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Der Adel schlägt zurück
ОглавлениеEintrag Nummer 1 des Gefangenenverzeichnisses lautet: N.N. Crell, eingeliefert am 18.01.1591 wegen Calvinismus bis zum 04.10.1601. Wer war dieser Crell (nach unserer Schreibweise Krell geschrieben)?
Er war ein verantwortungsbewusster, liberaler Politiker, der an der Schwelle zum 17. Jahrhundert, als Mitteleuropa durch Religionskämpfe erschüttert wurde, den Ausgleich suchte. Unter der Regierung des Kurfürsten Christian I. von Sachsen (1586-1591) bekam dieser Mann, sein Kanzler, freie Hand, den europäischen Humanismus der Renaissance direkt an die Aufklärung anzuschließen. Nikolaus Krell starb am 9. Oktober 1601. Über seine Hinrichtung gibt es viele Bücher, über seine Leistungen kaum eine Zeile. Er war einer, der ungefragt das europäische Kräfteverhältnis verändern wollte.
Nikolaus Krell wurde 1550 in Leipzig geboren – leider zu früh. Sein Vater war Ratsherr und Rechtsanwalt. Der Sohn folgte dem Beispiel. Nach der Fürstenschule in Grimma kam die Universität Leipzig. Die Würde eines Dr. iur. erwarb Krell 1577/78 an den Universitäten von Valence und Genf. Dort lernte er die Sicht des Calvin-Nachfolgers Breda und die der Jesuiten kennen und schätzen. Wieder in Leipzig, wurde Krell zum Professor berufen. Eine Bilderbuchkarriere. Bereits 1580 war Krell Erzieher des Kurprinzen Christian.
Aus seinen Ansichten machte Krell nie ein Hehl. Genau das brachte die gesamte orthodoxe lutherische Geistlichkeit gegen ihn auf. Sie hatte nach langen Lehrstreitigkeiten sämtliche strittigen Punkte in einem Dogma zusammengefasst, das alle sächsischen Staatsdiener zu unterschreiben hatten. Die Anhänger des liberalen Melanchthon waren 1574 aus Sachsen vertrieben worden, weil sie die Verschiedenheit und das Nebeneinander der Auffassungen erlaubten. Sie sahen in Krell nun einen Hoffnungsträger. Christian I. erklärte tatsächlich 1586 in der ersten Amtshandlung: „Ich will nur Christianus sein!“ Da diese Festlegung gegen das Konkordienluthertum ge richtet war, führte das auch zur tödlichen Feindschaft Krells mit der Kurfürstin Sophie.
Christian I. hatte durch Krells Einfluss bereits frühabsolutistische Herrschaftszüge im Auge, d. h., Schul-, Personal-, Wirtschafts-, Kirchen- und Außenpolitik gingen allein vom Landesfürsten aus. Die Geistlichkeit sollte ebenso weitgehend entmachtet werden wie der Adel und dagegen das Bürgertum gestärkt. 1587 wurde die Konkordienformel aufgehoben. Nun konnten auch Katholiken und Calvinisten angestellt werden oder Grundbesitz erwerben. Alle mittelalterlichen Formeln (z. B. die Teufelsbeschwörung bei der Taufe) gehörten nun nicht mehr zum Bekenntnis. Jedes Polemisieren von der Kanzel gegen andere Religionen war untersagt. Die Antwort der Geistlichkeit war eine maßlose Hetze. Oberhofprediger Mirus rief dem Kurfürsten von der Kanzel zu: „Euer Kurfürstliche Gnaden werden dem Heiligen Geist nicht das Maul stopfen.“
Die orthodoxen Lutheraner assistierten ihm: „Schenk doch diesen bösen Buben ein, und lass sie saufen höllischen Wein!“ Krell beeindruckte das nicht. Auf dem von Melanchthon geschaffenen Fundament aufbauend, versuchten er und seine Mitstreiter der immer siegreicher vordringenden Gegenreformation eine Bastion des Bürgertums entgegenzustellen.
