Читать книгу Der exzellente Butler Parker 12 – Kriminalroman - Gunter Donges - Страница 3
ОглавлениеAgatha Simpson war eindeutig entrüstet.
»Unglaublich, diese Dreistigkeit!« ereiferte sich die ältere Dame. »Ich werde die Verkehrsrowdies sofort zur Rechenschaft ziehen, Mister Parker.«
»Ein Vorhaben, das man nur begrüßen kann, Mylady«, pflichtete Josuah Parker seiner Herrin bei. »Das Fahrverhalten der Herren dürfte nicht gerade als rücksichtsvoll zu bezeichnen sein, falls diese Anmerkung erlaubt ist.« Die schwarze Rover-Limousine hatte Parker an einer Kreuzung im Londoner Norden auf ausgesprochen rabiate Weise die Vorfahrt genommen. Nur durch eine Notbremsung hatte der Butler einen Zusammenstoß vermieden. Die beiden Rover-Insassen schien der Beinahe-Unfall nicht zu kümmern. Mit Vollgas jagte die Limousine weiter. Offenbar hielten die Männer Parkers schwerfällig wirkendes Fahrzeug für ein altgedientes Taxi, das man problemlos abhängen konnte.
Was die Unbekannten im Vorbeirasen registrierten, war aber nur die halbe Wahrheit, denn der Butler hatte den schwarzen Kasten zu einer »Trickkiste auf Rädern« umfunktioniert. Und das wurde den Rüpeln zum Verhängnis ...
Gelassen trat Parker das Gaspedal bis zum Anschlag durch und ließ das Zusatztriebwerk aufröhren. Der Vorsprung der schwarzen Limousine schmolz zusehends. Näher rückten die roten Punkte der Schlußlichter.
Der Butler hatte so weit aufgeholt, daß er das Kennzeichen des in der Dunkelheit vorausfahrenden Wagens ablesen konnte. Plötzlich wurde der Roverlenker auf die Verfolger aufmerksam, und der Mann holte aus seinem Fahrzeug heraus, was herauszuholen war. Mit Parkers schwarzem Monstrum konnte der Rover aber beim besten Willen nicht mithalten.
»Warum stellen Sie die dreisten Lümmel nicht endlich, Mister Parker?« feuerte die passionierte Detektivin ihren Butler an. »Meine Zeit ist kostbar. Ich will es kurz und bündig machen.«
»In kurzer Zeit dürften Mylady Gelegenheit erhalten, die Herren zur Rede zu stellen«, versprach Parker und setzte zum Überholen an.
Dem Roverfahrer schien dieses Manöver eindeutig zu mißfallen. Er stellte seine Fahrweise auf Schlangenlinien um und ließ dem Butler keine Chance, vorbeizukommen. Loswerden konnte er die lästigen Verfolger auf diese Weise allerdings nicht.
Deshalb nutzte der Mann die nächste Gelegenheit, um ohne Vorwarnung links abzubiegen. Da Parker mit einem derartigen Ausbruchsversuch schon längst gerechnet hatte, mißlang der Plan. Panik schien die beiden Männer im Rover zu befallen.
Auf jaulenden Reifen schlingerte der schwere Wagen um eine scharfe Ecke nach der anderen. Der Zickzackkurs auf abendlichen Vorstadtstraßen endete erst, als der Roverfahrer eine langgezogene Linkskurve unterschätzte – zumal es inzwischen zu regnen begonnen hatte.
Wie von Geisterhand gezogen, driftete die schwarze Limousine von der Fahrbahn ab und nahm eine steile Böschung unter die Pneus. Die Insassen des Rover glaubten sich in die Steilkurve einer Rennbahn versetzt, als ihr Wagen in bedenklicher Schräglage durch tiefes Gras und struppiges Buschwerk schoß.
Dicht unter der Oberkante der Böschung brach der Rover seinen etwas holprigen Geländeritt ab. Ächzend legte sich das Fahrzeug auf die Seite und kollerte mit einer dreifachen Rolle seitwärts an den Straßenrand.
Die beiden Unbekannten schienen noch Glück im Unglück gehabt zu haben.
