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23. August 1983

Die Luft über den Feldern der Hohenloher Ebene schwirrte in der sommerlichen Hitze.

Chris Schranz passierte eben das Ortsschild von Dangershausen und suchte mit einem Auge auf der linken Seite den Sonnenhof, wo bereits in wenigen Minuten ein Treffen von Schweinezüchtern aus der ganzen Region stattfinden sollte.

Wieder einmal war er recht knapp, um nicht zu sagen, zu knapp dran.

Die Straße führte leicht bergab und Schranz dachte, dass Schwäbisch Hall, eine Stadt, die er gerne besuchte, nicht mehr weit entfernt war.

Und da war er auch schon am Gasthof vorbeigefahren, das hell gestrichene Fachwerkhaus unterschied sich nicht von den anderen mittelalterlichen Häusern. Dangershausen ist ein typisches Straßendorf, wie man es oft im Hohenlohischen findet. Im Laufe der Jahrhunderte hatten sich alle Häuser an der Hauptstraße gruppiert, erst später war man dazu übergegangen, weiter von der Straße entfernte Bauplätze zu erschließen. Schranz wendete seinen roten Golf älteren Datums und fand schnell einen freien Platz auf dem großen, asphaltierten Parkplatz des Gasthofes. Über dem Eingangsbereich prangte eine mit goldener Farbe aufgemalte Sonne, darunter stand: ›Fam. Bauer, Sonnenhof‹.

Als er durch die Eingangstür trat, hatte er Mühe, im Halbdunkel etwas auszumachen. Keine einzige Glühbirne brannte im Gastraum, und da die dicken hellbraunen Sandsteinmauern und die kleinen Fenster kaum Licht in den Raum ließen, wartete er ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an das diffuse Licht gewöhnt hatten und er die Szenerie überblicken konnte.

Direkt vor ihm, in rund drei Metern Entfernung, stand ein großer, halbrunder, massiver Holztisch mit einer langen Eckbank an der längsten Tischseite. An diesem saßen bereits mehrere Männer, es schienen die Schweinezüchter zu sein, welche an diesem Spätnachmittag ein allererstes, informatives Treffen über das Schwäbisch-Hällische Landschwein abhalten wollten. Ansonsten waren alle Plätze leer, was irgendwie seltsam anmutete.

Was ihn heute erwarten würde, wusste der Journalist nicht. Aber sein Vorgesetzter Martens hatte ihn ausgewählt, da er ja schließlich, wie sich sein Chefredakteur ausgedrückt hatte, auch einmal Landwirtschaft studiert hätte. Und für das leibliche Wohl sei auch gesorgt. Fast hatte es den Anschein gehabt, sein Chef sei neidisch, dass gerade er diesen Auftrag ausführen würde. Aber in den kühlen Räumen der ›Haller Volkszeitung‹ konnte man es jetzt auch aushalten. Der Spruch seines Vorgesetzten kam ihm in den Sinn: ›Schreib mal so viel, wie die Geschichte hergibt‹. Das sagte überhaupt nichts aus. Wenn es zu viele Lokalnachrichten innerhalb der nächsten Tage geben würde, dann würde dieser Artikel knapp ausfallen und wohl nur mit einem kleinen Bild versehen werden. Würden aber wenige Neuigkeiten von anderer Seite kommen, dann hätte Martens sicherlich Interesse an über 100 Zeilen. Man würde sehen.

»Grüß Gott, Schranz von der HV.« Er verwendete gerne das Kürzel seiner Zeitung, das hörte sich professioneller an.

Es gab ein allgemeines Gemurmel zur Begrüßung. Niemand kam auf ihn zu, um ihm die Hand zu reichen. Alle blieben sitzen, nur einer der Anwesenden rückte einen Stuhl so zur Seite, als wolle er sagen: ›Junge, setz dich her‹.

Ohne dass er gefragt worden wäre, bekam er eine Halbe Bier hingestellt. Die ältere Bedienung passte hervorragend zu dieser Umgebung, wo viel dunkles Holz dominierte und wenig Licht einfiel. Schranz empfand es trotzdem als harmonisch, irgendwie authentisch.

»Meine lieben Kollegen.«

Ein Mann mit kurzem, dunklem Schnurrbart ergriff das Wort.

»Wir sind heute alle hier, weil wir uns freuen, dass unser Kollege Heinrich wieder aus Afrika zurück ist. Er muss jeden Augenblick kommen. Die Zeit davor wollte ich nutzen, um euch zu danken, dass ihr alle jetzt hier am Tisch sitzt. Ich bin kein Mann von großen Worten«, dabei schaute er sich etwas hilfesuchend in der Runde um, »aber wir werden Heinrich bitten, dass er in Zukunft unser Anliegen vorantreibt. Er hat uns eingeladen. Wie ihr alle wisst, betätigt sich seine Familie schon über Jahrhunderte hinweg erfolgreich in der Landwirtschaft. Bitte unterstützt dieses Vorhaben.«

Die Zuhörer signalisierten murmelnd Zustimmung, die Gesichter wirkten jedoch teilnahmslos. Unruhige Füße oder Finger, die an feuchten Biergläsern hoch- und wieder runterfuhren, zeigten dem Journalisten, dass die Bauern innerlich angespannt auf die nächsten Stunden warteten.

Schranz blickte sich um und beobachtete die Männer möglichst unauffällig. Von der Körpergröße her waren sie ungefähr in seiner Größe, so zwischen 1,70 und 1,80 Metern, aber ansonsten unterschieden sie sich doch recht deutlich von dem Journalisten. Hier der eher schlanke, hellhäutige Schreiberling, dort die braungebrannten, drahtigen Freiluftarbeiter. Einige der Landwirte hatten sich wohl extra für diesen Abend frisch rasiert, einzelne feinste Risswunden an ihrem Hals deuteten darauf hin. Hier war Schranz auch froh, dass Martens keinerlei optische Vorschriften machte, wie er und seine Kollegen zum Dienst zu erscheinen hatten. Egal ob kurze Haare, mittellange wie bei Schranz und ein Dreitagebart, oder die künstlich rasierte Vollglatze des Kollegen Muppig, das spielte in der Redaktion der HV keine Rolle.

