Читать книгу Butler Parker 111 – Kriminalroman - Gunter Donges - Страница 3

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Günter Dönges

Der Vampir mit den blonden Locken

Sie lag in dekorativer Schönheit auf dem breiten Bett und wußte nicht, daß sie innerhalb der nächsten Minuten sterben sollte. Sie war fünfundzwanzig, groß, schlank und hatte langes, blondes Haar, das ihr schmales Gesicht umrahmte.

Die leichte Bettdecke hatte sich verschoben und gab den Blick frei auf das spitzengesäumte Nachthemd, das mehr als nur die Ansätze ihrer festen Brüste zeigte.

Der Tod kam in Gestalt einer unheimlichen Erscheinung. Diese war hager und trug einen schwarzen Umhang, der aus einem anderen Jahrhundert stammte. Das Gesicht flößte Grauen ein. Es war bleich und bestand aus Haut und Knochen und einem Augenpaar, von dem ein mörderisches Glühen ausging.

Die Erscheinung hatte das Fenster des Schlafzimmers hochgeschoben und verharrte einen Augenblick, als die junge Frau im Bett sich bewegte. Dann schlug der Tod den Umhang zur Seite und zeigte seine unwirklich langen Finger, die an die Beine einer Riesenspinne erinnerten. Auf leisen Sohlen näherte sich die graueneinflößende Gestalt dem Bett und beugte sich über ihr Opfer.

Die junge Frau schien instinktiv zu spüren, in welcher Gefahr sie sich befand. Sie wurde unruhig, fuhr mit der Hand übers Gesicht und … schrie plötzlich gellend. Dann starrte sie die Gestalt neben ihrem Bett an, streckte abwehrend die Arme aus, zog die Bettdecke hoch bis zum Hals, drückte sich mit den Füßen ab und schob sich gegen das Kopfende des Bettes zurück.

Die unheimliche Erscheinung blieb völlig unbeeindruckt.

Sie schien das Schreien und das hastige, fast erstickte Keuchen der jungen Frau überhaupt nicht zu hören. Die Erscheinung öffnete die eben noch fest zusammengepreßten Lippen, doch sie lächelte nicht. Sie entblößte nur lange spitze Reißzähne, die Zähne eines Vampirs!

»Nein, nein«, wimmerte die junge Frau mit versagender Stimme, »nein!«

Der Vampir griff nach der Bettdecke und riß sie vom Körper der jungen Frau, beugte sich weiter vor und streckte seine schrecklichen Hände nach ihr aus. Dann packte er ihre Schultern brutal und gierig, fand keinen Widerstand mehr und schlug seine Zähne in ihren Hals.

Genau in diesem Moment vernahm man eine sehr sachliche Stimme, laut und auch ein wenig verärgert.

»Stopp, ihr Lieben, das ist doch ausgemachter Käse! Das geht doch gar nicht unter die Haut. Von mir aus kannst du so dein Bier trinken, Rob aber als Vampir mußt du schon ’ne Portion mehr Blutdurst zeigen. Und du, May, könntest ruhig mehr Brust und Beine einsetzen, du weißt doch wie die Leute darauf reagieren!«

»Recht amüsant«, sagte Agatha Simpson und wandte sich an ihrer Butler. »Ich hoffe, Sie sind meiner Meinung, Mister Parker.«

»Wenn Mylady gestatten, möchte ich mir die Kühnheit herausnehmen und ein wenig anderer Ansicht sein«, gab Josuah Parker in seiner gemessenen Art zurück und deutete eine knappe, höfliche Verbeugung an.

»Natürlich, Sie müssen ja mal wie der opponieren«, raunzte die stets streitbare Dame, »aber dennoch, ich glaube, ich werde mich mal mit einem Drehbuch für einen Horrorfilm befassen. Ich fühle, daß mir solche Themen liegen.«

Lady Agatha und ihr Butler befanden sich in einer Ecke des großen Ateliers und hatten bisher den Aufnahmen zugesehen. Inzwischen war es Zeit für den Tee, und die Aufnahmen wurden unterbrochen. Die Schauspieler und das gesamte technische Personal beeilten sich, zu den bereits gefüllten Tassen zu kommen, die auf einem überdimensional großen Teewagen hereingerollt worden waren.

Der Vampir und sein Opfer standen einträchtig nebeneinander und unterhielten sich gerade über die Vorzüge und Nachteile eines neuen Automodells. Sie schienen sich, zumindest nach außen hin, recht gut zu verstehen und alberten miteinander. Der Biß des Vampirs war am Hals des attraktiven Opfers noch deutlich zu sehen, was aber niemand störte und unsicher machte. Schein und Sein gingen hier im Atelier nahtlos ineinander über.

Butler Parker hatte schweigend zur Kenntnis genommen, daß Lady Agatha gewillt war, einem neuen Hobby zu frönen. Sie arbeitete schon seit Monaten an ihrem ersten Krimi, mit dem sie eine gewisse Agatha Christie ausstechen und vom Markt fegen wollte. Sie war fest davon überzeugt, einen internationalen Bestseller zu fabrizieren, obwohl sie bisher über die erste Manuskriptseite noch nicht hinaus war.

»Ich bin froh, daß Sie endlich hier sind«, sagte der Vampir, der wie zufällig vor Lady Simpson und Butler Parker erschien.

»Sind Sie wieder belästigt worden?« erkundigte sich Agatha Simpson ungeniert laut.

»Bitte, etwas gedämpft«, bat der Vampir nervös. »Man könnte uns belauschen, Lady Simpson.«

»Wer?« fragte die streitbare Dame.

»Der Vampir«, erwiderte der Vampir, was irgendwie komisch wirkte.

»Darf ich davon ausgehen, daß Sie keiner Sinnestäuschung erlegen sind?« schaltete sich Butler Parker gemessen ein.

»Ich habe doch Augen im Kopf«, sagte der Vampir, »ich habe den Vampir deutlich gesehen. Er stand neben meinem Bett. Und als ich hochfuhr, streckte er seine Krallen nach mir aus.«

»Sie hätten ihm gegen das Schienbein treten sollen«, bemerkte die ältere Dame grimmig, »aber Sie werden es wahrscheinlich nicht getan haben.«

»Ich war wie versteinert«, gestand der Vampir, »ich war nicht fähig, auch nur einen Finger zu rühren, obwohl ich es wirklich wollte. Ich war wie gelähmt.«

»Und dennoch leben Sie erfreulicherweise«, warf Parker höflich ein.