Treffen wir das erste Fazit: Dr. Nikolaus Krell, seit Frühjahr 1589 allmächtiger Kanzler und engster Ratgeber des Kurfürsten Christian I., hatte gemeinsam mit gleichgesinnten Theologen begonnen, in einer „Zweiten Reformation“ das calvinistische Glaubensbekenntnis in Kursachsen einzuführen. Da damit eine frühabsolutistische Innenpolitik verbunden war, machte er sich den landständischen Adel zum Feinde. So wurde er nach dem frühen Tod von Christian I. am 24. September 1591 auf Betreiben der Landstände und der Kurfürstinwitwe entmachtet, verhaftet und in der Nacht vom 17. zum 18. November auf den Königstein gebracht, wo er in den östlichen Turm der Georgenburg eingesperrt wurde. Der Turm, 1806 abgebrannt, hieß bald der „Krellturm“. Dort saß Krell unter menschenunwürdigen Bedingungen zehn Jahre ein, wurde immer wieder verhört und in dem ab 1597 gegen ihn geführten Inquisitionsprozess auch gefoltert. Schließlich wurde am 8. September 1601 in Prag das Todesurteil ausgesprochen, das ihm am 22. September 1601 auf der Festung durch den Dresdner Amtsschösser verlesen wurde. Zur Urteilsvollstreckung wurde der todkranke Krell nach Dresden gebracht, in der Gerichtsstube des alten Dresdner Rathauses verwahrt und am 9. Oktober 1601 zwischen 11 und 12 Uhr auf dem Jüdenhof am Dresdner Neumarkt öffentlich enthauptet. Doch der Reihe nach.
Urheber des Ganzen war ein in der damaligen Zeit sehr beliebtes Ränkespiel des sächsischen Adels. Dieses brachte am Ausgang des 16. Jahrhunderts einen Mann zu Fall, der vom Erzieher des Prinzen Christian nach dessen Regierungsantritt erst zum Geheimrat und danach zum kursächsischen Kanzler aufstieg, „weil er sich im höchsten Grade brauchbar erwies und das unbedingte Vertrauen seines Herrn erwarb“. Doch was man damals noch nicht wusste, die Amtszeit des am 25. Juni 1589 zum Kanzler ernannten Dr. Nikolaus Krell sollte nur zwei Jahre dauern. Der bürgerliche Krell hatte sich während dieser Zeit den Hass der sächsischen Junker zugezogen, die es dann meisterlich verstanden, unter dem Mantel der Religion das „bürgerliche Subjekt“ auszuschalten.
Als Christian I. nach dem Tode seines Vaters, des Kurfürsten August, im Februar 1586 den Thron bestieg, war in Sachsen ein Streit über Religionsfragen anhängig. Die Lutheraner, als Inhaber der sächsischen Staatsreligion, gestatteten den Kalvinisten nicht, ihren Glauben öffentlich auszuüben. Der freisinnige Krell, machte sich unter anderem bei der lutherischen Geistlichkeit unbeliebt, weil er die Teufelsbeschwörung als Ausdruck des Aberglaubens verbot. Das führte zu Unruhen im Volk.
Eine Volksbibel mit kryptocalvinistischen Glossen, die sog. Crellbibel, und ein entsprechender Katechismus wurde herausgegeben. Am 4.7.1591 erfolgte die Abschaffung der Exorzismusformeln bei der Taufe.
Der von ihm bewirkte Befehl zur Abschaffung des Exorzismus, welchen der Kurfürst Christian I. bei der Taufe seiner Tochter Dorothea selbst durchsetzte, führte fast zur Rebellion und machte eine Menge Priester unglücklich, da sie – wenn sie den Befehl nicht befolgten – des Landes verwiesen wurden. In Dresden, z.B. drohte ein Fleischer, den Geistlichen den Kopf zu spalten, wenn er sein Kind nicht mit dem Exorzismus taufe.
1593 verschärfte sich die politisch aufgeladene Stimmung. In Leipzig kam es zu einem „Calvinistensturm“, bei dem hitzige lutherisch-strenge Studenten in Häuser der Calvinisten eindrangen, diese plünderten und Unheil stifteten.
