Читать книгу Butler Parker 103 – Kriminalroman - Gunter Donges - Страница 3

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»Ein äußerst angenehmer und reizvoller Anblick«, stellte Butler Parker wohlwollend fest und musterte eingehend das schlanke, biegsame Girl, das gerade über die Bühne tänzelte und die nächsten Artisten ankündigte. Dieses Nummerngirl gehörte eigentlich auf das Titelblatt einer exklusiven Modezeitschrift.

Parker nahm sich die Freiheit und beugte sich ein wenig vor, um das Mädchen eingehender zu betrachten. Es trug einen knappen, einteiligen Badeanzug aus grüner Seide. Das Haar war tizianrot, die Wangenknochen standen hoch, und die Augen erinnerten in ihrem schrägen Schnitt an die einer rassigen Katze. Von dieser Frau ging ein exotischer Hauch aus. Der Applaus dauerte erstaunlich lange und wurde unterstützt von den schwarz behandschuhten Händen des Butlers.

»Mäßigen Sie sich, Mister Parker«, mahnte Agatha Simpson, die mit ihrem Butler an einem Tisch in einer Seitenloge saß. »Reißen Sie sich gefälligst zusammen, Sie sind doch kein Jüngling mehr!«

Josuah Parker war immerhin ein gesetzter Mann unbestimmbaren Alters, von dem viel Würde und Gemessenheit ausging. Sein glattes Pokergesicht verriet nur in seltenen Fällen eine Andeutung von Gemütserregung. Er war ein Mann, der sich meistens unter Kontrolle hatte, trug einen schwarzen Zweireiher, der ein wenig altertümlich zugeschnitten war, schwarze Schuhe derber Qualität, einen steifen Eckkragen und eine schwarze Krawatte. Selbst seinen obligaten Universal-Regenschirm hatte er nicht an der Garderobe abgegeben. Dieses vielseitige Schutzgerät mit dem ausgeprägten Bambusgriff stand an der Logenbrüstung, auf der Parkers schwarze Melone deponiert war. Josuah Parker war rein äußerlich ein Butler, wie er eigentlich nur noch im Film zu sehen ist.

Nicht weniger interessant sah Lady Agatha aus.

Sie war etwa sechzig Jahre – über ihr genaues Alter sprach sie nicht gern –, hochgewachsen und durchaus vollschlank. Sie besaß ein volles Gesicht, ein sehr energisches Kinn, das ihrem Wesen entsprach, und eine Adlernase. Beherrschend in diesem Gesicht waren die dunklen, stets etwas funkelnden Augen, die sehr abweisend wirken konnten.

Ihre majestätische Gestalt, die auf strammen Beinen stand, war meist bedeckt von unmöglich aussehenden Kostümen aus derbem Tweed. Ihre Füße bewegten stets ausgetretene, alte Schuhe. Auf Myladys weißem Haar saßen unmöglich aussehende Hüte, die an Südwester erinnerten, an ihrem Handgelenk baumelte ein Pompadour mit seltsamem Inhalt. Dieser Inhalt war ein echtes Hufeisen, um das sie aus Gründen der Humanität allerdings stets ein leichtes Taschentuch zu wickeln pflegte. Eine schreckliche und wirkungsvollere Waffe konnte man sich kaum vorstellen. Neckischerweise pflegte Mylady dieses Hufeisen ihren Glücksbringer zu nennen.

Agatha Simpson war immens reich, kümmerte sich aber kaum um ihr Vermögen und um die Stiftungen. Ein ausgeklügeltes System von Kontrollen hinderte ihre Verwalter daran, dieses Vermögen zu mindern oder gar zu gefährden. Die Lady, die mit dem Geldadel der britischen Krone verschwistert und verschwägert war, konnte damenhaft wie eine Herzogin und ordinär wie ein Fischerweib aus Hüll sein. Sie hielt sich für sportlich und handelte dementsprechend recht kühl. Da Agatha Simpson ein wenig kurzsichtig war, übersah sie meist die Gefahren, die am laufenden Band ihren Weg kreuzten. Was ihr überhaupt nichts ausmachte, denn sie liebte das Abenteuer in seiner vielfältigen Form.

Seitdem Parker in ihren Diensten stand, fühlte Mylady sich außerordentlich wohl. Dieses seltsame Zweigespann wirkte auf Kriminal- und Spionagefälle wie ein Magnet auf Eisenfeilspäne. Sie mochten sich noch so sehr zurückhalten, im Endeffekt wurden sie immer wieder mit haarsträubenden Abenteuern konfrontiert, nahmen diese Herausforderungen allerdings auch immer willig an.

Agatha Simpson und Josuah Parker sahen sich das recht durchschnittliche Varieté-Programm an. Einziger Lichtblick war die langbeinige, biegsame Frau, die als Nummerngirl fungierte. Das fanden auch die übrigen Zuschauer. Sie gerieten jedesmal aus dem Häuschen, wenn die Frau auf der Bühne erschien.

Nur langsam ebbte der rauschende Beifall ab, der eindeutig ihr gegolten hatte.

Auf der Bühne erschien eine Soubrette, die schon angejahrt wirkte. Sie sang mit eindeutig zu schriller Stimme von ihrer Liebe zum flachen Land und sehnte sich erstaunlicherweise danach, ein einfaches Leben in den Highlands von Schottland zu führen, wogegen ihre Zuhörer ohne Ausnahme nichts einzuwenden hatten.

In der zweiten Strophe, die sie leichtsinnigerweise ebenfalls noch sang, fragte sie sich bewegt, warum sie dieses Leben nicht lebte, wo doch Schafe, Ziegen und Kühe auf sie warteten.

Einer der aufmerksamen Zuhörer rief daraufhin laut dazwischen, es bestünde dann wohl die Gefahr, die Milch dieser glücklich gepriesenen Kühe könne sauer werden.

Die allgemeine Zustimmung war im Grund wenig vornehm. Die Zuhörer forderten sie fast einmütig auf, möglichst schnell in die Highlands zu fahren und waren bereit, ihr eine Fahrkarte zu spenden. Das nahm die Soubrette übel und verließ schleunigst die Bühne. Ob sie tatsächlich sofort abreisen wollte, war nicht zu ermitteln.

Lady Agatha Simpson lachte wie ein Fuhrknecht und wischte sich die Freudentränen aus den Augenwinkeln. Sie amüsierte sich köstlich. Butler Parker gestattete sich sogar, andeutungsweise zu schmunzeln, ein sicheres Zeichen, daß auch er eine gewisse Fröhlichkeit verspürte.

Leider wurde die wohltuende Freude sämtlicher Zuhörer empfindlich gestört, als hinter den Kulissen ein Schuß fiel, dem unmittelbar darauf ein spitzer Schrei folgte.