Parker, der die Kurvenfahrt im Vertrauen auf das Hochleistungsfahrwerk seines schwarzen Monstrums ohne Probleme gemeistert hatte, stoppte hundert Schritte weiter und sah in den Rückspiegel. In wilder Hast kletterten die Männer durch die zerborstene Frontscheibe ins Freie. Anschließend überquerten sie die Straße und tauchten in einem Wäldchen unter. Ehe der Butler eingreifen konnte, war die Roverbesatzung verschwunden.
»Sie sind schuld, Mister Parker!« ereiferte sich Mylady umgehend. »Hätte ich mich nicht auf Sie verlassen, wären die Lümmel nicht entwischt. Sie werden alt, Mister Parker, und von Tag zu Tag hinfälliger.«
»Alt zu werden, ist das Los eines jeden Menschen, sofern der Hinweis erlaubt ist, Mylady«, wandte der Butler höflich ein.
»An mir können Sie sehen, wie man sich jugendliche Frische bis in die reiferen Jahre bewahrt, Mister Parker«, konterte Lady Agatha, die die Sechzig sichtbar überschritten hatte. »Man muß sich ständig Höchstleistungen abverlangen. Das ist das ganze Geheimnis.«
»Mylady werden für meine Wenigkeit stets ein leuchtendes Vorbild darstellen«, versicherte Parker. »Darf man übrigens in diesem Zusammenhang die Frage anschließen, wie Mylady weiter vorzugehen gedenken?«
»Die Kerle sind weg und werden sich so schnell nicht wieder blicken lassen«, meinte Agatha Simpson. »Also verschiebe ich die geplante Maßregelung auf später und fahre erst mal nach Hause. Mein Kreislauf könnte ohnehin eine kleine Stärkung vertragen, Mister Parker.«
»Zweifellos haben Mylady sich Gedanken darüber gemacht, warum die Herren aus dem Rover in so beispielloser Hast die Flucht ergriffen«, spielte der Butler seiner Herrin einen Ball zu, den sie mit der ihr eigenen Geschicklichkeit auffing.
»Natürlich habe ich mir darüber Gedanken gemacht, Mister Parker«, nickte sie eifrig. »Welche?«
»Falls man nicht irrt, haben Mylady die Möglichkeit erwogen, daß es sich um Kriminelle handeln könnte.«
»Papperlapapp, Mister Parker! Sie sehen Gespenster. Die Lümmel hatten nur Angst vor meiner Rache, weil sie mich beim Überholen so dreist geschnitten haben.«
»Die Herren haben Mylady an einer Kreuzung in unverantwortlicher Weise die Vorfahrt genommen, falls der Hinweis erlaubt ist.«
»Wie auch immer. Kriminelle sind es in jedem Fall. Die Fahrweise der Kerle kann man nur als kriminell bezeichnen.«
»Gegebenenfalls dürfte das Fehl verhalten der Herren im Straßenverkehr nicht der einzige Grund für die Flucht sein, Mylady.«
»Daran habe ich selbstverständlich schon längst gedacht, Mister Parker. Welche weiteren Gründe fasse ich näher ins Auge?«
»Mylady dürften damit rechnen, daß die fraglichen Herren sich den Mühen eines Dauerlaufes unterzogen, um nicht wegen einer kriminellen Handlung belangt werden zu können.«
»Das sind Hirngespinste, Mister Parker! Wenn es wirklich Gangster gewesen wären, hätte mein unfehlbarer Instinkt sofort Alarm geschlagen. Vermutlich waren die Burschen betrunken und wollten ihren Führerschein nicht loswerden.«
»Zweifellos sollte man auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen, Mylady«, räumte der Butler ein. »Gegen eine solche Annahme dürfte allerdings die fahrerische Leistung sprechen, die der Roverlenker bis zu seinem bedauerlichen Unfall zeigte.«
»Wenn Sie ganz genau wissen wollen, daß Sie auf dem Holzweg sind, Mister Parker, gehen Sie doch hinüber und sehen Sie sich den Wagen an«, gestand Lady Agatha ihrem Butler zu. »Ich werde hier warten, bis Sie mir melden, daß Sie nichts Verdächtiges gefunden haben.«
»Man dankt in alle Form für Myladys großzügiges Entgegenkommen«, sagte Parker und verließ den Wagen.