»Reiner Zufall«, behauptete der Vampir, »als er mein Blut saugen wollte, erschien meine Haushälterin. Sie war durch das Klirren der Fensterscheibe geweckt worden. Als sie gegen die verschlossene Schlafzimmertür klopfte, ließ das grauenvolle Wesen von mir ab und verschwand«.

»Sie sind gebissen worden?« stellte der Butler die entscheidende Frage.

»Am Hals«, erwiderte der Vampir, mit versagender Stimme, »die Bißstelle ist noch genau zu sehen. Ich weiß, daß der Vampir in der kommenden Nacht wieder erscheint. Ich fühle es.«

»Ist es möglich und gestattet, sich die Bißstelle mal aus der Nähe anzusehen?« erkundigte sich Josuah Parker, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich muß gestehen, daß ich eine solche Wunde nur aus einschlägigen Filmen kenne.«

»Gleich in meiner Garderobe«, sagte der Vampir. »Werden Sie mich vor diesem Untier überhaupt schützen können?«

»Wir werden dem Vampir schon die Zähne ziehen«, versprach Lady Agatha gutmütig. »Sie sind sich doch hoffentlich klar darüber, daß man Sie auf den Arm nehmen will, oder?«

»Sie glauben nicht an Vampire?« staunte der Vampir sichtlich und sah Lady Simpson irritiert an.

»Nicht die Bohne«, versicherte die passionierte Detektivin ihm offen. »Das ist doch dummer Schnickschnack, mein Bester! So etwas gibt es nur in Horrorromanen.«

»Dann wissen Sie nicht, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von denen wir noch nicht mal etwas ahnen«, widersprach der Vampir. »Früher dachte ich kaum anders, doch seit einigen Tagen weiß ich genau, daß sie existieren!«

Agatha Simpson hatte keine Lust mehr, weiterhin im großen Atelier zu bleiben. Es zog sie zurück in die bequeme Kantine des Filmstudios, um bei einer Tasse Tee und einem doppelten Kognak den Aufriß einer Filmidee niederzuschreiben. Sie hatte diesen Stoff genau im Kopf und konnte es kaum erwarten, ihn in die passenden Worte umzusetzen.

Auf die Begleitung ihres Butlers hatte die exzentrische Dame verzichtet. Er solle im Atelier bleiben und sich die Leute unauffällig ansehen, die möglicherweise mit diesem Fall zu tun hatten. Zudem wollte Lady Simpson sich nicht ablenken lassen. Sie war sicher, daß sie die Idee diesmal packen konnte.

Die Detektivin erregte Aufsehen, als sie die Kantine betrat.

Obwohl in dem großen, düsteren Raum weibliche und männliche Filmkomparsen waren, die durchweg abenteuerlich gekleidet waren, obwohl diese Menschen kaum zu beeindrucken waren, schauten sie doch fast ohne Ausnahme und wie auf ein geheimes Kommando zur Tür.

Agatha Simpson erinnerte an eine Walküre aus einer Wagneroper. Sie war eine majestätische Erscheinung und kein Durchschnittsmensch, trug eines ihrer leicht ausgebeulten Chanel-Kostüme und dazu derbe Straßenschuhe. An ihrem linken Handgelenk baumelte der unvermeidliche Pompadour, in dem sich Myladys Glücksbringer befand, ein echtes Hufeisen, das sie allerdings aus Gründen der Humanität mit dünnem Schaumstoff umgeben hatte.

Auf großen Füßen und mit strammen Waden marschierte die kriegerische Dame zu einer Nische und schien sich jetzt eher einen Oberfeldwebel eines englischen Traditionsregiments zum Vorbild zu nehmen. Sie ließ sich am Tisch nieder, bestellte einen Tee und einen dreifachen Kognak. Nachdem sie ihren Kreislauf in Schwung gebracht hatte, zog sie ein ansehnliches Notizbuch aus der Tasche ihrer Kostümjacke und notierte sich den ersten Einfall. Das schwarze Buch enthielt ihre künstlerischen Einfälle, die sie stets niederschrieb, wenn ihr danach war, mochte es in ihrer näheren Umgebung auch noch so turbulent zugehen.

»Noch einen Wunsch, Madam?« erkundigte sich der Kellner, der sie beobachtet hatte.

»Stören Sie mich nicht, junger Mann«, fuhr sie ihn an, »sehen Sie nicht, daß ich arbeite?«

»Entschuldigung, Madam«, sagte der Kellner, der sich ängstlich zurückziehen wollte.

»Haben Sie sich gefälligst nicht so, ich beiße nicht«, raunzte die resolute Dame. »Bringen Sie mir noch einen kleinen Kognak, aber dann möchte ich nicht mehr gestört werden!«

Mylady trank auch diesen »Kreislaufbeschleuniger« und machte sich an die Arbeit, die ihr aber, wie gewohnt, nicht so recht von der Hand gehen wollte. Sie vermißte natürlich wieder mal ihren Butler, auf den sie eben noch verzichten weilte. Sie fand ihre Idee plötzlich nicht mehr so bestechend, trank den Kognak und entschied sich, zurück ins Atelier zu gehen. Agatha Simpson war der Ansicht, daß sie noch mehr Atmosphäre in sich aufnehmen sollte.

Bekam ihr der Kognak nicht? Hatte sie vielleicht zuviel getrunken?

Als sie in dem langen Korridor war, befiel sie ein leichter Schwindel. Sie war plötzlich nicht mehr sicher auf den Beinen, schwankte, riß sich wieder zusammen, stemmte sich mit der rechten Handfläche gegen die Korridorwand und atmete schnell.

Die Detektivin war froh, daß sie sich allein in diesem langen Korridor befand. Sie war nicht erpicht darauf, daß man sie gerade jetzt beobachtete. Sie ärgerte sich über ihre leichte Schwäche und … sah sich plötzlich einer seltsamen Erscheinung gegenüber.

Ein Vampir!

Er war plötzlich, da, schien sich aus dem Nichts heraus materialisiert zu haben, versperrte ihr den Weg und streckte gierig seine überlangen Arme und Hände nach ihr aus. Der Vampir trug einen wallenden Mantel, der aus dem Mittelalter stammte und bis zu den Füßen reichte. Sein Gesicht war kalkweiß, nur in den dunklen Augen war blutgieriges Leben, zu erkennen. Als die schmalen Lippen sich öffneten, blitzten spitze Reißzähne, dolchartig geformt und grauenerregend lang.

Agatha Simpson war ehrlich beeindruckt.

»Was soll denn das?« fragte sie mit reichlich schwerer Zunge.

Der Vampir gab keine Antwort und kam näher. Aus seinen Mundwinkeln quoll Speichel, die Augen wurden zu glühenden Kohlen.