*

»Sie wird sich doch nicht umgebracht haben, Mister Parker?« erkundigte sich Lady Agatha hoffnungsfroh bei ihrem Butler. Ihre dunklen Augen funkelten äußerst animiert.

»Ich fürchte, Mylady enttäuschen zu müssen«, gab Parker gemessen und ungemein höflich zurück. »Die Sängerin machte auf meine bescheidene Wenigkeit einen recht robusten Eindruck.«

»Schauen Sie wenigstens mal nach, Mister Parker«, bat Lady Agatha energisch. »Man soll nie die Hoffnung aufgeben.«

»Wie Mylady wünschen.« Parker erhob sich, deutete eine steife, korrekte Verbeugung an, setzte sich die steife Melone auf und griff nach seinem Universal-Regenschirm. Dann entfernte er sich ohne jede Hast aus der Loge.

Lady Agatha beugte sich über die Brüstung der Loge und beobachtete angeregt das Durcheinander unten im Parkett. Die Gäste riefen und schrien durcheinander, rannten aufgeschreckt herum und stürmten entschlossen die Bühne. Möglicherweise rechneten sie wirklich mit dem Selbstmord der Soubrette, vielleicht fürchteten sie aber auch nur um das Leben des langbeinigen Nummerngirls. Es waren handfeste Männer, die fast durchweg zu jener internationalen Gesellschaft gehörten, die draußen im Atlantik nach Öl bohrte.

Als plötzlich das Licht in der Music hall erlosch, war das Tohuwabohu perfekt. Lady Agatha lehnte sich zufrieden zurück und genoß das erfreuliche Treiben. Mit dem ihr eigenen Instinkt witterte sie Komplikationen, ja, sogar einen interessanten Fall. Schließlich war sie zusammen mit ihrem Butler nicht grundlos hierher an die schottische Ostküste gekommen, um in dem Ferienort Montrose südlich von Aberdeen Quartier zu nehmen. Gewisse Kreise hatten sie und den Butler wieder mal gebeten, sich helfend einzuschalten. Der Startschuß dazu schien eben erst gefallen zu sein.

Obwohl es stockfinster im Saal war und die Notbeleuchtung aus unerfindlichen Gründen nicht brannte, obwohl der Lärm riesengroß war, merkte die alte, streitbare Lady plötzlich, daß sie nicht mehr allein in der kleinen Loge war.

Irgendwer mußte sich hereingestohlen haben.

Lady Agatha reagierte augenblicklich und sehr konsequent. Sie versetzte ihren Pompadour am Handgelenk in wirbelnde Bewegung und – stieß mit dem darin befindlichen Glücksbringer auf ein Hindernis. Ein häßliches Knirschen war zu hören, dann ein unterdrücktes Stöhnen und schließlich ein dumpfer Fall.

»Mister Parker?« fragte Agatha. Simpson sicherheitshalber. Als die Antwort ausblieb, in diesem Augenblick aber auch die Notbeleuchtung eingeschaltet wurde, entdeckte sie zu ihrer Erleichterung, daß sie ihren Butler nicht außer Gefecht gesetzt hatte. Zu ihren Füßen lag ein untersetzter, massiv aussehender Mann von etwa vierzig Jahren, der eine hüftlange, schwarze Lederweste trug. Seine Jeans steckten in Gummistiefeln, die brandneu aussahen, in der leicht geöffneten Hand dieses Mannes befand sich ein ansehnlicher Schraubenschlüssel, um den ein Fetzen Schaumstoff gewickelt war.

Lady Simpson hätte selbst einen Taschendieb beschämt, so schnell durchsuchte sie die Taschen dieses Mannes, barg, was sie fand, im Pompadour, richtete sich auf und stieß dann einen Schrei des Entsetzens aus, der die Notbeleuchtung wieder verlöschen ließ.

*

»Eine beschämend magere Ausbeute, Mister Parker«, stellte Lady Agatha eine knappe Stunde später fest. Sie befand sich zusammen mit ihrem Butler im »St. Cyrus«, einem kleinen, angenehmen Hotel am Stadtrand von Montrose. Der Butler hatte sie in ihre Zimmerflucht hinaufgeleitet und sah sich jetzt die Gegenstände an, die seine Herrin erbeutet hatte.

»Wenn Mylady gestatten, möchte ich widersprechen«, antwotete Josuah Parker und sortierte die Gegenstände, »aus dem Lohnzettel geht hervor, daß der ungebetene Besucher von Myladys Loge ein gewisser Dan Mulligan ist, der für die ›Battersea Oil Company‹ arbeitet, und zwar als Vormann, wie hier zu ersehen ist.«

»Was besagt das schon?« ärgerte sich die streitbare Dame. »Ich bereue es jetzt, daß ich dieses Subjekt nicht mitgeschleppt habe.«

»Diesem Unterfangen hätten sich mit Sicherheit einige Schwierigkeiten entgegengestellt«, behauptete der Butler gemessen, »besagter Dan Mulligan wird sich jederzeit finden lassen.«

»Wollte er mich wohl umbringen?« Lady Simpson deutete auf das Klappmesser, das sie ebenfalls in den Taschen des Mannes gefunden hatte.

»Man wird Mister Mulligan bei Gelegenheit danach fragen müssen, Mylady.«

»Ich freue mich schon jetzt darauf.« Lady Simpsons Augen funkelten animiert. »Dieses Subjekt ist von mir doch viel zu sanft behandelt worden.«

»Möglicherweise dürfte Mister Mulligan darüber erheblich anderer Ansicht sein, Mylady«, gab der Butler zurück, der den Glücksbringer natürlich kannte. Während er noch redete, nahm er drei Ansichtspostkarten hoch. »Ein erstaunlich schreibfreudiger Vorarbeiter.«

»Drei verschiedene Adressen, aber alle in London«, sagte Lady Simpson, die die Postkarten bereits kannte. »Dieser Lümmel teilt den Empfängern mit, daß es ihm gutgeht. Seine nächste Ansichtskarte wird nicht mehr so optimistisch klingen, hoffe ich wenigstens.«

Josuah Parker überflog die wenigen Zeilen auf den drei Postkarten, die nichtssagend klangen und dem üblichen Text auf Ansichtskarten entsprachen. Dennoch fertigte Parker sich gewissenhaft Kopien dieser knappen Texte an und notierte sich auch die Anschriften. Kleinigkeiten, das hatte ihn die Erfahrung gelehrt, waren oft wichtiger als lautstarke Ereignisse.