*
In würdevoller Haltung lenkte Josuah Parker seine Schritte zu dem verlassenen Rover hinüber. Der Butler war ein Mann mittleren Alters und durchschnittlicher Statur. Der konventionelle Bowler, der schwarze Zweireiher und der altväterlich gebundene Regenschirm am angewinkelten Unterarm wiesen ihn als Angehörigen eines traditionsreichen Berufsstandes aus. Aber nicht nur Parkers äußere Erscheinung ließ sofort an einen hochherrschaftlichen Butler vergangener Zeiten denken – seine untadeligen Umgangsformen entsprachen diesem Bild in vollkommener Weise.
Der schwarze Rover war zwar wieder auf die Räder gefallen, doch die Spuren der unfreiwilligen Geländefahrt waren nicht zu übersehen. Das elegante Design der Karosserie war nur noch andeutungsweise zu erkennen, die Scheiben zertrümmert. Lehmklumpen, Grassoden und abgerissene Zweige förderten den Eindruck, der Fahrer habe sein Fahrzeug vor neugierigen Blicken tarnen wollen.
Mit kräftigem Ruck öffnete Parker die verklemmte Tür und unterzog das Innere der schwarzen Limousine einer gründlichen Inspektion. Papiere, die Aufschluß über die Insassen gegeben hätten, fanden sich ebensowenig wie Waffen oder verdächtiges Werkzeug.
Schon wollte der Butler die Durchsuchung abbrechen und zu seiner Herrin zurückkehren, als er auf ein Geräusch aufmerksam wurde. Es klang wie menschliches Stöhnen. Dann war ein kraftloses Klopfen zu hören.
Die rätselhaften Laute schienen aus dem Kofferraum des Wagens zu kommen.
Gelassen zog Parker sein kleines Universalbesteck aus der Tasche und ließ den passenden Fühler in das Kofferraumschloß gleiten. Der simple Schließmechanismus gab den Überredungskünsten des Butlers umgehend nach, doch die Haube war verklemmt und ließ sich nicht ohne weiteres öffnen. Erst als Parker einen kräftigen Schraubenzieher ansetzte, gab der Deckel plötzlich nach und sprang auf.
»Was sehe ich denn da, Mister Parker?« Lady Agatha hatte sich im Fond des hochbeinigen Monstrums gelangweilt und war näher getreten. Neugierig schob sie sich in den Vordergrund und beugte sich selbst über den Kofferraum.
»Falls man sich nicht täuscht, Mylady, dürfte es sich um eine junge Dame handeln, die soeben aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht«, gab Parker die gwünschte Auskunft.
»Das sehe ich auch, Mister Parker«, entgegnete die Detektivin unwirsch. »Und wie ist das arme Kind in den Kofferraum dieses Wagens geraten?«
»Dieser Frage sollte man in der Tat mit aller Gründlichkeit nachgehen, Mylady«, ließ der Butler sich vernehmen. »Die Antwort dürfte zugleich Aufschluß darüber geben, warum Fahrer und Beifahrer so überstürzt das Weite suchten.«
»Auf diesen Zusammenhang wollte ich Sie auch gerade aufmerksam machen, Mister Parker«, behauptete die ältere Dame postwendend. »Also hatte ich recht mit meiner Vermutung, daß es sich bei den Burschen um hochkarätige Kriminelle handelt.«
»Diese Möglichkeit sollte man zweifellos ins Auge fassen, falls der Hinweis erlaubt ist«, pflichtete Parker seiner Herrin bei. Vorsichtig hob er die junge Dame, die nur schwache Lebenszeichen von sich gab, aus dem Kofferraum und trug sie zum hochbeinigen Monstrum hinüber.
»Natürlich werde ich umgehend die Spur der Gangster aufnehmen, die dieses bedauernswerte Geschöpf entführen wollten«, verkündete Agatha Simpson, während der Butler seine blonde Last behutsam auf die Polster im Fond des Wagens bettete.
Das Mädchen aus dem Kofferraum stöhnte immer noch leise, ohne die Augen zu öffnen.
»Bezaubernd sieht die Kleine aus«, stellte Agatha Simpson anerkennend fest und musterte das hübsche Gesicht, das von blonden Locken umrahmt wurde.
»Eine Feststellung, die man nur mit allem Nachdruck unterstreichen kann, Mylady«, meinte auch Parker. Er schätzte das Mädchen auf höchstens siebzehn Jahre.
Modische Kleidung und eleganter Schmuck ließen darauf schließen, daß die Entführte einem nicht gerade armen Elternhaus entstammte. Eine Handtasche oder Personalpapiere hatte die junge Dame aber nicht bei sich.
