Читать книгу Butler Parker 137 – Kriminalroman - Gunter Donges - Страница 3

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»Sie haben sich natürlich wieder mal verfahren«, räsonierte Lady Simpson grollend und deutete auf das Schloß jenseits des schmalen Flußarms. »Die letzte Trauerfeier dürfte dort vor ein paar hundert Jahren stattgefunden haben.«

»Mylady sehen meine bescheidene Wenigkeit konsterniert«, räumte Butler Parker ein.

»Das ist kein besonderes Schloß, Mister Parker, das ist eine Ruine.«

»Wenn Mylady gestatten, möchte ich mir erlauben, mich Myladys Eindruck und Feststellung anzuschließen.«

»Und was jetzt?« Agatha Simpson, groß, stattlich, leicht reizbar und sehr unternehmungslustig, erinnerte rein äußerlich an die Walküre einer antiquierten Wagner-inszenierung. Sie trug eines ihrer ausgebeulten, ungemein bequemen Tweed-Kostüme und einen Hut, der eine abenteuerliche Kreuzung aus Südwester und Topfhut darstellte.

»Mit Myladys Erlaubnis möchte ich noch mal die Einladung zur Trauerfeier studieren«, antwortete Parker, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen.

Parker, ein Mann undefinierbaren Alters, mit ausdruckslosem Pokergesicht, stoppte sein hochbeiniges Monstrum und griff in die Innentasche seines schwarzen Zweireihers.

Josuah Parker war ein Butler, wie man ihn eigentlich nur noch in Filmen oder auf dem Bildschirm erlebte. Er schien das Relikt längst vergangener Zeiten zu sein. Seine Höflichkeit war irritierend und verleitete dazu, ihn zu unterschätzen. Zu seiner schwarzen Melone trug er einen rabenschwarzen Anzug, einen Eckkragen und einen schwarzen Binder. Sein altväterlich gebundener Regenschirm, von dem er sich so gut wie nie trennte, befand sich in einer speziellen Halterung neben seinem Sitz.

Den Wagen, den er steuerte, konnte man wirklich nur noch als Monstrum bezeichnen. Es handelte sich um ein uraltes Londoner Taxi mit betont rechteckigem Aufbau und harten Kanten. Dieses Taxi war allerdings nach Parkers eigenwilligen Vorstellungen und Plänen umgestaltet worden, was das Innenleben des Gefährts betraf. Rein technisch gesehen bot es Überraschungen am laufenden Band und war als Trickkiste auf Rädern zu bezeichnen. Parkers Monstrum nahm es spielend mit jedem Tourenwagen modernster Bauart auf, doch darüber redete er nicht.

Er hatte inzwischen die Einladung zur Trauerfeier in seinen schwarzbehandschuhten Händen und studierte noch mal die Orts- und Zeitangaben.

»Ein Irrtum scheint ausgeschlossen, Mylady«, meldete er dann. »Dies dort drüben müßte Chapelle-sur-Loire sein.«

»Das ist ein Trümmerhaufen«, stellte Mylady grimmig fest. »Die Türme sind halb eingestürzt, die Dächer halb abgedeckt.«

»Der Wassergraben scheint allerdings noch intakt zu sein, Mylady.«

»Ich will nicht baden, ich will an einer Trauerfeier teilnehmen«, erinnerte die ältere Dame gereizt. »Fahren Sie weiter! Vielleicht sind diese Leute verarmt.«

Diese »Leute« waren sehr entfernte Verwandte der Lady Agatha Simpson, die mit dem Blut- und Geldadel der Britischen Inseln verwandt und verschwistert war. Darüber hinaus gab es natürlich auch weitverzweigte Seitenlinien, die zum Teil hier in Frankreich existierten. Dazu gehörten auch diese »Leute«, die Lady Simpson jetzt aufzusuchen gedachte.

Das Schloß Chapelle-sur-Loire war für Lady Agathas Geschmack viel zu elegant, selbst im augenblicklich desolaten Zustand. Es handelte sich um ein Wasserschloß, das nur über eine morsch wirkende Zugbrücke zu erreichen war. Wie Parker bereits diskret angedeutet hatte, war der Wassergraben wohlgefüllt, wenngleich er auch einen leicht verschlammten Eindruck machte.

Chapelle-sur-Loire bestand aus vier stämmig und untersetzt wirkenden Rundtürmen, die die elegante Linienführung der Wohntrakte zusammenhielt. Es gab eine Vielzahl von spitzen Dächern, Giebeln und Erkern. Der Vorgänger eines gewissen Walt Disney schien hier bereits architektonisch gewirkt zu haben. Das märchenhaft Verspielte war noch deutlich zu spüren, wenngleich der Außenputz auch in großen Fladen abgeblättert war.

Parker hatte die morsche Zugbrücke erreicht und hielt erneut.

»Ich möchte meiner Befürchtung Ausdruck verleihen, daß Mylady hinsichtlich der Adresse getäuscht worden sind«, sagte er dann. »Nach Lage der Dinge dürfte es sich um das handeln, was man gemeinhin eine Falle nennt.«

»Dann unternehmen Sie gefälligst etwas dagegen«, grollte die resolute Dame, ohne in Panik oder Angst zu geraten. »Ich glaube, daß ich ziemlich verärgert bin, Mister Parker.«

*

Die beiden Gangster lagen auf der Lauer.

Sie stammten aus Paris, hatten ihre speziellen Fähigkeiten gegen Bargeld vermietet und verfügten über einschlägige Erfahrungen, über Gerissenheit und mörderische Energie. Darüber hinaus verfügten sie über je ein Gewehr mit Zielfernrohr. Sie hießen Paul und Jean, waren durchschnittlich aussehende Männer, etwa dreißig Jahre alt. Bisher war es ihnen gelungen, ihre Identität zu verschleiern. Sie nannten sich Paul und Jean, das reichte. Wer in der Vergangenheit versuchte, mehr über sie zu erfahren, lebte längst nicht mehr.

