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ERSTES KAPITEL Die Liebe eines Vaters

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Ach, du wunderschöner Rhein

Im Sommer 1954 reist Leo Trepp zum ersten Mal seit der Schoah wieder in seine Geburtsstadt. Seine Familienangehörigen sind ermordet worden. Nur sein Bruder, den er aus Deutschland hat retten können, und ein Cousin, der in das damalige Palästina flüchtete, haben überlebt. Trepp läuft durch die Straßen und erkennt die alten Wege seiner Kindheit nicht mehr. Mainz liegt immer noch in Trümmern. Die Vernichtung der orthodoxen Synagoge am Flachsmarkt, abgebrannt in der Pogromnacht 1938, und die Lücke, die sie hinterlassen hat, erschüttern ihn. Er geht weiter Richtung Hindenburgplatz. Vom amerikanischen Militärrabbiner hat er bereits erfahren, dass das Familienhaus nicht mehr steht, und er hat sich vorgestellt, dass auch viele der Nachbargebäude zerbombt sein würden. Dennoch, die einstmals prachtvolle Straße nun zu sehen, als habe man Teile ihres Randes herausgerissen, wühlt ihn auf. Auch, weil sich ein Gefühl einschleicht, das ihn schon nach wenigen Minuten belastet. Das Ausmaß der Zerstörungen stimmt ihn fast zufrieden. Er denkt: „Mit uns habt ihr angefangen, und nun habt ihr es selbst auch abbekommen.“

Leo Trepp hat diesen ersten Schritt der Wiederannäherung immer offen erzählt. Und warum auch nicht? „Aber das ist doch ganz natürlich“, rufe ich aus, als wir zum ersten Mal darüber sprechen. Sollte man nicht eher fragen, wie er überhaupt nach Deutschland zurückkommen konnte? Warum er nicht fühlte wie sein Bruder, der in Manchester und bald Jerusalem lebte und nie wieder in das Land der Täter gehen wollte? Nicht einmal als Gast?

Wie also konnte er diesen Schritt tun? Und dann noch einen? Und noch einen? Bis er zum Versöhner wurde. Zum Rabbiner, der den jungen Deutschen klarmachte, dass sie keine Schuld, aber Verantwortung für die Zukunft trügen. Zum Autor des erfolgreichsten deutschsprachigen Buches über das Judentum, weil er überzeugt war, dass nur Wissen vor neuem Antisemitismus schützen werde. Zum Professor, der seinen Studenten, viele von ihnen zukünftige Pfarrer und Religionslehrer, sagte: „Ihr seid die wichtigsten Botschafter. Ihr müsst euer Wissen teilen in einer Weise, die zum Frieden zwischen den Konfessionen führt.“ Zu einem geachteten Humanisten, der seinen Glauben stolz vertrat und Angehörige anderer Religionen gern hatte und respektierte, die das gleiche taten.

Hat das alles seinen Anfang genommen in jenem Moment, in dem er auf dem Hindenburgplatz in Mainz verharrt? In dem kurzen Augenblick, in dem er nach seinem ersten impulsiven Gefühl der Genugtuung denkt: „Nun muss alles neu aufgebaut werden, und auch die Menschen müssen sich wiederfinden, müssen sich erneuern, sie müssen neu zu denken lernen.“? Als er hofft, dass „nun die Deutschen vielleicht an einem Punkt angelangt sind, an dem sie offen sind für demokratische Gedanken, für Ideen des liberalen Miteinanders und für die Achtung aller Menschen als Geschöpfe Gottes“? Und sinniert, ob er dabei helfen kann?

Ich denke, es muss viel früher begonnen haben. Es ist wohl unwahrscheinlich, dass eine solche Haltung, offen und aus einer tiefen Menschlichkeit heraus, einer Laune der Umstände zu verdanken ist. Erst heute, während ich mich mit den Gedanken meines Mannes auseinandersetze und ihn nicht mehr zu Einzelheiten befragen kann, sondern sorgfältig die Aufzeichnungen durchgehen muss, um Antworten zu finden, erst heute wird mir klar, dass er in diesem Augenblick auf dem Hindenburgplatz in Mainz an eine rote Linie anknüpft, die sich durch die Geschichte seiner Familie und durch die vieler deutscher Juden zieht. An einen Patriotismus, der so leidenschaftlich ist, dass er darauf drängt, seinem Land etwas zu geben. An eine Liebe zu Deutschland, die in ihm wachbleibt, auch wenn sie nun nur noch in der Erinnerung lebt. „Ich bin so traurig, dass dies nicht mehr meine Heimat sein kann“, sagt er einmal, als wir in einem Zug in Frankfurt sitzen und auf die Abfahrt nach Berlin warten. Er nimmt dabei meine Hand und seine Worte kommen nicht mit der autoritätsgebietenden, kräftigen Stimme, die jeden mucksmäuschenstill werden lässt. Dies ist die Stimme, in der er manchmal, ganz selten, über Sachsenhausen spricht, und was die Wochen dort mit ihm gemacht haben. Nicht, was er dort erlebt hat, denn keiner, sagt er, keiner kann das verstehen oder nachempfinden. „Auch du nicht, mein Engel“, sagt er. Was er teilt, ist das Danach. Und ich kann verstehen, dass er danach weiterlebt, aber ganz anders. Dass danach „alles Hoffen, alles Streben“ nicht mehr wirklich eine Rolle spielen. Mit dieser Stimme beklagt er nun den Verlust seiner Heimat, und ich kann nur seine Hand streicheln, dann seine Wangen. Und ich weiß, dass ich damals gedacht habe: „Vielleicht schmerzt es ihn genauso sehr, dass sie den Deutschen Leo Trepp vertrieben haben, wie er darum trauert, dass sie den Juden loswerden wollten.“

Es ist der Jude und der Deutsche Leo Trepp, der in dem Augenblick des Sommers 1954 nicht anders kann, als zu hoffen, dass die Bürger seiner „gestohlenen Heimat“, wie er sein Geburtsland nun nennt, sich eines Besseren besinnen und dass eine gemeinsame Zukunft irgendwann möglich sein wird.

Das war die Hoffnung der Familie für über ein halbes Jahrtausend. Ihre Heimatstadt ist Fulda, die prächtige Barockstadt im Herzen Deutschlands. Leo Trepp, selbst bereits in Mainz geboren, wohin sein Vater als junger Mann gezogen war, sah Fulda, eine Wiege des Christentums und bis zum Ende ein Bollwerk der jüdischen Neo-Orthodoxie, vor dem Zweiten Weltkrieg nur einmal, als er im Mai 1933 seinen Vater Maier Trepp dorthin begleitete. Die beiden waren mit dem Zug gekommen, Leo Trepp aus Berlin, wo er studierte, und sein Vater aus Mainz.

Vom Bahnhof liefen wir die breite Straße zur Stadt hinunter, um zum jüdischen Friedhof zu gelangen. Etwa Mitte des 17. Jahrhunderts war er am Rand der Stadt errichtet worden, nun lag er im Zentrum. Fünf Jahre vor unserem Besuch hatten Vandalen Grabsteine umgeworfen und Gräber zerstört, in dieser Zeit war das nicht ungewöhnlich. Seit den zwanziger Jahren waren Dutzende jüdischer Friedhöfe geschändet worden. Von den Nazis wurde der Friedhof vollkommen vernichtet. Heute erinnert ein Gedenkstein an ihn. Durch ein schmales Tor in der Umfassungsmauer traten wir ein. Es war ein kleiner Flecken Land, mehr hatte man den Juden nicht gegeben. „Wie konnte man die Toten alle unterbringen?“, fragte ich meinen Vater. Sie mußten übereinander gelegt beerdigt werden. Aus mehr als einem Achtel des Friedhofs, in der linken hinteren Ecke gelegen, ragten Steine mit dem Namen Trepp empor, der ältesten und führenden jüdischen Familie Fuldas. Im fünfzehnten Jahrhundert hatte der Fürstabt Fuldas einen ihrer Vorfahren zu seinem Hofarzt berufen, ein Amt, das Mitglieder meiner Familie viele Generationen hindurch betreuten. Zugleich überließ ihnen der Fürstabt das „Haus uff der Treppen“ als Amtswohnung. Warum hieß das Haus so? War es ein Haus, zu dem, weil es auf einem Hügel mit einer steilen Steigung lag, Stufen führten, oder hatte es einst selbst eine große TreppenfIucht, wie mein Vater meinte, als er mir den Platz zeigte? So bekam die Familie ihren Namen, man sprach von ihnen als den „Juden uffer Treppen“.

Die Hofärzte wurden bald auch zu den Hofjuden Fuldas, Vertreter und Fürsprecher der jüdischen Gemeinschaft. Sie durften geschäftlich tätig sein, mußten allerdings auch für die hohen Steuern, welche den Juden auferlegt waren, einstehen, wenn nötig aus eigenem Vermögen. Ich habe mich oft gefragt, wo meine Vorfahren ihre medizinische Ausbildung erhielten. Konnten sie in Universitäten wie Salerno oder Bologna studieren, welche Juden aufnahmen, oder erlernte der Sohn die Kunst vom Vater? Wir wissen es nicht. Ihre heilenden Künste, die sich bis nach Mainz herumgesprochen hatten und auf die die Kirchenherren nicht verzichten wollten, schützten die Familie, als Mitte des 16. Jahrhunderts beinahe alle Juden aus der Stadt vertrieben wurden. Doch als einige Jahre später Söldner, mit Hilfe der christlichen Nachbarn, die jüdischen Häuser plünderten, konnten auch die Trepps nur in sicherer Ferne abwarten, bis der Mob weitergezogen war. lm Jahre 1671 vertrieb der Fürstabt Gustav Bernhard die Juden aus der Stadt, diesmal durften nur sechs Familien bleiben, darunter die Familie Trepp. Diese paar Juden hatten nun allesamt in die schmale Gasse zu ziehen, in der das Urhaus der Familie bereits stand. An deren beiden Enden wurden anschließend große, schwere Eichentore gebaut, die man nachts abschloß, und die die Juden bezahlen mußten. Mit anderen Worten: Von da an lebten die Juden in einem von ihnen selbst finanzierten Ghetto.

Vom Friedhof gingen wir in die Stadt hinein. Auf dem Weg kam uns ein Zug von Nazi Sturmtruppern mit Musik und Hakenkreuzfahne entgegen. Wir flüchteten in einen Hauseingang, um ihnen zu entgehen. Wieder mußten sich alteingesessene und verdiente Bürger aus Fulda, allein weil sie Juden waren, vor Rohlingen verbergen.

Die elegante Hauptstraße führte zum weiten Domplatz mit seinem prächtigen, die Reliquien des Heiligen Bonifatius bergenden Barockdom und dem fürstäbtlichen Barockschloß. Die Hauptstraße war von Kirchen eingerahmt und stand unter ihrem Schutz und Segen. Zur Linken, den Hügel hinauf, ergoß sich ein Gewirr schmaler, winkeliger Gäßchen. Das war das Judenviertel. Es stand nicht unter dem Schutz der Kirchen. Wir liefen in diese Richtung. Auf dem Weg erzählte mein Vater, wie er einst auf dem Weg zur Schule am Domplatz vorbeikam, gerade als die Menge der Pilger auf die Knie fiel. Nur er stand, und von allen Seiten kam der ärgerliche Ruf zu ihm: „Gehste runner, du Jud.“ Er tat es nicht und ging unbehelligt weiter. Einen gewissen Einfluß der christlichen Umgebung konnte man auch bei ihm bemerken. Am Eingang zum Domplatz steht das Denkmal des Bonifatius. Er hält das Kreuz hoch in die Luft, und auf dem Sockel steht die Inschrift: „Verbum Domini manet in Eternam“ – „Das Wort des Herrn bleibt ewig“. Es wurde zu einem Motto meines Vaters, das er oft auf lateinisch wiederholte. Ihm bedeutete es die Tora, und dennoch gab er mir ein Verständnis dafür, daß die Christen dem Worte Gottes folgten genau wie wir. Im Judenviertel zeigte mir mein Vater das elterliche Haus, wir besuchten die neurenovierte Synagoge, für deren Erneuerung er gespendet hatte. Ihr Inneres war im maurischen Stil errichtet.

Von diesem Haus aus hatte zu seiner Jugendzeit Rabbiner Michael Cahn amtiert, man sollte wohl sagen „regiert“. Er vertrat die Neo-Orthodoxie. Seine Gottesdienste waren voller Würde und ästhetisch anziehend. Als Kronprinz Friedrich nach Fulda kam, erschien der Rabbiner zum Empfang im Talar. Gleichzeitig war Cahn jedoch unerbittlich orthodox und erzwang seine Verordnungen, wenn nötig, mit Hilfe der Stadt und Kirche. lm streng katholischen Fulda waren die Juden eben auch „katholisch“. Die Männer mußten täglich zur Synagoge kommen, und ihre Anwesenheit sowie die Zeit ihres Erscheinens wurden am Eingang registriert. Die Namen der Jungen, die ohne gültige Entschuldigung beim wochentäglichen Frühgottesdienst fehlten, wurden der Schulbehörde mitgeteilt, die sie dann bestrafte. Die jüdischen Lehrer des dem Rabbiner unterstellten Bezirkes mußten wöchentlich bei ihm erscheinen, um über ihre Amtsführung im einzelnen Rechenschaft abzulegen und dann mit ihm den Talmud zu studieren. In Paraphrase des Friedrich dem Großen zugeschriebenen Wortes erklärte Cahn: „Bei mir kann jeder nach meiner Façon selig werden.“ Und er meinte es ernst.

In dieser Atmosphäre wuchs mein Vater, 1873 geboren, auf. Aus ihr entwickelte er eine tiefe Frömmigkeit. Wenn er betete, sprach er jedes Wort mit solcher Inbrunst aus, daß sein Gebet längst nicht zum Ende kam, wenn die Gemeinde es bereits beendet hatte. Er ging niemals zu Bett, ohne eine Zeitlang Tora und Talmud ‘gelernt‘ zu haben. Zugleich aber formte ihn die Tradition der eigenen Familie, die weltlich hochkultiviert war, eine leidenschaftliche Liebe für die Musik besaß und zugleich, wie wir aus Dokumenten wissen, demokratisch und liberal war und neuen gesellschaftlichen Entwicklungen aufgeschlossen. Er besuchte das Realgymnasium, lernte Latein und Französisch und begann früh, nicht nur Tora und Talmud zu lesen, sondern weltliche Literatur. Er war sowohl in den deutschen Klassikern wie in den Werken Shakespeares zu Hause, liebte die bildende Kunst, besuchte Museen, selbst die Sternwarte in Straßburg, und erwarb sich ein von Liebe getragenes Wissen über Malerei und Skulptur. Er verehrte Michelangelo, Raphael Santi und Rembrandt, die Kunst des Biedermeier machte ihm Freude. Vor allem aber begeisterte ihn die Musik, besonders die Oper. Da Frauen in ihr sangen, hätte Rabbiner Cahn diese Leidenschaft keineswegs gebilligt. Aber hier kam die Tradition der Familie in Konflikt mit Cahns unerbittlicher Orthodoxie, und die Familie gewann.