»Lassen Sie die dummen Späße!« warnte die Sechzigjährige, allerdings ohne den gewohnten Nachdruck. Sie fühlte sich schwach und wehrlos, schon gar nicht in der Lage, ihren Glücksbringer einzusetzen, wie sie es normalerweise bestimmt getan hätte.

»Blut«, preßte der Vampir mit hohler Stimme hervor und warf sich dann auf die Frau, um ihr seine Zähne in den Hals zu schlagen, worauf Lady Simpson verständlicherweise gellend schrie. Sie produzierte dabei eine derart ungewöhnlich hohe Frequenz, daß zwei mittelgroße Fensterscheiben in der Nähe klirrend zersprangen.

*

»Fühlen Mylady sich inzwischen ein wenig besser?« erkundigte sich Josuah Parker besorgt.

»Was … Was ist passiert?« fragte seine Herrin und richtete sich unvermittelt auf.

»Zwei Fensterscheiben gingen zu Bruch, Mylady«, antwortete der Butler wahrheitsgemäß. »Mylady müssen wahrscheinlich mit einem ungewöhnlichen Phänomen konfrontiert worden sein.«

»Der Vampir«, sagte Agatha Simpson und erinnerte sich. »Wo bin ich, Mister Parker?«

»In der Garderobe des Mister Rob Penwood«, erklärte Parker, »sie war am schnellsten zu erreichen, um Mylady behandeln zu können.«

»Wie lange war ich ohnmächtig? Ich war doch ohnmächtig, oder?«

»Nur indirekt, Mylady«, antwortete Parker. »Mylady wurden von einem, leichten Unwohlsein befallen, was wohl mit dem erwähnten Vampir zusammenhängen muß.«

»Ich verbitte mir Ihre Impertinenz«, fuhr die ältere Dame ihren Butler an. »Dieser Vampir existierte nicht nur in meiner Einbildung, ich wurde tatsächlich von ihm angefallen.«

»Gewiß, Mylady«, erwiderte Parker gemessen.

»Dieses Untier hat mir seine Zähne in den Hals geschlagen«, versicherte Agatha Simpson, der man ihre sechzig Jahre nicht ansah.

»Sind Mylady sicher?« erkundigte sich Parker und reichte ihr einen Handspiegel. Sie nahm ihn ärgerlich aus seiner Hand und untersuchte ihren Hals, der zu ihrer Überraschung nicht die Spur einer Bißwunde aufwies.

»Ich … Ich begreife das nicht«, meinte Agatha Simpson irritiert und schüttelte ratlos den Kopf.

»Haben Sie den Kreislauf vielleicht zu sehr angeregt?« fragte Parker höflich und vorsichtig.

»Ich habe tatsächlich einen kleinen Kognak getrunken«, gestand die kriegerische Dame. »Es können auch zwei gewesen sein. Aber ich war auf keinen Fall betrunken.«

Sie hatte sich inzwischen in einen Sessel gesetzt und ordnete ihr Haar. Dann strich sie sich das Kostüm glatt und schien in sich hinein zu hören. Agatha Simpson war immer noch ein wenig verwirrt.

»Um Myladys Frage zuvorzukommen«, schickte Parker voraus, »zu der Zeit, als Mylady den kleinen Schwächeanfall erlitten, befand Mister Penwood sich im Atelier, daran besteht kein Zweifel.«

»Ja. Diese Frage wollte ich gerade stellen.« Lady Simpson nickte grimmig.

»Dann hatte ich es also mit einem zweiten Vampir zu tun!«

»Gewiß, Mylady.« Parker ließ nicht erkennen, was er von dieser Aussage hielt, dazu war er zu höflich und zu geschult. Er war das Urbild eines hochherrschaftlichen englischen Butlers, wie er eigentlich nur noch in Komödien zu sehen ist.

»Ich verlange von Ihnen, daß Sie diesen Lümmel finden«, forderte Lady Simpson. »Er hat mich fast zu Tode erschreckt.«

»Bemerkenswert, Mylady.«

»Der Vampir stand plötzlich vor mir, wie durch Zauberei aus dem Boden gewachsen«, erklärte Agatha Simpson, »er erinnerte mich flüchtig an diesen Rob Penwood.«

»Der, das darf ich noch mal wiederholen, Mylady, es auf keinen Fall gewesen sein kann. Mister Penwood verließ die Dreharbeiten im Atelier nicht für eine einzige Minute.«

»Dann muß hier noch ein zweiter Vampir sein«, stellte die ältere Dame energisch fest. Sie hatte ihren kleinen Schwächezustand wieder überwunden und sprühte vor Tatendrang. »Das wird ein interessanter Kriminalfall, Mister Parker. Mit einem Vampir wollte ich mich schon immer mal befassen.«

Lady Simpson kam, was das anbetraf, voll auf ihre Kosten, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür, ohne daß vorher angeklopft worden war.

Ein Vampir torkelte ins Zimmer, fiel auf die Knie und blieb, nach Luft ringend, liegen. An seinem Hals war eine gräßliche Bißwunde, aus der im Takt des Herzschlags das Blut sprudelte.

»Was sollen diese Mätzchen?« fragte Lady Simpson unwillig. »Mister Penwood, ich hätte Ihnen etwas mehr Geschmack zugetraut.«

Nun, der Schauspieler Rob Penwood hätte vielleicht liebend gern geantwortet, doch er schaffte es nicht mehr, weil er in dieser Sekunde starb!

*

»Es gibt durchaus Vampire«, sagte William P. Petters mit einer Selbstverständlichkeit, als würde er vom Wetter reden. »Diese Wesen gab es, gibt es und wird es immer geben, verstehen Sie? Die Wissenschaft streitet die Existenz von Vampiren zwar ab, doch die Wissenschaft irrt ja unentwegt, nicht wahr? Sie wirft heute über den Haufen, was sie gestern noch als Tatsache behauptet hat. Gehen Sie mir weg mit den Wissenschaftlern! Alles Leute, die eigentlich wissen sollten, daß sie nichts wissen können!«

William P. Petters war ein bemerkenswerter Mann, rund fünfundfünfzig Jahre alt, groß, hager, und mit ausgeprägter Glatze. Er hatte seine beiden Gäste im Arbeitszimmer empfangen, das einem kleinen Museum glich. An zwei Wänden standen Regale, die bis zur Decke reichten und mit alten Büchern und erstaunlicherweise auch mit Aktenordnern vollgestopft waren.