»Gleich werden sie aussteigen«, sagte Paul fast beiläufig. Er und sein Partner standen im rechten Brückenturm und besaßen erstklassiges Schußfeld.

»Schneller kann man die Miete nicht verdienen«, antwortete Jean und lächelte zufrieden. »Teilen wir sie auf, Paul.«

»Ich nehme die Lady«, sagte Paul.

»Einverstanden.« Jean nickte. »Paßt mir durchaus. Einen Butler hatte ich noch nie.«

Sie kontrollierten noch mal ihre Schießgeräte, denn sie waren ordentlich und nahmen ihren »Beruf« ernst. Dann warteten sie entspannt darauf, daß ihre Opfer diesen verrückt aussehenden, antiquierten Wagen verließen. Sie gingen von der Voraussetzung aus, daß ihre Opfer sich die Zugbrücke ansehen würden. Sie rechneten mit der menschlichen Neugier.

»Anschließend lassen wir sie im Graben verschwinden«, erinnerte Paul und vergewisserte sich, daß der Schalldämpfer auch wirklich fest saß.

»Samt Wagen.« Jean nickte und überprüfte ebenfalls den Schalldämpfer seines Gewehrs. Dann lachte er leise und spöttisch. »Etwas Abkühlung scheint er zu brauchen. Sieh dir das an!«

Paul sah bereits.

Aus dem Bereich des Kühlers stiegen weißliche Wasserdampfwolken empor, die sich schnell verstärkten und ausbreiteten. Der Motor schien überhitzt zu sein, das Kühlwasser zu kochen.

Die beiden Todesschützen beobachteten kopfschüttelnd das verrückte Schauspiel. Die Wasserdampfwolken aus dem Kühler wurden in Sekundenschnelle zu einer wahren Nebelbank, in der die bereits nur noch schwach erkennbaren Konturen des hochbeinigen Wagens untergingen. Diese Nebelbank breitete sich aus und hüllte bereits einen Teil der morschen Zugbrücke ein.

»Da stimmt doch was nicht«, vermutete Paul, der plötzlich von einer seltsamen Unruhe erfaßt wurde.

»So viel Kühlwasser gibt’s doch gar nicht.« Jean spürte leichten Schweiß auf seiner Stirn. »Was machen wir jetzt, Paul?«

Paul war das kühle Hirn dieser beiden Gangster. Und Jean erwartete in dieser Situation eine klare Stellungnahme.

Paul wollte antworten, doch er hüstelte leicht, bellte dann heftig und faßte an seinen Hals. Er hatte das Gefühl, als würde ihm die Kehle zugeschnürt. Er ließ das Gewehr los, lehnte sich zurück und hustete erneut.

Jean reagierte entsprechend.

Er tat es wirklich nicht aus Sympathie. Auch seine Kehle wurde zugeschnürt. Er schnappte verzweifelt nach Luft, registrierte, daß der Raum sich bereits ebenfalls mit weißen Schwaden füllte, und kniete erst mal nieder. Die Beine kündigten ihm den Dienst.

Paul schleppte sich mit letzter Kraft zur Wendeltreppe und wollte ins Freie. Als er die beiden ersten Stufen geschafft hatte, verlor er das Gleichgewicht und kollerte haltlos nach unten. Er blieb auf dem ersten Zwischenabsatz dieser Wendeltreppe liegen und bekam schon nicht mehr mit, daß sein Partner Jean sich ihm zugesellte.

Paul träumte, aber es war ein böser Alptraum.

Er trieb im grenzenlos weiten Meer und wurde von schäumenden Wogen überrollt, die ihn bis auf die Haut näßten. Er hatte Luftschwierigkeiten und ging plötzlich unter. Er schlug mit Händen und Füßen um sich, erreichte wieder die Wasseroberfläche und sog gierig die notwendige Luft in die Lungen.

Sekunden später wußte er, daß er keineswegs schlecht geträumt hatte, wenngleich er sich auch nicht im offenen Meer befand. Er saß bis zur Brust in einer trüben Brühe, die dazu noch jämmerlich roch. Er brauchte zusätzlich noch ein paar Sekunden, bis er begriff, in welch peinlicher Situation er sich befand, nämlich in einem hohen Gewölbe, das sein spärliches Licht aus einigen Maueröffnungen bezog, die früher mal Lichtschächte gewesen sein mußten.

Neben ihm saß sein Partner Jean im Wasser. Er träumte noch, sackte dann aber zur Seite und tauchte unter. Hustend und prustend brachte Jean sich hoch, schlug um sich und war dann geistig wieder da.

Er schaute um sich, sagte ein ausgesprochen häßliches Wort und fand die Zustimmung seines Partners Paul, der dieses Wort mit Nachdruck wiederholte.

»Nichts wie raus«, sagte Paul dann und stand auf. Er watete durch das anrüchige Wasser hinüber zu einer Steintreppe, an deren Ende eine schwere Bohlentür zu erkennen war. Jean watete seinem Freund nach, der die Stufen hinaufkroch und die Bohlentür öffnen wollte.

Sie erwies sich als sehr solide und schien darüber hinaus noch von außen erkeilt worden zu sein.

Die beiden Gangster stemmten sich mit ihren Schultern gegen die schmale Tür, die keinen Millimeter nachgab. Keuchend und erschöpft ließ sie sich auf die Stufen nieder und starrten trübselig in die dunkle Brühe.

»Ich ... Ich verstehe das nicht«, sagte Paul.

»Wir sind reingelegt worden«, antwortete Jean. »Wir haben uns leimen lassen wie Anfänger.«

»Weil unser Auftraggeber uns nicht gewarnt hat.« Paul suchte einen Schuldigen. »Der hätte uns einen Tip geben müssen, wie gefährlich die Alte und ihr Butler sind.«

»Das war unfair.« Jean nickte. »Wie kommen wir hier raus? Allein schaffen wir die Tür niemals.«

»Wir müssen rufen.«

»Nach wem?« Jean schüttelte den Kopf. »Hier hört uns kein Mensch, Paul.«

»Ist das da nicht ein Seil?« Pauls Augen hatten sich inzwischen an die Lichtverhältnisse im Gewölbe gewöhnt. Er deutete auf ein recht dick scheinendes Stück Tau, das aus einer der Mauerdurchbrüche oben vom Gewölbe nach unten baumelte.