Als sein Blick kurz auf sein Bierglas fiel, entdeckte er eine Fliege, die mit hektischen Fußbewegungen versuchte, dem Alkoholtod zu entkommen. Auch sein Tischnachbar schien dies bemerkt zu haben und be-obachtete ihn gespannt. Wer war dieser Fremde überhaupt? Die Männerrunde schien auf eine Erklärung zu warten.

»Ich bin Christoph Schranz von der ›Haller Volkszeitung‹, wie vorhin schon gesagt. Ich bin auf Einladung von Herrn Bauer hier. Dass ich schon so früh eine Fleischbeilage erhalte«, dabei steckte Schranz seinen rechten Zeigefinger in den Bierkrug, fischte die Fliege mit einer kurzen Drehbewegung heraus, streckte den Finger inklusive Fliege in die Höhe und pustete das tropfnasse Tier mit einem deutlich hörbaren Pff zurück in die Luft, »hätte ich nicht erwartet.«

Die Männer schmunzelten.

»Wie bei meinen Artikeln üblich, kann ich Ihnen versichern, dass ich über keine Details des heutigen Gespräches berichten werde, die nicht mit Herrn Bauer abgesprochen wurden. Das handhabe ich immer so. Ich selbst habe Agrarwissenschaften studiert, allerdings ohne Abschluss, da ich gleichzeitig Germanistik belegt und darin meine Diplomarbeit geschrieben habe. Aber mein Fachwissen im Bereich Schweinezucht kann natürlich nicht mit Ihren Erfahrungen mithalten.«

Der Dialekt des Journalisten – Schwäbisch, gespickt mit fast reinem Hochdeutsch – fiel den Bauern sofort auf. Niemand gab einen Kommentar ab.

Zwei Männer nahmen einen tiefen Schluck aus ihrem Bierglas, der Rest starrte eher unbeteiligt auf einen Punkt irgendwo vor dem Bierglas oder auf der Tischplatte. Diese unbeweglichen und irgendwo auch unergründlichen Mienen kannte Schranz schon.

Die Bedienung fragte nach weiteren Wünschen. Einer bestellte noch ein Bier und da er die etwa 60-Jährige Frau mit ›Chefin‹ anredete, war diese Bedienung wohl die Mutter von Heinrich Bauer, die gleichzeitig in der Küche und als Kellnerin wirkte. Der Journalist wusste, dass die Familie bereits seit 1378 hier auf dem Hof lebte und von einem alten Rittergeschlecht abstammte. Das hatte Bauer bereits bei ihrem ersten Telefonat erwähnt.

Auch wenn nichts an der Chefin an Ritter erinnerte. Eine blaue, mit einem leichten Blümchenmuster versehene Schürze bedeckte ihren für eine Köchin und Wirtin recht schlank gebliebenen Körper.

Schweigen legte sich wieder über den Raum, bis die aus der Küche führende weiße Schwingtür aufgestoßen wurde und ein etwa 30-Jähriger, braungebrannter großer Mann die Gaststube betrat.

»Grüß Gott, liebe Kollegen.«

Alle Blicke richteten sich umgehend auf hin, Bauers braune Augen schweiften über die Tischrunde. Entweder trieb er viel Sport, oder die viele körperliche Arbeit hatte seinen Körper wohl proportioniert ausgeformt. Dunkles Wuschelhaar erhob sich über einem offenen Gesicht, das frisch rasiert war und allgemein einen gepflegten Eindruck machte.

Der Mann mit dem Schnurrbart ergriff wieder das Wort. »Hallo Heinrich, schön, dass du wieder zurück bist.«

»Ja, liebe Kollegen, ich war nun fast sechs Jahre unterwegs, es wird Zeit, wieder hier in Hohenlohe, hier in meiner Heimat«, dieses Wort sprach er besonders deutlich und pointiert aus, wobei seine Redegewandtheit sofort auffiel, »zu leben und zu arbeiten. Mein elterlicher Hof und meine Umgebung haben mir gefehlt. Auch wenn ich in Afrika und zuletzt in Indien viel Neues und Aufregendes erlebt habe.«

Bauer stand ungefähr einen Meter vom Tisch entfernt, der wohl auch als Stammtisch des Lokals diente. Dabei legte er das Gewicht seines Körpers auf beide Füße gleichzeitig, er war ein Bild von einem Mann. Schranz beobachtete dies gerne, zeigte es doch, ob ein Redner von Anfang an selbstbewusst und sicher auftrat.

Eine schwarze Hose und ein dunkelblaues Jeanshemd ergaben einen seriösen, aber nicht übertrieben edel wirkenden Auftritt.

»Als ich weg war, hat sich vieles ereignet. Und ich dachte, es wäre sinnvoll, wenn wir in Ruhe darüber reden würden. Vielen Dank, dass ihr gekommen seid.«

Schnell kreisten die Gespräche um das Wetter, um die letzten Ernten, um die Fleischpreise und vieles mehr. Die Zeit verging wie im Flug. Allerdings hatte Schranz gehofft, dass das geplante Gesprächsthema und damit der Hauptinhalt seines späteren Artikels bald zur Sprache kommen würde. Er hatte Martens versprochen, noch heute Abend den Bericht in der Redaktion abzuliefern.

Sicherlich waren die Erlebnisse Bauers interessant und dieser verstand es, seine Zuhörer zu fesseln. Wie er es geschafft hatte, die landestypischen Produkte in Afrika wieder beliebt und damit auch verkäuflich zu machen. Was er alles unternommen hatte und wie steinig und dornenreich der Weg gewesen war.

Bauer war Anfeindungen ausgesetzt gewesen, hatte wohl auch einmal eine Morddrohung erhalten. Zumindest ging das aus seinen Erzählungen hervor.

