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[11]I. Staat und Geschlecht in modernen westlichen Gesellschaften – eine Kontextualisierung

Die Verwobenheit des modernen westlichen Staates mit Geschlecht kann nur verstanden werden, wenn drei bedeutsame gesellschaftliche Veränderungen berücksichtigt werden, die sich zeitgleich mit der Herausbildung des Staates vollzogen haben: die Verbreitung des Zwei-Geschlechter-Modells, die Herausbildung der vergeschlechtlichten Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit sowie die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und die damit einhergehende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Ab dem späten 18. Jahrhundert änderten sich die Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen fundamental. Geschlecht wurde zu einem ontologischen, komplementären Wesensmerkmal und als solches zur diskursiven Grundlage für die maskulinistische Ausgestaltung des modernen westlichen Staates. Der Ausschluss von Frauen aus der Sphäre der Politik, der Öffentlichkeit und der Produktion wurde mithilfe angenommener ‚Wesensunterschiede‘ begründ- und legitimierbar und kann daher „nicht als simple Fortführung einer bereits etablierten Praxis“ gedeutet werden (Frevert 1995: 128). Vielmehr ist die sich mit der modernen Gesellschaft als hegemonial herausbildende Vorstellung, dass Politik ebenso wie Öffentlichkeit und Ökonomie männliche Bereiche seien, Ausdruck einer neuen Geschlechterordnung.

„[D]er Anspruch, Politik sei männlich, [markiert] eine neue Qualität gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. Aus dem 18. Jahrhundert ist ein solcher Satz nicht überliefert; damals ging es vor allem um die ständische, sozial und rechtlich definierte Zuschreibung politischer Kompetenzen und Rechte. Daß Politik, hohe ganz besonders, von beiden Geschlechtern betrieben wurde, war den Zeitgenossen unmittelbar einsichtig. Die eminent politische Funktion adliger Frauen – als Salonièren, Ehefrauen oder Mätressen – stand außer Frage“ (ebd.: 129).

Diese Verwobenheiten des modernen Geschlechterverständnisses mit der Genese der modernen gesellschaftlichen Ordnung werden nachfolgend deutlich gemacht. Dazu werden in einem ersten Schritt die Veränderungen des Verständnisses von Geschlecht skizziert. Daran anschließend werden die Konsequenzen dieses neuen Geschlechterverständnisses einerseits für die androzentrische Definition von Öffentlichkeit, wie sie der bürgerlichen Gesellschaft immanent ist, sowie andererseits für die geschlechtliche Arbeitsteilung, die mit der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise einhergeht, aufgezeigt. Sowohl die geschlechtliche Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit als auch diejenige zwischen Produktion und Reproduktion ist Teil der Genealogie des modernen westlichen Staates, da sie wesentlich dessen Ausgestaltung mitbegründeten. Ebenso erschließen sich die Aufgaben des Staates über die Aufrechterhaltung einer gesellschaftlichen[12] Ordnung, für die die moderne Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung konstitutiv sind.

I.1. Die Erfindung der Geschlechterdifferenz

I.1.1. Die Ontologisierung von Geschlecht

Feministische Historiker_innen haben den Nachweis erbracht, dass die Vorstellung von Geschlecht als ontologischer Kategorie, wie sie bis heute hegemonial ist, erst im Laufe des 18. Jahrhunderts hervorgebracht wurde (u.a. Duden 1991a und 1991b; Hausen 1976; Honegger 1992; Laqueur 1996).

„Über Tausende von Jahren hatte als Allerweltsweisheit gegolten, daß Frauen über dieselben Genitalien wie Männer verfügen, mit dem einzigen Unterschied, daß, wie Bischof Nemesius von Emesasés im 4. Jahrhundert formulierte, ‚ihre innerhalb und nicht außerhalb des Körpers sind‘. […] Angesichts der jahrtausendealten Tradition des Westens sind erst seit letzter Woche Genitalien als Zeichen des Geschlechtsgegensatzes von Bedeutung“ (Laqueur 1996: 16 und 37).

In seiner Studie Auf den Leib geschrieben legt Thomas Laqueur dar, dass von der klassischen Antike bis zum Ende des 17. Jahrhunderts innerhalb politischer, wissenschaftlicher und alltäglicher Diskurse die Vorstellung eines Ein-Geschlecht-Modells vorherrschend war. Demnach wurden Frauen eigentlich als Männer vorgestellt, die unvollständig geblieben waren. Ein Mangel an Hitze bewirkte, dass die Genitalien bei Frauen im Inneren des Körpers blieben und äußerlich nicht sichtbar waren: „In dieser Welt stellt man sich die Vagina als inneren Penis, die Schamlippen als Vorhaut, den Uterus als Hodensack und die Eierstöcke als Hoden vor“ (ebd.: 17). Darüber hinaus zeigt Laqueur auf, dass jene Merkmale, die im 18. Jahrhundert zu geschlechtsspezifischen wurden, davor nicht als „Wahr-zeichen“ (Bublitz 2001) eines Geschlechts galten:

„Unzählige Berichte über Männer gibt es, von denen es heißt, daß sie Milch gaben, und Bilder vom Jesusknaben mit Brüsten. Aus Mädchen konnten Jungen werden, und Männer, die allzu häufig mit Frauen zusammen waren, konnten die Härte und Bestimmtheit ihrer perfekteren Körper verlieren und in die Verweiblichung regredieren“ (Laqueur 1996: 20).

Weiblichkeit und Männlichkeit wurden innerhalb des Ein-Geschlecht-Modells als graduell verschieden aufgefasst, Geschlecht als soziale Position eines Menschen:

„Ein Mann oder eine Frau zu sein, hieß, einen sozialen Rang, einen Platz in der Gesellschaft zu haben und eine kulturelle Rolle wahrzunehmen, nicht jedoch, die eine oder andere zweier organisch unvergleichlicher Ausprägungen[13] des Sexus zu sein. Anders gesagt, vor dem 17. Jahrhundert war der Sexus noch eine soziologische und keine ontologische Kategorie“ (ebd.: 20ff.).

Wenngleich es auch in vormodernen westlichen Gesellschaften eine Hierarchisierung der Geschlechter gab – galten Frauen doch als minderwertige oder schlechter entwickelte Männer –, war die Vorstellung, dass Männer und Frauen wesenhaft verschieden sind, nicht verbreitet.

Dieses Ein-Geschlecht-Modell wurde ab dem 18. Jahrhundert zunehmend von einem Zwei-Geschlechter-Modell abgelöst. Mit diesem setzte sich eine Naturalisierung von Geschlecht und eine unveränderbare Festlegung auf eines der beiden Geschlechter durch. Gesa Lindemann fasst die Fundamente des Zwei-Geschlechter-Modells wie folgt zusammen:

„1. Eine Person gehört einem und nur einem Geschlecht an. 2. Eine Person gehört einem Geschlecht ein ganzes Leben an. Und 3. das Geschlecht hat eine körperliche Basis, d.h., wenn eine Person in einem Geschlecht lebt, darf ihr Körper nicht dem des anderen Geschlechts ähnlicher sein als dem Geschlecht, in dem sie lebt“ (Lindemann 1997: 324).

Mit dieser neuen Deutung von Geschlecht galten Frauen und Männer fortan nicht nur bezogen auf spezifische körperliche Regionen und Funktionen und nicht nur als graduell, sondern als insgesamt und wesenhaft unterschiedlich. Von da an wurde Biologie insofern zum ‚Schicksal‘, als darin Grundlagen und Begründungen für Verhaltensweisen und Zuständigkeiten gesucht – und gefunden wurden. In diesem Zeitraum veränderte sich auch die Bedeutung von Geschlecht, da es nicht mehr „vorrangig oder gar ausschließlich im genealogischen Sinne gebraucht wird (‚Menschengeschlecht‘, das ‚Geschlecht der Hohenzollern‘)“ (Frevert 1995: 51), vielmehr setzte es „sich allmählich flächendeckend als biologische Klassifikation durch“ (ebd.). Die Definition von Geschlecht wurde im Zwei-Geschlechter-Modell eng an die Fortpflanzungsfähigkeit gebunden. Die für die generative Reproduktion notwendigen Genitalien erlangten so die Funktion des Signifikanten des ‚wahren‘ Geschlechts.

