Читать книгу Butler Parker 131 – Kriminalroman - Gunter Donges - Страница 3
ОглавлениеLady Agatha Simpson fühlte sich in ihrer Bewegungsfreiheit empfindlich eingeschränkt.
Sie saß am Steuer ihres Land-Rover und war von parkenden Wagen restlos eingekeilt. Sie hatte keine Möglichkeit, sich in den Verkehr einzufädeln. Grimmig schaute sie auf den Fahrer des nächsten Wagens. Der Mann rührte sich nicht und reagierte keineswegs auf das gereizte Hupkonzert. »Was sagen Sie zu dieser Frechheit, Kindchen?« erkundigte sie sich bei ihrer Sekretärin und Gesellschafterin.
»Vielleicht könnte man ein paar Zentimeter zurücksetzen, Mylady«, erwiderte Kathy Porter beruhigend. Ihr war sehr daran gelegen, Myladys Unmut ein wenig zu dämpfen. Sie kannte das Temperament der älteren Dame. »Worauf Sie sich verlassen können!« Agatha Simpson schaltete den Rückwärtsgang ein, was nicht ohne deutlich hörbare Schaltgeräusche vor sich ging. Die Lady ging mit der Technik stets rigoros um. Sie ließ die Kupplung kommen und setzte zurück.
Ein knirschendes Geräusch des hinter ihr parkenden Wagens verriet, daß sie wohl doch etwas zu viel Gas gegeben hatte...
»War da was?« fragte sie bei Kathy Porter an.
»Wahrscheinlich sind die Scheinwerfer des hinter uns stehenden Wagens eingedrückt worden« vermutete Kathy ergeben. »Soll ich nachsehen, Mylady?«
»Papperlapapp, Kindchen! Mit solchen Kleinigkeiten gebe ich mich nicht ab. Warten Sie, ich werde es nach vorn noch mal versuchen.«
Sie schaltete und war ganz bei der Sache. Agatha Simpson, die sich vorgenommen hatte, es mit ihrer Geschicklichkeit zu schaffen, gab erneut Gas und lädierte auch prompt die Rückscheinwerfer des vor ihr parkenden Wagens.
Glas splitterte, und dazu gab es erneut ein knirschendes, häßliches Geräusch von zerknautschtem Blech.
»Was war das?« erkundigte sich die resolute Fahrerin noch mal. »Mir schien, als hätte ich was gehört.«
»Eigenartig«, wunderte sich Kathy halblaut und schüttelte den Kopf. »Der Fahrer reagiert überhaupt nicht. Er muß es doch auch gehört haben.«
»Tatsächlich.« Agatha Simpson richtete sich auf und straffte ihre majestätische Erscheinung. »Dieser Verkehrsrowdy scheint besonders schwerfällig zu sein.«
»Mylady, vielleicht sollten Sie nicht noch mal rammen«, schlug Kathy vor. Agatha Simpson aber ließ sich nicht beirren. Sie hatte bereits zurückgesetzt, sorgte dafür, daß die Scheinwerfer des hinter ihr stehenden Wagens restlos in die Brüche gingen, und fuhr dann wieder an.
Diesmal handelte es sich um einen echten Rammstoß.
Der vor dem Land Rover stehende Wagen wurde gehörig durchgeschüttelt und nach vorn getrieben. Kathy schloß für einen Moment die Augen. Jetzt mußten die Rückfahrscheinwerfer mit Sicherheit endgültig in ihre Bestandteile zerlegt worden sein.
»Sehen Sie doch, Kindchen!« Agatha Simpson deutete nach vorn. »Dieser phlegmatische Bursche scheint sich hingelegt zu haben.«
Myladys Beobachtung entsprach vollkommen der Tatsache.
Der Fahrer war verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sich entsetzt zur Seite auf den Beifahrersitz geworfen. Doch er richtete sich nicht wieder auf, was normal gewesen wäre.
»Da stimmt doch was nicht.« Agatha Simpson drückte die Wagentür auf und stieg aus. Erst jetzt zeigte sich, wie erhaben sie wirkte. Sie trug ein Kostüm aus Tweed, das ihr ein wenig zu groß war. Die Schuhe waren derb und in jedem Fall unmodisch. Agatha Simpson liebte legere Kleidung, was sich auch in ihrer Kopfbedeckung ausdrückte. Der Hut glich einem sturmerprobten Südwester, wie er von Hochseefischern verwendet wird.
Ihr Gesicht erinnerte an das eines etwas angejahrten Rassepferdes. Es war faltenreich und verriet Energie. Lady Simpson hatte hellwache, graue Augen, die schnell im Zorn aufblitzten. Sie war eine durch und durch ungewöhnliche Frau, deren Alter schwer zu schätzen war. Sie selbst gab es stets mit »etwas über sechzig Jahre« an, woran zu erkennen war, daß sie nicht ganz frei von einer gewissen Eitelkeit war.
Diese ungewöhnliche Frau also marschierte auf ihren stämmigen Beinen zum vor ihr parkenden Wagen und schaute in das Innere. Sie hatte sich nicht getäuscht. Der Fahrer lag halb auf dem Nebensitz und rührte sich auch dann noch nicht, als die passionierte Detektivin energisch gegen die Scheibe klopfte.
Der Mann rührte sich immer noch nicht.
Lady Simpsons Temperament kam prompt zum Durchbruch. Sie öffnete die Wagentür und beugte sich über den auf den Polstern liegenden Mann.
»Haben Sie sich gefälligst nicht so«, schnauzte sie den Fahrer an. »Das bißchen Glas und Blech werden Sie ja wohl noch verschmerzen können, oder?«
Der Fahrer äußerte sich nicht zu dieser Frage. Er war nämlich tot!
*
»Er wurde vergiftet«, berichtete Lady Simpson und strahlte ihren Butler förmlich an. »Das muß man sich mal vorstellen, Mr. Parker. Er wurde vergiftet! Und wissen Sie auch, wo das geschehen sein muß?«
»Ich möchte mich nicht erkühnen, Mylady vorzugreifen«, antwortete Josuah Parker zurückhaltend und gemessen. Er hatte gleich nach Myladys Rückkehr den obligaten Tee serviert und stand abwartend vor dem kleinen Tisch. Er war bereit, Mylady zum Tee den ebenfalls obligaten Kreislaufbeschleuniger zu reichen. Dabei handelte es sich um einen erstklassigen alten Kognak, den die Hausherrin bevorzugte.