Auch mein Großvater, Judah Salomon, teilte die Leidenschaft für Kunst und Musik, zeigte für die Geschäfte der Familie aber kein sonderliches Interesse. Was sich für seinen Sohn, wie wir bald sehen werden, als tragisch erweisen sollte. Nachdem seit Beginn des 19. Jahrhunderts die wirtschaftlichen Beschränkungen für Juden nach und nach aufgehoben wurden, florierten die Geschäfte der Familie. Sie handelten vorwiegend mit Textilien und Leder und trugen maßgeblich zum allgemeinen Wohlstand der Stadt bei, die das ihrerseits in den gegebenen Grenzen anerkannte. Einigen Trepps war wahrscheinlich schon vor der Verleihung der Bürgerrechte an Juden im Jahr 1833 ein bürgerähnlicher Status gewährt worden, ein Mitglied der Familie wurde ins Stadtparlament gewählt. Mein Urgroßvater, Salomon Juda Trepp, war als Kaufmann zu einem wohlhabenden Mann mit respektablem Grundbesitz geworden. Sein Sohn, mein Großvater, besagter Judah Salomon, besuchte Oper und Symphonie, schrieb Poesie und war ein offener und gutherziger Mensch, dem nicht nur das Interesse, sondern jeglicher Sinn fürs Geschäftliche fehlte. Als ihn ein Freund in wirtschaftlichen Schwierigkeiten um Hilfe bat, bürgte er für ihn mit seinem gesamten Vermögen – und verlor alles. Das einzige, was ihm in der Verarmung blieb, war ein Zuhause, denn das Haus gehörte seiner Mutter, und die Ehre, weiterhin als Vorsteher der jüdischen Gemeinde zu wirken, wie es sein Vater vor ihm getan hatte.

Seine Ehefrau, Caroline Adler aus Urspringen, war jung gestorben, nachdem sie ihm dreizehn Kinder geboren hatte. Einige von ihnen lebten nur einige Monate. Judah Salomon selbst starb jung an Urämie. Mein Vater wurde in jeder Weise zum Haupt der Familie und zum Versorger. Er betreute seinen Vater bis zu dessen Tod und unterhielt eine Schwester, die aus dem Fenster gefallen und schwerst behindert war. Eine andere Schwester soll so schön gewesen sein, daß Künstler kamen, um sie zu malen. Sie ging mit einem Mann, den sie liebte, nach Rußland. Mein Vater wollte Rabbiner werden, doch an Studium oder Weiterbildung war unter diesen Umständen nicht zu denken. Er mußte Geld verdienen. Nach der mittleren Reife besorgte ihm Rabbiner Cahn eine Anstellung in dem kleinen Papiergeschäft und der Kartonagenfabrik seines Bruders Julius Cahn. Es standen nicht viele Arbeitsplätze zur Auswahl, denn das Unternehmen mußte bereit sein, auf seine orthodoxe Lebensweise Rücksicht zu nehmen. So fiel die Wahl auf das Papier- und Kartonagenwerk Cahn und damit auf Mainz, zusammen mit Worms und Speyer einstmals das Zentrum jüdischen Lebens in Deutschland. Die Stadt, in der ich zur Welt kam und in deren Dialekt ich noch Jahrzehnte später verfalle, ohne es zu merken, kaum daß ich deutschen Boden betrete.

Es ist nicht nur die Sprache, die Trepp bis zu seinem Lebensende als Rheinländer ausweist. Wenn es stimmt, dass Landschaften die Menschen prägen – und dass es nicht von der Hand zu weisen ist, lassen Dichter und Philosophen erahnen, die über diesen Zusammenhang sinnieren, und darüber, wie stark ihr Denken von Aufenthalten an bestimmten Orten beeinflusst worden ist, an erster Stelle wohl Goethe, der ohne Italien ja ein anderer wäre – wenn es also wahr ist, dann sollte Mainz, ja, diese ganze Region, ein wenig genauer in den Blick genommen werden. Vor allem der Rhein. Leo Trepp hatte eine emotionale Bindung an ihn, die ich nie bis ins Letzte habe ergründen können. Noch in hohem Alter saßen wir an lauen Sommerabenden am Fluss und schwiegen einfach. Mein Mann paffte seine Zigarre, schaute den tiefgehenden Schleppern und den Vergnügungsdampfern hinterher: „Die Linie gab es schon, als ich noch ein Kind war“, sagte er dann oder: „Dahinten, man sieht es von hier nicht, lag die Badeanstalt, da hat mein Vater mir das Schwimmen beigebracht. Da war ich sieben oder acht. Du weißt doch, dass Eltern ihren Kindern das Schwimmen beibringen müssen, oder? So sagt es der Talmud.“ Oft schwieg er einfach. Oder erzählte. Von Spaziergängen. Von Ausflügen nach Wiesbaden. Und von Menschen, die seit jeher am Rhein gelebt hatten. Ich dachte damals und denke heute noch viel mehr, dass es vor allem diese Menschen waren, denen Leo sich seelenverwandt oder zumindest tief verbunden fühlte.

Er liebte das heitere Element des Rheinländischen, die Leichtigkeit, die Herzlichkeit und den Wortwitz. Wir haben oft gescherzt, dass die größte Ehrung, die ihm zuteil wurde, der Mainzer Karnevalsorden gewesen sei, den er mit 92 Jahren verliehen bekam, nach einer Nacht, in der ich zwischenzeitlich eingenickt war, weil all dies Schunkeln und Trinken dann doch sehr anstrengend ist, wieder aufschrak und meinen Mann neben mir sitzen sah, strahlend, Arm in Arm mit seinem Nachbarn zur Rechten und mit irgendeiner Kappe mit Glöckchen auf dem Kopf. Dazu muss man schon als Rheinländer geboren sein. Und ob er über die Wichtigkeit der Ehrung nur im Scherz gesprochen hat, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Der Schalk saß ihm im Nacken. Einem Journalisten sagte er einmal: „Sie wissen doch, es gibt die Meenzer, und dann gibt es den Rest der Menschheit.“

Seit Jahrhunderten hatte es Juden gegeben, die Mainzer waren und Rheinländer in anderen Orten. Einige von ihnen, allen voran die Kölner Gemeinde, waren bereits mit den Römern ins Land gekommen. Trepp sprach oft von ihnen, und er schrieb darüber, dass nur ein Jude, Heinrich Heine – und für meinen Mann war er trotz der Konversion zum Christentum immer der Jude geblieben, der trauerte, dass ihm der Übertritt keineswegs den Eintritt in die Mehrheitsgesellschaft geebnet habe und dass nun nicht nur Christen, sondern auch die Juden auf ihn herunterschauten –, dass also nur dieser Jude die Loreley habe dichten können. In der sich ihrer selbst sicheren, blonden Jungfrau sah Trepp Deutschland und in dem kleinen, sehnsuchtsvollen Schiffer auf seinem Kahn den Juden. Und er muss daran gedacht haben, wie zerstörend es immer wieder endete, tödlich oft. Mitten in unser Schweigen hinein sagte er dann: „Während der Kreuzzüge war der Rhein rot von dem Blut der Juden.“ Über die Beziehung der Juden zum Rheinland und zur jüdischen Bedeutung der Stadt Mainz erzählt er selbst:

Erinnere ich mich an meine Jahre in Mainz, sehe ich den Rhein vor mir. Mit ihm verbinden sich Kindheitserinnerungen, aber auch Erinnerungen, die auf Gedanken und Erzählungen beruhen, die mir überliefert worden sind. Ich fühle mich mit Mainz verbunden, weil ich den Rhein liebe, der die Stadt durchzieht und auf alles ausstrahlt. Er gibt der Stadt, zusammen mit den umgebenden Weinhängen, etwas Warmes und Beständiges und gleichzeitig Leichtes und prägt so die Atmosphäre und die Menschen. Und ich bin stolz, ein Mainzer Jude zu sein, denn die Stadt hat eine jüdische Geschichte, auf die man stolz sein kann. Die jüdische Gemeinde war reich an heiliger Tradition, an schöpferischen Gestalten und geistigen Werten. Nicht nur einmal wurde die Gemeinde zu ihren Blütezeiten zerstört. Es begann mit den Verfolgungen während der Kreuzzüge und der Pest und endete mit der Vernichtung durch die Nationalsozialisten. Wenn ich heute am Rhein sitze, denke ich an Spaziergänge mit meinem Vater und erste Schwimmversuche. Und ich denke an die Liebe der Juden zu dem Fluß.

Sie siedelten im frühen Mittelalter überall entlang des Rheins, oft angeworben von den Fürsten, die ihre Handels- und Geschäftsfähigkeiten schätzten. Viele von ihnen bauten Wein an. Die Beziehungen zwischen ihnen und den Christen waren meist anständig, wenn es auch immer wieder Spannungen gab. Doch das veränderte sich mit dem ersten Kreuzzug. Vor ihm waren die Juden zwar gewarnt worden, doch hatten sie die alarmierenden Nachrichten ignoriert, die aus Frankreich zu ihnen kamen. Sie konnten nicht glauben, daß sie – einige seit Hunderten von Jahren Rheinländer – getötet werden würden, allein wegen ihrer Religion. Doch genau das passierte. „Unsere Freunde von gestern tun heute, als kennten sie uns nicht mehr und hätten uns nie gekannt“, beklagt einer der Kalonymus Brüder, die der hochangesehenen Gründerfamilie der Mainzer Gemeinde angehörten. Zu Tausenden metzelte die christliche Meute, unter ihnen Frauen und junge Menschen, die jüdischen Bürger hin, wenn sie die Taufe verweigerten. Viele Juden wählten den Freitod, um der Taufe zu entgehen, Väter und Mütter töteten ihre Kinder, bevor sie selbst in den Tod gingen. In Mainz hatte der Bischof die Juden während des ersten Kreuzzuges im Frühsommer 1096 in seinem Palast zu schützen versucht, auch manche Geschäftsfreunde jüdischer Mainzer nahmen die Verfolgten auf und versteckten sie vor den sich nähernden Horden. Und andere Mainzer Bürger traten – zusammen mit den Soldaten des Bischofs und des Burggrafen – den Kampf gegen die Kreuzfahrer an. Doch die meisten Mainzer widerstanden der Versuchung nicht, die Juden zu töten und ihre Besitztümer zu plündern. In wenigen Tagen töteten die Vandalen über tausend Mainzer Juden. Es gibt eine Kina – einen Trauergesang – des Rabbi Kalonymus ben Judah für die Opfer des ersten Kreuzzuges in Mainz, Worms und Speyer. In ihr schildert Kalonymus das Schicksal der Juden in Worms, die sich zu Schawuot, dem Fest der Übergabe der Tora, zum Gottesdienst versammelt hatten, als die Kreuzfahrer in die Synagoge eindrangen. Die Juden hielten nicht inne und sangen das Hallel, den Lobgesang Gottes, während die Kreuzzügler einen nach dem anderen abschlachteten. Das einzige Vergehen der Juden war ihre Treue zu dem einen und einzigen Gott, für ihn starben sie den Märtyrertod. Die Juden weltweit gedenken auch dieser Massaker an Tischa b’Aw, einem Fasten- und Trauertag, an dem wir uns an die Zerstörung der beiden Tempel erinnern. Und egal, in welcher Synagoge ich an Tischa b’Aw bin, ich bitte stets darum, diese Kina lesen zu dürfen, und sie erschüttert mich jedes Mal auf ’s Neue.

In den Jahren des ersten Kreuzzuges war Mainz, zusammen mit Speyer und Worms, ein Zentrum blühenden jüdischen Lebens. Hier lebten Gelehrte wie Rabbenu Gerschom, 960 geboren, der das „Licht der Diaspora“ genannt wurde und dessen Verordnungen im gesamten Judentum Anerkennung fanden. Er änderte die Religionsgesetze für die europäischen Juden, was einer Revolution gleichkam. „Nicht länger sollt ihr nach Babylonien schauen, wenn ihr Fragen habt oder eine religionsgesetzliche Entscheidung wollt“, trug er den Juden auf. „Wir haben unsere eigene Gemeinschaft hier. Kommt zu uns und fragt.“ Die Juden sollten nicht mehr maßgeblich von einer Gemeinschaft beeinflußt sein, die mit ihren Lebensumständen wenig zu tun hatte. Rabbenu Gerschom erließ Verordnungen für das nördliche Europa und die hier lebenden aschkenasischen Juden, die ihrer aufgeschlosseneren Kultur entsprach: Den Frauen sprach er mehr Rechte bei Scheidungen zu, er führte das Briefgeheimnis ein, und den Geschäftsleuten gab er eine Ethik an die Hand, die sie in der Wirtschaftswelt leben konnten. Rabbenu Gerschoms Denken und Haltung waren offen in einer Weise, die prägend für das deutsche Judentum werden sollte. In Mainz wirkte später sein Schüler, Rabbi Yaakov ben Yakar, der wiederum der Lehrer Raschis wurde, des größten Kommentators der Tora, ohne den es den Talmud, so wie er ist, nicht gäbe. Raschi kam aus Frankreich, um in Mainz und dann in Worms zu studieren, und man sagte über ihn: „Alles, was er geworden ist, verdankt er dem Einfluss seines Lehrers.“

Schon Gerschom hatte nicht nur gelehrt, sondern religiöse Poesie geschrieben, nach ihm kamen andere Poeten nach Mainz, deren liturgische Gesänge noch immer in der ganzen Welt im Gottesdienst vorgetragen werden. So ist hier das Gebet „Unetane tokef “ im Mittelalter in die poetische Form gebracht worden, in der es heute in jeder Synagoge auf der Welt zum Neujahrsfest gesprochen wird. In Mainz bildeten große Jeshivot – Talmudhochschulen – weltberühmte Rabbiner aus. Auf dem alten jüdischen Friedhof in der Stadt, dem „Judensand“, finden sich noch immer tausendjährige Grabsteine bedeutender Talmudlehrer.

Als Leo Trepp am 4. März 1913 geboren wird, leben rund dreitausend Juden in Mainz, und allein die Zahl der Synagogen bezeugt das rege jüdische Leben, das in seiner Vitalität eine weit größere Gemeinschaft vermuten lässt. Das Buchgeschäft „Magenza“ verfügt über eine solide Auswahl an Literatur, und das jüdische Krankenhaus zieht auch Nichtjuden an. In ihm praktiziert ein Arzt, der Prostataoperationen nur in diesem Krankenhaus durchführt und der so gut ist, dass alle auf Terminen bei ihm bestehen. Der koschere Bäcker und Matzefabrikant Adler und die koschere Konditorei Steiermann zaubern Köstlichkeiten aus jeder Art von Teig. Es gibt ein koscheres Restaurant und zwei koschere Metzger, in deren Auslagen sich von Braten und Schwartenmagen bis hin zu Leberwürsten alles findet, was das Herz begehrt.

Viele Juden hatten sich in der Mainzer Neustadt niedergelassen. Im Jahr 1912 weihte die liberale Hauptgemeinde in der Hindenburgstraße die mächtige, im Jugendstil erbaute Neue Synagoge ein, „ein Symbol der jüdischen Gleichberechtigung und des jüdischen Bürgerstolzes“, wie Trepp Jahrzehnte später schreiben wird. Sie hatte eine Orgel, was den orthodoxen Juden dem Religionsgesetz gemäß verbot, dort zu beten. An den Zentralbau waren ein Vortragssaal und Schul-, Konferenz- und Versammlungsräume sowie Gemeindebüros und das jüdische Museum angegliedert. Diese Einrichtungen nutzten sämtliche Mitglieder der Gemeinde, nicht nur die Liberalen. Bis auf einige Mauerteile brannte alles in der Pogromnacht nieder. Ein aus Resten der Eingangshalle bestehendes Denkmal hat lange an sie erinnert. An diesem Platz steht heute die neue Synagoge für die kleine Mainzer Nachkriegsgemeinde.