Stark angetrieben wurden diese veränderten Deutungsmuster durch die aufkommenden modernen Humanwissenschaften. Barbara Duden misst der Medizin hier eine herausragende Bedeutung bei. Die Herausbildung der neuen Geschlechtskörper konnte „erst durch das Monopol seiner Betreuung in letzter Instanz durch die Medizin“ gelingen (Duden 1991a: 207). „Ohne ‚der‘ Medizin die Verantwortung für ‚die‘ Gesundheit zuzuschreiben, konnte es nicht zum modernen westlichen Körper kommen“ (ebd.: 207f.). Hier nahmen insbesondere anatomische Studien eine wichtige Rolle ein, die bis ins 15. Jahrhundert verboten waren und bis ins 19. Jahrhundert nur unter strengen Auflagen durchgeführt werden durften. Mit der Verbreitung der Anatomie setzte sich die Vorstellung durch, aus den Körpern eine naturgegebene Wahrheit extrahieren zu können – nicht zuletzt die ‚Wahrheit‘ über ‚naturgegebene‘ geschlechtliche Unterschiede.

[14]„[C]linical anatomy thus implies a radical transformation in the epistemological status of the body. It is a practice that consists in deciphering the body, transforming the organism into a text to be read and interpreted by a knowledgeable gaze“ (Braidotti 1997: 72).

Die zunehmende „‚Verwissenschaftlichung‘ der Begründungsversuche“ (Honegger 1992: 2) machte die Annahme einer Ontologie der Geschlechterdifferenz immer mehr zu einem ‚Wahrheitsregime‘. Dabei wurde der männliche, weiße, nicht-‚behinderte‘ Körper zur Norm, von der aus der weibliche Körper in seiner ‚Differenz‘ erforscht wurde. Die allgemeine Anthropologie bezog sich auf weiße, männliche, nicht-‚behinderte‘ Körper, während sich zugleich eine ‚Sonderanthropologie‘ für die Erforschung der Besonderheiten der Frau herausbildete. „Die Generalisierung des Mannes zum Menschen der Humanwissenschaften und die Besonderung der Frau zum Studienobjekt einer mit philosophischen, psychologischen und soziologischen Ansprüchen auftretenden medizinischen Teildisziplin“ gehören zusammen (ebd.: 6). Denn erst das abweichende ‚Andere‘ des Weiblichen bringt das männlich Allgemeine hervor. Die Konstruktion eines als Norm gesetzten männlichen Körpers benötigt die Konstitution abweichender Körper, die Effekt von Vergeschlechtlichungsprozessen ebenso wie von Rassisierungs-, Sexualisierungs- und Behinderungsprozessen sind, die sich zeitgleich zur Entstehung einer ‚weiblichen Sonderanthropologie‘ herausbildeten (u.a. Collins 2004; Fausto-Sterling 2000; Grosz 1994; Habermann 2008; Kerner 2007; McClintock 1995; McRuer 2006; Shildrick 2009; Somerville 1994; Stoler 1995). Ina Kerner schreibt daher über die Parallelen von vergeschlechtlichenden und rassisierenden Diskursen über ‚naturgegebenen Differenzen‘:

„Die anthropologischen Wissenschaften dieser Zeit erwiesen sich als funktionale Strategien zur Begründung nicht nur männlicher, sondern auch europäischer bzw. weißer Dominanz; zu den zentralen Mitteln für diesen doppelten Zweck gehörte neben unterschiedlichen Varianten von Soma-Psyche-Ableitungen die Konstruktion von Analogien zwischen jenen (sich überschneidenden) Gruppen, die von weißen Männern abfallen sollten – ‚niedere Rassen‘ und Frauen“ (Kerner 2007: 127; s.a. Mosse 1985: 170ff.).

Ebenso wurde das Phantasma eines ‚normalen‘ Körpers durch die Abgrenzung von jenen Körpern, die als ‚behindert‘ definiert wurden, erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts hervorgebracht und stabilisiert (Davis 1995: 23ff.). Geschlecht, ‚race‘ und ‚Behinderung‘ erlaubten mithin – als wirkmächtige, durch ‚wissenschaftliche Erkenntnisse‘ legitimierte diskursive Konstrukte – Grenzziehungen zwischen ‚normalen‘ und abweichenden Körpern.

Gesellschaftlich fatal war, dass aus diesen körperlichen ‚Differenzen‘ wesenhafte Differenzen im Verhalten, Denken und Empfinden abgeleitet wurden. Aus der ‚natürlichen‘ Geschlechterdifferenz wurde eine naturgegebene weibliche Passivität und komplementär dazu eine naturgegebene männliche Aktivität abgeleitet (vgl. Fausto-Sterling 1988; Hausen 1976; Martin 1991). Die Inferiorität von Frauen wurde somit aus den Körpern erklärt und naturalisiert.[15] Honegger zitiert u.a. aus Jakob Friedrich Fries‘ Handbuch der Psychischen Anthropologie von 1820: „Das weibliche Geschlecht ist der Regel nach, seiner Bestimmung zur Fortpflanzung der Menschen gemäß, reizbarer, schwächlicher, geschmeidiger als das männliche. Dem Manne gehören Kraft und That; das Weib ist stärker im Ertragen“ (zitiert nach Honegger 1992: 191). Aufgrund der zyklischen Veränderungen des weiblichen Körpers und der Möglichkeit einer Schwangerschaft wurde dieser zudem als potenziell unkontrollierbar gesehen. Dies wiederum hindere die Frau daran, ein souveränes (Besitz-)Verhältnis zu ihrem Körper zu etablieren, wie dies Männern zugeschrieben wurde. Auf der Basis der Vorstellung des weiblichen Körpers als unkontrollierbarem wurde Weiblichkeit mit Natur, Chaos, Emotionalität und Passivität verbunden, während Männlichkeit mit Kultur, Ordnung, Rationalität und Aktivität gleichgesetzt wurde.

I.1.2. Die Ontologisierung von Sexualität

Nicht nur die Vorstellung von Geschlecht wandelte sich ab dem 18. Jahrhundert fundamental, sondern auch die Vorstellung von Sexualität sowie dessen Bedeutung für die Definition des ‚Wesens‘ des Menschen. Michel Foucault zeigt in Der Wille zum Wissen auf, wie Sexualität innerhalb des modernen Sexualitätsdispositivs als innerster Kern, innere Wahrheit und Wesenseigenschaft entsteht. Statt von einer naturgegebenen Sexualität auszugehen, die mit der bürgerlichen Gesellschaft immer mehr unterdrückt wird, legt Foucault dar, dass die Vorstellung einer naturgegebenen Sexualität ebenso wie eines sexualisierten Subjekts erst durch Macht-Wissens-Verbindungen hervorgebracht wird. Durch die „diskursive Gärung, die sich seit dem 18. Jahrhundert beschleunigt hat“ (Foucault 1983: 24), die nicht zuletzt ähnlich wie das Zwei-Geschlechter-Modell durch das Aufkommen der Humanwissenschaften angetrieben wurde, wurde Sexualität zu dem authentischsten Element von Subjektivität und mithin zur ‚Natur‘ des Menschen.

Foucault identifiziert vier „große strategische Komplexe […], die um den Sex spezifische Wissens- und Machtdispositive entfalten“ (ebd.: 103): Erstens fand der Körper der Frau über dessen „Hysterisierung“ (ebd.) als vollständig durchdrungen von Sexualität Eingang in medizinische und sozialwissenschaftliche Diskurse (ebd.). In der Hysterisierung der Frauen spiegelt sich die weibliche Sonderanthropologie wider, wie Andrea Bührmann in Erweiterung von Foucault ausführt:

„Der Mann stellte die Norm dar, während die Frau mit einer krankhaften Sondernatur versehen wird: Sie erschien im Gegensatz zum Mann von Natur aus als schwach, sensibel, emotional und – ganz anders als der Mann als geschlechtsloser Repräsentant des ‚Allgemein-Menschlichen‘ – völlig durchdrungen vom Geschlechtlichten. Ja, sie galt als eigentlich hysterisch“ (Bührmann 1998: 91).