»Unsere Rettung!« Jean hatte verstanden.. Ohne jeden Vorbehalt stieg er ins Wasser und watete durch die Brühe auf das herabhängende Tau zu. Er wollte sich Hand über Hand nach oben hangeln. So etwas traute er sich zu.

Paul folgte seinem Partner durch das übelriechende Wasser und weichte sich noch mal freiwillig ein. Er wollte so schnell wie möglich das scheußliche Gefängnis verlassen.

*

»Was versprechen Sie sich von dieser Zeitverschwendung?« fragte Agatha Simpson unwirsch.

»Die beiden Herren unten im Gewölbe dürften inzwischen das Stück Seil entdeckt haben«, antwortete Josuah Parker höflich und deutete auf das Seilende, das er um einen Mauervorsprung geschlungen hatte. »Die beiden Herren werden sich nun bemühen, herauf ans Tageslicht zu steigen.«

»Natürlich werden sie das.«

»Mit Myladys Erlaubnis werde ich das Seil zum geeigneten Zeitpunkt mittels eines Messers durchtrennen.«

»Das hört sich schon besser an«, anerkannte die Detektivin, deren Augen erfreut glänzten.

»Ein an sich ungefährliches Zurückfallen in das Wasser wird die Aussagefreudigkeit der beiden Herren erheblich steigern«, fuhr Butler Parker fort.

»Ich wüßte andere Mittel, um diese beiden Subjekte zum Reden zu bringen«, antwortete Lady Agatha und betrachtete angelegentlich ihre Hände.

»Darf ich mir erlauben, mich für einen Moment zu entschuldigen?« Parker deutete auf das Seilende, das in heftige Bewegung geraten war, ein sicheres Zeichen dafür, daß zumindest einer der beiden Gangster nach oben stieg. Parker hatte plötzlich ein Messer in seiner schwarzbehandschuhten Hand, trat an das Seilende und... durchtrennte es dann.

Fast synchron dazu ertönte ein Aufschrei aus dem Gewölbe, der in einem mächtigen Aufklatschen unterging. Dann erfolgte ein Husten und Gurgeln, dann waren Flüche zu hören und anschließend wilde Drohungen.

»Die beiden Herren dürften jetzt eine Phase der Depression durchleben«, stellte der Butler fest. »Falls Mylady einverstanden sind, sollte man sich nun den beiden kleinen, eckigen Gebäuden hinter dem Wassergraben widmen.«

»Sie wollen natürlich wieder mal Ihren Kopf durchsetzen, wie?«

»Die beiden Gebäude scheinen bewohnt zu sein, Mylady.«

»Natürlich sind sie bewohnt, ich bin ja nicht blind.« Sie spielte ihrem Butler etwas vor, denn sie hatte noch gar nichts gesehen. »Worauf warten Sie noch? Muß denn immer ich die Initiative ergreifen?«

Sie setzte sich in Bewegung, energisch, dynamisch und an einen Panzer erinnernd. Agatha Simpson war Detektivin aus Leidenschaft und stolperte von einem Fall in den anderen. Ohne Butler Parker wäre sie natürlich verloren gewesen, da sie stets viel zu spontan reagierte. Angst kannte die ältere Dame überhaupt nicht. Sie ging von der festen Annahme aus, daß ihr nichts passieren konnte.

Agatha Simpson konnte sich materiell so ziemlich alles erlauben, denn sie war immens reich. Es war ihr Ehrgeiz, eine gewisse Agatha Christie in den Schatten zu stellen. Lady Simpson schrieb schon seit geraumer Zeit an einem Krimi-Bestseller, war über das Einspannen eines Bogens Manuskriptpapier in die Schreibmaschine jedoch nicht hinausgekommen. Sie ließ sich nur zu gern ablenken und war stets auf der Suche nach einem noch explosiveren Thema.

Josuah Parker fühlte sich als der Schutzengel seiner Herrin. Er hatte alle Hände voll zu tun, um sie vor Schaden zu bewahren. Er war gut für jede Art von Überraschung und setzte gern List gegen Gewalt. Er wurde stets unterschätzt, wogegen er überhaupt nichts einzuwenden hatte. Sein Aussehen verleitete Ganoven und Gangster dazu, ihn für einen ausgemachten, in gewissen Formen erstarrten Trottel zu halten. Wenn sie dann das Gegenteil feststellten, war es für sie immer schon zu spät.

Steif und würdevoll folgte er Lady Agatha über die morsche Zugbrücke und betrachtete dabei die total verwilderten Parkanlagen, die in früheren Zeiten mal eine gartenarchitektonische Kostbarkeit gewesen sein mußten.

Hinter einer übermannshohen Taxushecke, die ungepflegt war, ragten die Spitzen und steilen Dächer der beiden kleinen Gartenhäuser hervor. Aus einer Esse kräuselte Rauch.

Agatha Simpson, die einen Steinbogen durchschritt, blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und brachte ihren perlenbestickten Pompadour in leicht kreisende Bewegung, was auf innere Spannung deuten ließ.

»Was soll dieser Unsinn?« fragte sie dann grollend. »Wollen Sie Flegel etwa auf mich schießen? Verärgern Sie mich nicht unnötig!«

*

Butler Parker reagierte sofort.

Er wich nach links aus und verschwand praktisch in der Taxushecke. Er zwängte sich durch das Gesträuch und war bemüht, sowenig Geräusch wie möglich zu verursachen. Er erreichte die andere Seite und blickte auf den kleinen, gnomenhaft aussehenden Mann, der eine alte Schrotflinte in den Händen hielt, deren Doppelmündung auf die Detektivin gerichtet war.

Dieser Mann war etwa sechzig Jahre alt und trug einen schäbigen Jagdanzug, der an vielen Stellen geflickt war. Auf seinem Kopf saß ein hutähnliches Gebilde, auf das einige Hahnenfedern aufgesteckt waren.

