizei bezeichnet, die nach Mielkes Worten »hart und unerbittlich gegenüber den Feinden der Sowjetmacht« war und »keine Gnade« kannte. Ihre Mitglieder nannten sich Tschekisten – ein Name, den sich Mielke und seine Stasi-Männer nach dem Krieg als Ehrentitel anhefteten. Auf Anweisung Moskaus nahm Mielke von 1936 bis 1939 am Spanischen Bürgerkrieg teil. In sicherer Entfernung von der Front sollte er die eigenen Reihen überprüfen und säubern. Den Zweiten Weltkrieg überlebte Mielke, getarnt als Holzarbeiter, in Frankreich.

Im Juni 1945 kehrte er nach Berlin zurück. Hier nahm seine Karriere mit sowjetischer Hilfe den erwünschten Verlauf. 1957 wurde er der alleinige Herr des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Walter Ulbricht und später Erich Honecker waren zwar die führenden Männer im »Arbeiter-und-Bauern-Staat«, und als diese akzeptierte Mielke sie auch. Doch als Stasi-Chef war er de facto einer der mächtigsten »Zweiten« der Geschichte. In seinem Reich völliger Überwachung unterlag alles und jeder seiner Kontrolle – es war gefährlich, sich mit Mielkes Männern anzulegen. Vom Februar 1950 bis zum Zusammenbruch der DDR wuchs der Personalbestand des MfS von Jahr zu Jahr. Am 31. Oktober 1989 beschäftigte die Stasi so viele Mitarbeiter, dass auf 180 Bürger ein offizieller Stasi-Mann und zwei inoffizielle Mitarbeiter kamen. Gemessen an der Gesamtbevölkerung hatte sich das MfS, so der Historiker Jens Gieseke, »zum wohl größten geheimpolizeilichen und geheimdienstlichen Apparat der Weltgeschichte« entwickelt.

Die Aufgaben und die Zuständigkeiten des MfS waren nie klar definiert worden – es gab keine gesetzlichen Beschränkungen, an die sich Erich Mielke zu halten hatte. Sicher ist, dass aus Sicht des MfS die Prävention eine zentrale Rolle spielte. Die »frühzeitige Aufdeckung und Verhinderung subversiver Angriffe und anderer Straftaten« rechtfertigte in Mielkes Augen die totale Überwachung unbescholtener Bürger. Sicher ist auch, dass Verurteilungsbegründungen, Verhörmethoden, Haftumstände nicht dem hehren Humanismus huldigten, den sich die offizielle DDR auf ihre Fahnen schrieb. In den Annalen der Geschichte steht die Stasi für brutale Willkür und zynische Menschenverachtung. Erich Mielke selbst erwies sich in einer überlieferten Tonbandaufnahme als kalter Schreibtischtäter: »Das ganze Geschwafel, von wegen nicht hinrichten und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil.«

Wie passt Katarina Witt in dieses Kabinett des Todes? Der bis heute populäre Star der Eiskunstlaufszene war in der DDR »das schönste Gesicht des Sozialismus«. Mit Talent, Schönheit und Erfolgen in der ganzen Welt wurde Kati Witt zum Aushängeschild des »Arbeiter-und-Bauern-Staates«. Wohl wurde die Karl-Marx-Städterin wegen ihrer sportlichen Erfolge vom Staat für politische Zwecke benutzt; zugleich jedoch ist sie ein einprägsames Beispiel dafür, dass in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die DDR schon nicht mehr souverän genug war, eine Eiskunstläuferin im Griff zu behalten. Je prominenter die junge Sächsin als Weltstar wurde, desto mehr schwand der Einfluss der Machthaber auf sie.

Das war nicht immer so. Als Erich Honecker den ungeliebten Walter Ulbricht 1971 von der Macht verdrängte, wollte er den Bürgern größere Freiheiten einräumen – vor allem der Jugend. Beatrhythmen erklangen in Ostberlin, Hunderttausende heiß begehrter Westjeans wurden importiert. Selbst das legendäre Woodstock konnte 1973 als Weltjugendfestival in seiner Ostversion nachgespielt werden. Was wie Toleranz aussah, war in Wirklichkeit lediglich eine strikte Weiterführung des Ulbricht’schen Grundsatzes: »Es muss nur demokratisch aussehen.« Der Sinn und Zweck der Weltfestspiele der Jugend sollte darin bestehen, das internationale Ansehen der DDR zu verbessern. Doch wenn Bands wie die »Renft-Combo« in ihren Texten Republikflucht und Wehrdienstverweigerung thematisierten, gerieten sie in das Visier von Partei und MfS. Die Gruppe wurde 1975 verboten, zwei der Bandmitglieder wurden inhaftiert. Ähnlich erging es dem Liedermacher Wolf Biermann, der bei einer Tournee in der Bundesrepublik einfach ausgebürgert wurde. Viele Künstler, Schriftsteller und Schauspieler verließen die DDR, manche gingen in die innere Emigration. Die Kulturszene verödete damals.

Doch man hatte ja noch den Sport. Als bei den Olympischen Spielen 1976 die DDR nach der Sowjetunion im Medaillenspiegel den zweiten Rang belegte und die USA auf den dritten Platz verwies, schien die Illusion eines erfolgreichen Regimes perfekt. Der Leistungsdruck, der auf den Sportlern lastete, war allerdings enorm – ein zweiter Platz galt oft schon als Versagen. Neben diesem Druck waren international erfolgreiche Sportler auch den perfiden Methoden der Überwachung ausgesetzt. Im Regime grassierte die Angst, seine »Diplomaten im Trainingsanzug« könnten ihm den Rücken kehren.