Aber seine Berichte waren spannend, und dem Journalisten wurde recht schnell klar, dass die Geschichte des heutigen Abends nicht mehr in der morgigen Ausgabe der HV erscheinen würde. Er wollte den Redefluss des Mannes nicht unterbrechen und so war es ihm nicht möglich, mit Martens zu telefonieren. Eine Rüge war ihm sicher. Aber Martens hätte sich an seiner Stelle wohl ähnlich verhalten, zumindest hoffte Schranz das.

Nur vom SHL, wie das Schwäbisch-Hällische Landschwein von den Züchtern genannt wurde, war nicht die Rede.

Der junge Mann drehte sein Bierglas hin und her. Seine Gedanken verselbstständigten sich. Er stellte sich vor, wie Heinrich Bauer in Afrika auf Englisch erklärte, auf welche Art Mais angebaut wurde, und welches Saatgut man wann wo verwenden musste. Wie das Wetter dort wohl gewesen war? Wie das Essen? Ob es überhaupt Bier in Afrika gegeben hatte?

»Und Herr Schranz wird darüber morgen in der ›Haller Volkszeitung‹ berichten.«

Schranz wurde aus seinen Gedanken gerissen.

»Es tut mir leid, meine Herren, aber dafür wird es nicht mehr reichen. Es ist nach 18.00 Uhr, also bereits nach Redaktionsschluss.«

Bauer schaute ihn überrascht an.

»Warum haben Sie das nicht früher gesagt?«

»Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Tut mir leid.«

Ein Wesenszug an Bauer schien zu sein, dass er ziemlich direkt, vielleicht sogar etwas herrisch war. Aber vielleicht lag das auch an den vielen Jahren im Ausland, in denen er wahrscheinlich fast immer der Chef gewesen war und sich gegen andere Arbeitsauffassungen hatte durchsetzen müssen. Kurz war ein leichtes Zucken an seinem rechten Augenlid zu erkennen, seine ansonsten normal geformten Lippen verschmälerten sich für einen Moment, um sich dann schnell wieder zu normalisieren.

»Dann will ich zum eigentlichen Thema unseres Abends kommen.«

Bauer blickte ruhig in die Runde.

»Jetzt bin ich zwei Wochen wieder hier in Deutschland. Und was ich sehe, unterscheidet sich nicht so sehr von Afrika.«

Mehrere Bauern schauten ungläubig.

»Wir Bauern sind die Verlierer der Industriegesellschaft. Wir bekommen für unsere Tiere kaum Geld, es reicht gerade so zum Überleben. Und dabei knechten wir jeden Tag, sieben Tage die Woche, 52 Wochen im Jahr, ohne Urlaub. Wir sind abhängig von den Fleischkonzernen, und die geben uns gerade so viel, dass wir nicht verrecken.«

Das drastische Wort zum Schluss fand die meiste Zustimmung, mehrfach hallte ein kurzes ›genau‹ durch die immer stickiger werdende Luft.

Heinrich Bauer schien die Leute auf seiner Seite zu haben, was auch immer er damit erreichen wollte. »Schaut euch mich an, unseren Hof gibt es schon ewig.«

Das war wohl ein wichtiges Argument. Schranz vermutete, dass er den ältesten Hof der Umgebung sein Eigentum nannte. Oder war sein Vater notariell noch Herr auf dem Hof?

»Ich komme zurück aus Afrika, und was ist passiert? Die Preise für Schweine sind niedriger als vor sechs Jahren! Niedriger, könnt ihr euch das erklären?«

Bauer legte eine kurze Pause ein.

»Die Spritpreise sind gestiegen, ein Traktor kostet seit 1975 ungefähr 40 % mehr, und was macht diese Wirtschaftsmafia? Sie hält uns an der kurzen Leine. Unglaublich! Ein Skandal, meine Freunde!«

Rhetorisches Talent hatte er, das musste man ihm lassen. Und seine Körpersprache passte dabei perfekt zu seinen Worten, alles war aufeinander abgestimmt. »Und wisst ihr, was das Beste ist? Ja? Für unser heimisches Schwein, das SHL, gibt es sogar 50 Pfennige weniger pro Kilogramm. Dabei hat es weniger Fett und schmeckt viel besser als dieses Zuchtschweinefleisch. Und als Ausrede hören wir vom Schlachthof, die schwarzen Borsten seien das Problem. Dass ich nicht lache.«

Dem Journalisten wurde klar, warum Bauer vorhin so lange über Afrika und die dortigen Probleme geredet hatte. Damit konnte er einen genialen Bogen zu den Bauern im Hohenlohischen schlagen. Ihre Situation war somit eindeutig. Bei dem angeborenen Stolz der Menschen dieses Landstriches würde dies nur noch mehr Zustimmung hervorrufen.

Ein Bauer beklagte sich über den ruinösen Preiskampf der Kollegen.

»Wenn es ein gutes Jahr ist, fallen die Preise. Und wenn es danach ein schlechtes Jahr gibt, und wir wenig Ferkel zu verkaufen haben, dann bleibt der Preis genauso niedrig. Ich verstehe das nicht.«

Mehrere Wortbeiträge wechselten sich ab, wobei der Groll und der Ärger über die ›Wirtschaftsmafia‹, wie die Landwirte es drastisch ausdrückten, immer größer wurde. Bauer gab eine Flasche selbst gebrannten Schnaps aus, wovon sofort reichlich Gebrauch gemacht wurde.

Schranz verhielt sich ruhig und machte sich nur wenige Notizen. Er behielt Bauer stets im Auge. Dieser blieb gelassen, hatte gerade mal ein Bier und einen Schnaps getrunken, er schien sich auf sein Finale vorzubereiten.

»Männer, ich schlage Folgendes vor.«

Die folgende rhetorische Pause von Bauer nutzten die meisten, um noch einmal einen tiefen Schluck aus ihrem Bierglas zu nehmen.