»Verschwinden Sie«, sagte der Gnom krächzend und offensichtlich gereizt. »Das hier ist Privatbesitz. Pöbel hat hier nichts zu suchen. Verschwinden Sie!«

»Sie Lümmel!« Lady Simpson wirkte überhaupt nicht eingeschüchtert.

Die Doppelflinte ignorierte sie. »Sie reden mit einer Dame!«

»So sehen Sie auch gerade aus«, höhnte der Gnom. »Gehen Sie endlich! Oder soll ich Ihnen Beine machen?«

Parker näherte sich auf leisen Sohlen dem unfreundlichen Schrotflintenbesitzer. Wie er es schaffte, auf dem Gartenkies unhörbar zu bleiben, war ein Rätsel. Parker hatte seinen altväterlich gebundenen Universal-Regenschirm vom angewinkelten linken Unterarm genommen und brachte den Bambusgriff in die Nähe des rechten Oberarms des Gnomen. Agatha Simpson hatte ihren Butler zwar schon entdeckt, doch sie ließ sich nichts anmerken. Zudem hatte sie bereits wieder mal die Initiative ergriffen.

Der nervös kreisende Pompadour löste sich aus ihrer Hand und sauste wie ein Geschoß in Richtung Gnom. Der Mann wurde völlig überrascht und »empfing« den Handbeutel in Höhe seiner Nasenwurzel.

Das Resultat war beeindruckend.

Im Pompadour befand sich nämlich Lady Simpsons »Glücksbringer«, ein echtes Pferdehufeisen, das nur oberflächlich mit dünnem Schaumstoff umwickelt war. Der Gnom ächzte, wurde zurückgeworfen und feuerte – gewollt oder nicht – dennoch einen Schuß ab, der jedoch erfreulicherweise in die Luft gerichtet war.

Parker hatte für diese mißlungene Kanonade gesorgt. Mit dem Bambusgriff seines Universal-Regenschirms hatte er den rechten Oberarm des Mannes nach oben gerissen. Er kümmerte sich jetzt bereits um den Gnomen, der auf dem Kies saß und mit einer mehr als nur leichten Benommenheit kämpfte.

»Darf ich mir erlauben, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen?« fragte Parker. »Darf ich ferner davon ausgehen, daß Sie mit dem Baron de Ponelle identisch sind?«

Der Gnom war noch nicht in der Lage, auf Parkers Fragen einzugehen. Er murmelte Unverständliches, sah Agatha Simpson aus trüben, verschleierten Augen an und überlegte wahrscheinlich, von welchem Pferd er wohl getreten sein mochte. Diesen Eindruck hatte er nämlich. Der »Glücksbringer« im Pompadour hatte voll getroffen.

»Nun übertreiben Sie nicht gleich wieder«, grollte die ältere Dame ihren Butler an, der dem Gnomen wieder auf die Beine half. »Dieses Subjekt wollte auf mich schießen.«

»Auf die Guillotine, auf die Guillotine«, murmelte der Gnom jetzt giftig. Er hatte innerlich wieder Tritt gefaßt und wurde Lady Agatha gegenüber mit seinen graugrünen Augen giftig.

»Baron de Ponelle?« fragte Parker ablenkend.

»Die Hände weg, Lakai!« Der Gnom machte sich von Parker frei und suchte nach seiner Flinte, die Parker sicherheitshalber im Grün der Taxushecke hatte verschwinden lassen.

»Er braucht wahrscheinlich noch eine zweite Behandlung«, vermutete Agatha Simpson grimmig. Sie ließ den Pompadour, den Parker ihr gereicht hatte, erneut kreisen.

»Baron de Ponelle«, stellte Josuah Parker den kleinen Gnomen vor, um dann auf seine Herrin zu deuten. »Lady Simpson, die hier auf Chapelle-sur-Loire zu einer feierlichen Bestattungsfeier eingeladen wurde.«

»Lady Simpson?« fragte der Gnom. »Lady Agatha Simpson?«

»Natürlich, das sehen Sie doch«, antwortete die ältere Dame gereizt.

»Sie sehen mich erfreut«, redete der Gnom weiter und vollführte einen unnachahmlich gekonnt-graziösen Kratzfuß, den man ihm nicht zugetraut hätte. »Ich bin entzückt, liebe Cousine, ich bin außerordentlich angenehm berührt.«

Er verbeugte sich erneut, haschte nach den Fingern der verblüfften Lady Agatha und küßte den Handrücken, was allerdings ein wenig verunglückte, da die resolute Sechzigerin etwas forsch reagierte.

»Was ist nun mit der Bestattung?« fragte sie dann ungnädig. »Ich möchte zurück nach Paris.«

»Bestattung, liebste Cousine?« Baron de Ponelle sah seine entfernte Verwandte irritiert an. Er sprach übrigens ein vorzügliches Englisch, was Lady Simpson allerdings für selbstverständlich hielt.

»Sie haben mich doch eingeladen. Warten Sie, Victor, sollten nicht Sie begraben werden?«

*

Das ehemalige alte Kutscherhaus war mit Antiquitäten vollgestopft. Der Hauch einer glanzvollen Vergangenheit wehte deutlich spürbar durch die beiden Räume, die durch einen Mauerdurchbruch miteinander verbunden waren.

Agatha Simpson, die ihren Cousin Victor inzwischen anerkannt hatte, was dessen Verwandtschaft zu ihr betraf, schaute sich einige Ölgemälde an, die streng blickende Männer und kokett wirkende Damen zeigten. Sie wartete auf die Rückkehr ihres Verwandten, der sich entschuldigt hatte.

»Was halten Sie von dieser ganzen Geschichte?« fragte die Lady und drehte sich zu ihrem Butler um.