»Mister Mulligan scheint ein eifriger Besucher der Music hall zu sein«, stellte der Butler fest und zeigte seine Herrin ein halbes Dutzend abgerissener Eintrittskarten. »Mister Mulligan scheint in der vergangenen Woche jeden Abend Gast der Vorstellung gewesen zu sein.«

»Was folgern Sie daraus?« Lady Simpson sah ihren Butler erwartungsvoll an.

»Er dürfte ein Liebhaber des Varietés sein, Mylady.«

»Sie haben eben keine Phantasie, Mister Parker«, tadelte sie prompt, »ich als Schriftstellerin und Künstlerin sehe das ganz anders.«

»Mylady haben bereits eine bestimmte Theorie?« Parker wußte nur zu gut um das neue Hobby der Agatha Simpson. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, eine gewisse Agatha Christie in den Schatten zu stellen. Mylady arbeitete an ihrem ersten Kriminalroman, der die Fachwelt in Erstaunen und Entzücken zugleich versetzen sollte. Sie arbeitete daran schon seit einigen Monaten und gab sich noch den unbedingt notwendigen Vorstudien hin.

Seit dieser Zeit entwickelte die Detektivin am laufenden Band Themen und Theorien. Ihr Erfindungsreichtum in dieser Hinsicht war mehr als erstaunlich. Selbst Butler Parker war kaum noch in der Lage, den Gedankensprüngen der streitbaren Lady nachzukommen.

»Natürlich habe ich eine bestimmte Theorie«, gab die Sechszigjährige also zurück, »da das Programm bis auf das Nummerngirl miserabel ist, hat er sich entweder in dieses Nummerngirl verliebt, oder aber er hat einen anderen Grund, den wir noch herausfinden müssen.«

»Sehr überzeugend, Mylady«, erwiderte der Butler, ohne eine Miene zu verziehen.

»Was ist denn das?« fragte Agatha Simpson und wechselte das Thema, als sie auf einen billig aussehenden Ring stieß, den ihr Butler aussortiert hatte. »Ist das nicht geradezu geschmacklos? Wie kann man nur solch einen Glasstein mit sich herumschleppen?«

Parker hielt den Ring mit dem einfach gefaßten Glasstein prüfend gegen das Licht.

»Ich möchte nicht unbedingt widersprechen«, sagte er dann in seiner unnachahmlich höflichen Art, »aber Mylady irren möglicherweise.«

»Wieso?«

»Dieser angebliche Glasstein, Mylady, ist ein Diamant!«

»Ausgeschlossen, Mister Parker!« Sie sah ihn und dann den Stein verächtlich an. »Ich weiß doch schließlich, was Qualität ist!«

»Gewiß, Mylady.« Parker verzichtete auf lange Erklärungen, ging zum Fenster und ließ die Kante des großen Steins über das Glas gleiten. Es knirschte sanft, während ein deutlich sichtbarer Kratzer zurückblieb.

»Lassen Sie dieses impertinente Grinsen«, hauchte Mylady ihren Butler daraufhin an, obwohl Parker nun wirklich keinen Muskel im Gesicht verzogen hatte. »Ausnahmsweise haben Sie mal das große Los gezogen. Wie kommt solch ein Subjekt an solch einen teuren Stein, der wenigstens einen halben Karat schwer ist?«

»Darauf vermag ich im Moment nicht zu antworten«, gestand Josuah Parker, »aber lange wird man wohl nicht warten müssen, bis besagter Mister Mulligan versuchen wird, sich den Stein wieder zurückzuholen. Eine gewisse Vorsicht für den Rest der Nacht dürfte demnach angeraten sein.«

»Sie machen mir Hoffnung«, freute sich die ältere Dame und sah in diesem Augenblick sehr grimmig aus. »Ich hoffe, daß er mich nicht enttäuscht!«

*

Das langbeinige Nummerngirl befand sich in seiner sehr kleinen Garderobe und benahm sich recht eigenartig.

Die junge fünfundzwanzigjährige Frau hatte sich das mehr als knappe Kostüm abgestreift und schlüpfte gerade in einen dünnen Schminkkittel. Sie huschte zur Tür, lauschte nach draußen und lief dann zu der winzigen Dusche, in der ein Hocker stand. Sie stieg auf diesen Hocker, stellte sich auf die Zehenspitzen und schob ihren Kopf an das Entlüftungsgitter heran, das total verrostet war.

Stimmen waren mehr als deutlich zu hören. Sie gehörten einer Frau und einem Mann.

»Nun hab’ dich bloß nicht so«, sagte die Frau verächtlich. »Warum sollte der Schuß ausgerechnet dir gegolten haben?«

»Das Ding pfiff haarscharf an mir vorbei.«

»Einbildung.«

»Ich habe doch deutlich den Luftzug gespürt. Ein paar Zentimeter näher, und ich wäre draufgegangen, Lana.«

»Daß du immer alles dramatisieren mußt, Herbert«, erregte sich die Frau, die Lana hieß, »du hast nur Angst, das ist es!«

»Und ob ich Angst habe! Wir hätten uns nie darauf einlassen sollen, Lana. Ich hab’ das Gefühl, daß man uns bereits durchschaut hat.«

»Wer denn?«

»Na, die Gegenseite, Lana. Du weißt doch auch, daß hier mit verdammt harten Bandagen gekämpft wird.«

»Dafür verdienen wir auch nicht schlecht. Soviel Geld haben wir noch nie so schnell gemacht.«

»Laß uns verschwinden, Lana, noch könnten wir es schaffen!«

»Ausgeschlossen, Herbert, den Schnitt hier lasse ich mir nicht entgehen.«

Das Nummerngirl hätte liebend gern weiter zugehört, doch es hatte die ganze Zeit über die Tür zur kleinen Garderobe nicht aus den Augen gelassen. Es sah jetzt, wie der Türknauf vorsichtig bewegt wurde. Ein ungebetener Besucher schien hereinkommen zu wollen, heimlich und verstohlen.

Das Nummerngirl reagierte augenblicklich und sehr geschickt. Viel Zeit stand der jungen Frau nicht mehr zur Verfügung. Sie streifte sich blitzschnell den dünnen Schminkmantel vom Körper, schob den Hocker vor die Dusche und sorgte dafür, daß der Plastikvorhang nicht völlig geschlossen war. Dann wandte sie der Tür ihre nackte Kehrseite zu und hantierte an beiden Wasserhähnen.

In die Garderobe schob sich ein untersetzter, dicklicher Mann von etwa fünfzig Jahren, der einen abgetragenen Smoking trug. Vorsichtig schob er die Tür hinter sich ins Schloß und blieb dann stehen. Aus gierigen Augen beobachtete er das Nummerngirl, das unter dem herabströmenden Duschwasser stand und sich einseifte.

Das Nummerngirl besaß die Erfahrung einer Stripperin.