Zur optischen Auflockerung hatte er große, fest verschlossene Glasgefäße untergebracht, in denen seltsames Gewürm in Formaldehyd oder Spiritus schwamm: Eidechsen, Spinnen und Schlangen, von einigen Skorpionen, Taranteln und Kröten ganz zu schweigen.

»Mylady möchte nicht mißverstanden werden«, ließ der Butler sich vernehmen. »Sie denken nicht an die Spezies Fledermäuse.«

»Das möchte ich auch sehr hoffen«, antwortete William P. Petters, »sonst wären Sie nämlich bei mir an der falschen Adresse. Ich befasse mich ausschließlich mit Urphänomenen, verstehen Sie?«

»Nicht die Spur«, warf Lady Simpson trocken ein. »Könnten Sie mir das näher erklären?«

»Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, Mylady, die unerklärbar sind und bleiben werden«, schickte William P. Petters voraus und massierte sich sein spitzes Kinn. »Nehmen wir zum Beispiel die Vampire, die mein Spezialgebiet sind, also Verstorbene, die aus ihren Gräbern steigen und das Blut lebender Menschen brauchen, um weiter existieren zu können.«

»Das ist doch ein Widerspruch«, bemerkte Agatha Simpson und schüttelte den Kopf. »Wieso kann ein Verstorbener weiterleben?«

»Das gehört bereits mit zu den unerklärbaren Geheimnissen«, dozierte William P. Petters und hüstelte nervös. »Im menschlichen Sinn sind diese Bedauernswerten natürlich tot, im übertragenen Sinn allerdings nicht.«

»Schön, sie erheben sich also aus ihren Gräbern und fallen harmlose Mitmenschen an, deren Blut sie brauchen. Warum tun sie das?«

»Um bis zu ihrer Erlösung aus ihrem Zustand durchhalten zu können, lassen Sie mich das mal so banal ausdrücken.«

»Seit wann gibt es Vampire, Mister Petters?« mischte sich Josuah Parker ein.

»Sie haben schon immer existiert, vom Beginn aller Zeiten an«, behauptete der Vampirkenner mit ernster Miene. »Seit dem Mittelalter aber werden sie genau beobachtet und bekämpft. Sie traten vor allen Dingen in den Balkanländern auf, aber warum das so war, weiß ich nicht, daran arbeite ich noch.«

»Es sind also Verfluchte?« Lady Simpson funkelte den Vampirkenner an, hütete sich aber, aggressiv zu werden. Sie wollte schließlich aus erster Hand erfahren, was es mit den Vampiren auf sich hatte.

»Wenn man so will, Mylady«, räumte Petters ein und nickte nachdrücklich. »Sie können das Tor zur ewigen Ruhe nicht finden oder durchschreiten, verstehen Sie?«

»Ich werde mich bemühen«, sagte die ältere Dame trocken, während der Butler sich jeder Äußerung enthielt.

»Diese Vampire steigen also nachts aus ihren Gräbern und suchen nach geeigneten Opfern«, redete William P. Petters weiter. »Und jetzt kommt das eigentliche Verhältnis, wie ich es nennen möchte. Die Gebissenen werden quasi geimpft und ihrerseits wieder zu Vampiren, eine Kette ohne Ende, ein grausiger Kreislauf.«

»Und wann, Mister Petters, kommen die Vampire endlich zur Ruhe?« erkundigte sich Agatha Simpson ungeduldig, »selbst Vampire möchten doch mal ausruhen, könnte ich mir vorstellen.«

»Sie müssen aufgespürt und dann gepfählt werden«, nannte William P. Petters die Lösung. »Es ist noch heute so wie damals im Mittelalter. Den Vampiren muß man einen geweihten Holzpflock ins Herz treiben, erst dann ist der Kreislauf unterbrochen.«

»Danach tauchen sie dann nie wieder auf?«

»Sehr richtig, Mylady. Die Körper lösen sich in Sekundenschnelle auf und werden zu Staub.«

»Wie schön für die Vampire«, murmelte Agatha Simpson und warf ihrem Butler einen leicht ironischen Blick zu. »Und wie erkennt man nun Vampire? Tragen Sie grundsätzlich wehende Mäntel, sehen sie zum Beispiel mittelalterlich aus? Haben sie Fledermausohren, kalkweiße Gesichter und Reißzähne wie ein Wolf?«

»Das ist ja gerade der grundlegende und entscheidende Irrtum des Laien«, erregte sich William P. Petters. »Vampire, wenn sie unterwegs sind, sehen für gewöhnlich völlig normal aus, sie tragen die Kleidung der Zeit, in der sie sich bewegen. Sie sind von unseren Mitmenschen nicht zu unterscheiden, aber sie nähern sich ihren Opfern nur um Mitternacht.«

»Sehr eigenwillige Wesen.«

»Daran arbeite ich noch«, warf William P. Petters ein, »auch diese Frage werde ich noch klären, mein Wort darauf. Generell ist zu sagen, daß Nachtstunden die Zeit der Geister, Werwölfe, Dämonen und Vampire ist, was wohl mit dem Mond zusammenhängt.«

»Angenommen, sie erscheinen um Mitternacht am Piccadilly Circus«, schickte Lady Simpson voraus und blieb nur mühsam ernst. »Ich würde diese Vampire also für völlig normale Menschen halten?«

»Mit Sicherheit, Mylady, mein Wort darauf, meine Statistiken beweisen das eindeutig. Es sind nur die dolchartigen Reißzähne, die sie verraten würden.«

»Und was geschieht nun, wenn sie ein Opfer gefunden und Blut getrunken haben?«

»Satt und zufrieden begeben die Vampire sich dann zurück in ihre Gräber, denn sollten sie vom Tageslicht überrascht werden, ist es aus mit ihnen, sie würden zufallen und niemals die überirdische Welt des Friedens erreichen. Darum sind sie stets pünktlich.«

»Bemerkenswert«, ließ Josuah Parker sich lakonisch vernehmen. »Sie sind in der Tat ein Spezialist, Mister Petters.«

»Ich leite schließlich die ›Vereinigung der intermedialen Gesellschaft‹, Mister Parker«, erinnerte William P. Petters. »Ich möchte nicht unbescheiden wirken, aber ich denke, daß man mich als Kapazität anerkennt. Ich habe über dieses Thema bereits einige Sach- und Fachbücher geschrieben, die die Wissenschaft natürlich völlig ignoriert, wie Sie sich denken können.«

»Natürlich«, meinte Agatha Simpson, »nun zu meinem Problem, Mister Petters, ich wurde von einem Vampir angefallen.«

»Ich ahnte es, Mylady, sehr schön.« William P. Petters freute sich sichtlich.