[16]Ähnlich schreiben auch Hubert Dreyfus und Paul Rabinow:

„Alle Elemente des entfalteten Sexualitätsdispositivs sind hier vorhanden: eine mysteriöse und alles durchdringende Sexualität von höchster Bedeutsamkeit sitzt allüberall im Körper; diese mysteriöse Präsenz trug der weibliche Körper in die analytischen Diskurse der Medizin hinein; durch diese medizinischen Diskurse werden sowohl die persönliche Identität der Frau als auch die zukünftige Gesundheit der Bevölkerung in ein gemeinsames Band aus Wissen, Macht und Materialität des Körpers verflochten“ (Dreyfus/Rabinow 1987: 202).

Zweitens wurde in der „Pädagogisierung des kindlichen Sexes“ (Foucault 1983: 104), vor allem in den Diskursen um kindliche Masturbation, die Vorstellung einer natürlichen und gefährlichen (früh-)kindlichen Sexualität produziert:

„Tatsächlich ging es in diesem hundertjährigen Feldzug, der die Welt der Erwachsenen gegen den Sex der Kinder auf die Beine brachte, darum, sich auf diese geringfügigen Lüste zu stützen, sie zu Geheimnissen zu machen (das heißt sie zu zwingen, sich zu verstecken, damit man sie anschließend entdecken konnte)“ (ebd.: 46).

Drittens wurde durch die „Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens“ (ebd.) des Ehepaars die Naturalisierung von Sexualität eng an die Frage der Reproduktion gekoppelt. Die der Fortpflanzung dienliche eheliche Sexualität wurde zur natürlichen Form der Sexualität, während alle andere Praktiken – Onanie, kindliche Sexualität sowie das breite Feld aller nicht-heterosexuellen ‚Perversionen‘ – zu Abweichungen wurden. Zugleich wurde die zur Norm erhobene eheliche, auf Fortpflanzung ausgerichtete Sexualität immer mehr mit einem Schleier des Schweigens und der Diskretion bedeckt:

„Das Ehepaar mit seiner ordentlichen Sexualität besitzt einen Anspruch auf Diskretion. Es geht allmählich dazu über, wie eine Norm zu funktionieren, strenger vielleicht, aber auch verschwiegener. Umgekehrt wird nun die Sexualität der Kinder, der Irren und Kriminellen verhört, die Lust derer, die nicht das andere Geschlecht lieben, die Träumereien und Zwangsvorstellungen, die kleinen Manien und die großen Leidenschaften“ (ebd.: 43).

Ähnlich wie in der Dynamik zwischen der als Norm gesetzten männlichen ‚allgemeinen‘ Anthropologie und der weiblichen Sonderanthropologie wurde über die ‚normale‘ Sexualität weitgehend geschwiegen, während die ‚Abweichungen‘ zunehmend thematisiert, erforscht, kategorisiert und klassifiziert wurden.

Viertens wurde durch die „Psychiatrisierung der perversen Lust“ (ebd.: 104) einerseits die Vorstellung von Sexualität als Trieb durchgesetzt, der sowohl auf gesunde und natürliche als auch auf ‚perverse‘ Art ausgelebt werden kann. Andererseits wurde durch die Diskurse zur Psychiatrisierung der ‚perversen Lüste‘ die Vorstellung wirkmächtig, dass das Sexualverhalten die Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit gestaltet. Durch das Zusammenschweißen[17] von ‚Sexualtrieb‘ und der ‚Natur‘ des Subjekts setzte sich ein neues Verständnis von Menschen mit ‚abweichendem Sexualverhalten‘ durch: Homosexualität bildete sich als Identitätskategorie heraus und löste damit die Vorstellung von Homosexualität als spezifischem Verhalten ab:

„Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von all dem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. […] Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle eine Spezies“ (ebd.: 47).

Die Konstruktion, dass Sexualität „mit einer unerschöpflichen und polymorphen Kausalmacht ausgestattet ist“ (ebd.: 69), machte sie ebenso wie Geschlecht in modernen westlichen Gesellschaften zum bestimmenden Faktor für das Wesen eines Menschen, „als würde sie über Subjektivität und Identität erschöpfend Auskunft geben“ (Brown 2000: 275). So wie Geschlecht zur naturgegebenen ontologischen Größe wurde, setzte sich auch die Vorstellung einer sexuellen Natur des Menschen durch. Die Natur wurde damit zum Referent, zur Wahrheit für Geschlecht und Sexualität.

Das Sexualitätsdispositiv kann als Selbstaffirmation der bürgerlichen Klasse interpretiert werden und nicht als Mittel der Unterdrückung der „auszubeutenden Klassen“ (Foucault 1983: 121). Die „rigorosesten Techniken [des Sexualitätsdispositivs, GL] wurden zunächst in den ökonomisch privilegierten und politisch führenden Klassen entwickelt und vor allem mit der größten Intensität eingesetzt“ (ebd.: 118). In der bürgerlichen Familie wurde

„die Sexualität der Kinder und Heranwachsenden zum ersten Mal problematisiert; in ihr wurde die weibliche Sexualität medizinisiert, sie wurde zuerst wegen der möglichen Pathologie des Sexes, wegen der Dringlichkeit seiner Überwachung und der Notwendigkeit einer rationellen Besserungstechnologie alarmiert“ (ebd.: 118f.).

Erst nach und nach wurde das Sexualitätsdispositiv auf die lohnarbeitende Klasse ausgeweitet (ebd.: 120).

Ebenso ist das Sexualitätsdispositiv eine weiße Selbstaffirmation. Die souveräne Kontrolle des ‚Sexualtriebs‘ und dessen diskretes Ausleben im ehelichen Schlafzimmer wurde zu einem wichtigen diskursiven Element von Weiß-Sein, während die imaginierte Unzulänglichkeit der nicht-weißen ‚Wilden‘, ihre Sexualität zu zügeln, und die imaginierte Verbreitung der Perversionen bei den ‚Unzivilisierten‘ zu einem wichtigen Element in der rassisierenden Abwertung kolonialisierter Menschen wurde, wie Ann Stoler aufzeigt:

„The nineteenth-century discourse on bourgeois sexuality may better be understood as a recuperation of a protracted discourse on race, for the discourse on sexuality contains many of the latter’s most salient elements. That discourse on sexuality was binary and contrastive, in its nineteenthcentury[18] variant always pitting that middle-class respectable sexuality as a defense against an internal and external other that was at once essentially different but uncomfortably the same. The contaminating and contagious tropes of nineteenth-century sexual discourse were not new: they recalled and recuperated a discourse that riveted on defensive techniques for ‚constant purification‘“ (Stoler 1995: 193).

Stoler legt dar, wie die vier von Foucault als „große strategische Komplexe“ identifizierten Elemente (Foucault 1983: 103) – die Hysterisierung des weiblichen Körpers, die Pädagogisierung des kindlichen Sexes, die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens und die Definition abweichender Lüste als pervers - in der Figur des kolonialisierten ‚Wilden‘ zusammenliefen. In dieser fanden sich alle Abweichungen von der ‚normalen‘ Sexualität wieder: Die ‚primitiven Wilden‘ wurden konstruiert als ein von Instinkten getriebenes Kind, als anfällig für Hysterie, als unfähig zur Familienplanung und als potenziell pervers und nicht in der Lage, den Sexualtrieb qua moralischen Erwägungen zu bezwingen (Stoler 1995: 6ff.). Ähnlich wie Stoler hebt auch Fatima El-Tayeb hervor, dass nur

„Weißen die Fähigkeit zugestanden [wurde], ihre sexuellen Instinkte zu domestizieren und durch diesen Akt der ‚Reinigung‘ eine zivilisierte Ordnung aus dem Chaos der Triebe schaffen zu können. Alle anderen ‚Rassen‘ versagten in dieser Beziehung, besaßen daher per definitionem eine ‚abweichende‘ Sexualität. AsiatInnen wurden mit sexueller Dekadenz assoziiert, JüdInnen mit einer natürlichen Neigung zur ‚Perversion‘. Die ‚schwarze Rasse‘ dagegen verband der westliche Diskurs mit sexueller Aggression (was umgekehrt - bis in die Gegenwart hinein - die besondere Aggressivität gegenüber Schwarzen rechtfertigte)“ (El-Tayeb 2003: 130f.; s.a. Somerville 1994).