Nicht nur wegen des Verbots der Teufelsaustreibung und der Abschaffung des Exorzismus, sondern wegen einiger anderer ähnlicher Eingriffe in das lutherische Kirchenwesen wurde Krell von der hohen evangelischen Geistlichkeit als „heimlicher Kalvinist“ ins Gerede der Leute gebracht. Der Adel nützte diese von ihm selbst künstlich entfachte Stimmung ans, um den Kanzler aus Amt und Würden zu treiben. Die Motive für Dr. Krells Sturz macht ein Bericht deutlich: „Aber auch der Adel war ihm feindlich gesinnt, weil er die Jagdrechte beschränkte, die Adels Vorrechte bei Stellenbesetzungen zu schmälern trachtete und die hohen Staatsämter gern Männern aus dem Bürgerstand übertrug, wenn sie dazu tauglich waren.“
Diese Schmach, die ein bürgerlich kursächsischer Kanzler den Landjunkern antun konnte, war unverzeihlich. Hatte doch der Adel von jeher seine Söhne bei Hofe untergebracht und vom Einfluss dieser dann profitiert. Krell konnte oder wollte aber nicht die Missstimmung beim Adel, der Geistlichkeit und großen Teilen des Volkes zur Kenntnis nehmen und vertraute zu sehr auf seinen Einfluss gegenüber den Kurfürsten. Er wusste, dass er dem Kurfürsten unentbehrlich war, dass die Gnade seines Fürsten ihn gegen alle Angriffe absicherte.
Die Landeskirche sollte fortan Gleiche unter Gleichen sein. Dagegen musste schnellstens etwas geschehen. Der Himmel hatte ein Einsehen. Bereits 1591 starb, nach fünfjähriger Herrschaft, Christian I., angeblich an einer Krankheit, die ihn überraschend auf der Jagd ereilte. Manche sprachen von „Darmgeschwüren“, andere von Säuferwahn. Nun kam die große Stunde des Zusammenspiels von Geistlichkeit und Adel.
Das bis dahin bestehende heimliche wurde nun zu einem offenen Bündnis, das sich über Recht und Gesetz bedenkenlos hinwegsetzte. Der Kurfürst hatte in seinem Testament zwar bestimmt, dass „der Kanzler Dr. Krell an der Spitze der Verwaltung bleiben und Vollstrecker des Testaments sein sollte“, aber noch ehe Christian I. beigesetzt war, wurde Krell am 23. Oktober 1591 auf Forderung eines Ausschusses der sächsischen Ritterschaft gestürzt, verhaftet, zunächst in seinem Haus gefangen gehalten.
Auch Krells Freunde fielen einsetzendem Terror zum Opfer oder flüchteten ins Exil. Universitäten, Kirchen, Rathäuser wurden nach aufklärerischen Schriften durchwühlt. Das Andenken an jene kurze Periode sollte möglichst vollständig getilgt werden.
An jenem Tage, da man den Kurfürsten zu Grabe trug und ihm in der Leichenpredigt seine Trunksucht vorhielt, brachte man seinen Kanzler auf die berüchtigte Festung Königstein.
Der Administrator, Friedrich Wilhelm, veranlasste dies am 18. November desselben Jahres. Dort musste Krell in demselben Gefängnis schmachten, wo vorher der Hofprediger Mirus auf sein Geheiß hin gesessen hat.
Hier aber wurde er nicht seinen Stand gemäß behandelt, wie er in einem „Wahrhaften und kurzen Bericht wie man in meinem Custodia (Gefängnis) zu Königstein mit mir umgegangen (ist)“ selbst erzählt. Die Hauptpunkte der Biografie Krells sind aus vielen Schriften bekannt, so dass wir sie getrost weglassen können. Weniger bekannt ist aber sein Schicksal im Gefängnis, welches hier doch erwähnt werden soll.