Da sie wußte, daß sie beobachtet wurde, gönnte sie diesem Beobachter natürlich nicht die Einblicke, die der Mann erwartete, doch sie sorgte auf der anderen Seite dafür, daß er durchaus auf seine Kosten kam.

Der Mann im Smoking fuhr mit dem Zeigefinger in den zu eng gewordenen Hemdkragen und stahl sich vorsichtig näher an die Dusche heran. Sein feistes Gesicht war gerötet.

Die nackte Frau sah aber auch wirklich zu aufreizend aus. Die schmalen Schultern gingen über in schlanke Hüften und dann in lange Beine. Die junge Frau drehte sich plötzlich wie unbeabsichtigt ein wenig zur Seite und ließ ihre festen Brüste sehen, die von einem Bikini-Oberteil aus Seifenschaum gehalten wurden.

Erst jetzt tat die junge Frau so, als habe sie den Eindringling bemerkt.

Sie stieß einen leisen Schrei der Überraschung aus und wußte im Moment augenscheinlich nicht, was sie machen sollte, raffte dann den Plastikvorhang an sich und wickelte sich darin ein. Da dieser Vorhang fast durchsichtig war und ihr Körper naß, bot dieser Vorhang überhaupt keinen Sichtschutz. Die aufreizenden Linien ihres Körpers waren jetzt vielleicht noch deutlicher und plastischer zu sehen als wenige Sekunden vorher.

»Mister Kelson!« Die junge Frau wickelte sich noch enger in den Vorhang.

»Nur keine Aufregung.« Ernie Kelson, der Besitzer der Music hall, bemühte sich um Selbstverständlichkeit. »Die Polizei möchte auch Sie noch vernehmen. Das wollt’ ich Ihnen nur gesagt haben.«

»Aber … Aber es ist doch nichts passiert«, wunderte sich das Nummerngirl.

»Wennschon, aber es ist immerhin geschossen worden«, erklärte Ernie Kelson und ließ sich in dem einzigen Sessel nieder, der in der Garderobe war und vor dem Schminkspiegel stand. Er ließ sie nicht aus den Augen und konnte nicht verbergen, wie sehr er fasziniert war.

Als Besitzer dieser Music hall hatte er selbstverständlich schon ganze Legionen von gutaussehenden und auch willigen Frauen gesehen, doch dieses neu engagierte Nummerngirl übertraf alles, was in der Vergangenheit seinen Weg gekreuzt hatte. Sie war frisch, unverbraucht und wirkte stets ein wenig scheu. Dadurch forderte sie ihn nur noch mehr heraus. Ganz abgesehen mal von ihrer Figur, die von tierhafter Geschmeidigkeit und Unschuld war.

Ernie Kelson hatte sie vor zwei Wochen sofort engagiert und sich gehütet, zu viele Fragen zu stellen. Solch eine Frau ließ er sich nicht entgehen. Er wollte sie so schnell wie möglich fest an sich binden, zumal sein Kompagnon Besitzansprüche angemeldet hatte.

»Könnten Sie mir den Schminkmantel reichen?« bat das Nummerngirl, das verlegen wirkte. »Auf wen ist eigentlich geschossen worden?«

»Keine Ahnung«, antwortete Kelson achselzuckend, ohne sich um den Schminkmantel zu kümmern. »Sie haben nichts beobachtet?«

»Nichts«, gab das Nummerngirl zurück und streckte seine Hand bittend nach dem dünnen Mantel aus, der auf dem Hocker lag. »Mister Kelson, können Sie mir jetzt den Kittel geben?«

Ernie Kelson erhob sich, nahm den dünnen, kittelähnlichen Mantel auf und schritt langsam fast ein wenig lauernd auf die Duschkabine zu und lächelte verkniffen. So nahe war er ihr noch nie gewesen, die Gelegenheit war günstig. Er riß sich zusammen, um nicht aus der Kontrolle zu geraten.

»Wollen Sie ewig als Nummerngirl arbeiten?« fragte er, ohne ihr den Kittel zu überreichen.

»Bestimmt nicht«, antwortete das nackte Mädchen hinter dem fast durchsichtigen Plastikvorhang und lächelte. »Haben Sie etwa einen anderen Job für mich?«

»Wir sollten uns darüber mal ausführlich unterhalten«, schlug er vor, als habe er genau das richtige Stichwort erhalten. Und um zu testen, ob sie auch tatsächlich unterhaltungswillig war, warf er sich nach vorn und wollte sie an sich reißen.

Das Nummerngirl schien das geahnt zu haben.

Es wich geschickt zur Seite aus. Ernie Kelson griff ins Leere und verwickelte sich im Plastikvorhang, den das Nummerngirl ihm entgegengeworfen hatte. Kelson schlug um sich, wollte den lästigen Vorhang loswerden und geriet immer weiter an den Brausekopf der Dusche.

Das Nummerngirl genierte sich nicht, die Dusche aufzudrehen, um den Besitzer der Music hall abzukühlen. Rauschend schoß das Wasser auf den dicklichen Mann, der überrascht aufkeuchte und sichtlich fror.

»Sehr schön«, hörte das Nummerngirl in diesem Moment hinter sich, dann folgte ein amüsiertes Auflachen. Das nackte junge Mädchen griff hastig nach einem Handtuch, das auf dem Rand des Waschbecken lag, und versuchte sich damit notdürftig zu bedecken.

Sie sah sich einem Mann gegenüber, den sie hinter der Bühne noch nie gesehen hatte. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein, war groß und schlank und hielt einen kurzläufigen Revolver in der Hand, dessen Mündung auf das Nummerngirl gerichtet war.

*

»Erzählen Sie weiter, Kindchen«, drängte Agatha Simpson, als Kathy Porter diese Stelle ihres Berichtes erreicht hatte. Die streitbare Dame rutschte unruhig in ihrem Sessel herum und erwartete erfreuliche Komplikationen. »Hat er auf Sie geschossen?«

Das Nummerngirl aus der Music hall war Lady Simpsons Sekretärin und Gesellschafterin und eigentlich mehr als nur das, sie war so etwas wie die Tochter der älteren Dame. Kathy Porter, von Josuah Parker in vielen Dingen angelernt, arbeitete immer wieder als Fünfte Kolonne des Duos, das eigentlich ein bemerkenswertes Trio war.

Kathy Porter hatte sich vor zwei Wochen ganz bewußt als Nummerngirl beworben und engagieren lassen. Nach gewissen Informationen, die Agatha Simpson und Butler Parker erhalten hatten, sollte diese Music hall der Umschlagplatz für gewisse Nachrichten und Ausgangspunkt für Sabotageakte sein, die sich alle auf die große Bohrinsel draußen in der Nordsee bezogen.