»Wir sind alle einer Meinung. Wir müssen etwas tun, sonst bleiben wir abhängig von diesen anderen Mitstreitern auf dem Schweinemarkt. Ich halte unser Schwäbisch-Hällisches Landschwein für sehr gut geeignet, Fleisch von überragender Qualität zu liefern. Geschmackvoll, mit wenig Fett. Seit Jahrhunderten ist dieses Schwein bei uns in Hohenlohe zu Hause, es ist wenig stressanfällig und vermehrt sich gut. Was uns fehlt, ist der Markt dafür. Und den wird niemand für uns schaffen, den müssen wir, ja, Männer, wir müssen uns diesen Markt selber aufbauen.«

Stille breitete sich aus. Sie sahen sich alle als Landwirte, konnten sich aber nicht vorstellen, wie das gehen sollte.

»Ich habe jetzt jahrelang am Aufbau von Vermarktungsorganisationen in Entwicklungsländern gearbeitet. So wie ich es einschätze, lässt sich das auch auf uns hier und das SHL übertragen. Lasst uns in vier Wochen nochmals zusammenkommen, ich überlege mir ein Konzept. Wer von euch könnte sich das vorstellen?«

Bauer blickte in die Runde, die Gesichter schienen verschlossen und in sich gekehrt. Und trotzdem war in ihnen eine gewisse Anspannung zu erkennen. Irgendwie schien Bauer mit dieser Reaktion gerechnet zu haben, trotzdem war Schranz einigermaßen überrascht von den abschließenden Worten:

»Wie ich sehe, könntet ihr euch alle so eine Landwirtschaft vorstellen. Und schon als Kind habe ich doch auf euren Höfen diese schwarz-weißen Sauen mit den schönen Sätteln gesehen.«

Bauers Stimme nahm einen fast liebevollen Klang an, seine Gesichtszüge wirkten rund, ehrlich und vertrauensvoll. Und auch die Gesichter der Männer entspannten sich zusehends.

»Sie liefen frei auf euren Weiden herum. Jeder von euch hatte genug Umsatz mit seinen Ferkeln, konnte seine Familie ernähren und den Hof über Wasser halten. So soll es wieder werden.«

Jetzt setzte der Redner sich auf den einzigen noch freien Platz. Bisher war er wie ein Löwe von einer Ecke des Stammtisches in die andere Ecke gelaufen, nur unterbrochen von kurzen Ruhephasen. Nun nahm auch Heinrich Bauer einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas. Kurz danach entfuhr ihm ein tiefer Rülpser und zur Freude aller übernahm er als Einstand die gesamte Zeche.

Die Landwirte hatten sich schnell verabschiedet und sich auf den Nachhauseweg gemacht. Die Arbeit im Stall wartete. Der Journalist nutzte die Chance und wandte sich an Bauer.

»Verlief alles so, wie Sie es sich gedacht hatten?«

»Komische Frage, ich dachte, Sie waren dabei?«

Mit den manchmal etwas ruppigen Umgangsformen vieler Hohenloher kam Schranz noch nicht zurecht, aber er lebte nun schon eine Weile hier und würde sich mit der Zeit daran gewöhnen.

»Sie haben einen souveränen Eindruck gemacht.«

Schranz wandte seine alte Taktik an, am Anfang ein paar lobende Worte zu sagen, um einen guten Gesprächseinstieg zu haben.

»Ja, ich kenne viele schon von Kindesbeinen an. Während meiner Abwesenheit hat sich einiges nachteilig entwickelt. Vor allem, was das Finanzielle betrifft. Der Ertrag pro Hofstelle ist während der letzten sechs Jahre um mehr als 20 Prozent gesunken. Rationalisiert wurde, soviel es ging, trotzdem sind auch die Erträge um praktisch diesen Prozentsatz zurückgegangen. Das kann nicht mehr aufgefangen werden, das spürt jeder am eigenen Geldbeutel. Und unser Hof gehört dazu.«

Das hätten auch die Worte des Vorstandsvorsitzenden eines Industrieunternehmens sein können, von idyllischer Landwirtschaft und auf dem Feld arbeitenden Männern mit Strohhut war überhaupt nichts zu spüren.

»Das Hauptproblem ist auf jeden Fall diese Wirtschaftsmafia. Billig einkaufen, nur beim Landwirt in der Produktion soll gespart werden. Und dann wird teuer weiterverkauft. Diesen Teufelskreis müssen wir durchbrechen.«

Als Schranz auf der Bundesstraße wieder Richtung Crailsheim und von dort aus weiter nach Bernau fuhr, war er sichtlich erschöpft. Was sollte er jetzt bloß schreiben? Dass in vier Wochen das nächste Treffen von irgendwelchen Landwirten sein würde, die sich gegen eine dubiose, bisher für ihn nicht greifbare Wirtschaftsmafia auflehnen wollten?

Martens würde ihn trotz seiner gewohnten Großzügigkeit sofort ins Büro zitieren, obwohl er freie Berichterstattungen mochte. Eine kleine Serie, die über diverse Höfe hier in der Gegend berichten würde, wäre eine gute Sache. Das Alter der Höfe, welche Kulturen früher dominiert hatten, wie es heute aussah usw. Dies würde das Thema allgemein halten, und er könnte die Kontakte dieses Abends nutzen.

Die hiesige Gegend lebte von der Landwirtschaft und war Westdeutschlands Zentrum der Ferkelproduktion. Bei einer einseitigen Berichterstattung war großer Ärger vorprogrammiert.

Aber irgendetwas musste er schreiben. Als freier Mitarbeiter wurde er nach Zeilen entlohnt. Eine Zeile brachte rund 50 Pfennige, also sollten es heute nach Möglichkeit zwischen 80 und 100 Zeilen sein.

Von Bauer hatte er ein Bild gemacht, wie er eindringlich gestikulierend vor seinen Kollegen stand. Er würde den Film morgen früh zum Entwickeln bringen, damit der Artikel am Abend vom Setzer übernommen werden konnte. Ihm war nur noch nicht klar, wie er die Zeilen zusammenbringen sollte. Aber jetzt freute er sich auf den Feierabend.

Schranz bog rechts ab und fuhr die schmale Auffahrt zu seinem gemieteten Bauernhaus hinauf. Oben, auf der anderen Seite des schmalen Schottersträßchens, schraubte sein Nachbar Franz Hirsch an einer alten Baumaschine herum.