An der Ecke Flachsmarktstraße und Margaretengasse stand die im maurischen Stil errichtete große Synagoge der „Israelitischen Religionsgesellschaft“, der traditionellen Juden, die keine Orgel hatte. Das ist die Synagoge, in die Leo Trepps Eltern gehen, und mit der er aufwachsen wird. Eine kleine Tafel erinnert heute an sie und ihre Zerstörung.

lm Bezirk der Flachsmarktstraße und Schusterstraße, heute die Stadtmitte, lag einstmals das jüdische Ghetto. In der Gasse, die sich an die Synagoge anschließt, fanden sich zu Trepps Zeiten die jüdische Volksschule, nach dem Rabbiner Jonas Bondi im Volksmund ‚Bondischule’ genannt, die kleine Synagoge der osteuropäischen Juden, die hauptsächlich aus Polen kamen und ihr eigenes religiöses Leben führten, und ein großer Bau, in dem die Synagoge der „Bretzenheimer Kippe“, einer Vereinigung von Juden aus der Vorstadt Bretzenheim, und die Wohnung des ‚Sofer’, des Toraschreibers Zeitin, untergebracht waren. Im Keller des Gebäudes lag die Mikwe, das rituelle Reinigungsbad.

Kaiser, Krieg und Vaterland

Leo Trepp wächst in der Hindenburgstraße in der Neustadt auf, nicht weit von der liberalen Synagoge entfernt. Die Eltern haben lange vergeblich auf ein Kind gehofft, 1907 hatte seine Mutter eine Fehlgeburt. Erst sechs Jahre später kommt Leo Trepp zur Welt. So ist sein Vater bei seiner Geburt bereits Ende dreißig, seine Mutter dreiunddreißig Jahre alt – in dieser Zeit gilt sie als Spätgebärende. Maier Trepp hat seine Frau, Selma Zipora Hirschberger, im Haus seines Arbeitgebers kennengelernt, sie ist eine entfernte Angehörige der Cahns. Aufgewachsen in Oberlauringen, in einem Milieu ländlicher Frömmigkeit, sind ihr die Weltläufigkeit und Offenheit fremd, in der ihr Mann groß geworden ist. Bei den Cahns führt sie den Haushalt der Familie, wahrscheinlich, wie ihr Sohn Leo später mutmaßen wird, „als besseres Dienstmädchen“. Maier Trepp sah im Dienstmädchen den Menschen. In den Ehejahren muss Maier Trepp weiterhin auf vieles verzichten, um für andere da zu sein. Eine seiner Schwestern hat ein uneheliches Kind zur Welt gebracht und stirbt bald darauf. Den Neffen, Otto Trepp, lässt er im Frankfurter Waisenhaus aufnehmen. Bei Familienfeiern ist Otto dabei, doch Leo Trepp wird sich später fragen, warum seine Eltern, die so lange keine eigenen Kinder bekommen konnten, den Neffen nicht adoptierten. Er wundert sich, dass seine Tante, obgleich bereits Mutter, immer noch ihren Mädchennamen trägt, merkt aber schnell, dass dies ein heikles Thema ist. Als er seine Mutter fragt: „Ottos Mutter hieß doch Trepp, ja, warum heißt der denn auch Trepp?“ antwortet die: „Na ja, das ist eben so.“ Das Konzept der Patchworkfamilie gab es noch nicht.


Synagoge der neo-orthodoxen Gemeinschaft in Mainz

Jahrzehnte später werden mein Mann und ich für seinen Cousin Kaddisch sagen, nachdem wir an einem brütendheißen Sommertag im Jahr 2008 den Fries des alten Jüdischen Friedhofs am Börneplatz in Frankfurt mit allen Namen der Frankfurter Opfer abgelaufen sind und schließlich auf die Inschrift ‚Otto Trepp’ stoßen.

Eine weitere Schwester von Maier Trepp ist bei der Geburt des letzten Kindes gestorben, und Neffen und Nichten bekommen eine Stiefmutter, über die sie sich bei ihm ausweinen. Sein einziger Bruder, Abraham, besucht das Lehrerseminar in Hannover, und auch ihm bezahlt Maier Trepp die Ausbildung. Stets hinter ihm wachend stärkt ihm seine Frau den Rücken und tritt mit unbeugsamem Willen, von dem noch zu reden sein wird, für ihn und später ihre Kinder ein. Aufgewachsen mit Menschen, die körperlich schwer arbeiteten und für die das Erworbene oft gerade reichte, hat sie die Mühen des Daseins früh erfahren und besitzt den kämpferischen Geist, der Maier Trepp fehlt.

Schon im kommenden Jahr wird das Paar, wie alle Familien im deutschen Reich, in die Pflicht genommen. Anfang August 1914 ruft Wilhelm der Zweite seine Soldaten gegen Frankreich und Russland zu den Waffen, und die Männer strotzen vor Kriegsbegeisterung. Jeder will dabei sein, will es dem Feind zeigen, besonders die Franzosen sollen sich nur vorsehen. Schon bald werden sie dem glorreichen deutschen Heer gegenüberstehen. Und in kürzester Zeit, so die Überzeugung, werden die Truppen siegreich ins Land zurückkehren.

Maier Trepp wird sofort eingezogen. Sein Enthusiasmus ist gedämpft. Er ist über vierzig, sein Sohn gerade mal anderthalb Jahr alt. Nun soll er ihn fürs Schlachtfeld verlassen? Und obgleich er sich an seine Zeit als Einjähriger, also als Freiwilliger der preußischen Armee mit höherem Schulabschluss, immer noch als eine der schönsten seines Lebens erinnert, hat er erfahren, dass andere seine Hingabe und allen Einsatz nicht anerkennen. Dem Gesetz nach sind die Juden den Mitgliedern anderer Religionen endlich gleichgestellt. Die Wirklichkeit jedoch sieht anders aus, vor allem an Gerichten und Universitäten und besonders im Militär. Zwar verurteilen einige Offiziere den Antisemitismus, doch in den meisten Köpfen geistern die alten Ressentiments. Und die Gutwilligen beugten sich letztlich dem Diktat der Masse. Maier Trepp hatte als Kandidat für den Reserveoffizier gedient. Als seine zwölf Monate zu Ende gingen, rief sein Hauptmann ihn in sein Büro und sagte: „Herr Trepp, ich habe Ihnen einen Gefallen getan: Ich habe die Abschlussprüfung für die Offiziere an einem Ihrer Feiertage angesetzt.“ Maier Trepp entgegnete: „Was ist das denn für ein Gefallen?“ „Verstehen Sie mich doch recht“, sagte der Hauptmann, „wenn Sie die Prüfung machen, werden Sie natürlich bestehen. Und dann wird das Offizierskorps Sie als Juden ablehnen. Tun Sie sich und mir einen Gefallen, schreiben Sie einen Brief, dass Sie von der Prüfung befreit werden wollen, weil es ein Feiertag sei.“ So stand in seinem Militärpass: „Hat an der Offiziersprüfung nicht teilgenommen.“ Es traf ihn.

Umso bemerkenswerter erscheint ihm nun die Entscheidung seines Hauptmanns, der Trepp eigentlich der Schwerartillerie zugeteilt hatte, die Schleswig-Holstein gegen einen Angriff der Dänen verteidigen soll. Doch statt ihn dann in der Truppe dienen zu lassen, beauftragt er ihn damit, jeden Samstagnachmittag eine patriotische Rede an die Soldaten zu halten, zu deren Vorbereitung er die Nachmittage in der Woche frei bekommt. Auf einem Holzfass stehend, spricht Trepp zu der versammelten Truppe. Dieser Dienst macht ihm Freude. Hauptmann und Kameraden erbauen sich offensichtlich an seinen kleinen Vorträgen, und mit deren Vorbereitung ist er immer so schnell fertig, dass er endlich dazu kommt, die Bücher zu lesen, für die er bis dahin keine Zeit hatte.

Maiers Bruder hingegen brennt vor Eifer, in die Schlacht zu ziehen. Abraham Trepp, zwölf Jahre jünger und ungebunden, arbeitet mittlerweile an der jüdischen Schule in Quakenbrück. Und schon drei Tage nach der Mobilmachung hält er einen Abschiedsgottesdienst in der Synagoge, an der er neben seiner Lehrertätigkeit als Kantor fungiert. Seinen Gemeindemitgliedern schießen Tränen in die Augen, als er schließt mit den Worten: „Kämpfen wollen wir als Deutsche zum Ruhme des Vaterlandes und als Juden für die Ehre des Judentums.“ Auch Abraham hat es bitter enttäuscht, dass man seinen Patriotismus nicht schon während seiner einjährigen Dienstzeit anerkannt hat. War er nicht einer der gewandtesten Turner gewesen? Ein exzellenter Schütze? Und liebte er nicht seinen Kaiser? Dennoch, alle Kameraden waren beim Abgang zu Gefreiten, manche zu Unteroffizieren befördert worden. Er nicht. Nun wird er seine Hingabe erneut unter Beweis stellen können.

Seine Schüler und beinahe die ganze Gemeinde begleiten den Achtundzwanzigjährigen zum Bahnhof, von wo die Soldaten an die Grenze zu Frankreich transportiert werden. Während der Zug anzuckelt, singen die Soldaten „Deutschland über alles.“ Die geübte Tenorstimme von Abraham Trepp ist nicht zu überhören. Ihr Ziel ist Paris. Schon nach einigen Marschtagen fällt seinem Hauptmann die Schneidigkeit und Gewandtheit des Hobbyathleten auf. „Warum sind Sie nicht befördert worden während Ihrer Dienstzeit?“, fragt er ihn. „Herr Hauptmann, ich bin Jude“, ist die schlichte Antwort. Sein Gegenüber, sichtlich betroffen, antwortet nicht. Als sie ihr erstes Quartier aufschlagen, treibt es Abraham Trepp am nächsten Morgen in die Synagoge, doch einige französische Juden erklären ihm, dass man keine öffentlichen Gottesdienste abhalte, solange der Feind ihr Städtchen besetzt halte. Nach mehreren Gefechten mit hohen Verlusten marschiert die Kompanie weiter Richtung Marne. Es ist brütend heiß, und weil sie Angst haben, die Franzosen könnten das Wasser vergiftet haben, trinken sie kaum. Trepps Begeisterung kann das nicht dämmen, er meldet sich für riskante Aufgaben und erträumt sich den baldigen Einzug in Paris. Umso größer ist seine Enttäuschung, als der Befehl zum Rückzug kommt. Die Marneschlacht ist verloren. Es folgen zahlreiche Kämpfe und lange Märsche. Mittlerweile haben sich seine Füße entzündet. Sein alter Hauptmann ist längst gefallen, der neue kommt auf ihn zu und fordert ihn auf, in einem der Transportautos mitzufahren. Trepp lehnt ab. Auf keinen Fall will er den Juden als Drückeberger erscheinen lassen. Er kämpft weiter. Als sich ein anderer Soldat beklagt, sagt der Kommandeur, auf Trepp zeigend: „Nehmen sie sich ein Beispiel an Ihrem Kameraden. Mit solchen Soldaten werden die Deutschen siegen.“

Am 17. September meldet sich Schütze Trepp freiwillig dafür, den vorderen Posten zu stärken und Nachrichten zu übermitteln. Immer wieder robbt er zurück mit neuen Meldungen. Seine beiden Kameraden liegen schon tot neben ihm, umso mehr sieht er sich in der Verantwortung. Am 19. September explodiert unmittelbar neben seinem Beobachtungsposten eine Granate. Sie verwundet ihn schwer an Kopf, Rücken und Beinen. Er verliert sein Gedächtnis und ist blind. Nach vier Wochen im Feldlazarett bessert sich sein Zustand etwas. Als er das Bewusstsein wiedererlangt, überreicht ihm der Leiter des Lazaretts im Namen des Kommandos das Eiserne Kreuz als Auszeichnung für tapferes Verhalten vor dem Feind. Drei Monate später kann er wieder sehen, nach weiteren vier Wochen entlassen ihn die Ärzte.

Leo Trepp hat diese Geschichte – die der Verwundete übrigens nicht selbst aufgeschrieben, sondern die ein Soldat aus seiner Kompanie erzählt hat, und die im März 1915 unter der Überschrift „Ein jüdischer Lehrer als Kriegsheld“ im Israelitischen Familienblatt zu lesen war – manchmal in Diskussionen oder Vorträgen erzählt. Meist wenn Fragen kamen, die darauf schließen ließen, dass der Fragesteller die deutschen Juden als Gruppe definierte, denen vor der Schoah eine Art Gastrecht gewährt worden sei. Dass sie nicht dazugehörten. Trepp erwähnte dann seine Familie, die seit über fünfhundert Jahren in Deutschland gelebt hatte, als ihr Staat beschloss, sie zu töten. Und er erzählte von Abraham Trepp. Denn die Geschichte hat ein zweites Kapitel.

Zwanzig Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, kurz vor der Pogromnacht 1938, wird Leo Trepp seinen Onkel zum letzten Mal besuchen. Dessen ältester Sohn, ebenfalls ein Leo, ist bereits 1934 nach Amsterdam geflohen, Abraham Trepp ist also keineswegs blind für das, was in Deutschland passiert. Doch als sein Neffe fragt: „Wollt Du und Tante Clara nicht auch gehen?“, antwortet er: „Nein. Ich kann bleiben. Was ich dem Vaterland gegeben habe, was würde man mir denn tun?“ Er vertraut seinem Land. Wie andere Juden, die im Krieg gekämpft haben, glaubt er, dass es ihn anerkennen wird. Als Bürger. Als Veteran. Als jemanden, der bereit war, sein Leben für dies Land einzusetzen. Hat er die Soldatenzählung vergessen, mit der das Kriegsminsterium auf Druck von Antisemiten schon 1916 nachweisen wollte, dass Juden Drückeberger waren? Und die dann nicht veröffentlicht wurde, als sich herausstellte, dass über hunderttausend jüdische Soldaten an der Front dienten und über zwölftausend gefallen waren? Liest man, was Leo Trepp über die angeordnete Zählung schreibt, spürt man eine Enttäuschung und Bitterkeit, die sein Onkel ebenfalls empfunden haben muss. Doch Abraham Trepp kann auf diese Gefühle nicht achten. Er hat keine Wahl. Er muss vertrauen. Das Schrappnell wandert in seinem Körper herum. Erst 1932 kann man es herausoperieren. Bis dahin hatte er eine offene Wunde, die täglich neu verbunden werden musste, und die ihm kaum erträgliche Schmerzen bereitete. Seine Beine sind völlig zerschossen, er ist teilweise gelähmt. Er muss glauben, dass seine Hingabe anerkannt wird. Wie hätte er diesen kaputten Körper, wie hätte er die Jahre nach dem Krieg, wie hätte er ein weiteres Leben in Deutschland sonst aushalten können? Er liebt, und er muss hoffen, dass er wiedergeliebt wird.

Leo Trepp erzählt diese Geschichte im Nachkriegsdeutschland, weil sie ein kleiner Ausschnitt ist aus der Chronik der Liebe, die deutsche Juden mit ihrem Land verbindet. Und er erzählt sie, weil sich in ihr eines seiner Lebensthemen spiegelt. Warum hat sein Land ihn verraten? Warum kann er kein Deutscher mehr sein? Es ist auch seine eigene Verzweiflung über das Land, die sich in dieser Episode spiegelt. Die Liebe von Abraham Trepp bleibt unerwidert. Er und Clara Trepp werden in Auschwitz ermordet.

Als Leo seinen Onkel im Dezember 1917 sieht, leidet der noch frisch unter den Folgen seiner Verwundungen. Die Familie ist zusammengekommen, um die Brit Mila von Gustav Israel zu feiern, die Beschneidung von Leos Bruder, der in der letzten Woche wie vom Himmel gefallen plötzlich dalag. Die Eltern hatten Leo zwar erzählt, er könne einen Bruder oder eine Schwester erwarten, doch viel hatte er mit dieser Information nicht anfangen können. Eines Nachts aber hatte sein Vater ihn geweckt und ins Elternschlafzimmer getragen. „Du hast einen Bruder“, flüsterte er und hob seinen Ältesten über die Krippe. Im Körbchen sah Leo ein wenig rosa Stirn und winzige, geschlossene Augen.