Es war nachts um 12.00 Uhr, als Krell unter Kavalleriebedeckung von Dresden abgeführt wurde, wo er gegen 6.00 Uhr ankam. Sein Gefängnis fand er zwar geheizt, jedoch die Kammer, wo er schlafen sollte, in ganz schlechten Zustand. Die Decke war kaputt, so dass man durch das Dach sehen konnte. Als Schlafstelle ein altes Spanbett, voll Steine, Staub und Kot, aber ohne Federbetten. Wenn nicht mitleidige Seelen, der Wachtmeister Abraham Pfeil und die Frau des Schlosshauptmanns, ihm einige Stühle, über die er seinen Pelz warf, so musste er die ersten Nächte auf einer hölzernen Bank schlafen. Erst am vierten Tag bekam er auf vielfache Fürbitte seiner Familie ein besseres Lager.
Anfänglich besuchte ihm der Wachtmeister und Hauptmann Christian Stange täglich. Bald aber war der Erstere (Krell sagt er wisse nicht warum) verhaftet und der Letztere entschuldigte sich immer, dass er zum Besuch keine Zeit habe. Und doch hatte er, wie Krell sagt „Zeit zum Saufen“. Wahrscheinlich fürchtete er, man möchte ihm des Einvernehmens mit dem vornehmen Gefangenen beschuldigen. Krell musste sich nun in allen an den Gefängniswärter wenden, welcher im, da er ein Trunkenbold war, viel Unannehmlichkeiten bereitete.
Einst war dieser Wärter so betrunken, dass er mit dem für Krell zubereiteten Essen die Wendeltreppe hinabstürzte. Ohne sich nun weiter um den hungernden Gefangenen zu kümmern, taumelte er nach Hause und Krell musste hungernd ins Bett gehen.
Krell bekam jährlich immer ein- bis zweimal heftige Anfälle von Podagra (= Gicht G.P.). Er bat also gleich nach seiner Ankunft auf dem Königstein um Arznei aus Dresden, die man ihm verweigerte. Wie der Hauptmann ihm nicht undeutlich zu verstehen gab, befürchtete man, er möchte Gift von seinen Freunden erhalten. Aus demselben Grund wurde auch sein Koffer, in Gegenwart des Wachtmeisters und des Pirnaischen Amtsmanns genau durchsucht. Als Krell fragte, ob man ihn denn, wenn er eine Krankheit bekommen würde, eher verderben als Arznei zu geben, antwortete der Hauptmann naiv genug: Ja.
In der Folge sandte man ihm zwar Arznei, besonders Purgir-Pillen, der Hauptmann schickte sie aber dem Wachtmeister, der erst an seinen Hund die Probe machen sollte, und dieser gab sie mit der Bemerkung zurück: Er wäre selbst der Hund gewesen, der sie gekostet hätte.
Als Krell am Ende des Jahres 1591 wirklich und zwar äußerst heftig die Podagra bekam, musste er aus Mangel an ärztlicher Hilfe, die man ihn, so sehr er auch darum bat, versagte, über 17 Wochen das Bett hüten.
Erschütternd ist es, wenn man ihn, den ehemaligen Minister und Liebling des Kurfürsten in jener Krankheit klagen hörte, dass es in seiner Schlafkammer an sechs Orten regne und schneie – dass sie auf einer Seite fast ganz offen – beständig vom Wind durchgeweht wird, dass Mäuse und anderes Ungeziefer ihn Tag und Nacht plage, dass er außerhalb der Mahlzeiten kein Trunk Bier oder anderes, wenn man auch gleich „sein Leben darauf gestanden“ erlangen könne – dass er sich bis weil sein Bett selbst machen müsse – dass man ihm das Haar nicht verschneiden lassen wolle – das er „vor Unflat stinke, das er Haare habe wie die Zigeuner“ usw.