»Ich war eigentlich nicht sehr begeistert«, gestand die Detektivin, »aber dieser Überfall geschah morgens, etwa gegen 10.30 Uhr.«

»Donnerwetter«, wunderte sich William P. Petters.

»Es war hell, die Sonne schien«, führte die Sechzigjährige weiter aus, »demnach kann es also kein Vampir gewesen sein, nicht wahr?«

»Das möchte ich nicht sagen«, schränkte der Fachmann sofort wieder ein, wobei seine Augen vor Begeisterung glühten. »An welchem Ort fand dieser Kontakt statt?«

»Der Überfall geschah in einem langen Korridor.«

»Der bestimmt dunkel war, nicht wahr?«

»Düster«, präzisierte die ältere Dame.

»Daran arbeite ich ebenfalls noch«, verkündete William P. Petters, »es muß ein Vampir gewesen sein, der während der vorausgegangenen Nacht nicht rechtzeitig in sein Grab zurückkehren konnte. Solche Vampire überdauern den Tag dann in Kellern oder an dunklen Stellen. Es sind echte Ausnahmen, Mylady. Sie müssen mir mehr darüber erzählen, ich muß das erfassen. Sie gehören zu den Glücklichen, die nur sehr selten zu finden sind.«

»Ein schwacher Trost«, empfand Lady Simpson und schüttelte sich, »das Ungeheuer hätte mich um ein Haar umgebracht.«

»Es muß nicht ganz in Form gewesen sein«, bedauerte William P. Petters.

»Es war in Form«, sagte die resolute Dame nachdrücklich, »anschließend tötete es einen Schauspieler durch einen Biß in die Halsschlagader.«

»Ja, diese Wesen sind sehr zäh«, freute sich William P. Petters sichtlich. »Man kann sich auf sie verlassen. Aber keine Sorge, Mylady, der Vampir, der Sie angefallen hat, wird bestimmt wiederkommen. Wenn Vampire sich mal für ein Opfer entschieden haben, stecken sie nie auf. Meine Statistik beweist das! Sie sollten sich ab sofort sehr in acht nehmen. Der Vampir wird zurückkommen.«

»Und was kann man dagegen tun, Mister Petters?« wollte Parker wissen.

»Oh, das ist eine besondere Spezialität von mir«, antwortete William P. Petters und blühte noch mehr auf, als es ohnehin bereits der Fall war, »ich sage nur Knoblauch, Mylady. Das ist die Wunderwaffe gegen Vampire. Sie werden beeindruckt sein.«

»Wahrscheinlich nicht nur ich«, stellte Agatha Simpson trocken fest, »mehr wohl noch meine Mitmenschen, die mir über den Weg laufen werden!«

*

»Ich habe natürlich überhaupt nichts dagegen, daß Sie sich mit diesem Fall befassen«, sagte Superintendent Needle, ein vergrämt aussehender, großer und hagerer Polizeioffizier, der aber über flinke und schlaue Augen verfügte. »Ich nehme jede Mitarbeit herzlich an, zumal ich von meinen Kollegen weiß, daß Sie hin und wieder sogar Erfolg hatten.«

»Sie Schäker«, raunzte die ältere Dame. Sie hatte Needle in ihrer Stadtwohnung in Sheperd’s Market empfangen und wußte nicht so recht, was sie mit dem Kriminalbeamten anfangen sollte. »Es gibt keinen Fall, den ich nicht gelöst hätte, wenn Mister Parker mir auch ein wenig dabei geholfen hat.«

Parker, der die Drinks servierte, ließ sich natürlich wieder mal nichts anmerken. Das, was Lady Simpson da gerade von sich gab, war eine schamlose Untertreibung. Ohne ihren Butler hätte sie sicher keinen einzigen Fall gelöst. Sie wußte es, Parker wußte es, und auch Superintendent Needle schien es zu wissen, doch Widerspruch erhob sich von keinem der beiden Männer.

»Man hatte Sie, Mylady, in das Westwood-Atelier gebeten, um einen neuen Fall zu lösen?« erkundigte sich Needle fast beiläufig.

»Mister Penwood«, bestätigte Lady Simpson und nickte, »das heißt, er selbst war es nicht, sondern sein Manager.«

»Ein gewisser Morgan Patch«, schaltete der Butler sich gemessen ein und reichte die Drinks. »Mister Penwood wurde vor seinem bedauerlichen Tod von einem Vampir belästigt, was ihn gestört haben muß.«

»Kann man mehr darüber hören?« Superintendent Needle nippte an seinem Drink und schien sich für diesen Fall überhaupt nicht zu interessieren. Man sah ihm deutlich an, daß er am liebsten gegähnt hätte.

»Dieses Scheusal war seit einigen Wochen hinter ihm her«, berichtete die ältere Dame und kippte ihren Kreislaufbeschleuniger hinunter. »Penwood wollte schon vor lauter Angst London den Rücken kehren und die Dreharbeiten platzen lassen.«

»Mylady und meine bescheidene Wenigkeit sollten Mister Penwood vor diesem Vampir beschützen«, sagte Parker.

»Er hätte sich wohl besser an die Polizei gewendet«, meinte Needle wieder beiläufig und sanft. »Vielleicht würde er dann noch leben.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, daß Mister Parker und ich …« Lady Simpson legte eine kleine Pause ein, um tief Luft zu holen. Butler Parker fürchtete eine solide Beleidigung und schaltete sich ein.

»Vielleicht können Sie sich jetzt einer gewissen Miß May Purgess annehmen«, sagte er schnell und schob sich vor Lady Simpson. »Besagte junge Dame wird ebenfalls von einem Vampir belästigt, wie wir heute erfuhren.«

»Miß May Purgess?« Needle schien grundsätzlich nicht ins Kino zu gehen, sonst hätte er mit diesem Namen etwas anfangen können.

»Eine überaus reizende Schauspielerin«, erläuterte der Butler.

»Ich begreife nicht, warum die Menschen sich nicht an uns wenden«, beschwerte sich Needle.

»Das wird mit der enormen Tüchtigkeit der Polizei Zusammenhängen«, stichelte die resolute Dame.

»Wenn Sie erlauben, Superintendent, so möchte ich noch hinzufügen, daß Lady Simpson von dem Geldgeber der Westwood-Ateliers um Hilfe gebeten wurde«, lenkte Parker erneut ab, bevor der Polizeioffizier beleidigt sein konnte. »Mylady ist mit diesem Herrn ein wenig bekannt.«

»Und seit wann wird Miß Purgess von einem Vampir belästigt?« fragte Needle.