Er war noch braungebrannter als die meisten anderen Landwirte, und seine beiden Knie mussten bereits mit künstlichen Gelenken ausgestattet werden. So wie Franz sagte, lag dies an seiner jahrzehntelangen Tätigkeit auf Baustellen in ganz Baden-Württemberg. Wobei genau dies ihn wohl auch so kameradschaftlich hatte werden lassen; stets hatte er ein nettes Wort für seine Nachbarn übrig, und war ebenso hilfsbereit, wenn irgendwo Not am Mann war.

Wie immer begrüßten sich die beiden Männer freundschaftlich.

»Na Franz, wie war dein Tag?«

»Gut. Danke. Wir waren heute auf der A 7, du kennst die Dauerbaustelle. Seit nunmehr fast einem Jahr arbeiten wir dort. Mein Bagger lief heute gut, ich hatte den 18-Tonner dabei und wir haben ordentlich was weggeschafft.«

»Und was machst du jetzt?«

»Diese alte Rüttelplatte will einfach nicht mehr anspringen. Ich zerlege sie und in ein paar Tagen werden wir sehen, woran es liegt.«

Schranz war immer noch dankbar, dass die Nachbarn ihm freundschaftlich begegneten. Dies schien ihm nicht selbstverständlich zu sein. Als er von Stuttgart hierher gezogen war, befürchtete er, in einer Art Isolation leben zu müssen. Aber das war nicht der Fall gewesen. Schon von Anfang an hatte er bei Franz die Fußballspiele der Europameisterschaft angeschaut, und er konnte sich jederzeit mit Fragen und Problemen an seine Nachbarn wenden.

»Hast du das heute in der HV gelesen?«

Seit wann las Franz die Tageszeitung? Seine Frau Anne hatte einmal mit einem Augenzwinkern bemerkt, ihr Ehemann würde nur die Bilder angucken. Je bunter desto besser ...

»Was denn?«

Die HV bekam Schranz nur dann kostenlos geliefert, wenn einer seiner Artikel darin veröffentlicht worden war. Die anderen Ausgaben hätte er sich kaufen müssen, und dazu war er zu geizig.

»In Zukunft soll der Schweinemarkt viel stärker von der EG aus Brüssel kontrolliert werden. Anscheinend gibt es zu viele Schweine, so wie es ja auch den Milchsee und den Butterberg gibt. Und das soll alles abgebaut werden.«

Schranz dachte bei sich, dass dies die Probleme der Schweinezüchter nicht unbedingt verkleinern würde. Probleme über Probleme, und das in dieser scheinbar heilen Welt.

»Sag mal Franz, hast du schon mal was von einer Wirtschaftsmafia gehört?«

Das braungebrannte Gesicht von Franz zeigte keinerlei Emotionen.

»Weißt du, Chris, das ist eine lange Geschichte. Für mich ist das ja egal, ich habe nur noch ein paar Tiere und bin nicht vom Ertrag und Verkaufswert dieser wenigen Schweine und Rinder abhängig. Aber bei den vielen anderen, den Vollerwerbsbetrieben, da sieht es anders aus.«

»Wer sind diese Leute? Warum nennt man sie so?«

Es kam Schranz fast so vor, als ob sich sein Nachbar umblickte, ob auch wirklich keiner der anderen Anwohner zuhören konnte.

»Komm die nächsten Tage mal abends zu mir. Mein Most mit den Wacholderbeeren müsste dann trinkbar sein.«

Das laute Gebell seines Hirtenhundes Gipsy erinnerte Schranz daran, dass es höchste Zeit war, sich um seinen vierbeinigen Liebling zu kümmern. Er hatte ihn als Baby aus dem Tierheim in Stuttgart geholt, mitt-lerweile war er ein Jahr alt – ein richtiger schwarzer Wirbelwind.

5. September 1983

Die Zeit war verflogen. Schon schien der Sommer zu Ende zu gehen, letzte Nacht hatte das Thermometer nur 5 Grad über null angezeigt.

Schranz war mit den letzten beiden Wochen zufrieden. Er hatte einen allgemeinen Artikel über das SHL verfasst, der einen positiven Leserbrief nach sich gezogen hatte. Ansonsten gab es keine Reaktionen: keine Anrufe und kein Martens, der sich in irgendeiner Art und Weise geäußert hätte.

Das Verhältnis zu seinem Hauptauftraggeber war momentan schwierig. Dank der regelmäßigen Aufträge der HV erreichte Schranz einen Wochenumsatz von durchschnittlich 700,- DM, womit er sich ernähren konnte. Durch die immer wieder anfallenden Lektoratsarbeiten junger Autoren verdiente er sich zudem ein kleines Zubrot. Und die daraus resultierende Gesamtsumme war völlig ausreichend, sodass er sich für die kommenden Monate keine großen Sorgen machte.

Der Sommer galt allgemein als ›Saure-Gurken-Zeit‹. Die interessanten Monate der Berichterstattung würden folgen.

Sein Nachbar Franz hatte ihn noch nicht zu dem versprochenen Gespräch eingeladen. Und Schranz wollte auch nicht drängen. Er hatte von Anne gehört, dass ihr Mann gerade wieder Herzprobleme hatte; sein Arzt hatte es noch nicht geschafft, ihm die richtige Dosierung an Medikamenten zu verordnen. So hatte er einen Tag einen hohen Blutdruck, am anderen Tag schlief er während der Arbeit auf seinem Bagger fast ein.

Bauer hatte sich auch nicht gemeldet, und so war Schranz überrascht, als er auf seinem neu erstandenen Anrufbeantworter eine Nachricht abhörte: »Rufen Sie mich an, wir haben den nächsten Termin.«

Gut, dass er die Stimme sofort erkannt hatte. Bauer hatte viel zu früh zu sprechen begonnen und seine Worte in der Geschwindigkeit von Gewehrsalven abgefeuert. Wahrscheinlich mochte er keine Anrufbeantworter.