Diese macht- und gewaltvollen Zuschreibungen ermöglichten erst als Abgrenzungsfigur die Herausbildung einer ‚normalen‘ , bürgerlichen, weißen, westlichen Sexualität.

I.1.3. Die Ontologisierung einer gesellschaftlichen Ordnung

Die sich ab dem 18. Jahrhundert durchsetzenden neuen Vorstellungen über Geschlecht und Sexualität können keineswegs als Resultat eines wissenschaftlichen ‚Fortschritts‘ interpretiert werden, wonach es mittels moderner Humanwissenschaften zu dieser Zeit gelungen wäre, die ‚Wahrheit‘ über Geschlecht und Sexualität freizulegen. Vielmehr sind diese Erkenntnisse auf spezifische epistemologische und politische Macht-Wissens-Konstellationen zurückzuführen (vgl. Laqueur 1996: 23ff.). Die epistemologischen Veränderungen resultierten aus der sich durchsetzenden Säkularisierung der gesellschaftlichen Ordnung: Konsequenterweise wurden Körper nicht mehr länger als innerhalb einer göttlichen Ordnung gegeben gesehen, sondern konnten neu erforscht und ergründet werden. An die frei werdende Stelle[19] religiöser Wahrheitsinstanzen traten die sich gerade herausbildenden modernen Humanwissenschaften (Foucault 1988; s.a. Klinger 1996: 106ff.). Die neue säkularisierte Erkenntnistheorie

„spürte nicht mehr Entsprechungen zwischen Mikro- und Makrokosmos nach und versuchte auch nicht mehr, das Geschlechterverhältnis aufgrund spekulativer Analogien zu beschreiben. Da die unterschiedlichen sozialen Rollen nicht mehr mit der Analogie zu einer irgendwie gearteten höheren Ordnung begründet werden konnten, begann man die Geschlechterhierarchie mit der fundamental unterschiedlichen biologischen und damit nicht gesellschaftlich produzierten Ausrüstung zu legitimieren“ (Bührmann 1995: 40f.; s.a. Klinger 1996: 98ff.).

‚Wahrheiten‘ über die ‚Natur‘ von Körpern wurden so zur entscheidenden Begründung der neuen säkularen gesellschaftlichen Ordnung.

Diese epistemologischen Veränderungen sind eng verwoben mit den politischen Veränderungen: Die moderne Gesellschaft stellte in ihrem Selbstverständnis die Gleichheit aller Menschen ins Zentrum, sodass Ungleichheit fortan unter einer neuen Legitimationsnotwendigkeit stand (Klinger 1996: 101). Die Umdeutung der Körper in wesenhaft verschiedene männliche und weibliche bot eine Möglichkeit, das Gleichheitspostulat aufrechtzuerhalten, da geschlechtliche Ungleichheiten als naturgegebene Tatsachen aus dem Radius der Gleichheit ausgeschlossen werden konnten. Die Annahme einer naturgegebenen biologischen Geschlechterdifferenz wurde so zur Grundlage für soziale Geschlechterungleichheiten, die jedoch, gerade weil sie als naturgegeben vorgestellt wurden, nicht mit dem Selbstverständnis der modernen Gesellschaft als auf Gleichheit basierend interferierten. Man „erfand zwei biologische Geschlechter, um den sozialen eine neue Grundlage zu geben“ (Laqueur 1996: 173).

Das Argument der Natur war somit, wie Cornelia Klinger heraushebt, von Beginn an ein doppelbödiges: Einerseits bildete sich die moderne Gesellschaft nicht zuletzt in Abgrenzung zur feudalen Gesellschaft heraus, indem auf die ‚naturhafte‘ Gleichheit aller Menschen verwiesen wurde. Andererseits wurden Ausschlüsse aus dieser Gleichheit ebenso qua Natur legitimiert:

„Die Natur wird hier zum Unterscheidungskriterium zwischen abzuschaffenden und aufrecht zu erhaltenden Unterdrückungsformen. Auf diese Weise gelingt es, den Widerspruch zwischen der Idee der Gleichheit aller Menschen und der Ungleichheit der Geschlechter […] zu versöhnen. Beides, sowohl Gleichheit als auch Ungleichheit gelten nun als ‚natürlich‘“ (Klinger 1996: 106).

[20]I.2. Die Erfindung der Geschlechterdifferenz und die Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit

Die Erfindung einer naturgegebenen Geschlechterdifferenz stellte für das Verständnis von Öffentlichkeit und Privatheit sowie für die Grenzziehung, die sich zwischen den beiden ab dem Ende des 18. Jahrhunderts in westlichen Gesellschaften herausbildete, eine konstitutive Vorbedingung dar. Die moderne Öffentlichkeit etablierte sich mit der Genese der europäischen Nationalstaaten ab dem Ende des 18. Jahrhunderts und stellte einen kritischen Gegenentwurf zur repräsentativen Öffentlichkeit der feudalen Gesellschaften dar. Als bürgerliche Öffentlichkeit verstand sie sich zunächst als literarische und übernahm erst in einem zweiten Schritt explizit politische Funktionen – als Sphäre der kritischen öffentlichen Meinungsbekundung und des Austausches, die später auf Gerichte und das Parlament ausgeweitet wurde (vgl. dazu Habermas 1990: 88ff.). Sabine Lang erklärt die Entwicklung der bürgerlichen modernen Öffentlichkeit zur politischen aus drei historischen Entwicklungen:

„Die als Teilbereich frühliberaler Bürgerkultur entstehende politische Öffentlichkeit war erstens das Resultat moderner Demokratiebewegungen mit ihren Forderungen nach Presse- und Versammlungsfreiheit; zweitens war sie Konsequenz modernisierter Staatstätigkeit, die mit Hilfe von Zeitungen, politischen Flugschriften und Versammlungen Legitimation für das eigene Handeln organisierte; und drittens war sie Ausdruck der Kapitalisierung von Sozialbeziehungen, in deren Folge neue Ansprüche von Kapitaleignern in Bezug auf öffentliche Darstellung und Beteiligung gestellt wurden“ (Lang 2004: 66).

Als Pendant zu dieser neuen Form „politisch fungierender Öffentlichkeit“ (Habermas 1990: 142), die zunehmend den „normativen Status eines Organs der Selbstvermittlung der bürgerlichen Gesellschaft“ (ebd.) beanspruchte, bildete sich die Sphäre des Privaten als Bereich des Intimen und der Familie heraus. Öffentlichkeit wurde als allgemein, rational und apersonal konzipiert, während die Privatheit das Natürliche, die Emotionen, Beziehungen, Familie, Sexualität und Intimität umfasste. Dabei setzte sich zunehmend eine Vorstellung durch, wonach das Öffentliche als politisch und das Private als naturhaft und vor-politisch galt (Elshtain 1981).