Zwar erlaubte man den Seinigen, ihn während der Krankheit mit Wäsche und Essen zu versorgen. Allein Erstere durchwühle man ehe er sie erhielt, und selbst das Essen blieb nicht von einer Durchsuchung verschont. Jede gefüllte Taube, jede Wurst wurde aufgeschnitten und sogar die Butter mit Messern „durchgrubelt“, der Wein mit einen Holz umgerührt, alles damit er weder Mittel noch Briefe zum Selbstmord erhalten konnte. Ein ganzes Vierteljahr verweigerte man ihn Papier und schickten es ihn auch seine Freunde aus Dresden – zu diesen oder anderen Gebrauch – so hielte man es anfänglich gegen die Sonne, um zu sehen, ob nicht vielleicht etwas darauf geschrieben sei und dann letztendlich gab man es ihm nicht einmal. Daneben musste er sich noch beständigen Spott und bittere Bemerkungen über seine calvinistischen Ansichten, sowohl vom Hauptmann, als auch vom Kerkerknecht gefallen lassen. Ersterer gab ihm sogar Bücher gegen calvinische Lehre und schrieb, um ihn zu ärgern, in das
eine Buch den Vers: „Das buch liest ein Christ mit bedacht, – einem Calvinisten das Herz im Leibe zubrach“
Überhaupt behandelte ihn der Hauptmann viel härter, als es seinen Instruktionen lautete. Boten, die Krell absendete, hielt er auf und was er nach Dresden geschrieben haben wollte, schrieb er nicht allemal. Er borgte ihm Geld ab und ließ es sich dann von den Gefangenen fast wieder „abbetteln“. Nicht einmal neues Stroh wollte er ihn ins Bett geben lassen – und vor 7 Uhr durfte der Knecht nicht einheizen. Beschwerte sich Krell darüber, so hieß es, er könnte schlafen bis 8 Uhr. Nach Tische heizte man ihn gar nicht ein, wenn er oder sein Mitgefangener – ein gewisser Magister Montag – es nicht selbst tat. Kurz, in Allen war ihm der Hauptmann Gegner, welcher sich, wie Krell schreibt „hoffertig auch sehr hoch übermühtigk“ betrug, „nicht indenk wer er anfengklich als ehr regen hofe kommen gewesen, auch was ich ihm bey Hofe wo ich kundt gutts erzeiget, Gott wirdts aber zu seiner Zeit wohl richten.“
Abb. 1: Nikolaus Krell, Ölgemälde eines unbekannten Künstlers
Der regierende Vormund des noch minderjährigen Christian II., Herzog Wilhelm von Sachsen-Altenburg, teilte zwar Krells Beschwerde dem Hofe mit. Dieser aber verhöhnte Krell in seiner Antwort an den Administrator, indem er schrieb, Krell, der „sich wegen des bösen Gefängnisses und des darin zu erleidenden Gestanks beschwere, habe es doch selbst erbaut, gelehrte Leute und Prediger darein gesetzt und zwar zu dem Ende, das göttliche Wort zu vertilgen und zu unterdrücken“, weshalb er nun „Doktor Krell, darinnen vorlieb nehmen kann“.
Doch wessen sollte man diesen Ketzer beschuldigen? Die in aller Eile von Jenenser Professoren zusammengestoppelte Anklage schmolz schon beim Hinsehen auf vier nicht beweisbare Punkte zusammen. Das Reichsgericht in Speyer verlangte auf Wunsch der gekrönten Häupter Westeuropas: „Verurteilen oder freilassen!“ In ihrer Gewissensnot mussten sich die Bewahrer Luthers an seine päpstlichen Todfeinde in Wien wenden. Auch dort wusste man keine Anklage. Also blieb nur die vollkommen unzuständige Appellationskammer Prag. Sie urteilte: „Hinrichtung durch das Schwert, weil Krell hat den Bestand des Hauses Österreich turbieren wollen.“
Alle gegen Krell, dem man nun wohl oder übel den Prozess machen musste, erwiesen sich als haltlos und fielen auf die Urheber des Verfahren – Geistlichkeit und Adel – zurück.
Erstens:
„Wann denn nun dieser >ehrliche Vogel< seiner Kurfürstlichen Gnaden, wie ihm seiner Pflicht nach wohl gebühret, zur Erhaltung guten Friedens im Heiligen Reich und diesen Landen, zu Nutz und Besserung seines lieben Vaterlandes hatte treulich dienen und rathen und nicht aufs Rohr führen wollen, so hätte er in solcher schweren hochwichtigen Sachen erfahrene Leute und die es mit dem Rath und Vaterlande treulich meinen, in den Rath nehmen müssen. In seinem Kanzellariat-Amte ist kein ehrlicher vom Adel …“
Hier offenbarte es sich zum ersten Mal. Der Adel monierte, dass keiner Ihresgleichen in Rat und Kanzlei untergebracht war und somit gingen Einfluss und Pfründe dahin.