Schranz rief sofort zurück, die Nummer hatte er auf einem kleinen Notizblock neben dem Telefon stets griffbereit liegen. Aber niemand meldete sich, ein Anrufbeantworter war nicht geschaltet. Beim Blick auf die Uhr wurde ihm klar, dass 10 Uhr eine sehr ungünstige Uhrzeit für einen Anruf war. Er wollte es über Mittag zwischen 12 und 13 Uhr nochmals versuchen. Jetzt war der Landwirt sicher auf den Feldern oder im Stall zu finden.

Wie immer war der nächste Auftrag für die HV eher gegen Abend zu erwarten, deshalb konnte er sich nun Gipsy widmen. Der Hundefriseur hatte ihm nochmals sein schwarzes Fell heruntergeschoren, es war schon ziemlich verfilzt gewesen. Nur schade, dass er sich mit dem Schäferhund aus der Nachbarschaft gerauft hatte, just in dem Moment, als sein Fell so kurz gewesen war. Von dieser Auseinandersetzung hatte er einige Abschürfungen und Bisswunden im Fell davongetragen. Wieder einmal hatte er sich nicht unterworfen, obwohl Bonnie viel größer war als er und auch viel kräftiger. Gipsy würde das lernen müssen, ansonsten konnte das übel ausgehen und für Schranz eine hohe Tierarztrechnung bedeuten.

Während er so sinnierte und den Vierbeiner streichelte, klingelte das Telefon. Eine gute Bekannte, Veronika, wie er sie für sich bezeichnete, war dran, und lud ihn auf ein Glas Wein ein. Noch hatte Schranz nichts von der HV gehört, war sich also noch unsicher, ob er am Abend überhaupt Zeit haben würde.

Er hatte momentan nichts vor, aber Veronika schon. Ihre Kinder waren noch da, sie sollten heute Abend von ihrem Vater ins lange Wochenende abgeholt werden. Und dann wäre es günstig, mit ihr in Ruhe die letzten Wochen zu besprechen.

Eigentlich war Veronika die einzige Frau, die Schranz bisher in seiner neuen Heimat kennengelernt hatte. Wie so oft hatte er vor einigen Wochen einen Abendtermin wahrgenommen, eine Aufführung eines Laientheaters. Martens hatte ihn ausgewählt, weil er ein gewisses Kunstverständnis hätte. So hatte er zumindest argumentiert, und wenn es in seine Strategie passte, dann hatte Schranz beim nächsten Auftrag auch politisches Verständnis. Er machte es immer passend.

Es wurde ein langer Abend. Um 22 Uhr stand erst der Beginn des zweiten von drei Akten an, und Schranz ärgerte sich bereits, dass er diesen Auftrag angenommen hatte. Vier Stunden Theateraufführung und es würden 80 Zeilen und ein Bild dabei herauskommen. Ein niedriger Stundenlohn, fürwahr.

Er verfolgte eher gelangweilt den Verlauf des Stückes. Es handelte von irgendeiner Verwechslungsgeschichte zwischen zwei Bauern, in die dann später auch noch die beiden Frauen verstrickt wurden. Dabei fand Schranz indessen immer mehr Gefallen an der rotblonden Schauspielerin, die eine der beiden recht garstigen Bauersfrauen spielte. Sie hatte eine gute Figur, eine schöne Stimme, ihre Augen glänzten, was entweder an den Bühnenscheinwerfern lag oder am vierten Bier, das der Journalist vor sich stehen hatte.

Nach der Vorstellung sah er die Mittdreißigerin kurz im Gang stehen, und sie bat ihn, ihr eine Kopie des Artikels dieses Abends zu schicken. Der Regisseur hatte sich schon vor Beginn des Stückes bedankt und Schranz darum gebeten, eine freundliche Kritik zu schreiben. Und so wusste der ganze Saal, dass Schranz nun am Zug war, diesen Abend in positiver Weise in der HV darzustellen.

Veronika hatte den jungen Mann angestrahlt und dabei erklärt, sie habe leider keine Möglichkeit, die Zeitung zu kaufen.

Durch dieses kurze Zusammentreffen war ein feines Band von Gefühlen entstanden, ohne dass sich die beiden in den letzten Wochen bisher sehr nahe gekommen wären.

Deshalb freute er sich über die Einladung. Allerdings fühlte er sich auch unsicher ob dieser Zweisamkeit, die auf ihn wartete.

Bauer klang am Telefon ziemlich genervt und hektisch.

»Mensch, Schranz, was haben Sie da für ein komisches Gerät? Immer mehr von diesen Dingern gibt es jetzt hier bei uns.«

»Sie haben Ihren Namen nicht draufgesprochen.«

»Doch klar, aber dieses Gerät hat dauernd gepiepst.«

Schranz vertiefte das nicht weiter. Er wollte zum eigentlichen Grund des Anrufs kommen.

»Was gibt es denn Neues?«

»Wir, das heißt, Sie, die Schweinezüchter und ich, werden uns wieder treffen. Gleicher Ort wie letztes Mal, gleiche Uhrzeit. Sie sollten bitte eine halbe Stunde früher da sein, wir beide müssten uns vorab noch absprechen.«

Es kam schon öfter mal vor, dass Leute versuchten, einen Journalisten vor dem Verfassen eines Berichtes zu beeinflussen. Was genau Bauer vorhatte, ahnte Schranz noch nicht. Da er sich nicht gerne beeinflussen ließ, war er auf der Hut. Obwohl auch sein Chef eine Art Zensur darstellte. Wenn Martens Kürzungen oder kleine Umstellungen am Text vornahm, dann hatte Schranz es auch zu akzeptieren.

In den ersten Wochen hatte er sich deswegen mit seinem Vorgesetzten ausgesprochen. Und die Erklärung von Martens für starke Textkürzungen an einem von Schranz’ Artikeln war gewesen, dass aufgrund eines Berichts über einen schweren Verkehrsunfall eben alle anderen Artikel auf dieser Zeitungsseite gekürzt worden seien. Und die entsprechenden Zeilen hatten natürlich auch seinen Artikel betroffen. Was hätte Schranz darauf erwidern sollen? Ein Chefredakteur würde immer plausible Erklärungen finden.