»Mylady spielen sicher auf die beiden Herren an, die sich momentan im Gewölbe befinden?«

»Und auf diesen Cousin, der angeblich heute zu Grabe getragen werden sollte.« Sie nickte. »Ein seltsamer Verwandter, finden Sie nicht auch?«

»Ein Herr mit ausgeprägten Eigenschaften«, umschrieb Parker seinen Eindruck. »Baron de Ponelle scheint noch in der Vergangenheit zu leben, wie einige seiner Bemerkungen schließen lassen.«

»Hat er uns hierhergelockt? Hat er diese beiden Subjekte engagiert?«

»Diese Frage, Mylady, wage ich nicht zu beantworten.«

»Sie drücken sich wieder mal, wie? Ich will Ihnen mal etwas sagen: Dieser Vetter ist nicht ganz klar im Kopf. Diesem Victor traue ich so gut wie alles zu.«

»Eine Beurteilung, Mylady, die durchaus treffend sein könnte.«

»Nun sagen Sie schon, was Sie denken.« Sie sah ihn gereizt an. »Ich höre doch heraus, daß Sie völlig anderer Meinung sind.«

»Die beiden potentiellen Schützen im Gewölbe dürften mit dem Fall zu tun haben, den Mylady in Paris verfolgen.«

»Dem Fall Mentone?«

»Ricardo Mentone dürfte einen unstillbaren Haß auf Mylady und meine bescheidene Person hegen. Er könnte diese beiden Schützen gekauft haben.«

»Papperlapapp, Mister Parker! Woher weiß er von diesem Cousin?«

»Eine Frage, die einer schnellen Beantwortung bedarf, Mylady.«

»Mir kommt da gerade ein Gedanke«, sagte die ältere Dame halblaut vor sich hin.

»Dies, Mylady, hoffte ich.«

»Ob Ricardo Mentone mit den drei bisherigen Todesfällen zu tun hat? Immerhin haben wir drei Beerdigungen hinter uns.«

»Innerhalb von zwei Wochen, Mylady«, bestätigte der Butler. »Die französische Seitenlinie von Myladys Familie scheint vom Schicksal geradezu verfolgt zu werden.«

»Das kann kein Zufall mehr sein, Mister Parker.«

»In der Tat, Mylady! Hier scheinen sehr irdische Mächte am Werk zu sein.«

Sie konnten die Unterhaltung nicht weiterführen, denn in diesem Augenblick kam Baron Victor de Ponelle aus dem Obergeschoß des kleinen Kutscherhauses und verblüffte seine beiden Besucher.

Der Gnom hatte sich gründlich verwandelt.

Er schien aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen. Victor de Ponelle trug seidene Kniehosen, weiße Strümpfe und reich verzierte Schnallenschuhe. Der bestickte Rock reichte bis zu den Oberschenkeln.

Victor de Ponelles Kopf verschwand fast unter einer riesigen Perücke, die ein wenig ausgefranst war. Der Edelmann strömte einen penetranten Geruch nach Mottenkugeln aus. Er verbeugte sich tief und hieß seine Cousine erneut herzlich willkommen. Dann schaute er mißbilligend auf Parker und deutete mit seinem Zierstöckchen auf die Tür, die in den kleinen Vorflur führte.

»Hinaus mit ihm«, herrschte er den Butler dann an. »Hole er den Wein aus der Küche!«

Agatha Simpson wollte eingreifen. Ihre Augen glitzerten böse. Sie hatte eindeutig vor, ihrem Cousin über den Mund zu fahren, doch Butler Parker war schneller.

»Sehr wohl«, sagte er und verbeugte sich ehrerbietig. »Es wird sofort serviert.«

Parker war froh, den Raum verlassen zu können, denn er wollte sich im Haus umsehen.

*

Die beiden Profi-Mörder Paul und Jean klapperten mit ihren Zähnen um die Wette.

Sie saßen auf den Stufen der Steintreppe dicht vor der schweren Bohlentür und haderten mit ihrem Schicksal. So waren sie noch nie behandelt worden. Bisher hatten nur sie allein den Ton angegeben. Jetzt aber saßen sie in einer Falle, aus der es wohl kein Entrinnen gab.

Jean hatte sich inzwischen vom Sturz erholt, der übrigens glimpflich abgelaufen war. Er nieste hin und wieder und sah hinauf zu den Mauerdurchbrüchen des Gewölbes, die leider unerreichbar blieben.

Plötzlich glaubte Jean dort oben ein Gesicht zu sehen. Er richtete sich steil auf und hielt unwillkürlich den Atem an.

»Was ist?« fragte Paul müde.

»Da oben, ein Gesicht!«

»Wo?« Pauls Müdigkeit war sofort verflogen. Er sah hoch zu den Mauerdurchbrüchen, konnte jedoch nichts entdecken.

»Ich hab’s deutlich gesehen«, sagte Jean.

»Schon gut, schon gut.« Paul winkte ab. Natürlich hatte sein Partner sich geirrt. Es war ja überhaupt nur eine Frage der Zeit, bis sie beide durchdrehten und verrückt spielten.

»Es war ’n Gesicht!« Jeans Stimme nahm einen eigensinnigen Unterton an. »Glaubst du etwa, ich würde schon weiße Mäuse sehen?«

»Das wäre wenigstens ’ne Abwechslung«, erwiderte Paul und starrte wieder trübselig auf die schmutzige Wasseroberfläche.

»Da is’ es wieder!« Jean sprang auf, rutschte jedoch auf den glitschigen Stufen aus, griff haltsuchend in die Luft und landete in den aufklatschenden Fluten. Als er wieder auftauchte, hörte er das Lachen seines Partners.

Dieses Lachen brach plötzlich ab, bevor Jean einen wütenden Fluch ausstoßen konnte. Er blieb im Wasser stehen und sah seinen Freund, der nun seinerseits angestrengt zu den Mauerdurchbrüchen sah.

»Jetzt hab’ ich’s auch gesehen«, meinte Paul dann.

»Hab’ ich doch gleich gesagt! Ob das dieser Butler gewesen ist?« Jean watete zurück zur Steintreppe. Als er hochstieg und sich das Wasser aus dem Gesicht wischte, sprang Paul plötzlich hoch und warf sich mit aller Kraft gegen ihn. Jean brüllte auf, doch er konnte sich natürlich nicht halten. Er landete zusammen mit seinem Partner erneut in dem Wasser.