Das Verdienst feministischer Wissenschaftler_innen besteht darin, die konstitutive Bedeutung von Geschlecht für diese Konzeption von Öffentlichkeit und Privatheit aufgezeigt zu haben (u.a. Elshtain 1981; Pateman 1988; Lang 2004; Rosenberger 1998b). Denn mit der Politisierung der Öffentlichkeit kam es auch zu deren Maskulinisierung. Die Herausbildung der bürgerlichen politischen Öffentlichkeit war explizit mit einem Ausschluss von Frauen verbunden. Während an der „literarische[n] Vorform der politisch fungierenden Öffentlichkeit“ (Habermas 1990: 88) sowohl Frauen als[21] auch Männer teilnahmen, wurde die Öffentlichkeit als politische immer mehr zur Sphäre der Bürger – und als Bürger galten nur weiße, lange Zeit auch nur besitzende Männer. Frauen wurde abgesprochen, autonom, souverän und vernunftbegabt zu sein. Die bürgerliche Öffentlichkeit wurde somit der Rhetorik und dem Anspruch nach immer mehr zu einer Sphäre der Partizipation und Transparenz, während parallel dazu der Ausschluss von Frauen immer rigoroser ausfiel (Hausen 1992).

Die vorgeblich ‚naturgegebenen‘ Geschlechterdifferenzen und die aus der körperlichen ‚Natur‘ abgeleitete geistige Unterlegenheit lieferten die Legitimation für den Ausschluss von Frauen, der sich durch die gesamte neuzeitliche Politische Theorie zieht, wenngleich die einzelnen Begründungen eine beachtliche Bandbreite aufweisen. Immanuel Kant begründet die Ungleichheit der Geschlechter mit der „natürliche[n] Überlegenheit des Vermögens des Mannes über das weibliche in Bewirkung des gemeinschaftlichen Interesses des Hauswesens“ (Kant 1990: 128). Daraus leitet Kant das „Recht zum Befehl“ (ebd.) und den Ausschluss von Frauen aus dem Staatsbürgerstatus ab. Dieser setzt

„die Selbständigkeit dessen im Volk voraus, der nicht bloß Teil des gemeinen Wesens, sondern auch Glied desselben, d.h. aus eigener Willkür in Gemeinschaft mit anderen handelnder Teil desselben sein will […]. Dienstboten, alles Frauenzimmer und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betriebe, sondern nach der Verfügung anderer genötigt ist, seine Existenz zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit, und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz“ (ebd.: 171).

Für Jean-Jacques Rousseau sind ebenso nur „der gute Sohn, der gute Gatte, der gute Vater“ diejenigen, die „den guten Bürger“ ausmachen (Rousseau 1963: 730). Dies begründet er damit, dass Frauen zu sehr an ihren Körper gebunden und deshalb nicht fähig wären, an politischen Aktivitäten in der Öffentlichkeit teilzunehmen:

„Es gibt keine Gleichartigkeit zwischen den beiden Geschlechtern im Hinblick auf das Geschlechtliche. Der Mann ist nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau ist ihr ganzes Leben lang Frau, oder wenigstens während ihrer ganzen Jugend; alles erinnert sie unablässig an ihr Geschlecht, und um dessen Funktionen richtig zu erfüllen, braucht sie die entsprechende Körperbeschaffenheit“ (ebd.: 719ff.).

Darüber hinaus müssen sich Frauen nach Rousseau aus der Öffentlichkeit fernhalten, um ihre ‚ureigensten Fähigkeiten‘ , ihre soziale, selbstaufopferende Haltung nicht zu gefährden. Zur Bewahrung der weiblichen Tugenden, die die Grundlage der Erziehung der zukünftigen Bürger sei, sollten Frauen nicht an der korrupten Marktgesellschaft und Öffentlichkeit teilnehmen. Zugleich findet sich bei Rousseau wiederholt die Befürchtung, dass die angeblich bedrohliche weibliche Sexualität auch zur Bedrohung der Ordnung[22] der Öffentlichkeit werden könnte, würden Frauen nicht von dieser ausgeschlossen werden.

Trotz dieser Anstrengungen von politischen Theoretikern und Philosophen, den Ausschluss von Frauen mit Rekurs auf ‚Logik‘ oder ‚Natur‘ zu begründen, war das Konstrukt „Homo politicus – Femina privata“ (List 1986) nie ein historisches Faktum, sondern vielmehr ein wesentliches Element maskuliner (Herrschafts-)Rhetorik. So hebt Karin Hausen hervor, dass es sich hierbei um Zuschreibungen handelt, die „nicht gleichzusetzen [sind] mit Verhaltensweisen, Handlungen und Erfahrungen des täglichen Lebens“ (Hausen 1990: 269). Frauen waren zu jeder Zeit immer auch öffentlich präsent:

„Frauen waren sowohl in der Französischen Revolution als auch in den deutschen Bürgerkriegen an Herstellung und Verbreitung des politischen Schrifttums beteiligt. Frauen demonstrierten, sie betrieben aktiven und passiven Widerstand gegen repressive Staatsstrukturen, Frauen agitierten und fanden sich in eigenen Vereinsformen zusammen“ (Lang 1995: 91; ähnlich Appelt 1999: 75).

Dies wurde jedoch entweder in der offiziellen Geschichtsschreibung ignoriert oder aber „nicht politisch gewertet, sondern als Kontinuität familiärer Mutterpflichten gedeutet“ (Lang 1995: 91). Besonders zum Ausdruck kommt dies in der Umdeutung von politischem Widerstand von Frauen gegen Kriege: Diese wurden in der hegemonialen politischen Rhetorik und Geschichtsschreibung insofern privatisiert und ihrer politischen Dimension entleert, als dieses Engagement von Frauen auf ihre ‚private‘ und ‚emotionale‘ Sorge um ihre Soldatensöhne reduziert wurde.

Nicht nur qua Geschlecht wurden Menschen aus der vermeintlich allgemeinen Öffentlichkeit ausgeschlossen. In die Geschichte der modernen westlichen Öffentlichkeit sind ebenso Ausschlüsse qua Klasse, ‚race‘ und ‚Behinderung‘ eingeschrieben (Bratić/Johnson-Arthur/Ponger/Sternfeld/Ziaja 2006; Davis 1985; Kraft 1994; Lister 1997; Sulzbacher 2007). So galten lange Zeit auch Arbeiter nicht als Bürger, da sie nicht über den notwendigen Besitz verfügten. Ebenso wurde ‚behinderten‘ Menschen der Bürger_innenstatus abgesprochen. Insbesondere durch die Gleichsetzung von ‚gesunden Bürgern‘ und einer ‚gesunden Nation‘ galten Menschen mit ‚Behinderung‘ als auszuschließende Bedrohung. Schließlich wurden auch nicht-weiße Menschen als nicht-vernunftbegabt konstruiert und somit aus der hegemonialen Öffentlichkeit ausgeschlossen.

Über die Konstruktion Geschlecht wurden – ebenso wie über ‚race‘, Klasse und ‚Behinderung‘ – nicht nur Ausschlüsse von der bürgerlichen Öffentlichkeit geregelt. Geschlecht ist darüber hinaus konstitutiv in die Ausgestaltung der modernen Öffentlichkeit und in die Grenzziehung zu jener als privat bezeichneten Sphäre eingeschrieben. Die Vergeschlechtlichung von Öffentlichkeit und Privatheit ermöglichte erst, dass diese beiden Sphären als komplementäre gegeneinander abgesichert werden konnten: Denn die Maskulinisierung[23] der Öffentlichkeit als Sphäre der Allgemeinheit und Rationalität setzte die Feminisierung der Privatheit als Sphäre der Emotionen, Familie, Sexualität und Intimität voraus. Nur indem die Bedürftigkeit von Menschen, ihre Verwiesenheit auf soziale Beziehungen, sozialen Rückhalt, Pflege und Emotionalität in das Private verbannt wurden, konnte die Sphäre der Öffentlichkeit eine werden, in der all diese sozialen und emotionalen Bedürfnisse als nicht vorhanden oder irrelevant ausgeschlossen werden können. Das Phantasma des liberalen Subjekts, das in der Öffentlichkeit als autonomes, souveränes, beziehungsloses und rationales agiert, konnte nur durch die Privatisierung der sozialen und emotionalen Reproduktion möglich werden, die vor allem von Frauen übernommen wurde, was wiederum aus deren ‚natürlicher‘ Bestimmung als Mütter und Ehefrauen abgeleitet wurde.