8. September 1983

Der Abend bei Veronika zog sich hin.

Schranz hatte sich nicht getraut, der jungen Frau zu gestehen, dass er sie großartig fand. Und sie war offensichtlich völlig übermüdet, die Erziehung ihrer beiden pubertierenden Töchter schien sie sehr anzustrengen. Nachdem sie nunmehr ein freies Wochenende vor sich hatte, brauchte sie dringend Erholung. So kam es, dass Schranz noch vor 24 Uhr wieder daheim gewesen war.

Der Termin bei den Schweinezüchtern stand auf der Tagesordnung. Wieder war Schranz viel zu spät losgefahren, durch Crailsheim hindurch herrschte das übliche Verkehrschaos. Es wurde Zeit für die schon lange geplante, aber noch nicht gebaute Umgehungsstraße.

Er würde wieder einmal mindestens 10 Minuten zu spät zu einem Termin kommen.

Diesmal fand er die Einfahrt zum Gasthaus Sonne auf Anhieb, er stellte seinen Golf in den kühlen Schatten einer hohen, alten Kastanie und betrat die Gaststube. Im Hintergrund hörte er Bauers kräftige Stimme. Er telefonierte wohl in einem Nebenraum.

»Nein, dem können wir nicht zustimmen. 50 Pfennige weniger als für die Rasse der Holländischen Schweine, das kommt gar nicht in Frage.«

Ein vernehmliches Krachen ließ vermuten, dass Bauer den Hörer auf die Gabel des Telefonapparats geknallt hatte.

Die Durchgangstüre wurde mit Schwung aufgestoßen, touchierte leicht die Wand, in welcher ihre Scharniere verankert waren und der Landwirt erfüllte sofort den Raum durch seine Präsenz.

»Hallo, Herr Schranz. Schön, Sie zu sehen. Außer uns ist noch niemand da. Gut so. Wir sollten uns eine Strategie überlegen.«

»Es ehrt mich ja, dass Sie wir sagen, aber ich weiß von nichts.«

»Na, mit wir meine ich auch wir alle, nicht nur Sie und mich. Alle Hohenloher, alle Bauern hier. Wir sitzen doch in einem Boot.«

Ein einnehmendes Wesen, da gab es keinen Zweifel.

Er hatte beide Arme in seine Hüften gestemmt, sodass sich seine kräftigen Oberarmmuskeln zeigen konnten und dabei das eng anliegende schwarze T-Shirt deutlich nach außen bogen.

»Ich möchte die nächsten Monate meine ganze Kraft daran setzen, einige Ferkel vom SHL so großzuziehen, dass es das bestmöglichste und schmackhafteste Fleisch ergibt. Dazu will ich mich aber nicht von den Futtermittelproduzenten abhängig machen. Ich werde das Getreide unserer Felder selbst zum Schweinefutter aufarbeiten, und ich werde die Ferkel nicht mit Antibiotika spritzen lassen. Dann wollen wir doch einmal sehen, ob sich dafür nicht ein Markt entwickelt.«

»Und wozu brauchen Sie die anderen Bauern?«

»Erstens bin ich hundertprozentig von meinem, bzw. unserem Erfolg überzeugt. Letztes Mal hat sogar einer der anderen Bauern beim Abschied zu mir gesagt, ich sei für sie alle so etwas wie ein ›Patrone‹.«

Bauer war sichtlich stolz darauf.

»Und zweitens, ich habe hier auf unserem Hof noch genau eine Sau vom SHL. Ich könnte zwar auf die Manneskraft des Ebers meines Schwagers zurückgreifen, aber ich brauche unbedingt frisches Blut. Und wissen Sie, noch etwas ist mir besonders wichtig ...«

Seine Augen funkelten, als er Schranz anschaute.

»Letztes Mal muss einer dabei gewesen sein, der alles Wort für Wort an die Schweinezentrale ausgeplaudert hat. Danach hat diese den Einkaufspreis je Kilogramm für die normalen Ferkel nochmals um 10 Pfennige angehoben, bei den SHL ließen sie allerdings den alten, ungünstigeren Preis stehen. Typisch!«

Bauer machte eine verächtliche Handbewegung. Dabei hatte er anscheinend nicht mit einkalkuliert, dass er schon sehr nahe am Stammtisch stand. Seine Hand donnerte mit den Knöcheln auf die eichene Tischplatte, ein leichtes Krachen war zu vernehmen. Bauer verzog kurz sein Gesicht, um sich bald darauf wieder im Griff zu haben.

Das Gespräch mit den Landwirten nahm einen ähnlichen Verlauf wie beim letzten Mal, allerdings fehlten drei Bauern aus der Runde von vor zwei Wochen.

Schranz hatte sich nicht alle Gesichter einprägen können. Die Teilnehmer saßen auch an einem anderen Platz als beim letzten Mal. In Gedanken überlegte er, was wohl die Gründe sein konnten, diese Details an Dritte weiterzugeben. Wobei man schon sagen musste, dass es clever von der Schweinezentrale gewesen war, den Preisabstand zwischen normalem Schweinefleisch und dem SHL nochmals zu vergrößern. Er verstand jetzt auch, dass sich zwei Bauern beim letzten Mal selbst als Spinner und Idealisten bezeichnet hatten. Logisch schien es wahrlich nicht, ausgerechnet jetzt auf das SHL zu setzen.

Der Patrone führte das Wort, es gab wenige Wortmeldungen. Und alle hörten ihm zu, kommentarlos, wortlos, ohne Widerspruch, aber auch ohne ein Zeichen der Zustimmung.

Aber sie sagten ihm zu, dass er jeden ihrer Eber anfordern durfte, um seine letzte Sau vom SHL zu decken. Und sie wollten auch auf die übliche Deckgebühr verzichten. Anscheinend hofften sie darauf, an etwas Neuem, Zukunftsweisendem beteiligt zu sein. Ab der Stunde null, aus dem Nichts sozusagen.