»Warum begnügen Sie sich mit Informationen aus zweiter Hand?« fuhr die Detektivin den Superintendent an. »Warum fragen Sie nicht Miß Purgess?«

»Das werde ich selbstverständlich noch tun, Mylady.« Needle ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Die Westwood-Ateliers haben sich auf die Herstellung von Horrorfilmen spezialisiert, nicht wahr?«

»Damit ist im Moment das große Geld zu verdienen«, antwortete Agatha Simpson. »Die einzelnen Gesellschaften produzieren am laufenden Band und versuchen, sich gegenseitig auszustechen.«

»Welche Rolle spielen die Westwood-Ateliers in diesem Wettlauf?«

»Sie sind einsame Spitze, haben die besten Schauspieler und die besten Gruseleffekte.« Lady Simpson nickte nachdrücklich. »Nun kommen Sie nur ja nicht auf den Gedanken, Superintendent, hier habe irgendeine konkurrierende Gesellschaft die Hand im Spiel und versuche, die Westwood-Ateliers aus dem Feld zu schlagen.«

»Wäre das wirklich so ausgeschlossen?« Needle sah Agatha Simpson neugierig an.

»Schnickschnack, Superintendent«, fuhr die Gesprächspartnerin ihm prompt über den Schnabel. »Ich würde nicht wagen, das als Romanstoff zu verwenden.«

»Ich verstehe nicht recht, Mylady.«

»Natürlich nicht, das würde mich auch sehr wundern.«

Sie sah ihn verächtlich an. »Ich bin Künstlerin und habe ein Gespür für Zusammenhänge. Vor allen Dingen habe ich den Vampir gesehen, der mein Blut saugen wollte. Nein, nein, Superintendent, ob Sie es nun glauben oder nicht, hier mordet tatsächlich ein Vampir.«

»Natürlich, Mylady«, antwortete Needle bedächtig wie zu einer Irren.

»Unterlassen Sie diesen herablassenden Tonfall«, fauchte die streitbare Dame sofort. »Sie haben es nicht mit einer Schwachsinnigen zu tun.«

»Ganz sicher nicht, Mylady.«

»Ich bin auch nicht verschroben!«

»Bestimmt nicht, Lady Simpson.«

»Ich werde Ihnen diesen Vampir auf einem silbernen Tablett liefern, Superintendent«, versprach Lady Simpson grimmig, »und Mister Parker wird mir dabei helfen.«

»Wie Mylady befehlen«, ließ Parker sich vernehmen.

»Dann möchte ich nicht länger stören«, sagte Needle hastig. Er schien jetzt fest davon überzeugt, daß die Lady tatsächlich alt, verschroben und leicht schwachsinnig sei. Er ließ sich von Parker schnell aus dem großen Salon in die Wohnhalle des Stadthauses bringen.

»Sie sind nicht gerade zu beneiden«, meinte er zu Parker, der ihm die Tür öffnete.

»Wie darf ich diesen Satz interpretieren?« erkundigte sich der Butler.

»Sie muß sehr anstrengend sein, wie?«

»Außerordentlich, Sir«, antwortete Parker, ohne eine Miene zu verziehen. »Myladys Anforderungen an meine bescheidene Wenigkeit sind erstaunlich hoch und auch recht strapaziös.«

»Ich werde Sie auf keinen Fall mehr belästigen«, versprach Needle in völliger Verkennung der Situation. »Soll sie ruhig ihr Steckenpferd reiten, sie wird bestimmt keinen Schaden anrichten.«

»Wie Sie meinen, Sir.«

»Unsinn, daß hier ein echter Vampir mordet!« Needle schmunzelte überlegen.

»Sie gestatten, Sir, daß ich anderer Ansicht bin«, gab der Butler zurück. »Es ist noch nicht lange her, daß Mylady und meine bescheidene Wenigkeit Frankenstein stellten und der Gerechtigkeit überlieferten.«

»Hm!« Needle war davon überzeugt, daß auch Parker ein wenig skurril sein mußte.

»Ganz zu schweigen von dem Werwolf, den Mylady in der Heide von Sussex stellte«, redete Parker weiter. »Mir hingegen gelang es, Sir, einen Marsmenschen zu überführen, der in der Maske eines Liliputaners in einem Vergnügungspark arbeitete.«

Needle sah den Butler fassungslos und entgeistert an, um dann schleunigst die Flucht zu ergreifen. Er war jetzt fest davon überzeugt, auf zwei relativ harmlose Irre gestoßen zu sein.

»Haben Sie nicht etwas zu stark aufgetragen, Mister Parker?« fragte Lady Simpson wenig später, als ihr Butler das Gespräch wiedergegeben hatte.

»Möglicherweise, Mylady«, antwortete der Butler steif und gemessen. »Es dürfte aber sicher sein, daß der Superintendent einen weiten Bogen um Mylady und um meine bescheidene Person machen wird. Das wird die Ermittlungsarbeiten ungemein erleichtern, wie ich vermute!«

*

Sie wohnte in einer kleinen, reizend eingerichteten Wohnung im Westen der Stadt und hatte sich förmlich verbarrikadiert. Sie hatte Angst vor dem Vampir, zitterte um ihr Leben und dachte immer wieder an den schrecklichen Tod ihres Kollegen Penwood.

May Purgess hatte die Tür verschlossen und zusätzlich verriegelt. Sicherheitshalber hatte sie noch eine Kommode vor die Tür geschoben und sich vergewissert, daß die beiden Fenster zur Gasse fest verschlossen waren.

Ein Telefonat mit Josuah Parker war nicht zustande gekommen. May war deshalb versucht, die Polizei zu verständigen, doch sie genierte sich davor. Die attraktive Schauspielerin dachte an die spöttischen Blicke der vernehmenden Beamten, die ihr wahrscheinlich kein Wort von dem abnahmen, was sie aussagte. Sie konnte die Kriminalbeamten sogar verstehen. Man lebte schließlich im 20. Jahrhundert, Vampire gab es nur in Schauerromanen und in entsprechenden Horrorfilmen. In Wirklichkeit existierten sie natürlich nicht.

Bisher hatte die junge Schauspielerin kaum anders gedacht. Sie galt in Fachkreisen als die schönste Leiche vom Dienst und wurde immer wieder engagiert, in Horrorfilmen das unschuldige Opfer zu spielen. Ihre spitzen, gellenden Schreie der Angst und Panik waren Musik in den Ohren der späteren Zuschauer.