Durch diese vergeschlechtlichte Abtrennung kann in der Sphäre der Öffentlichkeit vergessen werden,

„dass auch das autonome liberale Individuum irgendwo sozialisiert werden muss; diese Individuen sprießen eben nicht, wie Hobbes meinte, wie ‚Pilze aus dem Boden‘, sondern müssen in einem zeitlich, physisch und emotional relativ aufwendigen Prozess erzogen […] werden“ (Rössler 2001: 107).

Ähnlich schreibt auch Cornelia Klinger, dass in der maskulinistischen Ausgestaltung der Öffentlichkeit verborgen bleibt, „dass das autonome, souveräne ‚öffentliche‘ Subjekt in seiner Konstituierung und Funktion abhängt von der Privatsphäre, von der Familie und von der Beziehungs- und Reproduktionsarbeit, die hauptsächlich Frauen in dieser Sphäre erbringen“ (Klinger 1994: 123).

Um die Vergeschlechtlichung der Grenzziehung von Öffentlichkeit und Privatheit fassen zu können, schlägt Birgit Sauer den Begriff des „liberalen Trennungsdispositivs“ vor (Sauer 2001: 184), „das die beiden Sphären polarisiert, hierarchisiert, geschlechtlich kodiert und den gesellschaftlichen Institutionen eindeutig zuordnet“ (ebd.: 187). Statt als Orte werden Öffentlichkeit und Privatheit in der feministischen Kritik deshalb als „Zuschreibungen an bestimmte Handlungsfelder und Kommunikationsstrukturen“ (Lang 1995: 83) und damit als politische Konstruktionen verstanden.

Davon ausgehend, dass Öffentlichkeit und Privatheit zu keiner Zeit einfach vor- und auffindbare Orte einer Gesellschaft waren, rückt die Frage ins Zentrum, unter welchen Bedingungen „ein Raum, eine Aktion, ein Diskurs als öffentlich oder privat wahrgenommen wird“ (ebd.). Dabei dient Geschlecht als Möglichkeit, „diese ungenauen Dimensionen durch ihre Vergeschlechtlichung“ (Sauer 2001: 184) zu vereindeutigen: „Der öffentliche politischstaatliche Raum ist ebenso wie die ökonomische ‚Privatsphäre‘ männlich markiert, während die Privatheit als jener Raum definiert ist, der Frauen zugestanden wird und nachrangig zu behandeln ist“ (ebd.). Das „liberale Trennungsdispositiv“ (ebd.) als patriarchales Herrschaftsinstrument naturalisiert[24] gesellschaftliche Zuweisungen von Tätigkeiten und Aufgaben durch den Ausschluss von Emotionalität, Chaos, Bindungen und Sexualität aus der Sphäre der Öffentlichkeit. Damit wird die Dichotomie von öffentlich und privat zu einem „Organisation- und Wahrnehmungsmuster von Realität, von Politik und Gesellschaft. Öffentlich und privat sind ordnende Konzepte, die soziale Beziehungen regulieren, die erlauben, verbieten, gestatten“ (Sauer 1997a: 37).

Dieser Ausschluss des ‚Irrationalen‘ kehrte jedoch nicht zuletzt als „Furcht vor einer unkontrollierbaren öffentlichen Sphäre“ als wiederkehrendes Motiv in die „politische Ideengeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts“ zurück: „Im jeweiligen theoretischen Zuschnitt sollte Öffentlichkeit überschaubar, durchsichtig und berechenbar bleiben – Strukturen, die, darin waren sich die Theoretiker einig, durch die Präsenz von Frauen konterkariert würden“ (Lang 1995: 90f.; vgl. ähnlich Young 1994: 73).

Dass die Regulierung und Normierung von Sexualität eine zentrale Bedeutung in der ordnenden Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit einnimmt, haben vor allem queer-feministische Arbeiten deutlich gemacht (Berlant/Warner 2005; Duggan 2000; El Tayeb 2011: 121ff.). So hat sich die hegemoniale bürgerliche Öffentlichkeit nicht nur durch die Vergeschlechtlichung von Privatheit, sondern auch „durch die Privatisierung von Sex und die Sexualisierung der privaten Person konstituiert“ (Berlant/Warner 2005: 94). Privatheit und Intimität, die ihren Ort in der heteronormativen Familie zugesprochen bekommen, fungieren als das

„ewig zitierte Anderswo des politischen öffentlichen Diskurses, der versprochene Zufluchtsort, der die Bürger von den ungleichen Bedingungen ihres politischen und ökonomischen Lebens ablenkt, sie über die beschädigte Menschlichkeit der Massengesellschaft hinwegtröstet und sie für jede Diskrepanz beschämt, die zwischen ihrem Leben und der angeblich einfache Personalität konstituierenden Intimsphäre auf tritt“ (ebd.: 85).

Dieser Bereich der Intimität wird erst durch öffentlich vermittelte Wissensund Wahrheitsregime über Sexualität, Begehren und Emotionen zum Pendant der Öffentlichkeit. Nicht nur Maskulinismus, sondern auch Heteronormativität ist somit eine wirkmächtige ordnende Kraft in der Herstellung einer gesellschaftlichen Ordnung, die Rationalität als Teil der Öffentlichkeit und Begehren, Bedürfnisse und Beziehungen als Teil von Privatheit definiert.

Die Grenzziehung von Öffentlichkeit und Privatheit ist jedoch keine starre und a-historische Konstruktion. Sie ist „Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen und Ausdruck gesellschaftlicher Kräfte- und Machtverhältnisse“ (Sauer 2001: 187) und daher auch historisch wandelbar, wie dies u.a. die Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegungen der 1970er und 1980er Jahre gezeigt haben. Gerade in der radikalen Zurückweisung, dass geschlechtliche und sexualisierte Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Gewalterfahrungen ‚privat‘, ‚naturgegeben‘ oder vor-politisch seien, lag ein wesentliches Politisierungsmoment.[25] Diese Kämpfe gegen privatisierte, nicht entlohnte und unsichtbare Haus- und Reproduktionsarbeit, gegen die ‚Privatisierung‘ von Gewalt in Beziehungen sowie gegen den Ausschluss von nicht-heterosexuellen Lebens- und Liebesformen resultierten letztlich auch in einer Veränderung der Grenzziehungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit.

I.3. Die Erfindung der Geschlechterdifferenz und die Trennung von Produktion und Reproduktion

Die Erfindung der modernen Geschlechterdifferenz war nicht nur für die Konstruktion von Öffentlichkeit und Privatheit, sondern auch für die Durchsetzung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Rahmen der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise eine entscheidende Voraussetzung. Mit der ursprünglichen Akkumulation wurden die Bereiche der Produktion und Reproduktion getrennt und komplementär und hierarchisch angeordnet: Erstere ist entlohnt und durch einen Arbeitsvertrag reguliert, letztere unbezahlt und durch familiäre – private – Beziehungen strukturiert. Auch diese Trennung zwischen Produktion und Reproduktion wird durch Geschlecht vereindeutigt:

„Während in vormodernen Verhältnissen der Mann als pater familias sowohl die dominierende Rolle im Haus innehatte, als auch an der öffentlichen Sphäre teilnahm (wiewohl in je nach gesellschaftlicher Stellung sehr verschiedenem Maße), wird nun, indem der Mann, der Ausgliederung der Produktion aus dem häuslichen Bereich folgend, das Haus verläßt, die Frau zur eigentlichen Repräsentantin des Hauses“ (Klinger 1990: 108).