»Wahnsinnig?« Jean hustete, als er wieder auf den Beinen stand. Er sah Paul wütend an. »Was sollte das?«

»Sieh mal zur Tür rüber!« Paul deutete mit ausgestrecktem Arm die Steintreppe hoch.

»Was ist mit der Tür?«

»Siehst du denn nichts?«

»Das is’ doch ... das is’ doch ...«

» .. .’n Pfeil«, vollendete Paul den Satz. »Das is’ ’n Blasrohrpfeil. Er zischte dicht an meinem Kopf vorbei. Ich hab’ den Luftzug gespürt.«

»Man will uns umbringen.« Jeans Kehle schnürte sich zusammen. Er wartete den Kommentar seines Freundes nicht ab, sondern arbeitete sich durch das Wasser hinüber hinter einen der runden, stämmigen Stützpfeiler. Hier nahm er Deckung.

Paul war ihm gefolgt. Dicht standen die beiden Profi-Mörder nebeneinander. Sie zitterten vor Nervosität, aber auch vor Kälte, die langsam in ihnen hochkroch. Sie schielten förmlich um den schützenden Pfeiler herum zu den Mauerdurchbrüchen hinauf, woher der Pfeil gekommen sein mußte.

Sie rührten sich nicht von der Stelle.

*

Natürlich hatte Butler Parker das seltsame Geschoß abgefeuert, das jetzt in der Bohlentür zitterte.

Sein Universal-Regenschirm war dazu durchaus in der Lage. Der Schirmstock war ein geschickt getarnter Lauf, der Blasrohrpfeile mittels Preßluft in jede gewünschte Richtung verschießen konnte. Parker hatte sich diese ein wenig ungewöhnliche Waffe in seiner »Bastelstube« hergerichtet, einer Art Labor in seinen Privaträumen des Stadthauses der Lady Simpson.

Selbstverständlich hatte er keineswegs die Absicht gehabt, den Gangster zu treffen. Ihm war es einzig und allein darauf angekommen, die beiden Männer ins Wasser des Gewölbes zu scheuchen, um sie noch ein wenig einzuweichen.

Nun hatte der Butler Zeit und Gelegenheit, sich das verfallene Schloß des Baron de Ponelle näher anzusehen. Eine schnelle Besichtigung des Kutscherhauses hatte er bereits hinter sich.

Gemessen und würdevoll schritt Josuah Parker die Räume im Erdgeschoß ab und prüfte die vielen Treppen, die in die oberen Stockwerke führten. Sie waren durchweg staubbedeckt und zeigten keine Spuren. Nach menschlichem Ermessen waren diese Räume oben in jüngster Zeit von niemandem betreten worden. Eine Besichtigung konnte er sich also ersparen.

Seine Wanderung durch das Erdgeschoß brachte keine Erkenntnisse. Die Räume waren leer, viele Fenster zerbrochen. Verfall, Trostlosigkeit und ein Hauch des Todes gingen von den Sälen, Gängen und Korridoren aus. Baron de Ponelle schien das eigentliche Schloß zu meiden. Überall gab es Staub, Spinnweben und Deckenputz, der auf dem geborstenen Parkett lag.

Parker hätte nicht sagen können, wonach er suchte. Er wollte die Atmosphäre des Schlosses auf sich wirken lassen, das eine glanzvolle Vergangenheit hinter sich hatte. Die Seitenlinie der Agatha Simpson hatte in Frankreich mal eine wichtige Rolle gespielt. Zur Zeit des Sonnenkönigs war ein de Ponelle Träger wichtiger Staatsämter gewesen. Und genau diese Seitenlinie der de Ponelles war es, die jetzt innerhalb von zwei Wochen drei Todesfälle zu beklagen hatte.

Agatha Simpson hatte sich der Teilnahme an diesen Begräbnissen nicht entziehen können. Es waren recht bemerkenswerte Trauerfeiern gewesen, über die die Presse berichtet hatte. Victor de Ponelle allerdings, der Besitzer von Chapelle-sur-Loire, war auf keiner dieser Trauerfeiern gewesen. Entweder hatte man ihn nicht eingeladen, oder aber er hatte einfach nicht die Mittel gehabt, um nach Paris zu kommen.

Wegen der drei Todesfälle war Lady Simpson nicht nach Frankreich gefahren. Ihr Aufenthalt in Paris bis vor einem Tag hing mit dem Fall Ricardo Mentone zusammen. Dieser Mann – ein Gangster brutalster Sorte – hatte es vorgezogen, die Insel zu verlassen, als das Gespann Simpson-Parker ihm zu gefährlich geworden war. Mit seiner Beute, die aus einigen bösen Erpressungen stammte, hatte Ricardo Mentone sich in Paris niedergelassen und sich für genau eine Woche sicher gefühlt.

Das war schlagartig anders geworden, als Lady Agatha und Butler Parker in der französischen Metropole eingetroffen waren, um diesen Gangster zu stellen und der Polizei in die Hände zu spielen. Ricardo Mentone wehrte sich verzweifelt und mit allen Mitteln. Im Augenblick hatte er wohl auf zwei gedungene Mörder gesetzt, die nun allerdings ein kühles und übelriechendes Bad nahmen.

Parker hatte den Nordflügel des Schlosses erreicht und spürte plötzlich, daß er verfolgt wurde.

Natürlich ließ er sich nichts anmerken, doch er traf gewisse Vorkehrungen. Sollte Mentone vielleicht drei Mordschützen engagiert haben? Parker blieb in einem der langen Verbindungskorridore stehen und nahm seine schwarze Melone ab, die zu seiner Berufskleidung als Butler gehörte. Der Verfolger mußte annehmen, daß der Butler sich den Schweiß von der Stirn tupfte, in Wirklichkeit aber warf Josuah Parker einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel in der Wölbung seiner Kopfbedeckung.