In einem Schreiben Krells an seine Verwandten, worin er unter anderen die bekannten Klagen wiederholt, gibt er ihnen Ratschläge sein Gefängnisaufenthalt zu mildern oder ihn gar daraus zu erlösen. Unter anderen beruft er sich auf Peucers Beispiel, der nach langer Haft vom Fürst Joachim Ernst von Anhalt freigelassen wurde und bittet seine Verwandten, den Landgrafen Wilhelm von Hessen und die Fürsten Hans Georg und Christian von Anhalt zu einer Fürbitte zu bewegen.
Allein diese und andere Wege des Rechts, die er als schlauer Kopf und trefflicher Jurist vorschlug, halfen ihm nichts.
Zweitens:
„Damit auch sein unkristlich Vorhaben möchte seinen Fortgang gewinnen, so hat er den Kurfürsten zu einem Testament überredet, welches wohl gut gewesen, wenn es bei Zeiten geschehen und auch mit Gedächtnis und Wohlfahrt der Landschaft. Aber weil er es selbst geschmiedet, hat er seiner nicht vergessen, sondern sich selbst zum Legator eingesetzt und durch seine böse, falsche Politik zum Verderb seines Vaterlandes zum Regiment-Adjuncten sich selbst angegeben. Er hat viele ehrliche Herren vom Adel angegriffen.“
Und der nächste Fakt. Christian I. hatte sich mit der Berufung des aus bürgerlichen Kreisen stammenden Dr. Krell zum Kanzler über die Interessen des Feudaladels hinweggesetzt, an dessen Spitze er stand und den er repräsentierte. Und hinzukam, dass Christian I. in seinem Testament seinen Kindern Dr. Krell aufs wärmste empfohlen hat:
»Diesen sollt Ihr für Euren Vater an meiner Statt achten; dem sollt Ihr folgen. Wie ich ihn bei meinem Leben treu befunden, also, hoff ich, wird er auch Euch treu sein und Euer sowohl als der ganzen Landschaft Wohlfahrt fördern.«
Deshalb musste Dr. Krell weg. Kein Mittel dazu war zu schlecht. Die ergrimmten Herren vom Adel fochten das Testament an, nahmen die Sache aber gleich in die eigene Hand und ließen Dr. Krell auf dem Königstein verschwinden.
Aber da war die Tatsache: Nichts Verdächtiges oder Krell Belastendes wurde unter den in seiner Wohnung und in seiner Kanzlei beschlagnahmten Papieren gefunden. Trotzdem blieb Krell in Haft.
Und auch die Kurfürsten-Witwe wurde in das Ränkespiel des Adels eingebunden. Vergeblich wandte sich die Frau des auf dem Königstein inhaftierten Kanzlers an sie. Schließlich beschwerte sich Dr. Krells Frau bei dem Reichskammergericht in Speyer „wegen verweigerter und verzögerter Justiz“. Dasselbe erließ, wie bereits erwähnt, ein sogenanntes mandatum poenale sine clausula, in dem „geboten wurde, den Dr. Krell unverzüglich vor Gericht zu stellen oder ihn auf freien Fuß zu setzen“. Doch das kümmerte am Dresdner Hof niemanden.
Abb. 2: Festung Königstein mit Johan-Georgen Burg und heute nicht mehr vorhandenem Krellturm Kupferstich von Martin Engelbrecht (1684 – 1756)
Erst am 21. Januar 1595, nach mehr als dreijähriger Haft, erhielt der Gefangene auf dem Königstein eine schriftliche Anklage. Am 26. Januar 1595 erfolgte das erste Verhör. Hiernach diktierte Dr. Krell zwei Tage lang dem Notar seine Entgegnung auf die Anklage, in der er das hinterlistige Verfahren als gesetzwidrig bezeichnete, denn: „Die ganze Klage beruht nur auf Verdacht, weshalb er vor allem freizulassen, ihm aber doch jedenfalls die Berathung mit den Seinen und mit Rechtsgelehrten nicht abzuschneiden sei.“
Aber Krell kommt nicht frei. Auch nicht, als ein Gutachten der Juristenfakultät in Tübingen ein Jahr später, am 21. Mai 1596, warnt, „wenn Krell die Sache an das Kaiserliche Kammergericht gebe, dies sowohl einer löblichen Landschaft zu merklichen Nachteil und Verkleinerung, consequenter auch Seiner Fürstlichen Gnaden halben zu etwas Schimpf gereichen möchte“.