Parker trug eine schwarze Hose, eine gelb-schwarz gestreifte Weste und einen schwarzen Binder, der den altväterlich aussehenden Eckkragen zierte. Er war der Prototyp eines englischen Butlers, wie man ihn vielleicht nur noch in englischen Gesellschaftsfilmen zu sehen bekommt.
Butler Parker stand schon seit geraumer Zeit in Diensten der älteren Dame und fühlte sich hier außerordentlich wohl. Lady Simpson teilte seine Neigung und betätigte sich ebenfalls als Amateurdetektivin. Ihr unermeßlicher Reichtum gestattete es, dieser Laune zu frönen. Im Augenblick war sie von dem Mord sehr angetan. Sie witterte einen neuen Fall.
»Sie werden nicht erraten, wo er vergiftet worden ist«, vermutete Agatha Simpson.
»Mit einiger Sicherheit nicht, Mylady.«
»In der Kantine von New Scotland Yard«, sagte die Detektivin und lachte spöttisch. »Solch eine Blamage muß man sich mal vorstellen! Es ist einfach nicht zu fassen.«
»Wie Mylady meinen.« Parker sah den Zeitpunkt gekommen, den Kreislaufbeschleuniger zu reichen. Agatha Simpson ließ sich den Schwenker servieren und stärkte ihren Organismus nachhaltig.
»Haben Sie dazu sonst nichts zu sagen?« wunderte sich die resolute Dame, nachdem sie den Kognakschwenker abgesetzt hatte. Sie sah ihren Butler leicht verärgert an.
»Darf man erfahren, Mylady, wer der Tote ist?«
»Ralph Tainers, Mr. Parker. Das hier entdeckte ich in seinem Wagen, halb unter dem Sitz.«
Sie reichte Parker einen Zettel, der wohl aus einem größeren Notizbuch stammte. Auf diesem Zettel stand nichts anderes als eine Telefonnummer. Die Ziffern waren entweder in größter Eile oder vielleicht sogar mit schwindender Lebenskraft geschrieben worden. Sie sahen zittrig und leicht verwischt aus.
»Darf ich mir die Freiheit nehmen, Mylady zu fragen, woher Mylady den Namen des Toten in Erfahrung bringen konnte?« Parker drückte sich stets barock aus.
»Ich schnappte ihn von den Polizeidetektiven auf«, erwiderte sie. »Selbstverständlich verständigten Kathy und ich sofort die Polizei, nicht wahr, Kindchen?«
»Nachdem Sie den Toten durchsucht hatten, Mylady«, erwiderte Kathy und stellte die Dinge richtig.
»Halten wir uns nicht mit solchen Kleinigkeiten auf«, sagte die Detektivin ungerührt. »Was meinen Sie zu diesem Wisch, Mr. Parker?«
»Mylady haben sich bereits eine feste Meinung gebildet?« erkundigte sich Parker gemessen.
»Und ob ich das getan habe, Mr. Parker! Dieser Tainers hatte vor seinem Tod gerade noch die Kraft, die Telefonnummer seines Mörders niederzuschreiben. Für mich liegt das auf der Hand.«
»Mylady vergaßen wahrscheinlich, diese Telefonnummer den zuständigen Behörden zu übergeben?«
»Das ist vollkommen richtig, Mr. Parker.« Sie nickte. »Sie können sich ja vorstellen, wie durcheinander ich war.«
Parker konnte sich das zwar überhaupt nicht vorstellen, doch er hütete sich, dies zu sagen. Mylady hatte den Zettel mit der Telefonnummer ganz einfach unterschlagen.
»Sollte man dieses bedauerliche, aber verständliche Versäumnis möglicherweise nachholen, Mylady?«
»Unterstehen Sie sich!« Sie blitzte ihn gereizt an. »Ich würde mich ja unmöglich machen. Nein, nein, das muß ich jetzt durchstehen. Leider.«
Sie seufzte tragisch auf und tat so, als habe sich eine unsichtbare, aber schwere Last auf ihre Schultern gesenkt. Dann trank sie den Rest des Kognaks und stand auf. Sie machte einen sehr animierten Eindruck.
»Sie müssen zugeben, Mr. Parker, daß das hier ein neuer Fall für uns ist, oder?«
»Mylady haben sich bereits entschieden?«
»Mylady hat sich bereits entschieden«, schaltete sich Kathy Porter ein. »Mylady rief diese Nummer bereits an und nannte ihren Namen.«
»Mylady sehen meine bescheidene Wenigkeit bestürzt«, gab Josuah Parker zurück. »Darf man erfahren, wie die Gegenseite reagierte?«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Agatha Simpson grimmig. »Sehr schlecht erzogene Leute unter diesem Anschluß. Es wurde einfach aufgelegt. Was sagen Sie dazu, Mr. Parker?«
»Die Manieren mancher Leute lassen in der Tat zu wünschen übrig, Mylady.«
»Es wurde einfach aufgelegt, Mr. Parker. Daraus geht doch hervor, daß man Dreck am Stecken hat. Ist Ihnen das nicht aufgegangen?«
»Durchaus, Mylady. Aber die Gegenseite dürfte jetzt wissen, wer da eine Spur aufgenommen zu haben scheint.«
»Das möchte ich doch sehr hoffen«, lautete die Antwort. »Ich habe meinen Namen schließlich laut und deutlich genannt. Sicherheitshalber zweimal! Sie müssen ihn genau verstanden haben.«
*
Er kam wieder mal zufällig vorbei, wie er behauptete.
Super-Intendent McWarden hatte sein bestes Sonntagsgesicht aufgesetzt und begrüßte Lady Simpson. Er schaffte es sogar, so etwas wie einen Kratzfuß anzudeuten, der allerdings leicht verunglückte. McWarden, seit einigen Wochen der berühmten »Flying Squadron« angehörend, war ein untersetzter, bullig aussehender Mann von etwa fünfzig Jahren. Er war ein ausgezeichneter Detektiv, der es überhaupt nicht schätzte, wenn Amateure seine Kreise störten. Zu seinem Pech und Leidwesen aber war es immer dieses Trio – Agatha Simpson, Butler Parker, Kathy Porter das ihm über den Dienstweg lief. Und nur zu oft schon hatte dieses Trio ihm fertig gelöste Kriminalfälle geliefert, während er noch nach den Tätern suchte.