Dieser Blick lohnte sich.

Butler Parker bekam noch einen Schatten mit, der blitzschnell in einer Fensternische verschwand. Er hatte sich also nicht getäuscht. Seine innere Alarmanlage funktionierte noch ausgezeichnet.

Parker tauchte ebenfalls unter. Dann wartete er mit stoischer Ruhe ab. Er wußte im vorhinein, daß seine Nerven besser waren als die des Verfolgers.

*

»Natürlich wurde ich zu den Begräbnissen eingeladen, teuerste Cousine«, sagte Baron de Ponelle, wobei er allerdings geringschätzig das Gesicht verzog. »Ich habe mir aber diese Freude versagt.«

»Freude, Victor?« Agatha, Simpson lächelte grimmig. Sie war schon immer eine Liebhaberin des schwarzen Humors gewesen.

»Freude!« Er nickte bestätigend. »Ich habe nichts dagegen, daß meine Familie ausstirbt. Von mir aus kann es nicht schnell genug geschehen.«

»Schließen Sie sich mit ein, lieber Victor?« Lady Simpson sah ihr Gegenüber aufmerksam an.

»Das betrifft auch mich, teuerste Cousine.« Victor de Ponelle stand auf und straffte seine gnomenhafte Gestalt. »Auch auf meinen schwachen Schultern lastet die Bürde der Schande.«

»Was Sie nicht sagen, Victor!«

»Meine Familie hat gefehlt«, sagte er mit tragischem Unterton. »Sie wissen sicher, was während und nach der Ermordung unseres Königs passierte?«

»Ich werde bei Gelegenheit wieder mal in der Familiengeschichte blättern müssen, Victor.«

»Meine Familie ignorierte die historische Chance, gegen die Jakobiner zu kämpfen. Wie Schlachtvieh ließ sie sich von den Henkern zur Guillotine schleifen, ohne die geringste Gegenwehr.«

»Wogegen Sie noch heute etwas haben, nicht wahr?«

»Ich werde diese Schmach tilgen, liebste Cousine, und zwar in doppeltem Sinn.«

»Das müssen Sie mir erklären, Victor.« Die Detektivin beugte sich interessiert vor. Sie spürte, daß dieser Mann ihr nichts vormachte. Er redete aus einem inneren Bedürfnis heraus. Er schien die Gelegenheit beim Schopf zu fassen, sich endlich mal erklären zu können.

»Ich werde die strafen, die feige waren und keine Haltung zeigten«, sagte der Gnom mit Pathos. »Aber ich werde auch die zur Rechenschaft ziehen, die das königliche Haus dezimierten.«

»Sie haben sich da viel vorgenommen, Victor.«

»Es ist meine Pflicht der Geschichte gegenüber.«

»Und wie wollen Sie strafen, Victor?«

»Darüber später mehr, liebste Cousine. Ich frage mich übrigens, ob nicht auch der englische Zweig unserer Familie versagt hat.«

»Zu welcher Antwort werden Sie kommen?«

»Auch Ihre Familie, teuerste Cousine, hat sich der Verantwortung entzogen.«

»Ich brauche etwas Nachhilfeunterricht, Victor.«

»Wo blieben vor und während der Revolution die englischen Kavaliere, liebste Cousine? Sie sahen von England aus dem mörderischen Treiben zu, ohne auch nur eine Hand zu rühren. Ja, ich denke, ich werde die Liste ausweiten müssen.«

»Welche Liste?« Die Detektivin wußte natürlich, was er meinte, doch sie stellte sich ahnungslos.

»Meine Strafliste. Ich werde methodisch vorgehen und von Fall zu Fall entscheiden.«

»Sind Sie bereits methodisch vorgegangen, Victor? Ich denke an die drei Beerdigungen in den vergangenen beiden Wochen.«

»Sie wollen mich ausfragen, teuerste Cousine, nicht wahr?« Der Gnom lächelte schlau und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich glauben Sie auch, daß mein Geist verwirrt ist, nicht wahr?«

»Manches von dem, was Sie sagen, klingt unglaubwürdig, Cousin.«

»Nämlich?« Baron de Ponelle sah seine entfernte Verwandte beinahe herablassend an.

»Wieso strafen Sie erst jetzt? Warum ziehen Sie die Schuldigen erst jetzt zur Rechenschaft?“

»Dies geschieht bereits seit vielen Jahren, meine Liebe, mehr möchte ich dazu nicht sagen. Vielleicht werde ich mich bald mit Ihnen beschäftigen müssen. Lassen Sie sich überraschen!«

»Sie machen mir angst, Victor«, behauptete Agatha Simpson. »Ich erkläre Ihnen, daß ich in jedem Fall unschuldig bin.«

»Warten Sie es ab, teuerste Cousine«, gab Victor de Ponelle zurück. »Die Entscheidung liegt bei mir. Es wird noch mancher Kopf in den Korb springen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ein Ausdruck aus der blutigen Zeit, als die Guillotine noch arbeitete. In diesem Fall ist das in übertragenem Sinn gemeint.«

Er wanderte auf seinen kurzen Beinen umher, warf sich in Pose und hob die Hand zum Schwur.

»Die Schande wird getilgt werden«, donnerte er dann übergangslos und erstaunlich laut. »Der Rachegott schwebt über der Familie. Man wird zittern. Übrigens, liebste Cousine, nehmen Sie noch einen Kognak? Eine ausgesuchte Erfrischung, die die Lebensgeister stärkt. Möglich, daß Sie bald starke Nerven brauchen.«

*

Natürlich waren Parkers Nerven erheblich besser.

Er wartete unbeweglich etwa viereinhalb Minuten, dann hörte er ein erstes, feines Geräusch, ein Knirschen und Schleifen. Der Schatten schien die Deckung seiner Fensternische verlassen zu haben und pirschte sich nun vorsichtig an den nächsten Saal heran.

Josuah Parker rührte sich nicht. Er beging nicht den Fehler, schon jetzt einen schnellen Blick auf seinen Verfolger werfen zu wollen. Das hatte Zeit. Der Schatten durfte nicht vorgewarnt werden.