Zum Abschluss versprach der Kollege Neumann dem Patrone, dass er den nächstmöglichen Decktermin seiner Sau ausnutzen wollte. So könnte es eventuell klappen, dass das SHL auf der nächsten Grünen Woche in Berlin ausgestellt werden konnte. Diese weltweit größte Veranstaltung ihrer Art schien Bauer genau dafür prädestiniert zu sein, die Geschichte des SHL wieder aufleben zu lassen. Wie er berichtete, hatte er auf eigene Kosten dort bereits einen Stand angemietet. Obwohl sich dieser aus finanziellen Gründen auf eine gewisse Mindestgröße beschränkte, würden laut Bauer doch zwischen 20.000 bis 30.000 DM an Kosten anfallen. Für die anderen Landwirte war das ein gewichtiges Wort, ein Grund mehr, einen Vertrauensvorschuss zu gewähren.

Als sich alle von ihren Plätzen erhoben hatten, um wieder zu ihrer Arbeit zurückzukehren, stellte der Patrone wie beiläufig noch eine Frage:

»Weiß jemand von euch, ob unsere drei heute nicht anwesenden Kollegen noch an unserem Projekt interessiert sind?«

Einer brummelte vor sich hin:

»Du hast doch was gehört, Fritz.«

»Ja, Angermann hat zu mir gesagt, dass er vor einer Woche noch drei holländische Muttersauen gekauft hat. Vielleicht war er deshalb nicht hier.«

Die Versammlung löste sich rasch auf. Schranz blieb sitzen.

»Darf ich über diesen Abend jetzt als offizielle Veranstaltung berichten und auch über Ihre Ziele etwas schreiben?«

»Ja, geben Sie es raus. Vielleicht bringen wir damit die Sache noch mehr ins Rollen. Und ich werde mich um den Hinweis von meinem alten Freund Fritz kümmern. Wissen Sie, Schranz«, der Patrone schaute Schranz fast schon freundschaftlich an.

»Friedrich Neumann oder Fritz, wie wir ihn alle nennen, kennt mich schon von Kindesbeinen an. Er war des Öfteren bei uns auf dem Hof und hat mit meinem Vater über die Landwirtschaft diskutiert. Ich weiß noch, wie ich als Kind lange auf der Holzbank vor unserem Haus gesessen bin, und die beiden Männer stundenlang über Kühe, Schweine, Winterweizen usw. gesprochen haben.«

Jetzt verhärtete sich sein Blick wieder.

»Aber diesem Angermann, dem traue ich schon länger nicht mehr. Dass er ausgerechnet auch noch in Rufweite von Fritzens Hof wohnt, ist wirklich nicht optimal.«

Als Schranz nach Hause kam, sah er seinen Anrufbeantworter hektisch blinken.

»Haben sich gelohnt, die 200 DM, auch wenn es viel Geld für so ein kleines, schwarzes Kästchen ist«, murmelte er vor sich hin.

»Schranz, gut, dass Sie dieses Gerät haben.«

Martens klare Stimme klang aus dem Mikro.

»Heute ist eine Anzeige bei uns drin, dass ein gewisser Herr Freongard aus dem Odenwald Züchter vom SHL hier bei uns in der Gegend sucht. Diese sollen sich bei ihm melden, er wolle die Schweinerasse erhalten. Richtig große Anzeige. Könnte ja vielleicht wichtig sein für Ihren Artikel. Bis später.«

Bevor die Leitung unterbrochen wurde, hörte man im Hintergrund noch das aufgeregte Klappern der Schreibmaschinen im Redaktionsraum. Die Produktion der Texte für die morgige Ausgabe schien während des Telefonats auf Hochtouren gelaufen zu sein. Der Anruf war wohl gegen 17 Uhr gewesen.

Also noch Zeit genug, um in Stimpfach schnell im Gasthof Linde die dort auf dem alten Schirmständer hängende Ausgabe der HV zu studieren und die Telefonnummer dieses Herrn Freongard herauszufinden.

Er lief hinter das Haus, um seinen Golf zu holen, als er auf der gegenüberliegenden Seite seinen Nachbarn am Traktor hantieren sah. Wie so oft in den letzten Tagen hatte Franz die große Ladeschaufel an seinen Traktor montiert, um abends Brennholz aus dem Freilager in seinen Schuppen einzufahren. Dort sollte es die letzten Monate vollends austrocknen, um im Winter als preiswerte Heizmöglichkeit zu dienen.

Schranz schmunzelte. Was wäre Franz bloß ohne sein Holz ...

Schon von Weitem rief dieser ihm zu.

»Chris, komm kurz her, ich habe dir heute eine Anzeige aus der Zeitung herausgeschnitten. Das könnte interessant für dich sein.«

Schranz wählte die kurze Nummer von Freongard, nach der Vorwahl kamen nur noch zwei Ziffern für die Rufnummer. Das musste dort wirklich eine sehr ländliche Gegend sein.

»Freeeongaaard.«

Eine extrem tiefe Männerstimme meldete sich schon nach dem dritten Klingeln.

»Grüß Gott, Herr Freongard. Hier Chris Schranz von der ›Haller Volkszeitung‹.«

Keine Reaktion am anderen Ende der Leitung.

»Hallo?«

»Ja?«

»Ich dachte schon, Sie seien nicht mehr da. Ich habe Ihre Anzeige in der ›Haller Volkszeitung‹ gelesen.«

»Ja?«

»Und ich wollte Sie fragen, ob Sie mir dazu etwas erzählen könnten.«

»Haben Sie ein Schwein?«

»Wie, ob ich ein Schwein habe?«

»Ich suche jemanden, der mir Ferkel vom SHL produzieren kann. Damit ich meine Zucht auffrischen kann.«

Schranz war etwas überrascht, dass Freongard anscheinend doch längere Sätze sprechen konnte.

»Nein, ein Schwein habe ich nicht. Aber ich kenne jede Menge Bauern, die noch eines oder mehrere in ihrem Stall stehen haben.«

Rasch vermittelte Schranz den Kontakt zum Patrone. Nicht, ohne sich fest vorzunehmen, am übernächsten Tag nachzufragen, ob sich Freongard auch wirklich gemeldet hatte.

Schweinekrieg

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