Im Zeichen der weltweiten Rohstoffknappheit und der Ölkrise fanden hier in diesem Teil der Nordsee Versuchsbohrungen statt, die vor der schottischen Küste sich als sehr erfolgreich erwiesen hatten. Man sprach schon jetzt davon, daß Ölvorkommen vermutet werden durften, die in der Menge an die der arabischen Länder heranreichten.

Leider wurden diese Bohrungen empfindlich behindert, wie sich gezeigt hatte.

Die Battersea Oil Company hatte in letzter Zeit viel Pech und kam mit ihren Bohrungen nicht voran. Sabotage wurde vermutet. Es gab technische Pannen am laufenden Band, die von Experten auch als Sabotage erkannt worden waren. Natürlich waren die zuständigen Behörden eingeschaltet worden, doch auf das Trio Lady Simpson – Butler Parker – Kathy Porter hatte man nicht verzichten wollen. Höchste Regierungskreise hatten die Detektivin gebeten, sich helfend einzuschalten. Regierungskreise, die dem britischen Geheimdienst nahestanden. Dem Spuk der Saboteure sollte so schnell wie möglich das Handwerk gelegt werden, denn man vermutete, daß aus diesen Sabotagehandlungen schon recht bald Mord und Totschlag würden.

Zudem stand die nationale Energiepolitik auf dem Spiel. Erwartete Funde durften nicht verzögert werden, das Öl sollte aus dem Festlandsockel so schnell wie möglich hervorsprudeln. Lady Simpson hatte diesen Auftrag nur zu gern angenommen. Nach langem Herumsitzen vor ihrer Schreibmaschine war die »Schriftstellerin« der Meinung, daß sie wieder mal Anregungen brauchte.

Sie hoffte also, daß in der Garderobe von Kathy Porter geschossen worden war und zog ein enttäuschtes Gesicht, als das angebliche Nummerngirl bedauernd den Kopf schüttelte.

»Hat dieser Mann wenigstens ein Messer geworfen?« hoffte die ältere Dame.

»Auch das nicht, Mylady«, bedauerte Kathy erneut und lächelte unwillkürlich. »Er wollte mich nur beschützen.«

»Wer war dieser Herr und was wollte er?« schaltete Parker sich würdevoll ein.

»Er nennt sich Lester Bentley«, erwiderte Kathy, »er war auf der Suche nach meinem Chef, Mister Kelson.«

»Konnten Sie herausfinden, woher er kam und welchen Beruf er ausübt, Miß Porter?«

»Ich habe nur gemerkt, daß Mister Kelson eine tödliche Angst vor ihm hat, Mister Parker. Er schlich wie ein geprügelter Hund aus meiner Garderobe.«

»Und wer sind Lana und Herbert, die Sie am Entlüftungsschacht der Dusche belauschen konnten?«

»Lana Durbin und Herbert Nell«, sagte Kathy Porter, »sie betreiben Bodenakrobatik, eine sehr gute Artistennummer.«

»Und Mister Nell behauptete, auf ihn sei hinter der Bühne geschossen worden?« wollte der Butler noch mal wissen.

»Ganz eindeutig, ich konnte das Gespräch Wort für Wort verfolgen.«

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Miß Porter, lebt dieses Paar gefährlich, verdient viel Geld und ist der Meinung, daß eine Gegenseite existiert, die mit harten Bandagen kämpft.«

»Sie haben mich vollkommen richtig verstanden, Mister Parker.« Kathy Porter nickte ernst.

»Eine sehr anregende Ausgangsposition«, stellte Lady Simpson fest und sah wieder mal recht animiert aus. »Als Schriftstellerin würde ich solch ein Thema folgendermaßen anlegen: Zwei konkurrierende Gruppen versuchen, die Ölbohrungen auf der künstlichen Stahlinsel zu sabotieren. Was sagen Sie dazu, Mister Parker?«

»Ein interessantes Thema, das Mylady behandeln sollten.« Der Butler verzog keine Miene.

»Es ist alles so schrecklich einfach«, schwärmte die Dame weiter. »In der Music hall treffen sich die Besatzungen dieser Bohrinsel. Hier liefern sie ihre Nachrichten ab, hier bekommen sie ihre neuen Aufträge. Die Music hall ist das Nest der Sabotage. Meiner Ansicht nach braucht man nur noch zuzupacken.«

»Vielleicht ist Mylady damit einverstanden, erst mal einige Beweise zu beschaffen«, meinte Parker.

»Papperlapapp, Parker!« Sie sah ihn streng an. »Mit solchen Kleinigkeiten halte ich mich erst gar nicht auf. Ich glaube, ich werde mir sofort ein paar Notizen machen.«

Sie nickte ihrem Butler und Kathy Porter hoheitsvoll zu und begab sich hinüber in ihr Schlafzimmer, wo an der Wand ein kleiner Schreibsekretär stand. Lady Agatha holte ihr Notizbuch hervor und schrieb einige Stichworte nieder. Was sie tat, tat sie stets konsequent und mit großer Begeisterung.

»Haben Sie den Namen Dan Mulligan schon mal gehört?« fragte der Butler seine Assistentin Kathy, die bereits von dem Zwischenfall in der Loge wußte.

»Ist das der Mann, der Lady Simpson niederschlagen wollte?«

»Was er tatsächlich wollte, Miß Kathy, läßt sich mit letzter Sicherheit nicht sagen.«

»Der Beschreibung nach müßte ich ihn eigentlich kennen«, antwortete Kathy Porter nachdenklich, »er sitzt Abend für Abend in der ersten Reihe und erscheint nach den Vorstellungen häufig in Mister Kelsons Privatbüro.«

»Ihm sollten Sie sich vielleicht ein wenig widmen, Miß Kathy«, riet Parker seiner attraktiven Assistentin. »Aber ich darf größte Vorsicht empfehlen.«

»Sie glauben auch, daß die Music hall mit den Sabotagehandlungen zu tun hat?« Kathy Porter sah zu Mylady hinüber, die sich immer noch Notizen machte.

»Einige Personen in der Music hall«, präzisierte der Butler, der Genauigkeit liebte. »Lady Simpsons Theorie könnte unter Umständen durchaus stimmen, aber das wird sich wohl schon innerhalb der nächsten Stunden erweisen.«

»Sie erwarten Besuch, Mister Parker?«

»Ich könnte mir vorstellen, daß ein gewisser Mister Mulligan versuchen wird, wieder an seinen Ring zu kommen.« Parker hob den Diamantring und ließ ihn im Licht der Lampe funkeln.

*

Dan Mulligan befand sich seit ein paar Stunden in Panik.