An diesem frühen Nachmittag gab McWarden sich freundlich, was ihm allerdings schwerfiel. Er wiederholte noch mal, er sei wirklich zufällig vorbeigekommen.
»Natürlich war das ohne Absicht, McWarden«, meinte Agatha Simpson genußvoll. »Und rein zufällig wollen Sie herausbekommen, wie ich diesen Ralph Tainers entdeckte, nicht wahr?«
»Ich hörte davon«, meinte McWarden und nahm den angebotenen Platz in einem alten und schweren Ledersessel an.
»Aber diese Sache interessiert Sie nicht, wie ich vermute.«
»Nun, das möchte ich nicht unbedingt sagen«, erklärte der Superintendent gequält. »Tainers war ein interessanter und wichtiger Mann.«
»In der Tat, Sir«, schaltete sich Josuah Parker ein, der dem Gast einen Brandy servierte. »Mr. Ralph Tainers war ein wichtiger Augenzeuge im Fall Edward Healers.«
»Aha, Sie haben sich inzwischen schon informiert?«
»Man brauchte nur in den Zeitungen nachzulesen, Sir«, redete der Butler höflich und gemessen weiter. »Mr. Tainers wollte vor Gericht beschwören, daß Healers einen Mord begangen hat. Er war sich seiner Sache sicher und – wenn ich es so salopp ausdrücken darf – der wichtigste Zeuge der Anklage.«
»Das stimmt, Mr. Parker«, entgegnete McWarden.
»Warum wurde solch ein wichtiger Zeuge nicht besser beschützt?« grollte die ältere Dame ihren zufälligen Besucher an. »Wieso konnte Mr. Tainers in der Kantine von Scotland Yard vergiftet werden? Die Polizei ist längst nicht mehr das, was sie mal war.«
»Wir sind dabei, die Zusammenhänge aufzudecken«, entschuldigte sich McWarden grimmig. »Tainers wurde rund um die Uhr überwacht und abgesichert.«
»Mit bestem Erfolg, wie man sieht«, spottete die Hausherrin. »Die Zeitungen werden über die Polizei herfallen.«
»Und ein gewisser Edward Healers dürfte nun befreit aufatmen, Sir«, vermutete der Butler zurückhaltend. »Damit dürfte die Anklage gegen ihn zusammenbrechen, wenn ich es so ungeschminkt ausdrücken darf.«
»Vollkommen richtig.« McWarden nickte ergeben. »Healers ist aus dem Schneider.«
»Seine Leute haben Ralph Tainers umgebracht, nicht wahr?«
»Natürlich.« McWarden nickte erneut. »Aber wie soll man das beweisen? Ja, wenn Tainers uns noch einen Tip hätte geben können.«
»Einen Tip?« Agatha Simpson runzelte die an sich schon faltenreiche Stirn zusätzlich. »Ein Sterbender? Wie hat er es überhaupt geschafft, aus der Kantine in seinen Wagen zu kommen?«
»An der Giftbestimmung wird noch gearbeitet«, schickte McWarden voraus. »Es muß sich aber um einen Stoff gehandelt haben, der mit einer gewissen Spätzündung arbeitete. Der Mann war bereits tot, Mylady, als Sie ihn fanden?«
»Mausetot, McWarden«, bestätigte die Detektivin mit Nachdruck. »Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen! Er hat mir nichts mehr zuflüstern können.«
»Wie schade! Aber es hätte ja sein können, nicht wahr?«
»Er rührte sich nicht mehr, McWarden. Keiner bedauert das mehr als ich.«
»Sie werden sich um diesen Fall kümmern, Mylady?« McWarden fragte beiläufig.
»Werden wir, Mr. Parker?« Agatha Simpson wandte sich an ihren Butler und sah ihn fragend an.
»Wenn mein Rat erwünscht ist, Mylady«, sagte Parker, »würde ich mir erlauben zu sagen, daß dieser Fall ein Spiel mit dem organisierten Tod sein dürfte. Mr. Edward Healers war und ist noch der Chef einer sehr gut organisierten Verbrecherbande, die vor nichts zurückschreckt.«
»Das kann ich nur unterstreichen«, warnte McWarden prompt. »Die Healers-Bande ist die große Nuß, die selbst der Yard bisher nicht geknackt hat. Ich gebe Ihnen den Rat, die Finger davon zu lassen, Mylady. Ich sehne mich nicht gerade danach, an Ihrem vorzeitigen Begräbnis teilzunehmen.«
»Weil Sie ein Geizkragen sind, McWarden«, stellte Agatha Simpson grimmig klar. »Sie scheuen ja nur die Ausgabe für einen Kranz!«
*
Mylady scheinen verfolgt und beschattet zu werden«, meldete Josuah Parker nach hinten in den Wagen.
Er saß am Steuer seines hochbeinigen Monstrums und fuhr durch die City von London. Man befand sich auf dem Weg zum Haus jenes Mannes, dem der Telefonanschluß gehörte. Parker hatte inzwischen herausgefunden, daß es sich um einen gewissen Mr. Brett Nichols handelte. Mr. Nichols war der Besitzer eines kleinen Dienstleistungsunternehmens. Er vermietete Papierhandtücher, die man nach Bedarf aus Kunststoff-Boxen ziehen konnte.
»Es werden doch nicht etwa schon die Ganoven sein?« hoffte die ältere Dame.
»Meiner bescheidenen Ansicht nach dürfte es sich um ein Fahrzeug der Polizei handeln«, erwiderte Butler Parker.
»Sie glauben, daß McWarden mich beschatten läßt?«
»Mit solch einer Möglichkeit sollte man durchaus rechnen, Mylady«, gab der Butler zurück. »Er scheint sich der Hoffnung hinzugeben, über Myladys Reaktionen neue Informationen gewinnen zu können.«
»Was werden Sie jetzt tun, Mr. Parker?«
»Man sollte die Verfolger abschütteln, Mylady.«
»Worauf warten Sie noch?« Agatha Simpson widerstand der Versuchung sich umzuwenden. Sie blieb zufrieden in der Wagenecke sitzen und freute sich auf das kommende kleine Intermezzo. Für Abwechslung war sie immer zu haben.