Gustav Israel Trepp


Maier Trepp

Nun läuft er, inzwischen vier Jahre alt, aufgeregt zwischen den Erwachsenen hin und her. Er lehnt sich an Onkel Abraham, den er sehr mag: die braunen Augen, die ihn durch eine Nickelbrille anfunkeln, das spitzbübische Lächeln, und trotz des starken Humpelns erscheint ihm der Onkel jungenhaft. Sein allerliebster Onkel aber wird Onkel Julius werden, ein Bruder seiner Mutter, der auch in der Runde sitzt und zu dem sich bald eine enge und vertrauensvolle Bindung entwickelt. Julius Hirschberger hat vier Jahre lang er an der Front gedient und danach ein Weingeschäft gegründet, das offiziell seinen Sitz in Mainz hat, nämlich in der Trepp’schen Wohnung. So besucht er die Familie regelmäßig und verbringt alle Feiertage mit ihr. Er selbst lebt in Leipzig und hat seine Kunden in Sachsen. Eine Binger Firma, Feist und Reinach, beliefert sie unter seinem Etikett mit Wein und Likör. Gelegentlich klagt er darüber, dass ihm der jüdische Name Hirschberger Kundenkreise verschließt, die er zu gewinnen hofft, wenn auch mit einem wissenden Schulterzucken. Jeder weiß, dass der Antisemitismus in Sachsen weit verbreitet ist. Da kann man nichts machen. Dennoch bleiben ihm alte Kunden treu. Seine Ware ist exzellent, und das Geschäft brummt.

Onkel Abraham ist als Sandek, als Gevatter, der den Säugling bei der Beschneidung auf dem Schoß hält, aus Quakenbrück gekommen. Er arbeitet wieder als Volksschullehrer und betreut nun wegen des Lehrermangels nicht nur die jüdische, sondern auch die Gesamt-Volksschule. Für Leo ist die Zeremonie ein großes Ereignis und stolz fragt er seinen Vater: „Bin ich heute eine Hauptperson?“ Maier Trepp nimmt ihn auf seine Knie und sagt: „Du bist dabei, aber nicht ganz oben. Erst kommt das Kind, dann die Mutter, dann der Mohel, dann Onkel Abraham als Sandek, ich komme dann auch, und dann kommst du.“ „Bescheiden“, schreibt Trepp, „setzte er sich ans Ende, um mich dort nicht allein zu lassen.“

Auch wenn er sich an vieles aus seinen ersten Kindheitsjahren später nicht mehr genau erinnern wird, ist das Gefühl der Geborgenheit geblieben, das Maier Trepp ihm gab:

Mein Vater war der wichtigste Einfluß auf mein Leben, und meine Liebe für ihn ist heute so stark wie damals. Sie erhält mich und gibt mir Kraft. Er war ein stattlicher Mann, mit warmen, dunkelbraunen Augen und Schnurrbart und stets elegant gekleidet. Er sprach in einem ruhigen Tonfall. Selbst wenn ich vorlaut war oder mich nicht benahm, verlor er seine Ruhe und Geduld nicht. Eines Abends bei Tisch reizte ich ihn wirklich, er wurde ungehalten. Ich reimte und sang: „Väterchen, sei doch nicht bös, das Bravsein macht mich so nervös“, und er begann zu lachen. Wenn wir Strafe verdienten, erklärte er mir, warum ich nun Klapse auf meine Hand bekomme und wie viele es sein würden. „Das und das hast du getan, dafür mußt du die Verantwortung übernehmen.“ Er schlug einige Male mit seiner Hand auf meine Finger, und dann war es vorbei. Er trug mir nie etwas nach, und ich ihm auch nicht. Es wurde nie wieder darüber gesprochen. Er konnte sich gleich mit mir hinsetzen und mir eine Geschichte erzählen. Es war vollkommen vergessen. Er war kritisch manchen Menschen und Entwicklungen gegenüber, doch nie hegte er Vorurteile, und er kannte keine Bitterkeit, nicht einmal verlor er seine Milde. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß er jemals jemanden gehaßt hat. Er verzieh den Menschen schnell. Wenn er nach Hause kam, erzählte er meiner Mutter manchmal, daß dieser oder jener etwas zu ihm gesagt hatte, das er als ungerechtfertigt oder verletzend empfunden hatte. Nach solchen Angriffen war sein ganzer Rücken rot vor innerer Spannung. Doch zwei Wochen später erzählte er über denselben Mann: „Er hat mich um eine Gefälligkeit gebeten, die hab ich ihm auch gern getan.“ Und dann sagten wir: „Der hat dich doch erst vor zwei Wochen beleidigt!“ „Ach, das hab ich ganz vergessen!“ Und er hatte es wirklich vergessen. Etwas hob ihn über die Kleinlichkeiten und das Gezänk der Masse hinweg. Für mich trug er sein Leben lang den Geist der Aristokratie in sich, der mit der jahrhundertelangen Verantwortung – als Führer der Gemeinde in Fulda – in die Familie hineingekommen war, und dessen er sich selbst wohl nicht bewußt war.

Eine meiner ersten Erinnerungen geht zurück in eine Bombennacht im Jahr 1917. Ich war vier Jahre alt, mein Vater trug mich auf seinen Armen die Treppen hinunter in den Keller, ein Fenster im Flur stand offen, und ich sah einen blutroten Himmel. Meine Hände umklammerten seinen Kragen, die Bomben regneten auf die Stadt, und Soldaten antworteten mit Gewehrschüssen, auf den Straßen heulten die Sirenen, doch ich spürte den Schutz meines Vaters und fühlte mich sicher. Dieses Gefühl, seine Arme um mich geschlungen, hat mich ein Leben lang begleitet. Er trug seine Uniform. Zu dieser Zeit war er bereits nach Mainz zurückversetzt worden – man hatte erkannt, daß er gut schrieb und sprach – und leistete seinen Dienst in der Kaserne auf der Großen Bleiche. Dorthin brachten wir ihm sein Essen, wenn er vierundzwanzig Stunden Dienst hatte. Ich besuchte ihn gern in seiner schmalen Stube direkt am Eingangstor, doch das Glück währte nie lange, denn Besuche waren verboten. Später kam er in ein Militärbüro in Kastel auf der anderen Seite des Rheins. Mit ihm arbeiteten mehrere andere Juden, und am Schabbatnachmittag holten wir die ganze Gesellschaft halbwegs auf der Ernst-Ludwig-Brücke ab.


Selma Zipora Trepp

Trepps Mutter Selma Zipora ist schlank und hat ein hübsches Gesicht, doch in ihren Zügen spiegelt sich eine gewisse Härte, der „Gram des Schicksals“, wie Trepp schreibt.

Nach der Volksschule ist sie für ein Jahr in die Schule der katholischen Schwestern geschickt worden, um den „letzten Schliff“ zu erhalten, und geht dann als Haushälterin einer streng orthodoxen Familie nach Paris, bevor sie bei den Cahns anfängt. So perfektioniert sie ihr Französisch. Die Stadt jedoch mit ihren Vergnügungen und Versuchungen nimmt sie als Gefahr wahr für ihre tief religiöse Lebensauffassung. So sieht sie wenig von Paris, bleibt zu Hause und stärkt sich durch die Lektüre von Bibelkommentaren und religiösen Büchern. Sie trägt einen Scheitel, eine Perücke, wie damals alle orthodoxen Frauen, und niemals wäre sie ohne ihn durch eine Tür mit einer Mesusa gegangen. Zwischen den Betten der Eltern steht an manchen Tagen eine Barriere aus Karton, damit sie sich nicht unabsichtlich berühren, wenn Selma Trepp ihre Periode hat. Einmal kommt sie aus der Mikwe und ist schon fast zu Hause, als sie etwas Schmutz unter einem ihrer Fingernägel sieht. Sie geht wieder zurück, reinigt sich und taucht erneut in der Mikwe unter. Der kleine Leo beobachtet das alles mit Interesse, er hat großen Respekt vor seiner Mutter und liebt sie, doch eine intensive Nähe wie zu seinem Vater entwickelt sich zwischen den beiden nicht.

In den letzten beiden Kriegsjahren liegt Mainz unter heftigen Fliegerangriffen. Neben Gustav im Babykorb warten stets die Wohnungsschlüssel, eine Flasche Milch und eine Kerze. Sobald die Sirenen zu heulen beginnen, greifen die Erwachsenen Leo und den Korb und stürzen in den Keller, wo jede Familie ihre Stühle und Wolldecken hat. Die Gemeinde verteilt während dieser Jahre Gottesdienste zu den Hohen Feiertagen auf verschiedene Privathäuser, damit nicht mit einem Angriff eine ganze Synagogengemeinschaft getötet werden würde.

Dann ist der Krieg aus.

Ich erinnere mich an den Rückzug des deutschen Heeres durch die Kaiserstraße, wir alle strömten hin und standen versammelt, um den Soldaten Respekt zu zollen. Unser Nachbar, Herr Goldmann, ein Invalide mit einem Holzbein, humpelte über die Straße und fütterte die Pferde mit Würfelzucker. Damals gab es schon Nahrungsmittelmarken, er mußte den Zucker aus seinem kärglichen Vorrat gesammelt haben. Einige Tage nach dem Rückzug marschierte mit Trompetengeschmetter die französische Besatzungsarmee dieselbe Straße herunter. Wir blieben zu Hause.

Noch vor Ende des Krieges, Leo ist fünfeinhalb Jahre alt, beginnt sein Vater den Hebräischunterricht und fängt an, mit ihm Tora und Mischna zu lernen. In der Woche geht Leo nachmittags zu Julius Kissinger, dessen Neffe später Außenminister der Vereinigten Staaten werden soll. Nach einem halben Jahr fängt er an, das erste Buch Moses zu übersetzen. Maier Trepp übernimmt den Toraunterricht, wann immer er zu Hause ist, und erzählt seinem Sohn, wie die Rabbiner im Talmud versuchen, dem Ganzen einen menschlichen Sinn zu geben. Meist sieht der Vater seinen Sohn nur am Wochenende. Er ist als Vertreter unterwegs, sein Kundenkreis erstreckt sich über das deutsche Reich bis in die Schweiz.

Bald wurde mein Vater Prokurist, mit der Folge, daß er nun meist auch sonntags und an Kalenderfeiertagen für ein paar Stunden ins Büro mußte. Die Arbeit rieb ihn auf. Am Sonntagabend, oft schon am Sonntagmorgen, wenn es früh losging, packte meine Mutter die koschere Salami in den Koffer, vorher verstaute sie den kleinen Spirituskocher und Konserven. Denn nicht überall gab es koschere Restaurants. Am Montagmorgen, bevor mein Vater losfuhr, segnete er Gustav und mich. Wenn wir noch im Bett lagen, gab er uns den Segen im Schlaf.

Um Selma Trepp bei der Versorgung von Leo und Gustav zu helfen und um ihr Gesellschaft zu leisten, ist ihre Schwester Babette aus Oberlauringen zu ihnen gezogen. Leo liebt seine Tante heiß und innig, die, wie er schreibt, „immer tröstete, beruhigte und liebend sorgte“. Hochgewachsen, mit einem ebenmäßigen Gesicht, schlug sie mehrere Heiratsanträge aus, um bei „ihren Kindern“ zu bleiben. An ihren letzten Verehrer erinnerte sich Leo Trepp noch. „Er kam zu Besuch aus Jerusalem in die Gemeinde, und ich mochte ihn.“ Doch er ist froh, dass Tante Babette sie nicht verlässt.

Wann immer es ihm möglich ist, verbringt Maier Trepp Zeit mit seinen Söhnen. Gustav macht bald deutlich, dass er die Begeisterung des Vaters für Kunst und Kultur nicht teilt. Leos Interesse ist dafür umso größer. Der Vater liest ihm vor und erzählt ihm vom großen Rabbiner Rashi, er betrachtet Bildbände mit seinem Sprössling und erklärt die Unterschiede zwischen Barock und Renaissance, Romantik und Biedermeier, und warum er Richter und Spitzweg mag. Bald ermahnt er Leo nicht mehr, während des Essens die Ellbogen vom Tisch zu nehmen. Stattdessen sagt er „Sixtinische Madonna“, und Leo zieht die Arme zurück, denn er sieht die zwei Engel von Raffael vor sich. Zumindest einmal in seinem Leben müsse er die Madonna in Dresden besuchen, trägt Maier Trepp seinem Sohn auf, der das Versprechen 2008 einlöst. So lernt der kleine Leo Rembrandts Mann mit dem Goldhelm sowie Spitzwegs Landschaften kennen und stapft an der Hand seines Vaters in die Oper, während er gleichzeitig in die Volksschule geht. Die jüdische Bondischule macht ihm Spaß, wenn ihn auch der Unterrichtsstoff nicht besonders herausfordert. Allerdings hapert es in den ersten Jahren mit seiner Rechtschreibung. Dafür liest er nun fließend hebräisch:

Nach zwei Jahren hatte ich das erste Buch Moses beendet. Und meine Eltern richteten mir zur Feier des Sijums, des Abschlusses, mein erstes und einziges Kinderfest aus. Nun war ich wirklich einmal Hauptperson und genoß es. Herr Kissinger schenkte mir ein Buch mit Kindergeschichten von Heinrich Einstädter, die vorher im „Israelit“ abgedruckt worden waren. Einstädter hatte Verwandte in Oberlauringen, und bei seinen Besuchen hatte er meinem Bruder und mir versprochen, unsere Namen in seine Geschichten einzuweben, was er wirklich oft tat. Das Buch war also im doppelten Sinne mein Buch!

Leben in zwei Kulturen

Die Trepps leben das bildungsbürgerliche Leben vieler deutschen Juden in den Städten. Sie engagieren sich politisch, halten sich über Neues in Kunst, Kultur, Musik und Literatur auf dem Laufenden und unterstützen kulturelle Einrichtungen genau wie die religiösen. Während das religiöse Wissen der säkularen Juden dünn ist, erhalten die orthodoxen städtischen Juden neben ihrer geisteswissenschaftlichen Bildung eine umfassende jüdische Erziehung. Im Jahr 2015 hielt David Ellenson, früherer Präsident des amerikanischen Reform-Seminars „Hebrew Union College“ und anerkannter Experte für das deutsche Judentum, einen Vortrag an der Boston University zu Ehren von Leo Trepp. Das Thema lautete „Wie Deutschland das moderne Judentum schuf“. Ellenson sprach über die deutsche Reformbewegung, die dann in die Vereinigten Staaten kam. Über Menschen wie Leopold Zunz, Abraham Geiger, Samson Raphael Hirsch und Zacharias Frankel. In der anschließenden Diskussion wurde klar, wie wenige Zuhörer sich diese Persönlichkeiten heute noch vorstellen konnten. Juden, die vollkommen in zwei Kulturen zu Hause waren, die mühelos von einer in die andere wechselten und Mendelssohns Philosophie genauso bedachten wie Kants, die aus der einen Welt heraus Entwicklungen in der anderen bewerteten, Geschehnisse in Beziehung setzten und wechselseitige historische und philosophische Einflüsse sahen. Die in der einen Minute Shakespeare und Lessing verglichen und in der anderen die mittelalterlichen Lehrer Maimonides und Rashi. Vielleicht würde man solche Menschen in unseren Tagen spirituelle oder religiös-intellektuelle Kosmopoliten nennen. Als die Rede auf Leo Trepp und damit auf die heutige Zeit kommt, sagt Ellenson: „Menschen wie Rabbiner Trepp werden nicht mehr gemacht.“

Dass dies überhaupt einmal möglich war – dass es auch für fromme Juden möglich war, sich mit weltlichen Herausforderungen und Ideen ebenso auseinanderzusetzen wie mit talmudischen Fragen – ist dem Rabbiner und Reformer Samson Raphael Hirsch zu verdanken. Seinen Einfluss auf das orthodoxe Judentum in Deutschland und auf Leo Trepp kann man nicht überschätzen. Für die meisten deutschen Juden bedeuteten die ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts stetige Veränderungen. Die Besatzung durch die Truppen Napoleons hatte ihnen in weiten Teilen Westdeutschlands für einige Jahre Emanzipation und Bürgerrechte gebracht, bis sie nach dem Abzug der französischen Truppen 1814 flugs wieder zu Bürgern zweiter Klasse wurden. Dennoch hielt die innerjüdische Aufbruchstimmung an. Man begriff das Judentum nur noch als Religion, nicht mehr als etwas Nationales. Allein Deutschland sollte Heimat sein. Und das wollten die Juden nun auch zeigen, in Sprache und Kultur ebenso wie in der Gestaltung des Gottesdienstes. Einige Anhänger der Reformbewegung erstrebten nicht nur die politische Gleichstellung der Juden, sondern eine radikale Änderung der Gottesdienste. Sie schafften Gebete ab, führten die Orgel ein, überließen es den Einzelnen, bestimmte Gebote zu befolgen, und einige wollten so weit gehen, den Schabbatgottesdienst auf den Sonntag zu verlegen.