Er begriff noch immer nicht recht, wer ihn in der Loge der alten Fregatte, wie er Lady Simpson respektlos genannt hatte, wohl niedergeschlagen haben mochte. Darüber zerbrach er sich den Kopf. Er zerbrach ihn sich aber auch über ein anderes Thema: Wer hatte seine Taschen so gründlich durchwühlt und geleert? Wer besaß jetzt die so ungemein wichtigen Ansichtskarten, die längst auf dem Weg nach London sein mußten? Und wer hatte ihm den teuren Diamantring gestohlen? Der Stein hatte ihn ein kleines Vermögen gekostet.

Dan Mulligan, Vorarbeiter der Battersea Oil Company, ein erstklassiger Fachmann und ausgekochter Gauner, saß in einer Kneipe und weigerte sich anzunehmen, man könne ihn hereingelegt haben, obwohl er diesen Verdacht nicht los wurde. So etwas konnte er sich einfach nicht vorstellen, dazu konnte die Alte doch unmöglich in der Lage gewesen sein …

Da mußte die Gegenseite sich eingeschaltet haben, vor der sein Auftraggeber ihn eindringlich gewarnt hatte. Die ruhigen Zeiten waren vorüber. Mulligan fragte sich jedoch, ob die Alte vielleicht zur Gegenseite gehörte. Er kannte eine Menge Tricks, die in seiner Branche üblich waren. Die harmlosesten Mitbürger entpuppten sich oft als die gerissensten Konkurrenten.

Hinzu kam die Tatsache, daß man ihn auf diese angebliche Lady ganz bewußt angesetzt hatte. Sie mußte es demnach also faustdick hinter den Ohren haben. Warum hätte er ihr sonst wohl eine harte Lektion erteilen sollen? Dan Mulligan wußte, wo sie hier in Montrose wohnte. Er hatte sich in den Tagen ausgiebig mit ihr beschäftigt und sie und ihren komischen Butler studiert. Es war wohl angebracht, ihr im Hotel einen Besuch abzustatten. Vielleicht hatte sie sich den Brillantring unter den Nagel gerissen und lachte sich jetzt ins Fäustchen.

Dan Mulligan war keineswegs betrunken, als er die Kneipe verließ, um das »St. Cyrus« anzusteuern. So ein nächtlicher Besuch war eine Kleinigkeit und konnte unmöglich gefährlich sein. Noch mal würde ihn seine Widersacherin nicht überrumpeln. Er war gewarnt.

Der Ferienort hier an der schottischen Küste war nicht sehr groß. Mulligan verzichtete auf ein Taxi und legte den Weg zum Hotel zu Fuß zurück. Er kam an dem großen Materiallager der Bohrfirma vorbei, für die er draußen auf der künstlichen Stahlinsel als Vorarbeiter arbeitete. Die Baracken mit den Unterkünften für die Schichtarbeiter und die Schuppen für den Nachschub waren von hohen Drahtzäunen umgeben, in die man noch zusätzlich Stacheldraht eingeflochten hatte. Grelle Bogenlampen leuchteten jeden Zentimeter des Lagers aus. Wachmänner mit auf den Mann dressierten Schäferhunden patrouillierten in unregelmäßigen Abständen. Die Battersea Oil Company war sehr vorsichtig geworden, nachdem es draußen in der Nordsee den ersten Ärger gegeben hatte.

Das »St. Cyrus« war ein altehrwürdiger Bau. Auf dem Erdgeschoß aus Backstein erhob sich das Obergeschoß aus Fachwerk. Ein gepflegter Park sorgte dafür, daß Mulligan sich an die Rückseite des Hotels heranpirschen konnte. Wie gesagt, er hatte sich mit Lady Simpson bereits beschäftigt und wußte, welche Räume sie und ihr Butler bewohnten. Um an den Balkon heranzukommen, der zur Zimmerflucht seiner Gegnerin gehörte, brauchte er nur auf das niedrige Dach einer ans Hausgrenzenden Remise zu steigen, alles Weitere war dann nur noch ein harmloser Spaziergang.

Dan Mulligan hatte leider keine Ahnung, daß er verfolgt und beobachtet wurde. Ein potentieller Mörder war hinter ihm her und ließ ihn nicht aus den Augen. Mulligan hatte nämlich leichtsinnigerweise von seiner Panne in der Loge der Music hall berichtet und war daraufhin sofort zum Sicherheitsrisiko erklärt worden. Die Leute, für die er arbeitete, wollten ihn jetzt so schnell wie möglich ausbooten. Sie trauten Mulligan nicht zu, daß er dichthielt, wenn man ihn nur gehörig in die Verhörzange nahm.

Dan Mulligan erkletterte das flache Dach der Remise, richtete sich halb auf und wurde augenblicklich zum Ziel für den Mann, der hinter ihm her war. Seine Gestalt hob sich wie ein Scherenschnitt gegen den zwar nächtlichen, aber immer noch etwas hellen Himmel ab. Der Mörder brauchte nur abzudrücken.

*

Kathy Porter hatte das »St. Cyrus« verlassen und wollte zurück zur Music hall. Sie bewohnte in einem Anbau ein kleines Zimmer, womit sie mehr als einverstanden war. So blieb sie in unmittelbarer Nähe jenes Platzes, den sie beobachten sollte.

Als Nummerngirl war Kathy Porter wirklich nicht zu erkennen. Von einem gewissen Josuah Parker angeleitet, hatte sie sich im Lauf der Zeit zu einer Meisterin der Maske entwickelt. Mit den sparsamsten Mitteln konnte sie sich rein äußerlich verwandeln und in eine fremde Haut schlüpfen.

Zur Zeit kopierte sie eine Putzfrau, die sie im Hotel gesehen hatte.

Kathy trug einen wadenlangen, alten Mantel, unter den sie sich ein flaches Kissen gebunden hatte. Sie humpelte ein wenig und glich dieser Putzfrau aufs Haar.

Sie hatte den Garten des Hotels noch nicht ganz verlassen, als sie ein ihr sehr bekanntes »Plopp« hörte. Natürlich wußte sie sofort, was dieses Geräusch zu bedeuten hatte. Irgendwo im dunklen Park war ein schallgedämpfter Schuß abgefeuert worden.

Kathy Porter verschwand sofort hinter einem Strauch, duckte sich und beobachtete die nahe Straße. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie den Mann sah, der ihrer Ansicht nach geschossen haben mußte.

Es handelte sich um einen etwa fünfundfünfzigjährigen Mann mit leichtem Bauchansatz, der harmlos aussah. Er trug einen Regenmantel und eine flache Mütze. Er spannte gerade einen Regenschirm auf, da es zu regnen begann. Der Unbekannte sah aus wie ein behäbiger Rentner.