Parker hingegen sah noch mal genau in den Rückspiegel und nahm Maß. Die Verfolger saßen in einem unscheinbar aussehenden Zivilwagen der Marke Morris. Das Fahrzeug war ihnen bisher hartnäckig gefolgt, doch wahrscheinlich wurde er schon bald durch ein zweites, anderes Fahrzeug ersetzt, um Parker nicht mißtrauisch werden zu lassen. Der Butler kannte sich in den diversen Tricks der Polizei und auch der Gangster aus.
Er wußte, was zu tun war.
Parker steuerte sein hochbeiniges Monstrum in eine Hochgarage und war durchaus zufrieden, als der Morris ihm folgte, der inzwischen dichter aufgeschlossen hatte. Der Butler erkannte zwei Männer, die sich angeregt miteinander unterhielten und es darauf anlegten, einen unverdächtigen Eindruck zu machen.
Parker drückte den Knopf für den Parkschein, wartete, bis die automatisch arbeitende Sperrschranke sich hob und fuhr dann über die Wendelrampe hinauf zum zweiten Parkdeck.
Dann gab er allerdings sehr viel Gas, brauste durch das Deck und wischte über die zweite Wendel wieder nach unten.
»Darf ich Mylady zumuten, sich ein wenig abzuducken?« fragte er seine Herrin.
»Soll ich mich auf den Boden legen?« erkundigte sie sich.
»Die Sitzpolster dürften schon durchaus reichen, Mylady.«
»Wenn schon, denn schon!« Agatha Simpson rollte sich zur Seite und ging in volle Deckung. Als Parker am Kassenschalter stand und den Grundpreis bezahlte, erschien hinter dem hochbeinigen Monstrum ein Ford, in dem eine kinderreiche Familie saß. Erst dahinter war wieder der Morris zu sehen.
Der Beifahrer stieg aus.
Er war ganz eindeutig der Meinung, Parker habe Lady Simpson oben auf dem zweiten Parkdeck abgesetzt. Der Mann hastete zurück und zwängte sich an nachfolgenden Wagen vorbei zurück nach oben. Er wollte den Anschluß nicht verlieren und glaubte wohl, Mylady sei vom Parkdeck aus mit dem Fahrstuhl hinunter in das angrenzende Kaufhaus gefahren.
Vor Parker hob sich die Sperrschranke.
Er fuhr an und sah, daß die Schranke sich hinter ihm wieder senkte, wie es sich für solch eine Schranke eben gehörte. Der Fordfahrer mit der großen und kinderreichen Familie folgte.
Parker sorgte für eine Vollsperrung.
Er hatte das Wagenfenster auf seiner Seite heruntergekurbelt und griff in die Tasche seines schwarzen Zweireihers. Er holte eine Handvoll Münzen hervor und ließ sie auf die Betonrampe fallen.
Sie hüpften neckisch umher, rollten durcheinander und waren nicht zu übersehen.
Die Kinder im Ford reagierten wie erwartet.
Während ihr Vater noch zahlte, hüpften auch sie, nämlich aus dem Wagen. Sie rannten nach vorn und betätigten sich als Sammler. Sie spürten verbissen jeder Geldmünze nach und hielten den ganzen Betrieb auf.
Der Fahrer des Morris war ausgestiegen und schimpfte wie ein gereizter Rohrspatz. Er forderte den Vater der Kinder energisch auf, die Sperre zu räumen. Bevor Parker sich in den Verkehr einfädelte, sah er noch deutlich, daß der Morris-Fahrer sogar so etwas wie einen Dienstausweis zeigte.
Doch das beeindruckte weder Vater noch Kinder. Sie waren ordentliche Bürger und kümmerten sich erst mal um die diversen Fundstücke.
*
»Natürlich wird diese alte Schachtel auftauchen«, sagte Brett Nichols. »Und ihr komischer Butler wird dabei sein. Diese beiden Typen lassen doch keine Gelegenheit aus, um mit dem Feuer zu spielen.«
Brett Nichols, Inhaber des Papierhandtuch-Schnelldienstes, war etwa vierzig Jahre alt, mittelgroß und schlank. Der Mann sah vertrauenerweckend aus, absolut nicht wie ein Gangster, wie er in einschlägigen Filmen gern dargestellt wird.
Er war aber ein Gangster!
Brett Nichols gehörte jener Organisation an, deren Boß Healers unter Mordanklage in Untersuchungshaft saß. Seine Rolle in dieser Gang war sogar bemerkenswert. Nichols war so etwas wie Healers’ rechte Hand und verfügte über großen Einfluß.
Sein Geschäft diente zwar nur zur Tarnung, doch es florierte eigenständig. Es gab da eine Anzahl von Vertretern und Kundendienstberatern, es gab ein gutes Dutzend kleiner Lieferwagen, und sogar die Steuern wurden pünktlich und korrekt bezahlt. Nichols hielt auf Ordnung. Er wollte bei den Behörden nicht unangenehm auffallen.
Nach außen hin war er von einem Saulus zum Paulus geworden. Einige Male vorbestraft, war er der Polizei natürlich bekannt, doch schon seit Jahren wollte er mit kriminellen Dingen nichts mehr zu tun haben. Seine tatsächliche Verbindung zu Healers hielt er geheim. Es gab nur zwei Vertraute, die davon wußten, und auf diese beiden Männer konnte er sich verlassen. Sie waren ihm treu ergeben.
Sie befanden sich in seinem Büro und hießen Pete Stornay und Jess Wavers.
Pete Stornay war sechsundzwanzig Jahre alt, klein und drahtig, Jess Wavers schon dreißig, untersetzt und vollschlank. Auch sie sahen keineswegs wie Gangster aus. Sie galten in der Firma als Inspektoren und überprüften die Arbeit der Außenangestellten. Dadurch hatten sie die Möglichkeit, sich frei und ungehindert zu bewegen.
Sie erledigten gewisse Spezialeinsätze für Brett Nichols. Sie trugen nie Schußwaffen bei sich. Sie konnten jedem Polizisten oder Detektiv treuherzig in die Augen sehen. Wenn sie einen Mord zu erledigen hatten, geschah das auf raffinierte Art und Weise.
Nun, Mord war natürlich nicht ihr tägliches Brot. Es gab da noch ganz andere Dinge zu tun. Sie baldowerten interessante Beutezüge aus Und sorgten für eine stetige Ausweitung des Kundenstamms.
