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Prolog

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Rasmus Gehler war nicht so blöd, das Zeug selbst zu nehmen, das er verkaufte, dazu hatte er schon zu viele Idioten an einer Überdosis krepieren sehen. Aber er hielt sich für einen harten Kerl, der etwas aushalten konnte, deshalb war er sicher, mit einem blauen Auge davonzukommen, wenn er gehorchte. Von einem Mal würde er noch lange nicht abhängig werden, auch wenn es sich in diesem Fall um reinen Stoff handelte, weil er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, die Ware mit Reispuder, Borsäure oder Novocain zu strecken.

Zuerst hatte er daran gedacht, trotz der auf ihn gerichteten Pistole Gegenwehr zu leisten, aber wenn er die Chancen gegeneinander abwog, war es einfacher, sich die Nadel in die Vene zu stecken, das Kokain in seine Blutbahn zu drücken und sich anschließend selbst an das Heizungsrohr zu fesseln, wie es von ihm verlangt wurde: erst die Füße, dann die linke Hand, danach die andere durch die hingehaltene Schlinge stecken, während der Lauf der Waffe gegen seine Schläfe drückte. Zulassen, dass auch diese Hand an das Rohr gebunden wurde.

Was soll schon sein, dachte er. Ein bisschen Rausch, vielleicht würde er sogar kotzen, weil er das Zeug nicht gewohnt war, na schön. Morgen war er wieder auf dem Damm, dann würde er für alles, zu was er heute gezwungen wurde, blutige Rache nehmen. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und strafte sein Gegenüber mit Missachtung, während er seinen Gewaltfantasien nachhing.

Eigentlich hatte er vorgehabt, gleichgültig zu bleiben und zu zeigen, dass nichts ihn beeindrucken konnte, doch schon nach kurzer Zeit wurde ihm angenehm leicht zumute. Alles war mit einem Mal so intensiv: die Farben der Flaschen und Dosen auf dem Tisch, das Tropfen des Wasserhahns, sein Atem. Er konnte spüren, wie sein Herz schneller schlug und Geist und Körper sich belebten. Hellwach war er und wesentlich cleverer als all seine Neider und Konkurrenten zusammen. Seine Gedanken überschlugen sich, sein Verstand arbeitete doppelt so schnell wie sonst. Ihm fielen zehn, zwanzig, hundert Möglichkeiten ein, wie er sich befreien und die Demütigung heimzahlen konnte. Er brauchte bloß seine Muskeln anzuspannen und die Wand einzureißen. Er brauchte bloß einmal tief einzuatmen und dem Heizungsrohr einen Tritt zu geben, dann konnte er sich das Ding schnappen und damit alles zu Kleinholz verarbeiten, was ihm im Weg stand.

Das Bedürfnis umherzulaufen, um mit seinen Gedanken Schritt zu halten, wurde übermächtig. Rasmus Gehler versuchte aufzuspringen, wurde aber von den Fesseln daran gehindert. Er brauchte Raum, er brauchte Luft zum Atmen, er brauchte Bewegungsfreiheit! Sein Brustkorb verlangte danach, sich auszudehnen. Geradezu euphorisch zerrte er an den Stricken; sie gaben nicht nach. Offenbar hatte er vorhin ganze Arbeit geleistet, der beste Beweis für seine Überlegenheit. Wenn er erst loszog, um all die Dinge zu tun, die mit einem Mal klar und einleuchtend vor seinem geistigen Auge standen, konnte ihn niemand mehr aufhalten, niemand. Nicht mal die Bullen.

Ein Stich an seinem Arm lenkte ihn ab. Unwillig schüttelte er sich, konnte aber nicht verhindern, dass ihm eine zweite Dosis Kokain verabreicht wurde. Sollte ihn das etwa in die Knie zwingen? Lächerlich! Er war zehnmal so schlau wie jeder andere, er war zehnmal so stark, er war unbesiegbar. Wenn er wollte, konnte er das Gebäude auseinandernehmen. Wenn er wollte, konnte er die gesamte Unterwelt von Berlin unter seine Knute bringen. Wenn er wollte, konnte er durch Wände gehen.

Warum war es bloß so heiß? Er schwitzte wie eine Sau. Und sein Handgelenk blutete. Vermutlich hatte er sich die Verletzung bei seinen Befreiungsversuchen zugezogen, das war ihm gar nicht aufgefallen. Er spürte keinen Schmerz; ein weiterer Beweis seiner Überlegenheit. Rasmus Gehler lachte. Er würde es mit jedem aufnehmen, der ihm in die Quere kam. Mit jedem.

Die nächsten Einstiche bemerkte er nicht mehr, auch nicht, dass die Spritze wahllos in Venen, Fleisch und Muskeln gestoßen und sein Körper mit Kokain überflutet wurde. Sein Herz schlug unregelmäßig, setzte einmal kurz aus und schlug danach so hart, dass er glaubte, es müsse jeden Augenblick durch seine Brust brechen.

Die Schatten im Raum hatte er vorher nicht bemerkt, doch jetzt sah er, dass sie hinter dem Schrank und unter dem Tisch lauerten, dass sie allmählich näherkrochen und darauf warteten, dass er sich eine Blöße gab. Das Tropfen des Wasserhahns steigerte sich und hallte wie eine Trommel in seinen Ohren. Und war da nicht ein Kratzen in der Wand zu vernehmen? Das mussten Leute sein, die zwischen den Mauern lebten und ihn beobachteten. Die ihn in den Wahnsinn treiben wollten. »Kommt raus, ihr Feiglinge!«, brüllte Rasmus. »Zeigt euch, wenn ihr euch traut!«

Insekten krabbelten über seine Haut, Flöhe, Spinnen, Ameisen, die sicher diese Dreckskerle auf ihn losgelassen hatten. Hektisch versuchte er, die Viecher abzustreifen, aber seine Hände waren immer noch gefesselt, so musste er ertragen, wie sie höher krochen und immer höher, wie sie in seine Nasenlöcher krabbelten, hinein und wieder heraus, wie sie sich in seine Haut bohrten und durch seine Bauchhöhle arbeiteten, durch seine Blutbahn, bis sie in seinem Kopf waren und seine Gedanken fraßen.

Er brüllte, weil er plötzlich Schmerzen in der Brust verspürte, unvorstellbare Schmerzen, während sich seine Muskeln verkrampften und seine Organe dabei zu erdrücken schienen. Ein Gurgeln drang aus seinem Mund, als ihn der Herzinfarkt einem Stromstoß gleich ereilte. Ein letztes Mal bäumte sich Rasmus Gehler auf, ehe er zusammenbrach.

Zehn, zwanzig Sekunden lang herrschte abwartende Stille.

Dann stieß ein Schuh den Körper an, der leblos am Heizungsrohr hing. Behandschuhte Hände überzeugten sich davon, dass der Rauschgifthändler wirklich tot war, verstauten die Spritze in einem Beutel und diesen in einer Manteltasche. Schließlich entfernten sich lautlose Schritte und ließen nur das Tropfen des Wasserhahns zurück.

Schwarzer Donnerstag

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