Kathy Porter wartete, bis er ihr Versteck passiert hatte. Dann erst, als er in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen war, wechselte sie zur Straße hinüber und nahm die Verfolgung auf. Sie hütete sich, unsichtbar oder ungehört bleiben zu wollen und ging davon aus, daß dieser Mann ein erstklassiger Profi sei, den man nicht so leicht täuschen konnte. Er sollte sie sogar hören und sie in Augenschein nehmen. Kathy vertraute der Kunst ihrer Maske.

Er war plötzlich nicht mehr zu sehen und nicht mehr zu hören. Irgendwo mußte er in der Dunkelheit lauern. Vielleicht war er mißtrauisch geworden. Kathy ging gelassen weiter, humpelte leicht und stellte sich den Kragen hoch. Dann stand er plötzlich vor ihr, bieder und unscheinbar wirkend.

Kathy reagierte, wie sie gemäß ihrer Rolle reagieren mußte. Sie spielte eine Putzfrau, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte und die das Leben kannte.

»Mann«, fauchte sie ihn an, »haben Sie mich erschreckt. Konnten Sie nicht wenigstens husten?«

Er musterte sie prüfend und zündete sich genau in diesem Moment eine Zigarre an. Er ließ die Flamme seines Benzinfeuerzeugs lange brennen, um ihr Gesicht ausgiebig zu studieren. Kathy brauchte nichts zu befürchten. Sie sah ein wenig gedunsen aus, was mit kleinen Einlagen aus Watte zu tun hatte, die sie seitlich in der Mundhöhle trug. Zudem thronte auf ihrer Nase eine häßlich aussehende Nickelbrille.

»Hauen Sie ab, Mann«, redete Kathy barsch, weiter. »Sie müßten längst rausgefunden haben, daß es sich bei mir kaum noch lohnt.«

Dann, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, humpelte sie einfach davon und hatte ein scheußliches Gefühl in der Magengegend. Jeden Moment konnte es »ploppen« und ein schallgedämpfter Schuß abgefeuert werden.

Sie hatte sich nämlich ihrerseits, das Gesicht des Behäbigen angesehen. Beherrschend darin waren die kalten, wachsamen Augen gewesen, Augen, wie sie nur einer aus der Killer-Branche hatte. Sie mußte sich zusammenreißen, als sie hinter sich das metallische Knacken eines Verschlusses hörte.

Der angebliche Rentner wollte sie testen und servierte ihr ein Geräusch, auf das sie unbedingt reagierte, falls sie keine Putzfrau, sondern ebenfalls Profi war. Kathy schaffte es, sich nichts anmerken zu lassen, doch es kostete sie große Anstrengung und Selbstbeherrschung. Am liebsten hätte sie sich blitzschnell zur Seite weggerollt. Doch darauf hatte der angebliche Rentner sicher nur gewartet, um sie dann zu erwischen.

Nun hatte er sich verraten.

Kathy Porter ging humpelnd weiter, als habe sie überhaupt nichts gehört, und blieb die dickliche Putzfrau mit der billigen Nickelbrille auf der Nase.

*

Der Mörder aus dem Hinterhalt hatte Dan Mulligan tödlich getroffen. Josuah Parker hatte sich ohne Verzicht auf Würde, aber auch nicht zu langsam auf das Dach der Remise begeben und kniete neben dem Sterbenden.

»Ich werde Ihren Mörder finden und zur Rechenschaft ziehen«, sagte er ruhig, aber auch eindringlich zu Dan Mulligan, der schnell und flach atmete. »Vielleicht können Sie mir mit einigen wertvollen Hinweisen dienen, Mr. Mulligan?«

»Diese Schweine«, keuchte Mulligan und wollte sich aufrichten.

»Bleiben Sie entspannt liegen«, bat der Butler, »denken Sie an die Hinweise, ohne die ich Ihren Mörder nicht finden werde.«

»Ralph Barvas«, kam die schon sehr schwache Antwort, »Ralph Barvas, der Killer.«

»Wo finde ich den Mann, Mr. Mulligan?«

»Weiß nicht«, keuchte Mulligan, der sich sichtlich anstrengte, um noch einigermaßen deutlich zu reden. »Und dann noch Stewart Lynn, der Boß.«

»Sollten Sie Lady Simpson ermorden?« wollte der Butler noch zusätzlich in Erfahrung bringen, doch Dan Mulligan konnte nicht mehr antworten. Er bäumte sich noch mal auf und war dann verschieden, wie der Butler es innerlich ausdrückte.

Parker richtete sich auf und sorgte dafür, daß er im Schlagschatten der Hausfront blieb. Er wußte schließlich nicht, ob der Mörder noch auf der Lauer war.

»Nun, was ist?« erkundigte sich Agatha Simpson, als Parker zu ihr ins Zimmer zurückgestiegen war.

»Mr. Mulligan hat das gesegnet, Mylady, was man gemeinhin das Zeitliche nennt«, gab der Butler gemessen zurück. »Man sollte jetzt vielleicht die Polizei verständigen.«

»Ist das wirklich nötig, Mr. Parker? Das gibt doch nur unnötige Scherereien.«

»Es handelt sich schließlich um einen Mord, Mylady«, sagte der Butler. »Man sollte die Behörden nicht unnötig vergrämen.«

»Haben wir etwas erfahren, was uns weiterbringt?«

»Zwei Namen, Mylady, mit denen sich vorerst kaum etwas anfangen läßt.«

»Die wir aber für uns behalten werden«, schärfte die Lady ihrem Butler ein. »Warum mag man diesen armen Teufel nur ermordet haben? Können Sie sich das erklären?«

»Ich möchte mich zwar nicht festlegen, Mylady, doch ich vermute, daß mit seiner Ermordung Spuren verwischt werden sollten. Dan Mulligan sollte Ihnen und meiner bescheidenen Wenigkeit immerhin Auskünfte liefern. Das scheint der Mörder geahnt zu haben.«

»Demnach stehen also auch wir auf der Liste des Mörders?«

»Mit einiger Sicherheit, Mylady.«

»Das klingt gut«, stellte die Detektivin fest, ohne im geringsten beeindruckt zu sein. »Der Mörder wird aus seiner Anonymität hervortreten müssen.«

»Falls er es nicht vorzieht, aus dem Hinterhalt heraus zu schießen, Mylady, womit leider zu rechnen ist.«

»Lassen Sie sich dagegen etwas einfallen«, entschied Agatha Simpson in gewohnter Vereinfachung und sah ihren Butler dabei streng an. »Ich hoffe, Sie lassen sich von diesem Strolch nicht einschüchtern.«

»Ich werde mich bemühen, Myladys Vertrauen zu rechtfertigen«, versprach der Butler und ging ans Telefon, um die Polizei zu verständigen. Es dauerte eine Weile, bis die Gegenseite endlich begriffen hatte. Man versprach, einen Beamten vorbeizuschicken.