»Was machen wir, wenn sie kommen?« wollte Pete Stornay wissen.
»Gar nichts«, antwortete Brett Nichols. Er lächelte und zündete sich eine Zigarette an. »Die beiden Typen lassen wir gegen eine Gummiwand laufen.«
»Die beiden Typen sind aber nicht ungefährlich«, warnte Jess Wavers. »Es werden die verrücktesten Geschichten über sie erzählt.«
»Maßlos übertrieben«, meinte Brett Nichols.
»Und wie ist die Alte an unsere Firma gekommen?« fragte Stornay.
»Das möchte ich allerdings auch mal wissen«, wunderte sich Wavers und hob die Schultern. »Ob Tainers ihr das noch gesteckt haben kann?«
»Wie denn, Jungens?« Brett Nichols schüttelte den Kopf. »Er wußte doch gar nicht, wer ihm das Gift untergejubelt hat. Tainers hatte keine blasse Ahnung.«
»Dann muß die Alte ’ne Hellseherin sein«, erklärte Stornay. »Die rief doch nicht einfach so hier bei uns an, oder?«
»Wir sollten sie mal in die Mache nehmen«, schlug Wavers vor. »Innerhalb von zehn Minuten wissen wir dann genau Bescheid, wetten?«
»Nicht jetzt«, entschied Nichols, der ein vorsichtiger Fuchs war. »Wir sollten...«
Das Telefon unterbrach ihn. Er hob den Hörer ab und hörte einen Moment zu.
»Ich lasse bitten«, sagte er dann und legte wieder auf. Er wandte sich Stornay und Wavers zu. »Sie sind da, wie ich’s mir gedacht habe. Verschwindet, Jungens, laßt euch nicht sehen! Mit den beiden Typen werde ich allein fertig.«
*
»Was kann ich für Sie tun?« erkundigte sich Brett Nichols, nachdem Lady Simpson und Butler Parker sein Büro betreten hatten. Er gab sich höflich und bescheiden und sah vor allen Dingen die resolut wirkende Dame erwartungsvoll an. »Ihr Besuch ehrt mich, Mylady.«
»Mr. Tainers läßt grüßen«, erwiderte Agatha Simpson grimmig.
»Tainers? Wer ist das?« Nichols schluckte. Solch eine direkte Offenheit hatte er nun wirklich nicht erwartet.
»Der Mann, den Sie oder Ihre Subjekte umgebracht haben«, antwortete die Detektivin. »Mr. Parker, zeigen Sie ihm den Zettel, den Tainers mir noch in die Hand drücken konnte!«
Josuah Parker griff in die Tasche seines schwarzen Zweireihers und erfüllte Myladys Wunsch. Nichols sah deutlich seine Telefonnummer.
»Was soll das?« fragte der Papierhandtuch-Chef gereizt. »Telefonnummern kann jeder aufschreiben.«
»Das soll Ihnen nur zeigen, weshalb ich mich für Sie interessiere«, entgegnete die ältere Dame. »Vor seinem Tod war Tainers noch in der Lage, mir einige Hinweise zu geben, über die bei passender Gelegenheit zu reden sein wird.«
»Verlassen Sie augenblicklich mein Büro«, verlangte nun Brett Nichols mit scharfer Stimme. »Ich habe große Lust, Sie wegen Verleumdung zu verklagen.«
Natürlich bluffte er, denn er hätte von sich aus nie die Polizei angerufen. Aber für ihn stand es nun fest, daß diese verrückte Lady und ihr Butler aus dem Weg geräumt werden mußten. Sie machten die Pferde nur unnötig scheu und würden ihm früher oder später die Polizei auf den Hals hetzen. Und gerade sie brauchte nicht zu wissen, wie eng er mit Edward Healers liiert war. Die Tarnung hatte bisher immer funktioniert. Und so sollte und mußte es auch bleiben.
»Sie kleiner Miesling«, erwiderte Agatha Simpson. »Ich verspüre auch große Lust, nämlich Ihnen ein paar Ohrfeigen zu verabreichen.«
»Das würden Sie bereuen!« Er hatte keine Ahnung, was er da heraufbeschwor, sonst hätte er es wahrscheinlich lieber gelassen. Er wich ein wenig zurück, als die forsche Frau auf ihn zumarschierte.
Und dann täuschte sie ihn raffiniert.
Sie holte mit der linken Hand aus, worauf Nichols seinen Kopf nach rechts nahm. Agatha Simpson hatte auf diese Reaktion nur gewartet. Sie landete ihre rechte Hand und schüttelte Nichols kräftig durch. Als geübte Golfspielerin besaß sie trainierte Muskeln und wußte damit deutliche Akzente zu setzen.
Nichols traten die Tränen in die Augen. Er schnappte keuchend nach Luft und rief mit erstickter Stimme nach seinen Paladinen Stornay und Wavers.
Sie hatten im kleinen Nebenraum nur auf ihren Einsatzbefehl gewartet. Erfreut brausten sie herein, nachdem sie die Tür aufgerissen hatten, doch sie kamen nicht sonderlich weit.
Butler Parker hatte nämlich bereits eine taktisch günstige Position bezogen und stand dicht neben der Tür. Als die beiden Vertrauten von Nichols ihn passierten, langte Parker mit dem bleigefütterten Griff seines Universal-Regenschirms zu. Er war darin ein Meister.
Stornays Sturmlauf endete rapide.
Nachdem der bleigefütterte Griff seinen Hinterkopf berührt hatte, absolvierte er eine etwas mißlungene Rolle vorwärts und schrammte anschließend mit seinem Riechorgan über den dicken Teppich.
Wavers hingegen versuchte sich an einem Salto, der allerdings auch nicht recht klappte. Der temperamentvolle Kämpfer fiel krachend auf den Rücken und verstauchte sich dabei einen Halswirbel.
Parker interessierte sich für die waffentechnische Ausrüstung der beiden Nichols-Mitarbeiter und barg je eine Automatic. Er schien mit Waffen dieser Art nicht sonderlich gut umgehen zu können. Die Mündungen richteten sich auf Nichols, der abwehrend die Arme hob und ins Stottern geriet. Was er sagen wollte, war leider nicht zu verstehen.
»Ich hoffe, Sie werden Myladys Einladung nicht ablehnen«, sagte Parker.