»Jedenfalls habe ich den Schurken schon mal ihr Opfer entrissen«, frohlockte die Detektivin. »Dabei will ich es aber nicht bewenden lassen, Mister Parker. Ich werde die dreisten Lümmel überwältigen und der gerechten Strafe zuführen.«
»Darf man sich in aller Bescheidenheit erkundigen, ob Mylady bereits konkrete Ermittlungsschritte geplant haben?«
»Selbstverständlich, Mister Parker«, gab die ältere Dame leicht eingeschnappt zurück. »Mein taktisches Konzept steht schon in Umrissen.
Über die Details dürfen Sie sich Gedanken machen.«
»Möglicherweise sollte man die junge Dame nach Shepherd’s Market bringen, um sie eingehend befragen zu können, sobald ihr Zustand das erlaubt«, schlug der Butler vor.
»Darum wollte ich ohnehin bitten, Mister Parker«, stimmte Lady Simpson zu. »Mein Kreislauf hält auch nicht mehr lange durch.«
Wenn Mylady ihren sensiblen Kreislauf ins Gespräch brachte, war Eile geboten. Dann half nur ein hochprozentiges Stärkungsmittel, das in dem uralten Gewölbe unter Lady Simpsons repräsentativem Wohnsitz lagerte.
Josuah Parker half deshalb unverzüglich seiner Herrin auf den Beifahrersitz, warf noch einen Blick auf das bewußtlose Mädchen im Fond und ließ sein hochbeiniges Monstrum anrollen.
*
»Wo bin ich?« lauteten die ersten Worte der unbekannten Schönen, als sie in Myladys weitläufiger Wohnhalle die Augen öffnete und verwirrt um sich sah.
»In guten Händen, Kindchen«, versuchte Agatha Simpson das Mädchen zu trösten und fuhr ihr mit der Hand über die Locken. »Skrupellose Gangster wollten Sie entführen, aber ich habe den Lümmeln einen Strich durch die Rechnung gemacht.«
»Entführen? wiederholte das Mädchen entgeistert. »Ich kann mich an nichts erinnern ...«
»Möglicherweise darf man darauf hoffen, daß Sie wenigstens über Ihren Namen und Ihre Anschrift Auskunft geben können, Miß ...?«
»Blooming«, stellte sich die Fremde vor. »Linda Blooming. Meine Eltern wohnen an der Devonshire Street in Marylebone.«
»Mister Parker wird gleich dort anrufen, Kindchen«, bot die Hausherrin an. »Vermutlich machen Ihre Eltern sich schon Sorgen.«
»Das fürchte ich auch«, nickte Linda nach einem Blick auf die pompöse Standuhr, deren Zeiger bereits auf 1 Uhr rückten. »Aber wie bin ich denn überhaupt hierhergekommen?«
Mit großen Augen hörte das Mädchen zu, als Parker von der Verfolgung der schwarzen Limousine, von dem Unfall und von ihrer Befreiung aus dem Kofferraum des demolierten Wagens berichtete.
»Ich habe das Gefühl, als ob mein Kopf voller Nebel wäre«, gestand sie anschließend. »Ich kann mich beim besten Willen nicht entsinnen, wo ich vorher war und wie ich in das Auto gekommen bin. Haben Sie denn schon die Polizei alarmiert?«
»Die Polizei?« fragte Lady Agatha pikiert. »Aber warum denn, Kindchen?«
»Die Polizei ist doch dazu da, um Verbrecher zu fangen, oder nicht?« gab Linda verblüfft zurück.
»Das mag im allgemeinen stimmen«, antwortete Agatha Simpson in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. »Doch Sie können von Glück sagen, Kindchen, daß eine Detektivin sich Ihres Falles annimmt.«
»Sie sind Detektivin?« Linda staunte und musterte die ältere Dame mit ungläubigen Blicken.
»Sie sind noch sehr jung, Kindchen«, fuhr Agatha Simpson fort.
»Ich werde nächsten Monat siebzehn«, protestierte Linda Blooming.
»Eben«, fuhr die Detektivin fort. »In diesem zarten Alter ist es verzeihlich, wenn von meinen Erfolgen noch nichts an Ihre Ohren gedrungen ist.«
»Nichts liegt meiner bescheidenen Wenigkeit ferner, als Myladys Äußerungen zu widersprechen, Miß Blooming«, versicherte Parker mit einer angedeuteten Verbeugung, als er den fragenden Blick des jungen Mädchens bemerkte.