Für Hirsch dagegen, der 1808 geboren wurde und 1888 starb, waren und blieben Tora und Halacha der Maßstab für das jüdische Volk. Gleichzeitig dachte er modern: Er begrüßte die Emanzipation der Juden als Geschenk, weil sie so Gott noch besser dienen können. Und wie die Vertreter der Reform auch, setzte er sich dafür ein, dass gläubige Juden und künftige Rabbiner studieren sollten, weil es die Berufschancen verbessern werde, etwas, das bis dahin bei den Orthodoxen nicht akzeptiert war und vielen Juden im Osten Europas unerhört schien. Zu derselben Zeit, als Hirsch seine Philosophie formulierte, schrieb sein orthodoxer Kollege in Breslau, Salomo Tiktin, wer immer die Hallen einer Universität betreten habe, sei es nicht wert, als Rabbiner zu dienen. Hirsch selbst besuchte kurzzeitig die Universät in Bonn, wo er mit seinem Kommilitonen und dem späteren Führer der Ultra-Reform, Abraham Geiger, Freundschaft schloss. Hirsch sah den Platz der Juden in der Mitte der Gesellschaft. Sie müssen die jüdischen Religionsgesetze strikt befolgen, doch darin sah er keinen Widerspruch zum Deutschsein. Im Gegenteil. Die Tora gebiete den Juden, die Nichtjuden zu lieben, ihnen gegenüber gerecht zu handeln, jedes Leben zu achten. Die gesamte Erde zu schützen sei ihre Pflicht, einschließlich der Planzen und Tiere.

Hirsch glaubt, dass Verantwortung und Pflicht der Juden darin liegen, den Mitmenschen durch die Einhaltung der Gebote das Potential einer menschlichen, von Gott geliebten Gesellschaft zu zeigen. „Der Wert des Judentums liegt darin, dass du durch das Judentum zum Menschen wirst.“ Juden sollen wahre Mitmenschen sein, mitfühlende Menschen, die den anderen mit aller Kraft beistehen. Der Jude soll – so schreibt es Hirsch in Die Neunzehn Briefe über Judenthum – „Hungrige speisen, Leidende trösten, Kranken helfen, Unversorgten Versorgung bringen, Unberatenen Rat, Unbelehrten Belehrung spenden, Entzweite vereinen, Segen werden, wie und wo Du kannst.“ Wenn die Juden alle Gebote einhielten und ihren nichtjüdischen Brüdern als bewusste Juden, als „Israel Mensch“ begegneten, würden diese den Wert und die Schönheit des Judentums erkennen. So sieht er in der gelebten Religiosität der Juden auch einen Weg, endlich als vollwertige Mitmenschen akzeptiert und geachtet zu werden. Zudem ruft der orthodoxe Reformer die Juden in seinen „Neunzehn Briefen“ auf, sich mit vollem Herzen der nichtjüdischen Kultur und Bildung zu öffnen und führt damit einen Aufruf des Propheten Jeremia sowie eine rabbinische Aufforderung im Talmud weiter. Seine Philosophie von „Tora im Derech Eretz“ – Tora in weltlicher Verbundenheit – bedeutet nicht nur, dass Juden alle staatlichen Gesetze zu beachten haben. Nein, sie sollen aktiv für das Wohl ihres Staates arbeiten und kämpfen: Gute Juden müssen gute Deutsche, müssen Patrioten sein.

Als ich mich nach dem Tod meines Mannes mit der Lehre von Hirsch beschäftige und seine „Neunzehn Briefe“ lese, muss ich immer wieder an Leo denken. Jeden Morgen legt er Tefillin, und in seinen letzten Wochen bekennt er vor dem Einschlafen seine Sünden, wie es Sterbenden vorgeschrieben ist. Er weiß nicht, ob er am nächsten Tag aufwachen wird, und es wäre unvorstellbar für ihn, in den Tod zu gehen, ohne diesem Gebot gefolgt zu sein. „Warum sind dir die Tefillin im Morgengebet so wichtig“, frage ich ihn irgendwann. „Das kann ich dir sagen“, erwidert er. „Den ganzen Tag über bin ich aktiv. Ich bin dein Partner, ich bin der Vater meiner Tochter, ich bin der Gelehrte, ich denke und schreibe. Doch wie tue ich das alles? Wie sehe ich meine Aufgaben und Verpflichtungen? Als was gehe ich sie an? Das ist es, was ich jeden Morgen tue. Ich vergegenwärtige mir, als was ich in die Welt hineingehe und was ich bin. Ein Jude.“

Ich habe manchmal an diese Antwort gedacht, wenn ich im Krankenhaus sah, wie es ihn in seinen letzten Tagen anstrengte, sich die Gebetskapsel um den Kopf zu legen und die Riemen um seinen Arm festzuziehen. Es gab mir Ruhe zu wissen, dass er etwas tat, was für ihn unerlässlich war. Doch wie tief Hirsch meinen Mann geprägt hatte und wie viel von dessen ‚Tora im Derech Eretz’ in seiner Antwort lag, erkenne ich erst beim Schreiben dieses Manuskripts. Trepp wird die Schwächen der neo-orthodoxen Gedanken später harsch kritisieren, sieht aber den bahnbrechenden Einfluss von Hirsch auf das deutsche Judentum als zu wichtig an, um den Wert seiner Lehre nicht anzuerkennen, selbst wenn sie ihm nicht weit genug ging. Dass Hirsch die deutsche Orthodoxie für immer verändert hatte, musste anerkannt werden. Zum zweihundertsten Geburtstag des Reformers schreibt Leo Trepp für die „Zeit“ eine Hommage an ihn. Sein Leben lang wird er Hirsch zitieren und dessen in der eigenen Zeit revolutionäres Denken bewundern. Maier Trepp wird seinem Kind auch in dieser Hinsicht zum Vorbild:

Mein Vater war dem Denken Hirschs mit ganzer Seele verhaftet. Er lebte in zwei Welten, die sich für ihn in idealer Weise verbanden: Tora und Talmud waren die Basis seines Daseins und ethischen Handelns, sie inspirierten ihn emotional und intellektuell, wie die Kultur des weltlichen Lebens ihn begeisterte und herausforderte. Er konnte aus beidem das Wesentliche herausziehen und es miteinander verbinden. Das eine vertiefte die Wahrnehmung des anderen. Er war, was Hirsch „Israel Mensch“ nannte, ein Mensch in der Fülle dieser Bedeutung. Und damit gab er mir das Ideal des deutschen Juden.

In Mainz hat der Gemeinderat unter Führung des liberalen Rabbiners Joseph Aub Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entschieden, eine Orgel in den Gottesdienst einzuführen. Daraufhin berufen die Mitglieder, die sich der Orthodoxie verbunden fühlen, 1854 Marcus Lehmann als ihren Rabbiner. Der erweist sich als so hervorragender Prediger, dass die Gemeinschaft schnell wächst und Stadtbaumeister Eduard Kreyßig ihre kleine Synagoge nach einigen Jahren umbauen und erweitern muss. Die anfänglich rund fünfzehn Familien nennen ihre Gemeinschaft „Israelitische Religionsgemeinschaft“. Doch mit der herkömmlichen Orthodoxie, die weiterhin in Osteuropa praktiziert wird, hat die deutsche Variante nicht mehr viel gemeinsam. Anders als Hirsch selbst, der noch vertreten hatte, dass die Orthodoxen aus einer Gemeinde, denen auch liberale Juden angehören, austreten und eine eigene Gemeinde gründen müssen, bleiben beide Gruppen in Mainz unter dem Dach derselben Gemeinde und teilen sich deren sonstige Einrichtungen. Dieses Modell der Einheitsgemeinde wurde an fast allen Orten in Deutschland übernommen. Die Mehrheit der deutschen Juden würde man heute wohl als konservativ bezeichnen, wie Trepp später sagt.

Beide Gruppen achteten einander, und in manchen Familien gehörten die Jüngeren der liberalen und die Eltern der orthodoxen Synagoge an. So kam Paul Simon, einer der führenden Rechtsanwälte in der Stadt, an den hohen Feiertagen stets für einige Stunden aus der liberalen Synagoge in unseren Gottesdienst, um mit seinem Vater, Eduard Simon, zu beten, der ein guter Freund meines Vaters war. Zwar teilten nicht alle Mitglieder der Israelitischen Religionsgemeinschaft die überschwengliche Begeisterung meines Vaters für Musik und Kunst. Doch Oper und Literatur waren ziemlich üblich. Vielleicht hatte der Alteisenhändler weniger Goethe gelesen als der Anwalt, doch Bildung erstrebten alle. Die meisten gingen zu den Vorträgen, die es in der Orgelsynagoge zu hören gab. Und zusammen mit den Liberalen gestaltete unsere Synagoge den alten Friedhof zum Denkmalfriedhof um. Verantwortlich dafür war der Rabbiner der Orgelsynagoge, Dr. Sali Levi, ein großer, stattlicher Mann mit einem langen rötlichen Bart und von imposanter Erscheinung. Persönlich stand er dem traditionellen Judentum nahe. Während des Krieges war er Armeerabbiner im Osten gewesen und hatte vielen der Juden des Ostens wertvolle Hilfe gebracht. Er war ein hervorragender Prediger, der mich beeinflußte, obwohl ich ihn nur bei Veranstaltungen und Beerdigungen hörte. Er veröffentlichte Studien in jüdischer Geschichte und engagierte sich im Kulturleben der Stadt, er war einer der Gründer der Mainzer Volkshochschule und ein würdiger Vertreter der Juden in der Öffentlichkeit. Als Kind imponierte er mir dadurch, daß er in Antwort auf meinen Gruß seinen Hut so tief herunterzog, als sei ich ein Würdenträger. Darin spiegelte sich seine Persönlichkeit, die sich in der Zeit der Verfolgung heroisch bewährte. Berufungen ins Ausland ablehnend, blieb er helfend bei seiner Gemeinde. Er diente allen. Erst im letzten Augenblick nahm er mit seiner Familie das Visum nach Amerika an, über Sibirien und China, denn der Krieg war bereits ausgebrochen und versperrte den direkten Weg. Am Tage vor der Abfahrt brach sein geschwächtes Herz, er erlag einem Herzinfarkt und wurde in Berlin begraben. Seine Familie entkam. 1996 besuchte ich sein Grab.

Hirsch hat allen Juden die Tür zur Welt geöffnet. Selbst der Frommste unter ihnen kann sich nun mit weltlichen Belangen beschäftigen, ohne sein Judentum verlassen zu müssen, wie es seit Mendelssohn viele Juden getan haben – besonders die Säkularen unter ihnen ließen sich taufen – oder sein religiöses Leben in der Gesellschaft zu verleugnen oder herunterzuspielen. Enthusiastisch begrüßen die Orthodoxen ihre neue gesellschaftliche Freiheit, die mit der religiösen Hand in Hand geht. Schon der bereits erwähnte erste Rabbiner der neo-orthodoxen Mainzer Gemeinde, Marcus Lehmann, hatte nicht nur promoviert, sondern Romane über jüdisches Leben in der Vergangenheit geschrieben, die er mit spannenden Zutaten wie Versuchung und Verrat, Liebe und Betrug anreicherte, und die Leo Trepp als Junge verschlang. Darüber hinaus veröffentlichte Lehmann die Wochenzeitung „Der Israelit“, die für Jahre den Ton in der orthodoxen Gemeinschaft angab, und schrieb Talmudkommentare. Zur Erholung ritt er mit seinem Pferd auf der Großen Bleiche aus, seine Kippa auf dem Kopf, und im Sommer schwamm er gern eine Runde im Rhein. Er war eine Erscheinung, die in Mainz jeder kannte. Leo Trepp erinnert sich an seinen Nachfolger und die neo-orthodoxe Gemeinschaft der eigenen Kindheit:

Nach Marcus Lehmann kam Dr. Jonas Bondi, der 39 Jahre lang bis zu seinem Tode die orthodoxe Gemeinde führte. Er war kein guter Prediger, vor allem, weil er eine sehr rauhe und heisere Stimme hatte. Aber er war uns ein lieber und besorgter Vater und einer meiner Lehrer, wir alle verehrten ihn. Wissenschaftlich war er als Herausgeber des Jahrbuchs der jüdisch-literarischen Gesellschaft tätig. Zum Gottesdienst trug er einen Talar, die Predigt hielt er auf deutsch. Die meisten Männer machten es wie mein Vater und trugen außerhalb des Hauses einen Hut, am Schabbat und zu Festtagen einen Cutaway und Zylinder. Später, als sie befürchten mußten, deswegen auf der Straße als Juden angepöbelt zu werden, deponierten sie ihre Zylinder in der Garderobe der Synagoge, wo Herr Schneider, der christliche Synagogendiener, sie ihnen vor dem Gottesdienst übergab. Die Frauen bedeckten ihre Haare mit einer Perücke und folgten somit der Tradition. Sie hatten allerdings ihren eigenen Kopf, wie mir Tante Babette schon als Kind zeigte. Meine Mutter ging jeden Tag in die Synagoge zum Nachmittagsgebet. Und eines Tages sagte Tante Babette, sie wolle mich mitnehmen. Als wir ankamen, ging sie aber nicht auf die Frauenempore, sondern gemessenen Schrittes in der Männersynagoge den Gang entlang an der Bima vorbei nach vorne hinauf zur heiligen Lade, in der die Torarollen aufbewahrt wurden, küßte den Vorhang und betete, und dann drehte sie sich um, sah uns alle an und ging mit derselben Ruhe zurück. Das war etwas Unerhörtes – und ich meine dies in der Bedeutung des Wortes, niemand hatte so etwas in Mainz je zuvor gesehen oder gehört. Die Männer schüttelten die Köpfe, doch niemand sagte ein Wort, und ich dachte: „Das ist mal eine ganz andere Tante, eine, die sich gleichstellt mit den Männern in ihrem Verhältnis zu Gott und zur Tora.“ Wie ich darüber gedacht habe, weiß ich nicht mehr, doch wahrscheinlich hat es mir gefallen. Immerhin bin ich ihrem emanzipatorischen Weg bald gefolgt.