»Ei... Ei... Einladung?«
»Zu einer kleinen Spazierfahrt«, präzisierte der Butler. »Mylady lieben Gesellschaft.«
»Ich ... Ich ...«
»Sie sind also einverstanden«, deutete Parker diesen Sprechversuch. »Gehen wir also.«
»Und zwar ein bißchen plötzlich«, grollte Agatha Simpson. »Ich hoffe nicht, daß Sie noch eine schriftliche Einladung brauchen. Die können Sie allerdings haben!«
Doch Brett Nichols kam der höflichen Einladung ohne Widerstand nach, während seine beiden Vertrauten noch immer angeschlagen, allerdings auch dekorativ auf dem Teppich lagen.
*
Er saß neben Lady Simpson und berechnete seine Chancen.
Schön, sie hatte ihn mit dieser gewaltigen Ohrfeige überrascht, aber noch einmal würde sie so etwas nicht schaffen. Sie war immerhin nur eine Frau! Und Parker vorn am Steuer dieses komischen Wagens konnte nicht eingreifen. Die Trennscheibe war erfreulicherweise geschlossen.
Agatha Simpson verhielt sich schweigend.
Ihre Rechte spielte mit den Perlen des Pompadours, der an ihrem linken Handgelenk hing. Es handelte sich dabei um einen antiquiert aussehenden Handbeutel, wie er um die Jahrhundertwende von Damen benutzt wurde. Solch ein Pompadour war längst aus der Mode gekommen, doch er paßte zu Mylady.
Brett Nichols hatte seine Chancen inzwischen berechnet und war zu einem positiven Ergebnis gekommen. Wenn er die komische Alte als Geisel nahm, konnte er den ulkigen Butler zwingen, den Wagen zu stoppen. Danach brauchte er dann nur noch auszusteigen ...
Brett Nichols spannte seine Muskeln, nahm eine Art Count-down vor und warf sich dann jäh auf die falsch eingeschätzte Gegnerin.
Es bekam ihm gar nicht gut.
Mylady schien auf diesen Angriff nur gewartet zu haben. Sie reagierte nicht schreckhaft, sondern sehr konzentriert. Ihre linke Hand beschrieb einen kleinen Halbkreis, und der Pompadour folgte dieser Bewegung. Er setzte sich auf die Nase des Gangsters, die daraufhin deutliche Quetschfalten zeigte.
Nichols hatte das Gefühl, von einem Pferd getreten zu werden. Er heulte auf und sackte zurück in seine Ecke. Er konnte nicht wissen, daß ein echtes Hufeisen ihn außer Gefecht gesetzt hatte. Im Pompadour befand sich nämlich tatsächlich solch ein harter Gegenstand, der nur ganz oberflächlich in dünnen Schaumstoff gewickelt war.
»Sie Naivling«, kommentierte die ältere Dame seine Niederlage. »Lassen Sie sich bei Gelegenheit Ihr Lehrgeld zurückzahlen! Wenn Healers davon hört, wird er an Ihnen zweifeln.«
Nichols fingerte vorsichtig an seiner lädierten Nase herum und sah seine Kontrahentin scheu an. Sie hatte inzwischen eine Hutnadel aus ihrem »Südwester« herausgezogen und hielt das lange und spitze Gerät wie ein Florett stoßbereit in der rechten Hand. Die Spitze dieser Hutnadel war selbstverständlich auf Nichols Weichteile gerichtet.
Der Gangster zog sich noch tiefer in seine Polsterecke zurück und traute der verrückten Alten durchaus zu, daß sie angriff. Er sah sie plötzlich mit völlig anderen Augen.
»Sie streiten also ab, Tainers umgebracht zu haben?« fragte sie nun.
»Ich weiß überhaupt nicht, wer das ist!«
Parker vorn am Steuer umkurvte in diesem Moment einen Lastwagen, wodurch sein hochbeiniges Monstrum sich ein wenig auf die Seite legte.
»Hoppla«, sagte Lady Agatha, die prompt gegen Nichols fiel.
»Au!« keuchte Nichols, der von der Hutnadel getroffen wurde. Er hatte das Gefühl, von einem Miniaturflorett durchbohrt worden zu sein. Er begann, um sein Leben zu fürchten.
»Sie kennen auch keinen Edward Healers, nicht wahr?« erkundigte sich Agatha Simpson ungerührt.
»Ich... Ich habe über ihn in den Zeitungen gelesen«, antwortete der Gangster blitzschnell und rieb sich die schmerzende Seite.
»Aber persönlich kennen Sie ihn nicht, oder?«
»Natürlich nicht, Mylady.« Er sagte bereits »Mylady« zu ihr, um Bruchteile von Sekunden später wieder aufzustöhnen. Der Wagen hatte sich erneut in eine Kurve gelegt. Und wiederum war die ältere Dame samt ihrer überlangen Hutnadel gegen ihn gerutscht.
»Sie ... Sie bringen mich um«, beschwerte sich Nichols. Ihm war jetzt alles egal. Er langte nach der Türklinke und wollte sich ins Freie stürzen. Darin sah er seine einzige Überlebenschance. Er war zu dem Schluß gekommen, es mit Verrückten zu tun zu haben.
Die Tür war von Parker längst elektrisch verriegelt worden, doch das wußte Nichols nicht. Er merkte nur, daß sie sich nicht öffnen ließ.
»Ich habe Sie eben nicht richtig verstanden«, sagte die Detektivin und setzte sich wieder zurecht. Seinen Fluchtversuch ignorierte sie. »Wie sagten Sie noch?«
»Ich kenne ihn«, räumte Nichols jetzt ein. »Nein, bitte, fallen Sie nicht wieder gegen mich, Mylady. Ich rede ja schon. Stornay und Wavers haben Tainers umgebracht. Mein Ehrenwort!«
»Sind das diese beiden Subjekte aus Ihrem Büro?«
»Sie gehören zu Healers. Er hat sie mir auf den Hals geschickt. Ich mußte sie einfach einstellen. Er benutzt meinen Betrieb als Deckmantel für seine Geschäfte. Ich werde von ihm erpreßt. Ich muß tun, was er will, sonst bringen mich Stornay und Wavers glatt um.«
»Reden Sie weiter«, forderte Agatha Simpson ihn grimmig auf. »Ich sitze nicht besonders fest.«
»Sie haben Tainers umgebracht. Er ist doch der einzige Augenzeuge gegen Healers. Er war es. Jetzt wird man Healers nicht mehr den Prozeß machen können.«
»Und wie haben sie ihn ermordet?« Sie sah ihn streng an.