Mit der Verbreitung des Kapitalismus werden Männer zu Familienernährern und Frauen zu Hausfrauen, die für die Versorgung und Verpflegung der Ehemänner, die Erziehung der Kinder und die Pflege der alternden Generationen zuständig sind. Über die Ehe wird diese Arbeitsteilung institutionalisiert und die zwei komplementären Geschlechtscharaktere fügen sich zu einem Ganzen zusammen: Die emotionalisierte Frau bekommt zeitlebens einen rationalen Begleiter und der rationalisierte Mann eine emotionale Stütze zur Seite gestellt. Während diese Konstruktion den Mann dazu befähigt, in die Welt zu ziehen und das familiäre Heim als Rückzugs- und Regenerationsort im Hintergrund zu haben, soll die Ehefrau in der Sorge um ihren Ehemann ihr Glück finden. Diese Zuschreibungen werden durch das ‚Wesen der Geschlechter‘ naturalisiert. So findet sich beispielweise in der Deutschen Encyclopädie von 1785 dazu:

„Der Mann, welcher von Natur mehr Stärke hat, ist geschickt zu harter Arbeit und Feldverrichtungen, so wie die Frau zu ruhigen Beschäftigungen und besonders zur Pflegung der Kinder. Der Mann hat mehr Thätigkeit und Feuer als das Weib, er ist kühn und stark und schickt sich zu einem Beschützer,[26] da im Gegentheil die Frau, welche zart und furchtsam ist, eines Schutzes bedarf“ (zitiert nach Frevert 1995: 48).

Die Herausbildung der geschlechtlichen Arbeitsteilung ging einher mit einem bedeutungsvollen Wandel der Familie von einer Wirtschaftsgemeinschaft hin zum Ort der Intimität und Privatheit (Hausen 1990: 280f.). Gisela Bock und Barbara Duden zeigen nachdrücklich auf, wie mit der Moderne die feudale Hausgemeinschaft immer mehr zur bürgerlichen Kernfamilie schrumpfte und sich in diesem Kontext die Rolle der Hausfrau und der Mutter entwickelte (Bock/Duden 1977). Vor diesem Hintergrund entstanden neue Arbeitsaufgaben innerhalb des Haushaltes, die von der (Ehe-)Frau als „Hüterin des Hauses“ (Klinger 1990: 108) übernommen wurden: Die Verantwortung für die Reinheit, Schönheit und Ansehnlichkeit des Heims wurde zur Aufgabe der Frau als Hausfrau, die Erziehung der Kinder und die Vermittlung von gesellschaftlichen Tugenden und Werten zur Aufgabe der Frau als Mutter. Beide ‚Notwendigkeiten‘ ergaben sich erst durch die Neuvermessung der Familie als Ort des emotionalen Zuhauses, das sich in Abgrenzung zur Sphäre der Lohnarbeit herausbildete. Erst dadurch entstand überhaupt die Hausarbeit, deren Ziel auch die Herstellung von Geborgenheit im eigenen Heim ist. Die Mutterrolle wiederum ergab sich aus der Veränderung der Kindheit, die im 19. Jahrhundert zu einer eigenen Lebensphase wurde; davor galten Kinder als kleine Erwachsene. Die Erfindung der Kindheit verlangte den Schutz und die spezifische Betreuung durch liebende, geduldige, sanfte Wesen – Attribute, die im aufkommenden bürgerlichen Mutterbild zusammenflossen. Bewusste Erziehungspraktiken, Stillen, Schlaflieder, Reinlichkeitserziehung, moralische Erziehung, Kinderspiele und „‚mütterliches Eingehen‘“ (Bock/Duden 1977: 134) wurden so erst im 19. Jahrhundert zu Bestimmungen der Mutterrolle.

Jacques Donzelot differenziert zwischen den Diskurslinien, die sich an die bürgerliche Klasse und jene, die sich an die Arbeiterklasse richteten: In der bürgerlichen Klasse ging es bei der „Rezentrierung der Familie auf sich“ (Donzelot 1980: 58) darum, dass die Dienerschaft und die ihnen zugeschriebenen Laster immer mehr zu einem Feind im Inneren der bürgerlichen Familie wurden, die diese bedrohten. Dies führte zu einem „Machtzuwachs, der sie [die bürgerliche Familie, GL] sozial anhebt und ihr gestattet, sich mit gesteigerter Kraft wieder dem sozialen Feld zuzuwenden, um dort Kontroll- und Schutzaufgaben zu übernehmen“ (ebd.). Den Frauen kam dabei die Rolle zu, die neuen Fürsorge- und Erziehungsnormen umzusetzen und zu verbreiten. Für die Arbeiterklasse zeigt Donzelot, dass die Kernfamilie sich gegen das Bedrohliche im Außen abgrenzte. Die „zum Beruf erhobene Hausfrauenarbeit“ (ebd.: 49) stellte dabei in dreierlei Hinsicht eine angemessene Lösung für die neuen Aufgaben in der Familie dar:

„Sie erlaubte es, eine soziale Aufgabe durch einen Zuwachs an unbezahlter Arbeit zu ersetzen. Sie erlaubte es auch, in das Arbeiterleben Hygienemaßnahmen[27] einzuführen was Kinderaufzucht, Ernährung und Verhaltenssteuerung angeht, deren Fehlen die Häufigkeit des frühen Sterbens, der Krankheiten und des Ungehorsams erklärte: liegt der Ursprung des physischen Verfalls und der moralischen Haltlosigkeit der Arbeiterklasse nicht in der Unsitte, in möblierten Häusern zu wohnen und die Mahlzeiten beim Weinhändler einzunehmen, mit einem Wort im Hang zur geselligen Lebensweise, zum Wirtshausleben? Und endlich soll sie erlauben, den Mann durch die Frau kontrollieren zu lassen, weil diese ihm nur soweit ihre Hausarbeit zur Verfügung stellen wird, wie er es verdient“ (ebd.).

In der Arbeiterklasse diente somit die Hausfrauenrolle auch der „Zivilisierung der Arbeiterklasse“ (ebd.), da der Ehe- und Hausfrau die Rolle zugeschrieben wurde, über die Moral und den Lebenswandel des Mannes zu wachen. Als Hausfrauen waren Frauen fortan für den sozialen Frieden und die Ordnung verantwortlich: „Wenn jetzt der Mann lieber ausgehen und in der Kneipe hocken will, wenn den Kindern die Straße mit ihren Spektakel und ihrem Durcheinander lieber ist, so ist das Schuld der Frau und Mutter“ (ebd.: 58). Ähnlich fasst Barbara Schaeffer-Hegel die Aufgaben der Frau in der modernen Familie zusammen:

„Neben der Sicherung des Eigentums und des legitimen Namens […] wird der Familie und insbesondere der keuschen Hausfrau die entscheidende Rolle einer aufwendigen Seelenökonomie zugedacht, die den Zweck hat, den Mann als vernünftigen, also von Emotionen und Affekten unbehelligtes, rationales Individuum zu produzieren“ (Schaeffer-Hegel 1990: 159).

Daraus folgt, dass „Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Sparsamkeit und Geduld“ zu „Kardinaltugenden der Hausfrau“ wurden, mit denen „[w]ährend der Abwesenheit ihres Gatten […] die Gattin, um vor dem Urteil ihres Eheherren und vor dem Urteil der ‚Welt‘ bestehen zu können […], die Häuslichkeit und die heranwachsenden Kinder durchdringen [muss]“ (Hausen 1990: 271). Die Familie, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildete, nahm somit eine zentrale Rolle in der vergeschlechtlichten Ordnung der Gesellschaft ein. Dabei wurde die Frau zum „Hauptstützpunkt aller Um- und Neuformulierungen des Familienlebens“ (Donzelot 1980: 12), über den die Neuerungen der Familie und Kindererziehung durchgesetzt wurden.

Allerdings wurden nicht nur die Tätigkeiten in Haus und Familie neu. Auch deren Definition veränderte sich: Während im „familialen Gesamthaushalt des 18. Jahrhunderts“ (Bock/Duden 1977: 127) Arbeiten wie Kochen und Haushaltsführung nicht als private Dienstleistung für den Ehemann und die Kinder galten, sondern „als sichtbare Ernährung von Arbeitskräften, deren Kosten unmittelbar in die Rechnung des Gesamthaushaltes eingehen“ (ebd.), wurden diese mit der Verbreitung des bürgerlichen Familienideals und der Durchsetzung der geschlechtlichen Arbeitsteilung in Lohnarbeit und Hausarbeit zu unsichtbaren Tätigkeiten.