Einige Wochen später kam meine Mutter später als sonst von dem Schabbatgottesdienst nach Hause und erzählte strahlend: „Wir haben noch ein Frauenminjan gehabt.“ An diesem Morgen hatte sich ein Quorum von zehn Frauen versammelt, und eine von ihnen hatte das Dankesgebet dafür gesagt, aus einer Notlage gerettet worden zu sein. Und die anderen hatten ihr segnend geantwortet. Ich habe meine Mutter selten so erfüllt und zufrieden gesehen, dankbar dafür, etwas gehabt zu haben, was mein Vater jeden Tag hatte.

Wenn ich an selbstbewußte Frauen in der Gemeinde denke, fällt mir die Frau von Rabbiner Bondi ein, die aus einer einflußreichen Familie kam und sich stets nach dem letzten Schick kleidete. Eines Morgens predigte Bondi gegen den Bubikopf, der besonders unter jungen Frauen sehr in Mode gekommen war. Die Predigt war nicht besonders gehaltvoll, hatte aber Folgen: Am nächsten Schabbat kam Frau Bondi mit einer knabenhaft kurz geschnittenen Perücke in die Synagoge. Ihr Mann konnte nichts dagegen sagen, denn nach wie vor folgte sie dem Gebot, ihre Haare in der Öffentlichkeit nicht zu zeigen, doch was sie von seiner Predigt gehalten hatte, war deutlich für alle zu sehen.

In unserer Gemeinde gab es ein starkes Gefühl der Verantwortung füreinander und für die Gesellschaft. Die Wohlhabenden konnten mehr geben als die weniger Begüterten – und sie taten es. Von allen respektiert war Isidor Reiling, ein Kunst- und Antiquitätenhändler, der in einem repräsentativen Jugendstilhaus in der Kaiserstraße wohnte, das die Stadt nach dem Krieg leider nicht wiederhergestellt, sondern abgerissen hat. Sein Geschäft lag in unmittelbarer Nähe zur Synagoge. Zusammen mit seinem Bruder betrieb er einen großen Handel und war immer noch als „großherzoglicher Antiquitätenhändler“ und „Hoflieferant“ bekannt, weil er vor dem Krieg nicht nur den Großherzog, sondern auch den Zaren als Kunden gehabt hatte. Der rußische Herrscher soll stets bei ihm eingekauft haben, wenn er zu Besuchen in Darmstadt weilte. Reiling war ein großer, etwas stämmiger, im Wesen feiner Mensch, hochgebildet und freundlich zu allen. Seine Familie hatte schon zum Bau der Synagoge beigetragen. Seine Frau, Hedwig Reiling, stammte aus einer angesehenen Frankfurter Kaufmannsfamilie, war eine stattliche Erscheinung und heute würde man sagen, sie war emanzipiert. Es hieß, daß sie getrennte eigene Bibliotheken unterhielten und daß sich Frau Reiling mit der Philosophie Kierkegaards beschäftigte. Außerdem arbeitete sie in der Leitung des Jüdischen Frauenbundes. Beide waren fromm und kamen regelmäßig zu den Gottesdiensten. An ihre Tochter Netty erinnere ich mich kaum, weil sie Mainz schon während meiner Kindheitsjahre verließ, um zu studieren.

Die meisten Kinder aus unserer Gemeinde gingen zur Universität, soweit die Eltern es sich leisten konnten, wie es bei den Reilings sicher der Fall war. Netty rebellierte bald und verließ die Jüdische Gemeinde. Sie sollte unter dem Künstlernamen „Anna Seghers“ eine bedeutende Schriftstellerin werden. Ihre jüdischen Wurzeln in Mainz hat sie immer anerkannt. Meines Wissens nach war sie als Mädchen mit Max Tschornicki befreundet, einem der Söhne unseres zweiten Kantors und Gemeindeschächters Jakob Tschornicki. Max studierte Jura, war politisch aktiv und wurde mit seiner Flucht aus dem Konzentrationslager Ostenhofen zum Vorbild für den Helden in Seghers Roman Das Siebte Kreuz. Als der Roman 1942 in Amerika erschien, lebten ihre Eltern schon nicht mehr. Isidor Reiling war 1940 gestorben, unmittelbar nachdem er seinen gesamten Besitz hatte zwangsverkaufen müssen. Frau Reiling wurde im Vernichtungslager ermordet, nachdem ihre Tochter vergeblich versucht hatte, sie aus Deutschland herauszubekommen.

Isaac Fulda, nach dem eine Straße in Mainz benannt wurde, hatte die Garantiebank in Mainz gegründet, die natürlich arisiert wurde und heute zu einem europaweit agierenden Kreditunternehmen gehört. Seine Frau war eine Freudin meiner Mutter. Beide sind mit ihrer Familie ermordet worden. Das einzige Zeichen seines Wohlstands war ein Brillantring am kleinen linken Finger. Es faszinierte mich als Kind, wenn der Ring in den Sonnenstrahlen, die durch die Synagogenfenster fielen, funkelte. Fulda war ein äußerst zurückhaltender Mann, diskret, fast schüchtern, er hat niemals von sich reden gemacht. So daß die Leute gesagt haben: „Der soll doch so reich sein, warum spendet der denn nie was?“ Was nur einige von uns wußten: Wenn das Geschäftsjahr der Gemeinde vorüberging, glich er das Defizit aus – jedes Jahr, ohne je darüber zu reden. Und gleichzeitig hat er der Stadt Mainz hohe Anleihen gegeben, wenn sie die brauchte. Diese Verbindung mit dem Land, die Verantwortung für den Staat und für das Gemeinwohl, waren immer da. Und mit ihnen kam die Hoffnung der Juden, daß irgendeines Tages diese Verbundenheit, diese Deutschheit, dieses Deutschtum anerkannt würden. Daß die Deutschen sagen würden: „Das sind Juden – das sind Deutsche, die nur anders glauben.“ Und damit hat man auch versucht, logische Argumente und Handlungen gegen den Antisemitismus zu setzen. Doch der Antisemitismus war irrational – eine von vielen geschürte Emotion.

Leo nimmt die schleichende Vergiftung der Bürger durch die völkische Bewegung in den frühen zwanziger Jahren nur indirekt wahr. Er hört, wenn die Eltern sich fragen, wer von den Nachbarn Antisemit ist, und wer nicht. Im Jugendstilhaus gegenüber den Trepps wohnt ein Landgerichtsrat, in dessen Kammer noch kein Jude einen Prozess gewonnen hat. Jeder weiß, dass die Pfarrer der Christuskirche, deren hohe Türme ihre Schatten auf das Wohnviertel werfen, Juden nicht leiden können. Und auch dem Neunjährigen entgehen die Worte nicht, die nun an manchen Wänden prangen: „Schlagt ihn tot, den Rathenau, die verdammte Judensau.“ Er wird den Sommertag nicht vergessen, an dem sein Vater ihm erzählt, dass Walther Rathenau ermordet worden ist. Die sichtbare Erschütterung des Älteren, seine belegte Stimme und das bleiche Gesicht prägen sich ihm ein. Den ganzen Abend über hört Leo seine Eltern debattieren. Er ist zu jung, um das Ausmaß und die Folgen des Verbrechens zu überblicken. Erst später wird er die Verzweiflung des Vaters einordnen, wird verstehen, dass in diesen Jahren die Weichen gestellt wurden für die Ereignisse, die sein eigenes Leben bestimmen werden.

Drei Mitglieder der Organisation Consul haben den jüdischen Reichsaußenminister regelrecht hingerichtet. Während des Krieges hat Rathenau den Rohstoffbedarf gesichert und in Verhandlungen nach dem Krieg die Position Deutschlands gestärkt. Dennoch beschuldigen die Rechten, einschließlich der konservativen Abgeordneten des Reichstags, ihn nach dem Krieg immer wieder der Illoyalität gegenüber Deutschland. Maier Trepp ist Mitglied der Demokratischen Partei, der Rathenau angehörte. Auch die Mutter hat die linksliberalen Demokraten gewählt, beide sind überzeugte Anhänger der Republik und gehen, wie später auch der zuständige Staatsgerichtshof, davon aus, dass die Attentäter den Juden Rathenau töten wollten. Allen ist nun klar, dass die Hass-Schmierereien nicht nur Worte waren. Nach dem Mord an dem Außenminister ziehen im ganzen Reich Hunderttausende durch die Straßen. Zum letzten Mal vor der Machtergreifung Hitlers protestieren die Deutschen in derart großer Zahl gegen die rechte Gefahr. Auch in Mainz demonstrieren Bürger, ein Jahr später werden sich einige von ihnen den Separatisten anschließen, die sich von der preußischen Herrschaft völlig befreien wollen; ein Unterfangen, das als recht kurzzeitiges Abenteuer enden sollte.

Wenn sein Sohn fragt, erklärt ihm Maier Trepp die Politik, manchmal liest er mit ihm Berichte in der Frankfurter Zeitung. Bald weiß Leo, wie wichtig Stresemann ist und wie bedeutend Rathenau war. Irgendwann in dieser Zeit muss er die Verehrung des Vater für den ermordeten Politiker übernommen haben. Wenn er Rathenau später als das Ideal eines guten jüdischen Patrioten beschreiben wird, eines Israel Mensch, hört man aus seinen Worten auch die ratlose Ungläubigkeit heraus, dass dies alles bald nichts mehr bedeuten sollte. Dass die Juden tun konnten, was sie wollten, ohne dass es einen positiven Eindruck bei den anderen hinterließ. Dass Hirschs Vision, eine Art von Verständnis oder sogar Liebe zu wecken, wenn der Jude seinen Geboten folgte und somit den anderen Menschen ein liebender Mitmensch war, auf Illusionen baute. Ernst Werner Techow, der das Täterauto gefahren hat, wird zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt, von denen er nur die Hälfte absitzt. 1930 wird ihn Reichspräsident von Hindenburg amnestieren. Selbst im Zuchthaus bekunden Bürger dem verurteilten Attentäter immer wieder ihre Unterstützung und Solidarität. Der Virus, wie Leo Trepp den Antisemitismus Jahrzehnte später in einer Rede vor dem Mainzer Landtag nennen wird, breitet sich aus. Eingepflanzt haben ihn die Mächtigen schon vor Jahrhunderten, sagt Trepp vor den Abgeordneten, genährt und immer wieder aktiviert, dabei an die Emotionen des Volkes appellierend, nicht an das logische Denken. Herrscher und Kirchenväter, Dichter und Denker, Philosophen und Politiker – allen erschienen die Juden als Sündenböcke bestens geeignet, wenn sich Probleme offenbarten oder anbahnten, mit denen sie nicht zurechtkamen.

Vom Glück des Lernens

In diesen Jahren hat der Virus in alle Kreise hinein zu wirken begonnen. Noch aber ist die Bedrohung nicht real. Noch geht es der Trepp Familie gut. Noch singt der kleine Leo auf der Hochzeit seines Onkels Julius, der endlich seine Braut gefunden hat, „Moschiach war da, und wir haben’s nicht gewusst“. Für den jungen Sänger scheinen die Zeiten so hell, als sei der Messias schon gekommen. Später wird er sagen: „Wie gut es uns tatsächlich gegangen war, wussten wir erst, als die Zeiten sich änderten und all das Unheil über uns hereinbrach. lm Laufe meines Lebens kam mir mein Lied immer wieder zum Bewusstsein.“

Er ist mittlerweile auf das Gymnasium gewechselt. Seine Tage folgen nun einem strikten Ablauf. Nach dem Morgengebet geht er von sieben Uhr fünfzig bis zwei Uhr nachmittags in die Schule. Dann isst er ein schnelles Mittagessen zu Hause und lernt von drei bis fünf täglich Tora, zweimal die Woche Talmud, beides über die Jahre mit wechselnden Lehrern. Um sechs sind die Hausaufgaben dran. Maier Trepp übt Latein mit seinem Sohn, Vokabeln und Rechtschreibung, und am Sonntag übersetzt er alle lateinischen Stücke der kommenden Woche ins Deutsche, und die deutschen Texte ins Lateinische, damit seine Frau Leos Hausaufgaben kontrollieren kann. Als die Klasse mit Bildbeschreibungen beginnt, hilft Maier Trepp dem Sohn, sein Auge für Kunst zu schärfen. Bald lernt Leo auch Französisch, für’s Üben zu Haus ist die Mutter zuständig. Sie muss gut sein, denn zu einer Zeit seines Lebens spricht Trepp Französisch ebenso fließend wie Deutsch. Nachdem die Familie zu Abend gegessen hat, setzt er sich noch einmal an die Arbeit. Über die Schule schreibt Trepp:


Abiturklasse von Leo Trepp (ganz links im Bild), auf der rechten Seite der Deutsch- und Englischlehrer der Klasse, Dr. Berghäuser

Unser Klassenlehrer in den ersten Jahren, Dr. Keym, gab uns sieben Stunden Latein in der Woche. Machte ein Schüler Fehler, mußte er sich neben ihn stellen. Während Keym ihn neu prüfte, ließ er seinen Rohrstock auf dem Gesäß des Jungen spielen, was die richtigen Antworten beschleunigte. Keym hatte im Krieg ein Bein verloren und lief mühsam mit einem künstlichen herum. Ich trug ihm oft die Tasche nach Hause. Konnten wir ihn bewegen, von seinen Kriegserlebnissen zu berichten, war die Stunde gewonnen. Er hörte nicht mehr auf. Für Chemie und Erdkunde war Dr. Mayer verantwortlich, mit einem Schmiß auf der Wange, der ihn als Corpsstudenten auszeichnete. Er war faul und hatte sich ein anderes Chemiebuch gekauft, aus dem er vorlas. Wir fanden den Titel, einige kauften das Buch, und von da an kamen die Worte von hinten, bevor er sie vorne aussprechen konnte. Dr. Seitz war ein genialer Biologielehrer, der von seinen Fahrten nach Norwegen erzählte und uns Diapositive zeigte. Ich vertraute ihm als Junge vollkommen und hörte mit Entsetzen, daß er sich als rabiater Nazi entpuppt hatte. Von unserem Englischlehrer, Dr. Berghäuser, ein kleines Männlein mit einem steifen Bein, lernte ich wenig, da er das Fach seit zwanzig Jahren nicht mehr unterrichtet hatte. Das half mir nach der Flucht, denn ich mußte nicht umlernen. Wir hatten ihn auch in Deutsch. Nachdem ich ihm einmal einen Vortrag über Lessing abnahm, weil er lieber Skifahren wollte, als sich vorzubereiten, und mir das Thema Spaß machte, brauchte ich mich bei ihm nicht mehr allzu sehr anzustrengen. Ich schätzte ihn um seiner Prinzipien willen. Er war Sozialdemokrat und vertrat Demokratie in der Schule und Klasse mit mutiger Überzeugung.