»Mit Gift. Sie sind als Getränkelieferanten nach oben in die Kantine gekommen. War ganz einfach, wie sie mir sagten. Wie sie es genau geschafft haben, weiß ich nicht. Die reden ja nicht mit mir.«
»Sie sind natürlich bereit, das zu beeiden?«
»Bringen Sie mich zur nächsten Polizeistation! Ich leiste jeden gewünschten Eid.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte mehr gesagt, als er sagen wollte, aber in seiner Vorstellung war das nicht besonders entscheidend. Er konnte das alles jederzeit wieder abstreiten und behaupten, die beiden Verrückten hätten ihn zu dieser Aussage gezwungen. Hauptsache, er kam erst mal raus aus diesem rollenden Gefängnis, aus dieser fahrbaren Folterkammer.
Brett Nichols fühlte sich sehr schlecht.
Er hatte bereits leichte Sehstörungen und fühlte ein starkes Schlafbedürfnis in sich aufsteigen. Er wußte nicht, daß Lady Simpsons Hutnadel chemisch präpariert war. Die Spitze war von Parker behandelt worden und stellte eine Art Geheimwaffe seiner Herrin dar.
Das leichte Gift wirkte.
Nichols gähnte inzwischen langanhaltend und sackte wenig später entspannt in sich zusammen. Ein paar Augenblicke später waren bereits seine Schnarchtöne zu hören.
»Was machen wir mit diesem Subjekt?« fragte die Detektivin nach vorn. Trotz der geschlossenen Trennscheibe konnte sie sich mit Parker gut verständigen. Es gab nämlich im Wagen eine versteckt angebrachte Sprechanlage.
»Falls ich mir einen Vorschlag erlauben darf, Mylady, sollte man Mr. Nichols irgendwo aussetzen«, antwortete der Butler gemessen. »Seine Aussagen sind offiziell ohne jeden Wert und Beweiskraft. Aber es würde seine Mitarbeiter gehörig verunsichern, wenn er für ein paar Stunden oder länger wie von der sprichwörtlichen Bildfläche verschwindet. In Gangsterkreisen schießen Gerüchte erfahrungsgemäß üppig ins Kraut!«
*
Als Brett Nichols wieder zu sich kam, fühlte er sich ein wenig unterkühlt. Irgend etwas schüttelte ihn durch, doch er war noch nicht wach genug, um sich darauf einen Reim zu machen. Noch war diese lähmende Müdigkeit in seinen Gliedern, die es ihm kaum gestattete, die Augenlider zu heben.
Er brauchte einige Minuten, bis er merkte, daß er auf einer harten, piekenden Unterlage lag. Er tastete herum und kam zu dem Schluß, daß diese Unterlage aus Eisenschrott bestehen mußte. Dann richtete er sich vorsichtig auf und wurde von einem scharfen Wind gestoppt.
Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Er lag in einem offenen Waggon, der mit Eisenschrott beladen war. Wie er hierher gekommen war, konnte er nur mühsam rekonstruieren. War da nicht etwas mit dieser komischen Alten und diesem Butler gewesen? Natürlich, sie hatten ihn zu dieser Spazierfahrt eingeladen, und dabei hatte die Frau ihn mit ihrer Hutnadel gefoltert. Als seine Gedanken diesen Erinnerungspunkt erreicht hatten, schoß Nichols das Blut in den Kopf. So entwürdigend war er noch nie behandelt worden. Bisher hatte man vor ihm nur gezittert.
Er richtete sich noch mal auf und stemmte sich mit dem Oberkörper gegen den Fahrtwind.
Nun erfuhr er die letzte und schreckliche Wahrheit. Der Güterzug, zu dem sein Schrottwaggon gehörte, rollte durch eine zwar liebliche, ihm aber völlig unbekannte Gegend. Von London war weit und breit nicht mal etwas zu erahnen, geschweige denn zu sehen.
Er wäre am liebsten abgesprungen, doch Nichols – im Grunde ein feiger und ängstlicher Mensch – traute sich nicht. Er sah sich bereits mit gebrochenen Knochen neben dem Bahndamm liegen. Dieses Risiko wollte er nicht eingehen.
Seine Wut auf Lady Simpson und Butler Parker steigerte sich noch. Sie hatten ihn gezwungen, mehr zu sagen, als er vorgehabt hatte. Ihnen gegenüber hatte er seine innige Verbindung zu dem inhaftierten Edward Healers zugegeben. Darüber hinaus hatte er gestanden, daß seine Mitarbeiter Stornay und Wavers den Augenzeugen Tainers ermordet hatten.
Gut, vor der Polizei und einem Gericht war dieses Eingeständnis wertlos. Er brauchte es ja nur zu widerrufen oder behaupten, Lady Simpson und Butler Parker hätten sich das aus den Fingern gesogen. Doch wenn dieses komische Paar in Unterweltskreisen mit seinem Wissen hausieren ging, konnte das recht unangenehm werden.
Der Güterzug rollte behäbig durch die Landschaft. Brett Nichols hatte sich wieder abgeduckt und fror entsetzlich. Wenn er wenigstens gewußt hätte, wohin die Reise ging. Nach seiner Uhr hatte er gut und gern zweieinhalb Stunden geschlafen. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, ging es in Richtung Nord west, doch das ließ ihn kaum klüger werden.
Er suchte sich auf dem spitzen und sperrigen Schrott eine halbwegs passable Stelle aus und dachte über Lady Simpson und Butler Parker nach. Er hatte diese beiden Leute völlig unterschätzt. Sie waren offensichtlich Vollprofis. Nichols sah noch deutlich vor sich, wie Parker seine beiden Vertrauten Stornay und Wavers außer Gefecht gesetzt hatte.
Der Gangster fuhr nervös zusammen, als die Lokomotive schrill pfiff. Er richtete sich auf und entdeckte, daß der Zug sich einem Tunnel näherte. Sofort wurde Nichols wieder nervös. Er preßte sich auf den Schrott und harrte ängstlich der Dinge, die da kommen mußten.