May Purgess amüsierte sich darüber, doch inzwischen sah manches anders aus. Vielleicht gab es doch die schauerlichen Wesen, die aus ihren Gräbern stiegen und nach warmem Menschenblut lechzten? Waren diese unheimliche Wesen gerade durch die Horrorfilme erst wieder aktiviert worden? Sie wußte keine Antwort darauf, aber sie hatte Angst.

Wie Rob Penwood hatte May Purgess sich über ihren gemeinsamen Manager und den Geldgeber an Lady Simpson und Josuah Parker gewandt, doch das seltsame Zweigespann schien in diesem Fall überhaupt nichts auszurichten. Gegen Vampire war wohl kein Kraut gewachsen.

May Purgess zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen, als das Telefon klingelte.

Dann riß sie fast dankbar den Hörer aus der Gabel und meldete sich. Genau das brauchte sie jetzt, nämlich eine menschliche Stimme, die sie von ihren Ängsten ablenkte.

»Ich werde kommen«, sagte jemand heiser und undeutlich, ein wenig außer Atem. »Ich komme bestimmt, meine Liebe, ich giere nach deinem Blut, nach deinem Leben. Erwarte mich, May Purgess erwarte mich!«

May Purgess schnappte nach Luft, ließ den Hörer sinken und zu Boden fallen.

Sie rang nach Fassung, schluchzte, rannte zur Tür, überprüfte, ob sie immer noch fest verschlossen war, eilte zu den Fenstern, kontrollierte die Riegel, lief zurück zum Telefon und hörte ein ersticktes, röchelndes Lachen, das aus einer Gruft zu kommen schien. Dann knackte es in der Leitung, die daraufhin tot war.

May drückte den Kontakthebel und wählte in fliegender Hast die Nummer Butler Parkers. Auf der Gegenseite meldete sich nichts. Die Schauspielerin wollte die nächste Nummer wählen und merkte erst jetzt, daß die Leitung tot war. Die Leitung mußte vor ein paar Sekunden unterbrochen worden sein.

Panische Angst überflutete sie. Was sollte sie tun? Die Wohnung verlassen und zur Polizei laufen? Oder wenigstens vor die Wohnungstür eines Nachbarn, um dann von dort aus zu telefonieren oder Schutz zu suchen? Aber dann verließ sie die schützende Wohnung und lief dem mörderischen Vampir vielleicht direkt in die Arme. Nein, dieses Risiko wollte sie auf keinen Fall eingehen. Da war es schon besser, hier in der Wohnung zu bleiben.

Um ihre vibrierenden Nerven ein wenig zu beruhigen, mixte May sich einen Drink und nahm etwas mehr Whisky als sonst. Dann setzte sie sich so in einen Sessel, daß sie die Wohnungstür genau im Blickfeld hatte und auch die beiden Fenster kontrollieren konnte.

Sie merkte nicht, daß der Vampir bereits in ihrer Wohnung war. Er kam aus der kleinen Pantry und blieb abwartend in der Tür zum Wohnraum stehen, bleckte seine Reißzähne und beobachtete gierig sein Opfer, das noch ahnungslos war. Plötzlich kam der Vampir mit seltsam schleichenden und roboterhaften Schritten auf May Purgess zu …

*

Sie drehte sich abrupt um, riß entsetzt die Augen auf und stieß einen Schrei aus. May blieb dabei wie festgeschmiedet im Sessel sitzen und war nicht fähig, sich in Sicherheit zu bringen.

Der Vampir streckte seine langen, spinnenartigen Finger nach ihr aus und öffnete hungrig den Mund. Seine überlangen Eckzähne waren deutlich zu sehen. Er wurde schneller und war nur noch knapp einen Meter von May Purgess entfernt, stutzte dann aber sichtlich und zögerte.

May Purgess hingegen zögerte nicht weiter.

Wie eine gespannte Stahlfeder, deren Halterung gelöst war, schnellte sie aus dem Sessel und warf sich auf den Vampir, der seinerseits erstickt gurgelte und hilflos wirkte. Der Vampir schloß den Mund, allerdings nicht auf eigenen Wunsch. May Purgess hatte ihm eine deftige Ohrfeige verabreicht und landete danach ihre linke Handkante auf dem Hals des Ungeheuers, dessen kalkweißes Gesicht noch mehr erblaßte.

Erst jetzt begann der Vampir sich zu wehren.

Er war groß, schlank und gewiß in Form, doch gegen May Purgess hatte er einfach keine Chance, zumal ihm die Luft etwas knapp wurde, was mit dem Handkantenschlag zusammenhing. Er verbeugte sich tief vor der jungen Frau, ging sogar in die Knie und handelte sich eine harten Nasenstüber ein, da die Schauspielerin ihr rechtes Knie hatte vorschnellen lassen. Nun war der Vampir vollkommen beeindruckt, machte es sich auf dem Teppich notgedrungen bequem, weinte und wollte nicht weiter mitspielen.

»Stehen Sie auf«, herrschte May Purgess den Unbekannten an. »Los, ich weiß, daß Sie’s können.«

Sie hatte die Lage richtig eingeschätzt.

Der Vampir hatte ihr etwas vorgespielt und suchte seine Chance. Er schnellte hoch und wollte seinen Kopf in den Leib der jungen Frau rammen. Da May Purgess damit gerechnet hatte, wurde nichts daraus. Der Vampir zischte knapp an ihr vorbei und bohrte seinen Kopf in die Wand, die natürlich wesentlich härter war als sein Schädel. Ein leichtes Knirschen war zu hören, dann rutschte der Vampir kraft- und saftlos an der Wand herunter und blieb regungslos liegen. Die junge Schauspielerin untersuchte den Vampir flüchtig, ging dann zur Tür und rückte die Kommode zur Seite. Anschließend schloß sie auf, zog den Sicherheitsriegel zur Seite und lächelte den konservativ aussehenden Mann an, der grüßend seine schwarze Melone lüftete.

»Es muß, wenn ich mich nicht sehr täusche, recht munter zugegangen sein«, sagte Josuah Parker und betrat die Wohnung. »Hat der Vampir irgendwelche Schwierigkeiten gemacht, Miß Porter?«

»Überhaupt nicht«, erwiderte die junge Frau, die Kathy Porter hieß und als Sekretärin und Gesellschafterin bei Lady Simpson arbeitete. Sie war schon vor ein paar Stunden in die Maske der jungen Schauspielerin geschlüpft und hatte May Purgess vertreten. Ehrlicherweise muß hier gesagt werden, daß Agatha Simpson diese Idee hatte, die sich als recht erfolgreich erwies.