Jeden Tag mußten wir zu Beginn der ersten Unterrichtsstunde gemeinsam beten. Es gab zwei Gebete, die von der Schulbehörde vorgesehen waren, das kurze und das lange. Beide baten Gott um Hilfe, gut zu sein und gut zu lernen, das lange Gebet führte diese Bitte in Einzelheiten aus. Die jeweiligen Lehrer bestimmten, was wir in ihrem Unterricht zu sagen hatten. Dr. Keym wollte ausschließlich das kurze Gebet, das wir beginnen mußten, wenn er durch den Türrahmen schritt, und beendet haben, sobald er auf dem Podium hinter seinem Pult saß. Ein anderer schlug jedes Mal mit der Faust auf den Tisch und schrie: „Das Kurze“, wenn wir das lange Gebet begannen. Unseren Mathematiklehrer interessierte nicht, ob wir das lange oder kurze Gebet sagten. Er drehte sich demonstrativ um und sah, seine Hände auf dem Rücken verschränkt, aus dem Fenster, bis wir fertig waren. Demgegenüber bestand unser Zeichenlehrer, Herr Groß, ein frommer Katholik, auf das große Gebet. Er rief zum Schweigen auf und zur Konzentration, und dann ließ er beginnen. Alles ging gut, bis einer meiner Mitschüler einmal während des Betens einen Hustenanfall bekam. Sofort klopfte Herr Groß ab, wartete auf absolute Ruhe und ließ erneut starten. Von da an fielen Bücher von den Tischen, Stühle brachen zusammen, die Schüler machten sich eine Gaudi daraus, und manchmal „beteten“ wir eine halbe Stunde, bis er zufrieden war. Das Ganze wurde mehr und mehr zur Farce. Die Erfahrung mit unserem Schulgebet ist einer der Gründe, daß ich für die Trennung zwischen Staat und Religion eintrete. Sie voneinander abhängig zu machen, bringt Konflikte und hindert die eigenverantwortliche Auseinandersetzung mit religiösen und religiös-philosophischen Fragen, anstatt sie zu fördern. Wie sich bald herausstellen sollte, bewahrte die aufgezwungene Frömmigkeit weder Lehrer noch Schüler davor, sich der nationalsozialistischen Bewegung anzuschließen.

Wir haben viel und intensiv gelernt und galten beim Abitur als eine der besten Klassen, die je durch die Prüfung gegangen waren. Ich bin dafür dankbar, denn damit war ein Fundament für weiteres Lernen gelegt, das mir im Leben oft geholfen hat. Doch ich hätte mir die Vermittlung des Stoffes anders gewünscht. Es war ein konfrontaler Unterricht. Ein Monolog der Lehrer. Verbunden mit einem ungeheuren Leistungsdruck. Von Beginn an hatten wir neben Sprachen in den Naturwissenschaften Biologie, Physik und Chemie mit allen zu behandelnden Sparten und eine Ausbildung in Mathematik, die weit über das vorgeschriebene Maß hinausging, von Logarithmen über solide und sphärische Geometrie bis hin zu integraler Mathematik. Die Lehrer vergaben strenge Zensuren. Schon ein fehlendes Komma in Latein konnte die Eins verderben, und in einer Mathematikarbeit bekam ich einmal eine Zwei, obgleich ich alle Aufgaben richtig hatte, weil meine Lösung „nicht elegant genug“ war.

Doch um Menschen zur Verantwortung zu erziehen, braucht man das Gefühl, dazu berufen zu sein, muß man sich den jungen Menschen verpflichtet fühlen, muß ihnen gegenüber Verantwortung spüren. Was hätte man in dieser Zeit als engagierter Lehrer alles vermitteln können! Unsere Schulzeit fiel ja in eine Periode gewaltiger schöpferischer Spannungen, von Naturwissenschaften zu Musik, von Literatur zu Architektur und in Philosophie und Psychologie. Es war die Zeit von Richard Strauss und – wesentlicher – Schönberg, von Einstein und Heisenberg, von Thomas Mann, Kafka, Rilke, Brecht und, gewiß für uns in Mainz, Zuckmayer. Es war die Schaffensperiode von Picasso und Gropius und Jaspers und Freud. Alle diese Menschen rangen um eine neue Selbsterkenntnis, und zwar auf der Grundlage einer epochalen Herausforderung der Zeit: dem Ruf zur Autonomie und Selbstbestimmung durch die Demokratie und in einer Demokratie, im Gegensatz zu dem autoritären Paternalismus der Vergangenheit. Doch hier war die Kritik von Ernst Troeltsch berechtigt: Sei es aus Verbundenheit mit der alten Gesellschaftsordnung oder aus Angst vor dem Neuen: Die „gebildete Mittelklasse“ zog sich aus ihrer Verantwortung für die Demokratie zurück.

Diese Haltung spiegelte sich auch in der Schule wider, sie versagte sich der Herausforderung und blieb autoritär, nicht nur an der Spitze. Beinahe alle Lehrer versuchten, sich auf diese Weise Respekt zu verschaffen. So blieb uns in der Schule versagt, die Kunst des Dialogs zu erlernen. Dialog bedeutet ja mehr als ein Zwiegespräch, er bedeutet ein gegenseitiges Standhalten der Gesprächspartner zueinander. Er bildet die Grundlage offener Kritikfähigkeit und Auseinandersetzung, denn keiner der Partner in einem Dialog weiß, was der andere antworten wird, doch beide sind bereit, sich dem gegenseitigen Ausspruch zu stellen. Dieses Aufeinander-Bezugnehmen lernten wir nicht, das System war monologisch ausgerichtet: Der Lehrer gab, der Schüler nahm. Das monologische Denken ist ein gefährliches Denken. Denn der Lehrende wird nicht zur dauernd erneuten kritischen Beurteilung seines Denkens herausgefordert. So kann er zum Faulenzer oder Propagandisten werden, zum Diener einer erstarrten Idee. Den Empfangenden, den Schüler, führt das monologische Denken zu einer unkritischen Aufnahme dessen, was ihm vorgetragen wird, oder zur völligen Ablehnung, zur Rebellion. Er weiß nicht, daß es Alternativen zu diesen beiden überzogenen Reaktionen gibt. Denn Alternativen werden ja nur im Dialog geschaffen – durch Bezugnahme, durch Reden und Redestehen, durch Sprechen und Antworten.

Monologisches Denken führt zur Hoffnungslosigkeit, zu einem ungeprüften Leben, das, wie es Sokrates bereits sagte, ein lebensunwürdiges Leben ist.

Ich kann mich kaum an einen Lehrer erinnern, der sich auf das heranwachsende Kind bezogen hätte; bei dem man erkennen konnte, daß es ihm Freude machte, mit jungen Menschen in Beziehung zu treten; aus dessen Gesicht eine Freude gesprochen hätte, in den Dialog einzutreten und kleine junge Menschen zu großen jungen Menschen bilden zu dürfen. Es gab nicht einmal eine Bezugnahme auf die eigene Stadt. Wir sind nie in ein Museum gegangen, niemand hat versucht, mit Beispielen aus Mainz, einer Stadt, die prädestiniert dafür gewesen wäre, für uns den Geschichtsunterricht lebendiger zu gestalten. Niemand kam auf die Idee, einmal Martin Buber, den ich später kennen und schätzen lernte, aus Frankfurt oder Heppenheim einzuladen. Dabei war sein Buch Ich und Du die große Neuerscheinung. Keiner hat Paul Tillich eingeladen, den bedeutenden Theologen, der damals ebenfalls in Frankfurt war. So überließ man die Ausbildung der Schüler-Persönlichkeiten der Umgebung außerhalb der Schule.

Zu Hause ist Leo über die Woche mit seinem Bruder und den beiden Frauen allein. Selma Trepp ist streng mit ihrem Sohn. Vielleicht will sie die Abwesenheit ihres Mannes ausgleichen, vielleicht denkt sie, es sei für ihn das Beste. Ihr Ziel ist Perfektion. Als Leo einmal eine Drei in Mathematik nach Hause bringt, fährt sie ihn so an, dass er zu weinen beginnt und sich im Bad einschließt. Später erzählt sie es aufgebracht ihrem Mann, doch anstatt mit Leo schimpft der mit ihr. „Du bist zu hart, du darfst nicht so hart mit ihm sein“, hört Leo ihn im Wohnzimmer sagen, und sein Herz schlägt wieder höher.

Leo Trepp beschreibt seine Schule als post-wilhelminisch, seine Mutter als rigide. Wenn er schreibt: „Jeder Augenblick in meinem Leben war gefüllt mit Lernen und Pflichten. So bereiteten uns meine Eltern auf die Zukunft vor“, zeigt das zwar ein Verständnis für die Notwendigkeit des Lernens und die Disziplin, die es erfordert. Doch ich muss an etwas denken, das David Ellenson während seines Vortrags 2015 in Boston sagt. Er zitiert ein Gebet, in dem es heißt: „Die Worte der Tora sind unser Leben und wir werden nicht müde werden, sie zu lernen, Tag und Nacht, und Gottes Liebe wird nicht von uns weichen.“ Im deutschen Judentum, sagt der Gelehrte, sei Bildung das Ethos gewesen, das unbedingt eingehalten werden musste. „Und Rabbiner Trepp verkörperte die Liebe für das jüdische Lernen.“ Ich habe in diesem Moment meinen Mann neben mir im Gottesdienst sitzen sehen, jedes Wort der Toralesung auswendig mitflüsternd und, wenn es sein musste, den Vorbeter korrigierend. Ich erinnerte mich an Augenblicke, in denen er Talmudverse zitierte, Franz Rosenzweig und Hermann Cohen, ohne auch nur einmal nachzusehen. Er hatte eine Leidenschaft für Wissen, etwas, das auf weit mehr beruhte als auf Pflichten und Disziplin. Wenn man Leo Trepp traf, spürte man, dass Lernen für ihn etwas Existenzielles war. Etwas, das ihm Lebensfreude bereitete. Schon über die Zeit des Torastudiums als Sechsjähriger schreibt er:

Herr Kissinger lehrte mich ein Lied, das sich auf einen Absatz im Morgengebet zu Schabbat bezog: „Moses freute sich mit seinem Anteil, denn einen treuen Diener hast Du ihn gerufen. Eine herrliche Krone hast Du ihm aufs Haupt gesetzt, als er vor Dir auf dem Berge Sinai stand, und zwei steinerne Tafeln brachte er in seiner Hand herab, auf ihnen stand die Beobachtung des Schabbat.“ Herr Kissinger sang den Haupttext, und ich antwortete mit dem Refrain. Es war ein Spiel zwischen uns beiden, und doch habe ich das Gebet und unser Lied und die Freude daran niemals vergessen. Ich singe es bis heute auswendig.

Bis in seine letzten Wochen fand Leo Trepp Vergnügen daran zu fragen und zu wissen. Und weiterzufragen, um dann anders zu wissen. Und zu verstehen. Egal, ob es um neue Formen des Gottesdienstes ging, um unbekannte Philosophen, deren Ideen ihn reizten, oder um Gedichte einer radikalen Feministin – er wollte erforschen, warum. Warum taten Menschen, was sie taten? Warum dachten sie, was sie dachten? Warum waren Dinge, wie sie waren? Auch deshalb wohl reichten ihm die Erkenntnisse und Schlüsse von Hirsch bald nicht mehr. Er musste weitergehen, sich weiterentwickeln. Er musste weiterfragen. Und er hielt andere Menschen an, es ihm gleichzutun. Er respekierte Wissen und Bildung, er liebte beides und wollte es teilen. Knapp zwei Monate vor seinem Tod saßen wir mit der Vizepräsidentin der Mainzer Universität beim Abendessen am Rhein. Die beiden besprachen das Semester des kommenden Jahres. „Mikwe“, sagte mein Mann. „ich möchte mich gern einmal neu mit den Reinheitsgeboten beschäftigen.“ Er würde wie immer eintauchen in die Materie, neue Positionen sichten und alte auffrischen, um dann Erkenntnisse und Schlüsse so zu formulieren, dass seine jungen Studenten es verstehen würden. Den Dialog, den er in der Schule vermisste, hat er als Erwachsener stets geführt. „Wenn ich an deinen Mann denke, sehe ich ihn Freitagabends am Tisch sitzen, wenn ich bei euch zum Essen eingeladen war. ‚Hat jemand eine Frage’, sagte er nach dem Segen, und damit hat er uns alle reingenommen“, sagt ein nichtjüdischer Freund. „Er hat einem immer das Gefühl gegeben, dass es keine unwichtige oder dumme Frage gibt.“

Dieses Gefühl gab Leo Trepp Generationen von Studenten und Zuhörern. Nach seinem Tod schrieben mir Menschen, die ich nicht kannte, und die ihm vor zwanzig oder dreißig Jahren begegnet waren. Nicht nur über seine Bücher sprachen sie und wie sie durch sie beeinflusst worden seien. Sondern über ihn. „Professor Trepp hat mich so beeindruckt, dass ich beschloss, Lehrer zu werden“, schreibt einer. Andere danken ihm für ihre Liebe zu Mozart, zum Judentum oder zur westlichen Philosophie. Eine ehemalige Studentin sagt: „Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich meine Liebe zum Lernen wiederentdeckt und doch noch einen Universitätsabschluss gemacht habe.“


Leo Trepp liest aus der Tora

Es drängt ihn, etwas weiterzugeben, das für ihn selbst relevant ist, und in dem er Schönheit findet. Und er tut es auf eine Weise, die den Anderen berührt, in ihm etwas auslöst. Während unseres ersten gemeinsamen Strandurlaubs trinken wir nachmittags auf der Terrasse Kaffee. Es weht ein starker Wind, schwimmen ist unmöglich. Wie gerne würde ich jetzt irgendetwas unternehmen, nicht nur sitzen. Als habe er meine Gedanken gelesen, pinselt er zwei verwinkelte Haken auf die Rechnung und schiebt sie rüber. „Das ist ein Aleph. Sag’ mal Aleph und versuche, es selbst zu schreiben.“ Das tue ich. Er kritzelt ein weiteres Zeichen und schiebt es mir zu. „Bet. Sag’ Bet und schreibe es.“ So lerne ich das hebräische Alphabet in einer Woche. Das ist die Basis. Doch um sicherzustellen, dass ich weiterlernen will, beginnt er Gespräche, die oft in eine Lehrstunde münden. Er erklärt mir nicht nur die jüdische Gottesdienstordnung und den Sinn der Feiertage, er tut es so, dass ich eigene Fragen formulieren und, erstaunlicherweise, manchmal Antworten geben kann. Er singt mir Segens- und Gebetstexte vor und lässt sie mich nachsingen. Immer findet er heraus, was ich bereits kann und weiß, und baut darauf auf. Ich bin mir sicher, dass mir vieles nicht mehr so gegenwärtig wäre, wenn ich mir mein Wissen nicht selbst erarbeitet hätte, behutsam von ihm gelenkt. Für ihn war es unmöglich zu lehren, ohne einen Bezug zum Gegenüber herzustellen. Wenn der junge Schüler Leo dem Lehrer Berghäuser einen Vortrag über Lessing abnimmt, tut er das, weil er den Dichter liebt und weil er seine Liebe und das Wissen teilen, weil er für andere relevant machen will, was für ihn selbst relevant ist.

Disziplin, Frontalunterricht und die Strenge einer Mutter mögen notwendig sein, um die Informationsmengen zu verarbeiten. Wie aber lernt man, Wissen zu lieben? Lernen zu lieben? Ich weiß es nicht. Doch ich weiß, dass seine Haltung der Liebe zum Wissen gleicht, die ihm sein Vater vorgelebt und ihn gelehrt hat. Auch wenn er bis zur Bar Mitzwa wechselnde Privatlehrer haben wird, bleibt allein Maier Trepp wichtig:

Mein Vater öffnete mir die Türen zu den beiden Welten, in denen er lebte, und machte sie zu meinen. Er war der Mensch, der mir jenes Wissen vermittelte, das mich emotional und intellektuell nie verlassen hat. Meine jüdische Erziehung durchzog das ganze Leben. Wenn ich meinen Vater zum Gottesdienst begleitete, lag ihm nichts daran, daß ich alle Gebete in hebräisch sagte. „Lies langsam und mit Verständnis“, sagte er mir, „und wenn du das Gebet nicht verstehst, lies die deutsche Übersetzung. Es ist wichtiger, daß du weißt, was du betest, als daß du alles sagst.“ Er hatte eine Antwort auf jede Frage und achtete darauf, daß ich sorgfältig las. Das hat mir mein Leben lang geholfen, Zusammenhänge zu erfassen und Texte schnell zu verstehen. Er bestand nicht darauf, daß ich täglich zum Gottesdienst ging, sondern hielt mich lediglich zu besonderen Gelegenheiten dazu an. Es gab keinen Zwang, so ging ich gern. In späteren Jahren lernte ich jeden Tag Talmud mit unserem Rabbiner, Moses Bamberger. Er war ein bedeutender Talmudist und unsere gemeinsame Zeit hat uns beiden Freude gemacht und mir solides Wissen gebracht. Doch am schönsten war das Lernen mit meinem Vater.