Das Knirschen von Stuckresten auf dem aufgeworfenen Parkett wurde lauter. Parker, der seinen Universal-Regenschirm bereits angehoben hatte, um den bleigefütterten Bambusgriff als Waffe zu benutzen, hörte ein Schnaufen. Der Schatten, der seine Nische fast erreicht hatte, schien aufgeregt zu sein. Diesem Schatten ging wohl die quälende Stille auf die Nerven. Sie mochte es auch gewesen sein, die ihn aus der Deckung herausgetrieben hatte.

Wenig später war es soweit...

Vor Parker erschien ein großer, stämmiger Mann, der ein Henkersbeil in der rechten Hand trug. Dieser Mann bemerkte plötzlich, wo sein Gegner stand, und reagierte erstaunlich schnell. Es war seine erklärte Absicht, Parker mit dem schweren Henkersbeil niederzuschlagen oder gar zu spalten. Und dagegen hatte der Butler verständlicherweise einiges einzuwenden.

Parker sah sich veranlaßt, ein wenig härter und gezielter zuzuschlagen, als er es vorgehabt hatte. Er setzte den bleigefütterten Bambusgriff seines Regenschirms auf die Nase des Mannes und verformte sie leicht.

Dies brachte den Mann sichtlich aus der Fassung. Gewiß, er schlug zwar noch zu, doch das schwere Henkersbeil landete mit seiner Schneide im Verputz der Außenwand. Funken stoben, ein häßliches Schleifen und Brechen war zu hören. Dann kniete er vor dem Butler nieder, kümmerte sich ab sofort nicht weiter um sein Mordinstrument, fiel auf die Stirn und anschließend auf die Seite.

Parker bedauerte diesen Zwischenfall ungemein und hätte sich gewiß bei dem Mann entschuldigt, wenn der in der Lage gewesen wäre, die Worte des Bedauerns entgegenzunehmen. Der Butler durchsuchte den Mann nach weiteren Waffen, fand erstaunlicherweise eine Automatic vom Kaliber 7.65, steckte sie ein und musterte dann sein Opfer.

Seiner Schätzung nach mochte der Beilträger etwa fünfundvierzig Jahre zählen. Er trug eine Art Wams und lange, enganliegende Hosen, die in den hohen und breiten Stulpen schwerer Stiefel endeten. Unter dem Wams war der muskulöse Oberkörper nackt.

Das Gesicht des Mannes war grob geschnitten, das Haar kurz. Auf den nackten Ober- und Unterarmen waren ausgiebige Tätowierungen zu sehen, die realistische Szenen aus der Schifffahrt zeigten: Segelschiffe mit geblähten Segeln und im Sturm, Rudergaleeren und dann überraschenderweise auch eine Guillotine.

»Sie müssen gestolpert sein«, sagte Parker, als der Mann unvermittelt die Augen öffnete und sich aufrichtete. »Hoffentlich haben Sie sich nicht verletzt.«

Der Mann gab ein paar unverständliche Laute von sich, faßte an seine Nase und stöhnte leicht. Dann sah er Parker aus dunklen, haßerfüllten Augen an.

»Tun Sie es nicht«, meinte Parker, der die unfeinen Gedanken seines Gegenübers ahnte. »Sie würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erneut stolpern.«

Da Parker die französische Sprache benutzte, verstand der Mann und verzichtete darauf, sich mit dem Butler noch mal anzulegen. Er schien wenigstens vorerst darauf verzichten zu wollen.

»Kann ich davon ausgehen, daß Sie im Dienst des Baron de Ponelle stehen?« erkundigte Parker sich in seiner gewohnt höflichen Weise. »Falls dem nämlich so ist, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ich Gast des Hauses bin.«

»Ach, so ist das.« Der Mann nickte langsam. Er stand auf und fingerte erneut an seiner leicht geschwollenen Nase. »Ich hab’ schon gedacht, Sie hätten hier plündern wollen.«

»Plündern? In diesem total geräumten Schloß?«

»Sie versuchend immer wieder«, lautete die Antwort. »Sie sind hinter alten Sachen her, und dann brechen sie sich manchmal das Genick.«

»Ein interessanter Hinweis. Das ist also möglich?«

»Hatten wir erst vor ein paar Wochen«, bestätigte der Mann und schielte nach seinem Henkersbeil. »Da waren zwei Kerle hier, die ausräumen wollten.«

»Sie brachen sich das Genick?«

»Nur einer von ihnen«, antwortete der Mann. »Der andere brach sich ein paar Knochen. Die Kerle kamen aus Paris und wollten hier alte Sachen abstauben.«

»Dieses Schloß scheint demnach voller Gefahren zu stecken, oder sollte ich mich irren?«

»Alles is’ hier brüchig«, warnte der Mann und schielte erneut nach seinem Beil. »Manchmal sackt der Boden weg, oder ’n Stück Decke bricht runter. Lebensgefährlich ist das hier.«

»Sie überzeugten mich davon bereits vor wenigen Minuten«, entgegnete Josuah Parker höflich. »Falls Sie Ihr Beil aufheben wollen, Monsieur, bitte. Ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen.«

»Wie ’n Plünderer sehen Sie nicht aus.« Der Mann bückte sich hastig nach der schrecklichen Waffe.

»Ich sagte schon, ich bin Gast des Hauses.« Parker ließ den Mann nicht aus den Augen, was sich Sekunden später auszahlte.

Der Mann riß aus der gebeugten Haltung heraus das Beil hoch und legte es darauf an, den Butler zu zerteilen. Parker hatte jedoch mit solch einem Angriff gerechnet und wich geschickt nach hinten aus. Das Beil zerschnitt die Luft und krachte danach ins morsche Parkett, daß die Holzstücke flogen.

»Dies schätze ich aber gar nicht«, sagte Josuah Parker und schüttelte verweisend den Kopf. »Dies könnte man schon durchaus als Tücke bezeichnen.«

Butler Parker 137 – Kriminalroman

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