So vergehen die Jahre. Nach zehnjährigen Prozess erfolgte endlich sein Todesurteil, welches man von der Appellationskammer in Prag – es wurde darauf bereits verwiesen – eingeholt hatte, weil man fürchtete, er würde jeden inländischen Richterspruch als parteilich verwerfen.
Das Prager Hofgericht, dem die Untersuchungsakten übergeben werden, fällt das Urteil in Krells Abwesenheit, ohne Zeugen zu hören und ihm gegenüberzustellen, nur auf Grund der schriftlich vorliegenden Zeugenaussagen, die fast ausschließlich von Adel und Geistlichkeit stammten oder auf Hörensagen und Gerüchten beruhen! Aus dann insgesamt 90 sogenannten Zeugenaussagen zieht das Prager Hofgericht am 8. September 1601, zehn Jahre nach der Verhaftung Krells, den Schluss: „Dr. Krell hat die Relegion ändern und den Calvinismus (in Sachsen) einführen wollen. Er hat die Einigkeit des Reiches und der Stände turbiren wollen und also sich gelüsten lassen, das crimen Laesae Majestatis zu begehen.“ … „Er hat die rittermäßigen und anderen Unterthanen verachtet und schmählich angegriffen … Und so wird gegen den Angeklagten erkannt, dass „sein Leib und Leben verwirkt und (er) mit dem Schwerdt, Anderen zur Abscheu, vom Leben zum Tode zu bringen ist“.
Ein Gnadengesuch Dr. Krells an Herzog Wilhelm von Sachsen-Altenburg wird abgelehnt. Kurz danach übernimmt der inzwischen achtzehn Jahre alt gewordene Christian II. die Regierungsmacht. Auch er ändert nichts an diesem seinem ehemaligen Erzieher zugedachten Unrecht.
Gegen diese Ankündigung eines eindeutigen Justizmordes protestierten: Queen Elizabeth I., Heinrich IV. von Frankreich und Wilhelm von Hessen. Erfolglos. Das Urteil wurde dem deutschen Kaiser nicht zur Unterzeichnung vorgelegt. Man verweigerte sogar die Zustellung der Anklageschrift, gestand Krell keinen Verteidiger zu, verwehrte ihm eine Berufung. Doch das wusch die ramponierte Geistlichkeit nicht rein. So kehrte man die ganze schöne Geschichte unter den Teppich. Nachlesen kann man dies in der Leichenpredigt des Pfarrers Blumius „Leichpredigt über den Custodierten D. Nicolaus Krell“ (Dresden 1602, 1603 ff.). Diese Blume der Kanzelredner hatte den diffizilen Auftrag erhalten, den Gebrochenen zu absolvieren. Er sollte Krell ein Schuldgeständnis abringen.
Krell wurde eilig vom Königstein nach Dresden übergeführt. Eine zehnjährige qualvolle Haft hatte nicht genügt, den Hass seiner adligen Widersacher abzukühlen. Vom 6. bis 9. Oktober saß der zum Tode Verurteilte in der kleinen Gerichtsstube des alten Rathauses am Dresdner Altmarkt. Vielleicht erwartete er einen Gnadenakt statt den Tod durch Henkershand. Zehn Jahre Kerker hatten den zum Tode verurteilten ehemaligen Kanzler des Kurfürsten Christian I. so geschwächt, dass er nicht gehen konnte, sondern von den Bütteln auf einem Stuhl „auf den Judenhof vor das neue Stallgebäude“ getragen werden musste, „wo man ein sonderlich Palatium oder Bühne errichtet hatte, welche auf Befehl der Kurfürstin ihrem Platz näher gerückt worden war, um sehen zu können, wieder Mann sein Ende nehme, der ihren Herrn verführt hatte“. Beim Anblick des Schafotts wurde Krell ohnmächtig.