Und die Funktionäre fürchteten vor allem, dass gerade eine Katarina Witt den Lockungen westlicher Millionengagen erliegen würde. Flucht wäre eine Katastrophe gewesen. Mielke befahl, Kati Witt rundum zu observieren. »Sie [die SED-Politiker] hatten doch Angst, dass ich abhaue. Ich wollte nicht abhauen. Sie haben von mir sicher mehr profitiert als ich von ihnen.« Katarina Witt schien der lebende Beweis, dass in der DDR nicht alles schlecht sein konnte. Die DDR wollte ihr »Schmuckstück« nicht verlieren und bot ihrer Kati, wie anderen Spitzensportlern auch, verschiedene Privilegien: Westautos, ein Ferienhaus, eine Wohnung in Berlin – nichts schien zu teuer. Nach der Wende musste sie sich deshalb Vorwürfe anhören. Begünstigt mag Katarina Witt gewesen sein, zugleich jedoch war sie, umzingelt von »IMs«, das Opfer eines Überwachungsstaates, der angetreten war, sie »mit der Zielstellung der Verhinderung von Verratshandlungen sowie der ungesetzlichen Verbindungsaufnahme operativ zu bearbeiten«. Doch die Staatsführung scheiterte an ihren eigenen Vorgaben. Noch vor dem Mauerfall glänzte Katarina Witt mit Genehmigung von ganz oben als Star in der US-Show »Holiday on Ice«.

Im Juni 1961 hatte Walter Ulbricht noch öffentlich behauptet, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu bauen. Dabei dachte der SED-Chef schon längst daran, die Schotten dicht zu machen. Der ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen war bereits beauftragt, Schutzmaßnahmen gegen den Flüchtlingsstrom zu ergreifen: Damit lieferte Erich Honecker sein Meisterstück ab.

Seit 1955 waren aus der DDR jährlich 200 000 Menschen geflohen, der Großteil über Berlin. 1961 erhöhte sich die Zahl der Flüchtlinge. Allein im Juli kehrten 31 000 zumeist junge Menschen der Republik den Rücken – die DDR drohte auszubluten. Die SED-Regierung musste handeln. Wer sich in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 entlang der Sektorengrenze aufhielt, konnte die Schützenpanzer auffahren sehen. Die allererste Mauer war aus Fleisch und Blut: Kampfgruppen und Volkspolizei bezogen Position. Betonpfähle, Stacheldraht und spanische Reiter vervollständigten das Bild. Westberlin, das letzte Schlupfloch aus der DDR, war abgeriegelt.

Als Erich Honecker, Bergarbeitersohn aus dem saarländischen Neunkirchen, am 3. Mai 1971 die Nachfolge Ulbrichts antrat, forderte er, »dass sich die Partei niemals scheuen darf, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist«. Als er am 18. Oktober 1989 zu Fall kam, hatte er den Bezug zur Wirklichkeit seit Jahren schon verloren. Selbst den eigenen Genossen in Moskau und Berlin blieb das nicht verborgen. Michail Gorbatschow urteilte, Honecker habe »sich offensichtlich für die Nummer eins im Sozialismus, wenn nicht sogar in der Welt« gehalten. Der Mann habe »nicht mehr real gesehen, was wirklich vorgeht«. Auch Politbüromitglied Werner Krolikowski meinte nach der Wende, dass Honecker »nicht die Fähigkeit zu einer wahren geistigen Führung von Partei und Volk« besessen habe. Aufzumucken wagte dennoch keiner. Zu groß war die Angst vor dem Verlust der Macht, zu vorherrschend die Feststellung, die Mauer werde noch »in hundert Jahren« stehen. Honecker war kein Tyrann im klassischen Sinne – er war auf seine Weise auch so etwas wie ein deutscher Patriot, der seine saarländische Heimat liebte, der sowjetische und amerikanische Raketen (»Teufelszeug«, so Honecker) am liebsten ganz von deutschem Boden weghaben wollte, der im »Tauwetter« der frühen siebziger Jahre das Reisen für die Menschen im geteilten Deutschland wenigstens teilweise erleichterte. Aber wenn es um die Macht ging, war er eisern. Zeit seines Lebens verteidigte Honecker die Mauer allen Ernstes als »antifaschistischen Schutzwall«. Doch auch die von ihm forcierte Steigerung des Konsumgüterangebots täuschte nicht darüber hinweg, dass der DDR ohne Mauer die Menschen abhanden kommen würden. So glich Honecker in 18 Jahren an der Macht immer mehr einem Kapitän auf einem langsam sinkenden Schiff. Nur mit Finanzspritzen aus der Bundesrepublik, die auf Entspannung und Erleichterung setzte, blieb die DDR in ihren letzten Jahren überhaupt geschäftsfähig. Am Ende fehlte der SED-Führung jeder Rückhalt bei den Menschen. Das Regime hatte seinen Bürgern im wahrsten Sinne des Wortes die Luft zum Atmen genommen. Bevor sie Gefahr liefen, endgültig zu ersticken, fegten es die Menschen weg. »Wer zu spät kommt – den bestraft das Leben.« Gorbatschow traf den Nagel auf den Kopf.

Die DDR ist Geschichte. Was bleibt? Scham über einen ungeheuren Spitzelstaat. Trauer über die Toten an der Mauer. Aber auch Erinnerungen an »richtiges Leben« unter »falschen« Verhältnissen, an Liebe und Trauer, Sorgen und Freuden, Erfolge und Niederlagen, Stolz auf eine friedliche Revolution, die erste und einzige in Deutschland, die wirklich gelang. Hoffnung, dass am Ende doch »zusammenwächst, was zusammengehört«. Goodbye, DDR.

Goodbye DDR

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