Parker stand inzwischen neben dem Vampir und schaute interessiert auf das Wesen, das sich leicht rührte. Kathy Porter zog ihre Perücke ab und zeigte ihr rotbraunes Haar. Sie glich einer gefährlichen Pantherkatze und war bereit, sich noch weiter zu betätigen. Die ganze Sache schien ihr Spaß bereitet zu haben.

»Wissen Sie schon, wie der Vampir in die Wohnung gelangte?« fragte Parker.

»Er muß durch die Küche gekommen sein«, gab Kathy Porter zurück. »Dort gibt es einen kleinen Balkon.«

»Der wie ein Schwalbennest an der Hausfassade klebt«, meinte der Butler und nickte. »Darf ich mich für eine Moment entschuldigen, Miß Porter?«

Parker betrat die Pantry, zog die schmale Balkontür auf und besichtigte den winzigen Balkon, der tatsächlich an ein Schwalbennest erinnerte. Vom Innenhof des Apartmenthauses aus konnte der Vampir ihn unmöglich erreicht haben. Die glatte Hauswand bot keine Möglichkeit, den Balkon zu ersteigen. Erst als Parker sich für die Hauswand oberhalb des Balkons interessierte, entdeckte er den Trick des Vampirs. Er hatte sich an einem Seil vom nahen Dach herabgelassen. Das Seil war mit ausgestreckter Hand leicht zu erreichen und enthielt einige dicke Knoten, damit die Hände besser greifen konnten.

Hatte der Vampir über Helfershelfer verfügt?

Instinktiv trat Parker zurück in die Pantry und … entging nur so dem Geschoß, das ihm zugedacht war. Der Schuß war schallgedämpft abgefeuert worden, pfiff dicht an ihm vorbei und landete irgendwo in der Dunkelheit. Er war kaum zu hören, nicht mehr als ein schwaches »Plopp« hatte die Ruhe der Nacht gestört.

In diesem Moment war in der Wohnung der Schauspielerin ein leiser, überraschter Aufschrei zu hören.

Josuah Parker verzichtete auf seine gewohnte Gemessenheit und beeilte sich, zurück zu Kathy Porter zu kommen. Sie erhob sich gerade vom Teppich, rieb sich das Schienbein und sah den Butler dabei unglücklich und ärgerlich zugleich an.

»Er ist mir entwischt«, sagte sie wütend. »Ich hätte besser aufpassen müssen.«

»Nach einer bekannten Spruchweisheit soll man nie über verschüttete Milch klagen«, sagte Josuah Parker, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen. »Sie dürfen versichert sein, Miß Porter, daß der Vampir früher oder später erneut unseren Weg kreuzt.«

»Was wird Lady Simpson sagen?« fragte Kathy unglücklich. »Ich könnte mich ohrfeigen, Mister Parker.«

»Bauen wir auf Mylady«, erwiderte der Butler höflich. »Falls der Vampir das Treppenhaus benutzt, wird er Mylady passieren müssen. Unter Umständen könnte ihm das nicht gut bekommen!«

*

Agatha Simpson stand in der Dunkelheit des Treppenhauses und wartete freudig auf ihren Einsatz.

Sie hatte die Geräusche oben in der Wohnung richtig gedeutet und wollte ihren Pompadour in Aktion treten lassen. Dabei dachte sie vor allem an den darin befindlichen »Glücksbringer«, der schon manchen Flüchtling gestoppt hatte.

Die Detektivin hörte mit großem Wohlgefallen die hastigen Schritte, die ihrerseits die Treppe strapazierten, und hielt ihren Pompadour schleuderbereit in der Hand. Lady Simpson, obwohl schon ein wenig in den Jahren, wie sie es gern ausdrückte, war in ihrer Jugendzeit eine bekannte Sportlerin gewesen, die man um ein Haar sogar fürs britische Empire zur Olympiade geschickt hätte. Sie wußte also gut mit sportlichen Geräten umzugehen und freute sich ehrlich darauf, die Effektivität ihres Glücksbringers zu beweisen.

Die Lichtverhältnisse im Korridor waren nicht besonders gut.

Lady Simpson sah einen Schatten im Gang und zögerte nicht länger. Der Pompadour, der so harmlos aussah, wirbelte durch die Luft und landete mit dumpfem Aufprall auf dem Hinterkopf des Flüchtenden.

Daß es sich jedoch keineswegs um den Hinterkopf handelte, schon gar nicht um den Flüchtenden, das bemerkte Agatha Simpson erst später, als sie ihre Beute besichtigte. Der Mann, der auf dem Boden lag, kam ihr bekannt vor. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich um einen gewissen Superintendenten Needle handelte, dessen Stirn sie getroffen hatte.

Die Detektivin hatte keine Zeit, ihr Bedauern in irgendeiner Form auszudrücken, da sie schnelle Schritte hörte. Sie war aber zu dem Schluß gekommen, daß sie sich geirrt haben mußte. Hastig nahm sie ihren Pompadour hoch und tat sehr besorgt, als sie eine Polizeiuniform erkannte, die samt Träger durch die Haustür eilte.

»Sie lassen sich aber viel Zeit«, rief sie dem Sergeant gespielt grimmig zu. »Haben Sie den Täter wenigstens erwischt?«

»Nicht direkt, Madam«, entschuldigte sich der verwirrte Sergeant nervös und sah bestürzt auf seinen Vorgesetzten, der die ersten Wehlaute von sich gab. »Eigentlich habe ich überhaupt nichts gesehen. Glaube ich wenigstens.«

»Und für so was zahle ich meine Steuern«, beschwerte sich Lady Simpson kopfschüttelnd. »Der Täter ist doch aus dem Haus gekommen.«

Kaum hatte die streitbare Dame diese Behauptung aufgestellt, als man aus dem Stock über ihr einen entsetzten Aufschrei hörte. Der Sergeant verzichtete darauf, sich näher mit seinem Vorgesetzten zu befassen und stürmte nach oben. Needle richtet sich inzwischen auf – endgültig aufgeweckt durch den spitzen Schrei – und massierte sich die schmerzende Stirn.

»Haben Sie sich nicht so«, raunzte Lady Simpson.

»Mein Kopf«, ächzte der Superintendent und stand mühsam auf. »Ich muß von einem auskeilenden Pferd erwischt worden sein.«

»Sie können froh sein, Mister Needle, daß dieses Pferd keine edlen Teile getroffen hat«, stellte Lady Simpson fest. »Nun reißen Sie sich mal zusammen, junger Mann, Sie sind doch kein wehleidiges Kind mehr!«

Butler Parker 111 – Kriminalroman

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