Bei den Hausaufgaben ist Maier Trepp strikt wie seine Frau. Die Schule vermittelt Wissen, das Leo braucht, um im Leben zu bestehen, und dem er Respekt schuldet und ungeteilte Aufmerksamkeit. Selbst als die Franzosen den Besitz von Radios erlaubten, will sein Vater keines kaufen. Er sagt: „Wenn du Musik hören willst, gehe in ein Konzert. Doch wenn du arbeitest, dient das Plärren keinem Zweck. Du lernst weder die Musik, noch konzentrierst du dich auf die Arbeit.“ Gleichzeitig unterstützt er seinen Sohn darin, sich auch außerhalb des Schulbetriebs zu orientieren; neue Komponisten kennenzulernen, neue Autoren.

Wann immer ich in die Oper oder in ein Schauspiel wollte, konnte ich gehen. Nicht auf die teuersten Plätze natürlich, doch mein Vater zahlte. Anfangs ging ich nicht gern allein in Konzerte, dafür aber so oft ins Theater, daß mich die Mitarbeiter als Stammgast ansahen und manchmal umsonst reinließen. Wenn es sich einrichten ließ, besuchten mein Vater und ich die Oper zusammen. Einmal, ich war schon älter, brachte mir ein Freund, der Sohn eines Theateragenten, an einem Abend im Winter eine Karte für Lohengrin in die Synagoge. Ich kannte die Oper nicht und die Aufführung begann eine halbe Stunde nach Ende des Gottesdienstes. So standen mein Vater und der Cousin meiner Mutter, Jakob Lonnerstädter, für zehn Minuten an meiner Seite. Der eine flüsterte mir die Handlung in ein Ohr, der andere die musikalischen Elemente ins andere.

Mein Vater ermunterte mich, viel zu lesen und ging mit mir in die Stadtbibliothek, um mich dort einzuschreiben. Für jedes Buch benötigte man einen von einem Erwachsenen unterschriebenen Leihschein. Ich hatte ein Riesenbündel davon. Ich habe nie herausgefunden, ob meine Eltern kontrolliert haben, was ich las. Wahrscheinlich. Doch gesagt haben sie nur etwas, wenn Bücher offen herumlagen. Elias Auberbachs Wüste und Gelobtes Land über die Geschichte Israels interessierte mich, mein Vater sah es als zu bibelkritisch an. Er verbot mir nicht, es zu lesen, riet aber davon ab, da es aus seiner Sicht häretisch sei. Ich habe es nicht gelesen.

Maier Trepp wurde über die Jahre ein Teil unseres Lebens. Immer noch, wenn ich Fidelio sehe oder eine Kritik darüber lese, denke ich: „Beethoven hat nur eine Oper geschrieben – aber es war Fidelio.” Das hat Maier Trepp seinem Sohn in den dreißiger Jahren gesagt. Es faszinierte mich, wie nahe Leo Trepp seinem Vater sechzig Jahre nach dessen Tod noch war. Manchmal, wenn er von ihm erzählte, habe ich mich gefragt, ob er ihn idealisiert. Ob es denn nichts gab, das er an ihm hätte kritisieren können. Und wenn ich ihn danach fragte, nannte er durchaus den einen oder anderen Punkt. Nach Leos Tod verstehe ich besser, wie es ihm mit seinem Vater ging. War ich immer einverstanden mit ihm? Nein. Ist er mir manchmal auf die Nerven gegangen? Sicher. Wenn sein Tabak sich auf die Wohnung verteilte. Wenn er ab Mittag bangte, ob wir unseren Flug am späten Abend erreichten. Wenn er Mitarbeitern in Ämtern klar seine Meinung sagte und damit den Bürokratiegaul noch langsamer werden ließ. Doch diese Kleinigkeiten fallen mir nur ein, wenn ich bewusst darüber nachdenke. In den meisten Momenten, wenn ich an ihn denke, sehe ich, was ich liebte: das Wissen, das er mich lehrte, die Lebenshaltung, die er vermittelte. Die Liebe, die er gab. Mir fällt ein, was wichtig war. Und was geblieben ist. Mir wird bewusst, wie viel ich übernommen habe. Ich erinnere das Wesen seines Seins. Um wie viel stärker muss es Leo Trepp mit seinem Vater so gegangen sein, der ihn in den wichtigsten Jahren geprägt hat.

Von Beginn an lehrt Maier Trepp seinen Sohn, dass im Judentum Wissen, Glauben und Tun untrennbar zusammenhängen. In seinem Buch Die Juden denkt Leo Trepp über die Wichtigkeit des Tuns im Judentum im Zusammenhang mit der Erfüllung der Mitzwot nach. Er schreibt über das Volk Israel am Berg Sinai, das sagt: „Alles, was er geredet hat, wir tun’s, wir hören’s.“ Das Hören äußert sich, wie Trepp sagt, in der Tat. Über die Mitzwa schreibt Trepp, sie sei das Handeln, mit dem der Jude dem Anspruch Gottes folge. Dieses Tun aber müsse von Herzen kommen und als Dienst an Gott geleistet werden, eine rein formale Handlung sei genauso wertlos wie das alleinige Lippenbekenntnis des Glaubens. Wenn das Judentum davon ausgeht, dass der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen ist, dann sind alle Menschen gleich und alle haben das göttliche Potential. Und wenn Juden den Nächsten lieben sollen, schließt das auch, und gerade, den Fremdling ein, den Nichtjuden. So lernt es Leo Trepp im Tora- und Talmudunterricht. So lebt es ihm sein Vater vor.

Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einer elegant gekleideten Frau mittleren Alters in einem Park in Wiesbaden, in dem ich an einem Nachmittag mit meinem Vater spazierenging. Er ging zu ihr hinüber, und sie begrüßte ihn herzlich wie einen Bruder. Sie unterhielten sich lebhaft für eine Weile. Ich bewunderte seine sichere, noble Art und seine Herzlichkeit. Als er zurückkam, fragte ich ihn, wer das gewesen sei. „Eine Kundin“, antwortete er. Die Antwort überraschte mich. Ein andermal, als wir über das schnell wachsende Geschäft sprachen, fragte ich ihn: „Seid ihr billiger als andere?“ „Nein“, antwortete er, „im Gegenteil, manchmal sind wir sogar teurer als die Konkurrenz.“ „Sagst du das euren Kunden auch?“ „Aber natürlich sage ich meinen Kunden das“, antwortete er. Wieder war ich verblüfft. Später kauften wir ein Haus in unserer alten Straße, in dem wir eine der Wohnungen bewohnten und die anderen vermieteten. Der Mieter über uns war homosexuell. Man sprach nicht darüber, doch jeder wußte es, und ich sehe noch heute das bewegte Gesicht meines Vaters vor mir, als er uns sagte, er habe diesem Mann kündigen müssen, weil die anderen Mieter ihm mit Auszug und Skandal gedroht hatten. „Warum belastet ihn das so, er mußte es doch tun?“, staunte ich als Jugendlicher. Heute sehe ich seine Integrität, gewachsen aus der Ethik eines frommen Menschen und liberalen Bürgers.

Leo Trepp lernt nachzuahmen, wie man Hören und Tun in Einklang bringt. Er versteht, was in der Religion wichtig ist und was weniger. Der Schabbat, das lernt er früh, ist wichtig. Sehr wichtig. Dieser Tag der Ruhe, den er in einer Rede als „größte Revolution in der Geschichte der Menschheit“ bezeichnet, wird für ihn so wichtig bleiben, dass er an dem Freitagabend im Krankenhaus, der sein letzter sein soll, darauf besteht, sich an den Tisch zu setzen, während ich die Kerzen anzünde. Er segnet mich, spricht den Segen über den Wein und kann dann von dem Brötchen, das wir in Ermangelung einer Challa erbeten haben, vor Schwäche nicht mehr essen. „Was der Schabbat bedeutet“, sagt er, „habe ich im Konzentrationslager gelernt, wo es ihn nicht gab.“ Wie die Sklaven in der Antike hätten die Häftlinge ein Leben ohne Hoffnung, ohne die Erwartung auf einen Tag, ja nur eine Stunde, der Ruhe geführt. Erst dort habe er gemerkt, dass dieser Tag, den er als Grundlage für alle späteren Arbeiterrechte sieht, dass dieser Tag der Trennung des Heiligen vom Profanen, wie es die Tora sagt, der Tag der Freiheit vom Diktat des Alltäglichen, dass dieser Tag „das Menschentum des Menschen“ begründe. Schon als Kind sehnt er den Moment herbei, in dem Maier Trepp nach einer langen Woche wieder durch die Tür tritt.

Der Schabbat war ein Moment, den man die ganze Woche erwartete und auf den man sich freute. Freitagnachmittags kam mein Vater nach Hause. Wenn er die Wohnung betrat, veränderte sich die Atmosphäre. Eine für mich als Kind heilige Gelassenheit und Ruhe breitete sich aus. Die Eltern besprachen die vergangene Woche und die kommende, und dann erzählte mir Vater Geschichten, die er sich selbst ausdachte. Wir schrieben alle zusammen die Briefe oder Postkarten an die Tanten und Onkel. Mein Vater ging in die Synagoge und warf die Post auf dem Weg dorthin in den Briefkasten. Meistens begleitete ich ihn in den Gottesdienst. Wenn wir nach Hause kamen, war der Tisch bereits gedeckt. Wir sangen Schalom Aleichem – Friede sei mit euch, ihr Engel Gottes. Euer Kommen, euer Segen sei zum Frieden – und marschierten dabei um den Tisch herum. Und dann segneten uns Vater und Mutter, mit ihren Händen auf unseren Köpfen, und wir bekamen einen Kuß auf die Wange. Danach kam das Schabbatessen mit dem Kiddusch und Gesprächen über alles Mögliche und hinterher den Dankgesängen. Meine Mutter ist gelegentlich darüber eingeschlafen, mein Vater, wenn er eine anstrengende Geschäftsreise gehabt hatte, auch.

Meine Familie war für mich Betreuung, Schutz, Sicherheit, Liebe, Zuhause. Gesprochen wurde darüber nicht. Der Kuß auf die Backe war der Höhepunkt der Zärtlichkeiten unserer Eltern. Nur mein Vater zeigte manchmal weiche Seiten. Einmal saß ich mit ihm auf dem Sofa. Vor dem Fenster auf der Fensterbank brannten die Lichter des letzten Chanukka-Abends. „Komm her, mein Kind, es ist das letzte Mal in diesem Jahr“, sagte er und legte seinen Arm um meine Schulter. Und diese Worte, wobei er mich zu sich heranzog, waren emotionale Worte, die ich nicht vergessen kann. Meine Mutter war strikter. „Keine Küsserei! Wir sind nicht so küsserisch veranlagt“, mahnte sie mich, als meine Tante und Cousine zu Besuch kamen, die Körperkontakt nicht scheuten. Dennoch wußte ich, daß Mutter Gustav und mich liebte. Die Wärme lag in dem Miteinander und die Geborgenheit im Rhythmus der Woche, der sich Alles stets wiederholen ließ.

Morgens gingen wir zum Gottesdienst. An Schabbat-Nachmittagen nahmen uns die Eltern auf Spaziergänge am Rhein mit. Dort traf man an sonnigen Tagen die halbe Gemeinde, man grüßte sich, unterhielt sich und genoß die Landschaft und frische Luft. Am allerliebsten aber hatte ich es, wenn es trübe war oder regnete, dann blieben die Leute daheim, meine Mutter, Tante und Bruder auch, mein Vater aber ging immer, und ich hatte ihn ganz für mich allein. Ich durfte meine Hand in seine Manteltasche stecken und konnte ihm jede Frage stellen, die mir in den Sinn kam, und über alles mit ihm reden. Einmal fragte ich ihn: „Vater, warum malen die Maler und schaffen die Bildhauer so viele nackte Menschen?“ Und er antwortete: „Weil der menschliche Körper das größte Wunder Gottes ist.“ Entweder beantwortete er Fragen oder sagte „Heb dir das mal für später auf, das verstehst du noch nicht“, und irgendwann fragte er dann tatsächlich: „Weißt du noch, daß du mich mal nach diesem oder jenem gefragt hast, hier kannst du ein Beispiel dafür sehen“. Und wenn er etwas nicht wußte, sagte er schlicht: „Ich weiß es nicht.“

Einmal fragte ich ihn: „Vater, hast du Angst vor dem Sterben?“ Ich war sechs und hatte Angst vor dem Tod, ich konnte mir weder vorstellen, einen geliebten Menschen zu verlieren, noch, selbst einmal von dieser Welt gehen zu müssen. Er war gerade dabei, sich die Schuhe zuzuschnüren und hatte einen Fuß auf dem Schemel. Er blickte auf und sagte: „Nein. Warum sollte ich Angst haben? Es gibt zwei Möglichkeiten. Wir verlieren mit dem Tod für immer alles Gefühl, Denken und Bewußtsein, so wie es uns einige Denker sagen. Oder es wird sein, wie die Rabbiner uns lehren. Unsere Seelen werden eines Tages in der künftigen Welt ankommen, und dort wird es uns gutgehen. Haben die Philosophen recht, wird mein lebloser Körper ohne Bewußtsein in der Erde ruhen. Und haben die Rabbiner recht, werde ich in eine Welt gehen, die herrlicher ist, als wir uns vorstellen können, meine Seele wird bei Gott sein. Was ich fürchte, sind große Schmerzen in der Krankheit oder mich selbst nicht versorgen zu können. Doch vor dem Tod mußt du keine Angst haben.“ Seine Worte haben meine Auffassung von Leben und Tod geprägt. Jahre später sprach ich mit meinem Bruder darüber, dem mein Vater die gleiche Lehre gegeben hatte. Wir beide fürchten den Tod nicht.

Ich sehe Vater und Sohn den Rhein entlanglaufen. Leo mit Nickelbrille und sein Vater mit Hut, elegant schlendernd, und auf den Kleinen neben ihm konzentriert. Und ich sehe zwei andere Jungen. Sie werden zwei Generationen später vor meinem Mann stehen und ihm Fragen stellen. Wissbegierig und am Beginn ihres lebenslangen Lernens. Einer, mein Neffe Simon, wird sich anderthalb Tage in sein Zimmer einschließen und nicht essen, als er von dem Tod meines Mannes hört, zu dem Zeitpunkt ist er zwölf Jahre alt. „Leo war mein Lieblingsonkel“, wird er sagen. „Er war immer da.“ Was merkwürdig ist, denn meist konnten wir die Familie nur einmal, vielleicht zweimal im Jahr sehen. Und der andere, der Sohn unserer Freunde, Shalev, wird erzählen: „Als ich acht war, habe ich Leo eine Frage gestellt. Ich habe vergessen, was ich gefragt habe, und auch, was er geantwortet hat, doch ich werde das Gefühl nie vergessen, das ich hatte. Er hat mich vollkommen ernst genommen, wie man einen Erwachsenen ernst nimmt.“ Auch das kann „da sein“ bedeuten.

Der letzte Rabbiner

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