Angesichts des Blutgerüstes, das auf dem Dresdner Neumarkt errichtet worden war, dicht neben dem späteren Dinglingerhaus, rief er aus: „Nun wohlan, in Gottes Namen, des Kurfürsten Wille geschehe. Gott erbarme es, ich komme unschuldiger Weise darzu, mir geschieht Gewalt und Unrecht. Ich gestehe nit die geringst Tat, die im Urteil abgelesen. Ich muss zwar bekennen, dass ich vor Gott ein armer Sünder bin, aber dass ich solche Mishandlung begangen habe, das gestehe ich nit, und kann es nimmermehr. Meine Ankläger müssen es am jüngsten Tag verantworten, dahin berufe ich mich, denn ich weiß, dass mir hiermit Gewalt und Unrecht geschieht.“
Auf der Treppe des Johanneums stand die triumphierende Geistlichkeit, angeführt von der Kurfürstin Sophie. Sie blickte auf Kanzler Krell herab und sagte laut: „Ich will dem Manne sein Recht tun sehen, der meinen seligen Eheherren so übel angeführt hat.“
Darauf hieb ihm der Scharfrichter mit einem einzigen Schwerthieb das Haupt ab.
Nach vollstrecktem Urteil hielt Scharfrichter Pohls das blutende Haupt des einstigen Kanzlers hoch und sprach: „Das war ein calvinischer Streich! Seine Teufelsgesellen mögen sich vorsehen; denn man schont allhier keinen.“
Abb. 3: Der abgeschlagene Kopf Krells in einer zeitgenössischen Grafik, unbekannter Künstler (Quelle: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett) Der Künstler hat die Augen des vom Körper abgetrennten Kopfes noch offen und lebendig mit einem direkten Blick zum Betrachter gezeichnet
„Ich frage, ob ich meines gnädigsten Kurfürsten und Herrn Befehl genug gethan?“ wandte sich der Scharfrichter dann an die Richter.
„Du hast gethan, was dir befohlen wurde“, kam die Antwort.
Krell wurde auf dem Dresdner Frauenkirchhof in der Gruft des Oberfeldzeugmeisters Caspar Voigt von Wierandt beigesetzt.
Abb. 4: Krellstein auf dem Dresdner Jüdenhof Benutzer: SchiDD
Nicht dem Recht, sondern der Rache hatte der Schwert-Streich des Henkers gedient, der den Neumarkt zu Dresden mit dem Blut eines Unschuldigen färbte, an der Stelle, an der noch bis in das Jahr 1945 ein Stein mit den eingemeißelten Buchstaben KR an ein Justizverbrechen des ausgehenden Mittelalters erinnerte.
Abb.5: Buchillustration oder Flugblatt zur Verhaftung der Doktoren Christoph Gundermann, Nikolaus Krell und Urban Pierius (Birnbaum) unter dem Vorwurf des Calvinismus. Simultane Darstellung der Ereignisse in Leipzig, Dresden und Wittenberg, 1591/1592, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Graphische Sammlung, HB 6375 (Nicolaus Crell ist im linken Medaillon oben dargestellt.)
Abb.6: Richtschwert. Mit diesem Schwert wurde der kalvinistische Kanzler Nikolaus Krell 1601 enthauptet. In Latein wurde der Spruch „Hüte dich, Calvinist!“ eingraviert. / Datierung: Ende 16. Jh. (Inventarnummer: VI 449) in: Staatl. Kunstsammlungen Dresden / Rüstkammer
Das Richtschwert wird als Zeichen mangelnder christlicher Toleranz bis heute in der Dresdner Rüstkammer aufbewahrt. Nur wenige Exemplare der berühmten Krell-Bibel entgingen der Vernichtung. Mehr als zehn Leichenpredigten bewahrte die Sächsische Landesbibliothek Dresden dagegen auf.