[28]„In dem Maße, wie sich die Erwartungen an ein persönliches Glück in der Familie, die bürgerliche Familienideologie durchsetzten, verschwanden die Kategorien Arbeit. Hausarbeit wurde fortan als Erscheinungsform von Liebe definiert, gegenüber der außerhäuslichen, Gehalt einbringenden Arbeit des Mannes“ (ebd.: 151).

Bock und Duden zitieren daher eine französische Zeitung von 1786: „Bei uns arbeiten die Männer und die Frauen tun nichts“ (ebd.).

Legitimation erlangte die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung – und damit auch die Annahme, Hausarbeit und Kindererziehung seien keine Arbeit – durch das Wahrheitsregime naturgegebener komplementärer Geschlechtscharaktere: Aus dem weiblichen Wesen und deren naturgegebener Geduld, Passivität und Empathie wurde die naturgegebene Bestimmung der Frau als sorgende Ehefrau und Mutter abgeleitet. Während es in der Natur des Mannes läge, aktiv zu sein und sich in der außerhäuslichen Sphäre zu betätigen, läge es in der Natur der Frau, sich sorgend und aufopfernd um ihre Umwelt zu kümmern und häusliche Geborgenheit herzustellen. Auf diese Weise wurde Reproduktionsarbeit zur „‚schöne[n] Handlung‘“, die „direkt aus der Natur der Frau entspringen [sollte], einer ‚Natur‘, die deutlich triebverzichtende, unterwürfige Züge trägt“ (ebd.: 124f.; vgl. ähnlich Schaeffer-Hegel 1990: 159). Das Zwei-Geschlechter-Modell und die durch es hervorgebrachte Vorstellung einer naturgegebenen Geschlechterdifferenz stellte mithin die diskursive Bedingung für die Legitimierung und Naturalisierung der geschlechtlichen Arbeitsteilung dar. Das weibliche Wesen – gleichgesetzt mit Natur, Emotionalität, Körper und Passivität – wurde als passend für die häuslichen Tätigkeiten des Sorgens, Pflegens, Ordnens und Hütens konstruiert; Männlichkeit – verbunden mit Kultur, Rationalität, Geist und Aktivität – fand seine Entsprechung in der Sphäre der Öffentlichkeit und Produktion.

Freilich konnte diese „patriarchale Geschlechtertrennung […] immer nur in Teilen des Besitz- und Bildungsbürgertums“ realisiert werden (Appelt 1997: 124; s. ähnlich auch Connell 1990: 522). In proletarischen Familien mussten Frauen ebenso einer Lohnarbeit nachgehen – dennoch waren es auch in diesem Fall sie, die für die Reproduktionsarbeit zuständig waren. Die patriarchale Geschlechtertrennung hat nicht nur einen Klassencharakter, sie ist ebenso eine weiße Konstruktion. So zeigt Patricia Hill Collins für den US-amerikanischen Raum, dass das Ideal der geschlechtlichen Arbeitsteilung nicht nur eine weiße Erfindung war, sondern auch die Lebensrealitäten von weißen Menschen widerspiegelte. Denn die der kapitalistischen Produktionsweise inhärenten rassistischen Ausschluss- und Hierarchisierungsmechanismen führten dazu, dass in afroamerikanischen Haushalten Frauen aufgrund ökonomischer Notwendigkeiten meist einer Lohnarbeit nachgehen mussten (Collins 1991: 46; s.a. Crenshaw 1989: 156ff.). Als Konsequenz leitet Collins daraus ab, dass gerade durch den weißen Subtext der Geschlechtertrennung all jene Frauen, die dem weißen Ideal nicht entsprachen, zu devianten[29] Weiblichkeiten wurden (Collins 1991: 32). Denn als Kehrseite davon, dass es als ‚natürlich‘ weiblich galt, nicht außerhalb des Hauses zu arbeiten, wurden schwarze ebenso wie proletarische Frauen zur Abweichung dieser als Norm gesetzten Weiblichkeit. Obwohl die geschlechtliche Arbeitsteilung von Beginn an also bei weitem nicht auf alle Familien zutraf, wurde sie mit der fortschreitenden Ausbreitung des Kapitalismus zur idealen Form von Familie konstruiert, die andere Lebenserfahrungen ausblendete und zur Abweichung formte.

Während in dem Ideal der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung Reproduktionsarbeit nicht als Arbeit galt, zeigten feministische Kritiken, dass diese unbezahlte Arbeit von Frauen notwendig für die kapitalistische Produktionsweise ist. Wenngleich insbesondere in marxistisch-feministischen Debatten in den 1970er und 1980er Jahren kontrovers diskutiert wurde, ob Hausarbeit im Marxschen Sinne als produktive Arbeit gelten kann (vgl. dazu Dalla Costa 1978; Hartmann 1979), herrschte schnell Einigkeit darüber, dass die privat erbrachte Reproduktionsarbeit notwendige Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise ist. Durch Hausarbeit werden gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten in private Tätigkeiten umgewandelt und als Ehefrauen und Mütter sichern Frauen die gesellschaftliche Reproduktion der Arbeiter_innenklasse. Das Kapital profitiere somit von der „Funktion des Uterus“ (Dalla Costa 1978: 36), weil die Frau die „gesellschaftliche Fabrik“ organisiert (ebd.: 39). Darüber hinaus übernehmen Frauen die Sicherung und Erziehung der Nachkommenschaft. Nicht nur versorgen und pflegen sie die Kinder, sie sollen auch dafür sorgen, dass die Nachkommen sich in die Anforderungen einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft einfügen, indem sie hegemoniale Werte und Weltanschauungen vermitteln (ebd.). Mit der Konstruktion der Familie als Ort der Geborgenheit stellen Frauen zudem einen wichtigen Gegen-Ort zur entfremdeten Lohnarbeit dar (Haug 2007). Vor diesem Hintergrund argumentieren marxistisch-feministische Theoretiker_innen, dass Hausarbeit ebenso wie Lohnarbeit gesellschaftlich organisiert und ein Ausbeutungsverhältnis ist. Die Ausbeutung wird jedoch verschleiert durch den unbezahlten Charakter sowie durch den Mythos, die Arbeiten seien Tätigkeiten aus Liebe und mithin Ausdruck einer ‚natürlichen Weiblichkeit‘.

I.4. Die Erfindung der Geschlechterdifferenz und die moderne gesellschaftliche Ordnung

Durch die ab dem 18. Jahrhundert neu entdeckten ‚Wesensunterschiede‘ der Geschlechter wurde – so haben die vorangegangenen Ausführungen gezeigt – eine gesellschaftliche Ordnung legitimiert und naturalisiert, die sowohl Arbeit als auch Öffentlichkeit und Privatheit qua Geschlecht in spezifischer Weise definiert. Damit erlangte die Geschlechterdifferenz „als Ordnungsund[30] Vergemeinschaftungsinstrument eine geradezu übermächtige Bedeutung – eine Bedeutung, die sie in dieser Form nie zuvor besessen hatte“ (Frevert 1995: 130). Die Naturalisierung der Geschlechterdifferenz naturalisierte so auch das androzentrische, bürgerliche, weiße, heteronormative Projekt der Moderne mit seinen hierarchisierenden Grenzziehungen und Ausschlüssen.

In diesem herrschaftlichen Projekt ist auch die Genese des modernen westlichen Staates anzusiedeln. In welcher Art und Weise der moderne westliche Staat auf dem Mythos einer naturgegebenen Geschlechterdifferenz beruht und durch welche politischen Regelungen und Strategien der Staat diesen Mythos bedient, stellt den Gegenstand feministischer Staatstheorie dar, die in ihren grundlegenden Theoretisierungen und Konzepten in den nachfolgenden Kapiteln dargelegt wird. Dabei soll sichtbarwerden, dass die komplementäre Geschlechterlogik auch den modernen westlichen Staat als ‚naturgegebene‘ Ordnungslogik durchzieht.

Geschlecht, Macht, Staat

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