»Sehr gut scheint das zuständige Revier für Montrose nicht besetzt zu sein«, freute sich die Sechzigjährige, als Parker von seinem Gespräch berichtete. »Sie werden einen völlig unfähigen Beamten schicken, der wahrscheinlich noch nie mit einem Mord zu tun hatte.«

Nun, Lady Simpson lag noch nicht mal so schlecht mit ihrer Voraussage.

Nach etwa fünfzehn Minuten hielt ein Polizeistreifenwagen vor dem Hotel, dem ein Zivilist entstieg, der bald darauf von Agatha Simpson und Josuah Parker empfangen wurde.

»Detective Sergeant Nelson«, stellte er sich vor. Nelson war ein harmlos aussehender Mann, der an einen Rentner erinnerte. Störend an ihm war nur der Revolver, auf dessen Lauf ein moderner und leistungsfähiger Schalldämpfer saß, der zwischen Lady Simpson und Parker hin und her pendelte.

»Muß ich Ihre Handlungsweise als einen feindlichen Akt interpretieren?« erkundigte sich der Butler in seiner unnachahmlich würdevollen Art.

»Unbedingt«, gab der Mann zurück, der unmöglich Polizist sein konnte. Er lächelte dünn, doch seine Augen blieben kalt. »Die drei Postkarten, die Sie Mulligan abgenommen haben! Beeilung, ich warte nicht gern!«

»Was soll das heißen, Sie Lümmel?« brauste die ältere Dame streitlustig auf.

»Daß Sie nur noch wenige Sekunden zu leben haben, wenn Sie mir die drei Postkarten nicht geben«, antwortete der Mann. Bevor Lady Simpson sich auf ein Streitgespräch mit dem Mann einlassen konnte, deutete der Butler auf den kleinen Wandtisch, wo die bewußten drei Karten lagen. Parker merkte, daß dieser Mann keineswegs scherzte.

Der Mann, der weder Rentner noch Polizist war, lief erstaunlich geschmeidig zum Wandtisch hinüber und nahm die drei Ansichtskarten an sich. Erstaunlicherweise fragte er nicht nach dem Diamantring. Josuah Parker fühlte sich seinerseits nicht verpflichtet, davon zu sprechen. Takt und Zurückhaltung waren schon immer seine Stärken gewesen.

»Vergessen Sie mich ganz schnell«, schlug der Mann vor, während er zur Tür zurückwich, »und hauen Sie von hier ab, noch in dieser Nacht! Ich gebe Ihnen eine Stunde!«

»Ich werde Mylady nach Aberdeen zurückbringen«, versprach der Butler höflich.

»Wie haben Sie’s eigentlich geschafft, Mulligan außer Gefecht zu setzen?« fragte der Mann, der jetzt schon an der Tür stand. Er konzentrierte sich auf den Butler.

»Sprechen Sie von jenem Mann, der Mylady in der Loge der Music hall belästigte?«

»Natürlich. Spielen Sie mir nur nichts vor! Ich weiß Bescheid.«

»Könnte hier nicht eine Verwechslung vorliegen?« erkundigte sich der Butler gemessen. »Mylady hatte die Absicht, an der Küste ein wenig zu entspannen.«

Der Mann wußte wohl doch nicht so recht Bescheid, zögerte, schätzte das skurril aussehende Duo ab, kam zu keinem Resultat und wirkte irritiert. Agatha Simpson und Josuah Parker sahen ja auch wirklich nicht aus wie Profis.

»Sieht tatsächlich so aus«, sagte der Mann schließlich, »da muß was falsch gelaufen sein. Aber verschwinden Sie! Und zu keinem Menschen ein Wort, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!«

Lady Simpsons Herz spielt von diesem Augenblick an nicht mehr so recht mit, wie deutlich zu sehen war. Sie griff an ihren wogenden Busen, suchte ihr Herz und sackte dann auf einen Stuhl.

Der Eindringling ließ sich ablenken, zumal die Detektivin wirklich eine erstklassige Schauspielerin war, doch Josuah Parker nutzte keineswegs die Chance, die Mylady ihm verschaffte. Dieser Mörder war nicht zu übertölpeln.

»Gestatten Sie, daß ich mich um Mylady kümmere?« erkundigte er sich bei dem Eindringling.

»Bringen Sie das alte Mädchen in Schwung und brausen Sie ab nach Aberdeen«, sagte der Mann eindringlich. »Sie haben eine Stunde Zeit!«

*

»Sie sind eine herbe Enttäuschung für mich«, beschwerte sich Lady Simpson, als sie mit Parker wieder allein war. Von einem kleinen Herzanfall konnte keine Rede mehr sein, sie wirkte sehr agil und war verärgert.

»Mylady und meine bescheidene Person schwebten in akuter Lebensgefahr«, stellte der Butler richtig. »Dieser Mann wäre nicht zu übertölpeln gewesen.«

»Wo bleibt Ihr Schwung, Mister Parker?« Sie sah ihn streng an.

»Mylady werden den vermißten Schwung bald wieder registrieren können«, versicherte der Butler höflich, »übrigens innerhalb der kommenden Stunde.«

»Sie wollen doch wohl nicht die Flucht ergreifen, Mister Parker.«

»Sehr wohl, Mylady.«

»Da spiele ich aber nicht mit. Wir kennen diesen Mörder und werden ihn jagen, Mister Parker! Das dürfte doch jetzt keine Schwierigkeiten mehr bereiten.«

»Der Mörder Mister Mulligans wird sich freiwillig stellen, Mylady.«

»Sie brauchen mir keinen Sand in die Augen zu streuen.«

»Aber dem Mörder, Mylady. Wenn es gestattet ist, werde ich mir die Freiheit nehmen, Mylady meinen bescheidenen Plan zu entwickeln.«

»Das klingt schon besser.« Sie sah ihren Butler endlich wieder hoffnungsfroh an. Josuah Parker konnte Mylady überzeugen.

»Das klingt ja recht erfreulich«, meinte sie unternehmungslustig. »Worauf warten wir noch?«

Agatha Simpson brauchte nicht lange zu warten. Es dauerte nur eine halbe Stunde, bis sie in Parkers hochbeinigem Wagen saß, einem ehemaligen Londoner Taxi, das nach den sehr ausgefallenen Wünschen und Vorstellungen Parkers umgebaut worden war, ohne dabei aber sein typisches Äußeres zu verlieren. Dieser Privatwagen war im Grund nichts anderes als eine raffinierte Trickkiste auf vier Rädern.

Butler Parker 103 – Kriminalroman

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