Seine Geduld wurde auf keine lange Probe gestellt.
Der Güterzug fuhr in den langen Tunnel, in dem die Rauchfahne der kohlenbeheizten Lokomotive nachdrücklich festgehalten wurde. Nichols glaubte ersticken zu müssen. Er hustete und keuchte, geriet in Panik und schwitzte Blut und Wasser vor Angst.
Als der Güterzug den Tunnel wieder verließ, hatte der Gangster sich in eine Art Halbblut verwandelt. Seine eben noch grauweiße Gesichtsfarbe hatte einem braunschwarzen Teint Platz gemacht.
Nein, Brett Nichols sah nicht mehr sonderlich gepflegt aus. Er glich einem ungewaschenen Landstreicher, da schließlich auch sein Anzug und das Hemd sich verfärbt hatten. Er war zu einer Gestalt geworden, die man noch nicht mal mit der Feuerzange anfaßte.
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»Ich hätte nicht auf Sie hören sollen«, beschwerte sich Agatha Simpson und sah ihren Butler mißmutig an. »Drei Gangster hätten wir hinter Schloß und Riegel bringen können. Aber nein, Mr. Parker mußte wieder mal seinen Kopf durchsetzen.«
»Falls Mylady diesen Eindruck haben, würde ich das zutiefst bedauern«, erwiderte Josuah Parker gemessen. »Darf ich mir erlauben darauf hinzuweisen, daß Myladys Anschuldigungen vor den Polizeibehörden juristisch ohne jeden Effekt gewesen wären?«
»Aber die Polizei sollte vielleicht doch wissen, daß dieser Nichols-Betrieb für Healers arbeitet. Sie scheint das bisher nicht gewußt zu haben.«
»Davon sollte man in der Tat ausgehen, Mylady.«
»Also, was werden wir nun machen?«
»Mit Verlaub, Mylady, gar nichts, wenn ich mir diesen Rat erlauben darf.«
»Das ist nicht gerade viel, Mr. Parker.«
Lady Simpson und Butler Parker befanden sich wieder im Stadthaus der älteren Dame in Shepherd’s Market. Agatha Simpsons wunderschönes altes Fachwerkhaus nahm die Stirnseite eines kleinen U-förmigen Platzes ein, der mit weiteren alten Gebäuden besetzt war. Dieser Platz inmitten der Riesenstadt London war so etwas wie eine Oase der Ruhe und des Friedens.
»Mylady verzeihen meine Kühnheit, da ich widersprechen möchte«, schickte Parker voraus. »Healers wird mit Sicherheit erfahren, daß seine engsten Mitarbeiter in diverse Schwierigkeiten geraten. Healers wird weiter erleben, daß ein Teil dieser engsten Mitarbeiter möglicherweise sogar von der Polizei vereinnahmt wird, um es mal so vulgär auszudrücken. Das wird seine Selbstsicherheit, die er an den Tag legt, erheblich erschüttern.«
»Wie sollen Healers Subjekte denn festgenommen werden, wenn wir nichts tun?« Sie sah ihn empört an.
»Nun, Mylady, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden zum Beispiel die Herren Stornay und Wavers bald versuchen, Mylady und meine bescheidene Wenigkeit aus dem Weg zu räumen. Ich rechne mit der kommenden Nacht.«
»Das hört sich schon besser an, Mr. Parker.« Agatha Simpsons Gesicht nahm einen versöhnlichen Ausdruck an.
»Vielleicht gehen sie aber auch schon Miß Porter ins Garn«, redete der Butler weiter. »Ich war so frei, sie auf diese beiden Gangster anzusetzen.«
»Das erfahre ich erst jetzt?« Parkers Herrin grollte.
»Ich wollte Mylady nicht mit Kleinigkeiten belästigen, wenn ich es so ausdrücken darf.«
»Sie wollen mich nur ausmanövrieren, Mr. Parker! Sie scheinen mir nichts zuzutrauen.«
»Durchaus nein und nicht, Mylady!« Parker deutete eine knappe Verbeugung an. »Falls Mylady sich in der Laune befinden, einen Besuch abzustatten, würde ich mir erlauben, Mylady zu einer Ausfahrt einzuladen.«
»Sie verfügen so einfach über mich? Sie wissen, daß ich das nun mal nicht ausstehen kann.«
»Das, Mylady, würde ich mir niemals erlauben.«
»Wohin soll es denn gehen?«
»Zu Anwalt Arthur Pimlay, Mylady. Er ist der Rechtsvertreter des Mr. Edward Healers.«
»Ich verstehe. Sie wollen ihn als Sprachrohr einsetzen, nicht wahr?«
»Es ist anzunehmen, daß er Mr. Healers informieren wird. Anwalt Pimlay ist übrigens ein äußerst gefragter Mann. Er hat sich darauf spezialisiert, die Unterwelt zu vertreten. Es wird sogar behauptet, er arbeite im Grund ausschließlich für Healers.«
»Das haben Sie wohl von Ihren ominösen Kontaktleuten, wie?«
»In der Tat, Mylady! Man erfreut meine bescheidene Wenigkeit hin und wieder mit vertraulichen Informationen, um es allgemein auszudrücken.«
»Dann werde ich mir diesen Pimlay mal ansehen, Mr. Parker. Aber Sie haben mich da eben abgelenkt. Sie haben Kathy auf die beiden Nichols-Gangster angesetzt?«
»Auf die Herren Stornay und Wavers«, erwiderte Parker. »Ich möchte davon ausgehen, daß sie dem Charme Miß Porters kaum gewachsen sein werden.«
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»Klar, Pete, die ist seit gut zehn Minuten hinter uns her«, sagte Jess Wavers. »Sie sitzt in ’nem kleinen Mini-Cooper.«
»Ich hab sie in der Optik«, erwiderte Pete Stornay, der den Wagen steuerte. Er sah in den Rückspiegel und konzentrierte sich auf das kleine wendige Fahrzeug. »Scheint nicht schlecht auszusehen, die Kleine.«
»Von der Polizei ist sie bestimmt nicht«, meinte der untersetzte Wavers. »Wahrscheinlich hat die verrückte Alte sie uns auf den Hals gehetzt.«
»Klar, die hat so was wie ’ne Sekretärin, Jess.« Pete Stornay lächelte. »Was hältst du davon, wenn wir sie hochnehmen?«