»Wenn ich nur wüßte, was die Kerle mit mir vorhatten«, rätselte die Blondine.
»Die Antwort auf die zweifellos berechtigte Frage dürfte sich mit einiger Sicherheit aus Myladys Ermittlungen ergeben, falls die Anmerkung gestattet ist«, ließ der Butler sich vernehmen.
»Sparen Sie sich Ihre Kommentare, Mister Parker«, entgegnete Lady Simpson. »Für mich ist die Frage beantwortet.«
Die korpulente Dame ließ sich neben Linda auf das Sofa sinken und legte ihr vertraulich den Arm um die Schultern.
»Ihnen fehlt noch die Erfahrung mit Männern, Kindchen«, begann Mylady. »Irgendwann werden auch Sie feststellen, daß alle nur das eine wollen. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine?«
»Natürlich, Mylady«, erwiderte Linda. In ihrem Lächeln lag nicht mal eine Spur von Verlegenheit. »Ich bin doch nicht von gestern.«
»Ich hoffe, Sie lassen sich das eine Warnung sein, Kindchen«, fuhr die Hausherrin fort. »Gerade Ihre jugendliche Unerfahrenheit in Verbindung mit Ihrer ... äh ... ausgesprochen fraulichen Figur reizt eine bestimmte Sorte von Männern besonders.«
»Ich weiß, Mylady«, nickte Linda und errötete nur ganz leicht. Ihr mädchenhaft geschnittenes Gesicht bildete in der Tat einen reizvollen Kontrast zu ihren Vollreifen Formen.
»Trotzdem zerbreche ich mir ständig den Kopf darüber, wie das geschehen konnte«, setzte sie hinzu. »Ich steige doch nicht freiwillig zu fremden Männern ins Auto. Und schon gar nicht in den Kofferraum.«
»Alle Anzeichen scheinen darauf hinzudeuten, daß man ein Betäubungsmittel einsetzte, um Sie wehrlos zu machen, Miß Blooming«, erklärte Parker. »Für Myladys Ermittlungen wäre es fraglos von Vorteil zu wissen, wo das geschah, falls der Hinweis erlaubt ist.«
»Ich würde es Ihnen ja gern sagen, Mister Parker«, entgegnete das Mädchen. »Aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Vielleicht kennen Sie das Gefühl: Man weiß genau, daß man aus einem Traum erwacht ist, kann sich aber an keine Einzelheit erinnern.«
»Dieser Umstand dürfte durch die immer noch anhaltende Wirkung des Betäubungsmittels zu erklären sein, Miß Blooming«, meinte der Butler. »Insofern darf man sicher die Hoffnung äußern, daß Ihr Gedächtnis nach einem erquickenden Schlaf morgen früh die gewünschten Einzelheiten preisgibt.«
»Könnten Sie mich denn jetzt nach Hause fahren, oder soll ich mir ein Taxi nehmen?« fragte Linda Blooming. »Allerdings ist meine Tasche mit Geld und Papieren verschwunden. Ich müßte Sie deshalb bitten, mir das Fahrgeld bis morgen vorzustrecken.«
»Mister Parker wird Sie fahren, Kindchen«, entschied die Detektivin. »Ihm können Sie sich unbesorgt anvertrauen.«
*
Lindas Eltern standen schon in der Haustür, als der Butler gegen zwei Uhr nachts sein hochbeiniges Monstrum vor dem gepflegten Reihenhaus in Marylebone ausrollen ließ. Parker hatte sie vor der Abfahrt in Shepherd’s Market telefonisch kurz informiert, was ihrer Tochter zugestoßen war.
Überglücklich schlossen Mr. and Mrs. Blooming ihre einzige Tochter in die Arme. Im selben Moment war es mit Lindas mühsam bewahrter Fassung vorbei. Schluchzend ließ sie sich von ihrer Mutter ins Bett bringen, während Edward Blooming den Butler ins Wohnzimmer bat.
»Wir haben Linda immer davor gewarnt, allein auszugehen«, sagte der Mann, nachdem Parker die Ereignisse des Abends noch mal ausführlich geschildert hatte. »Sie ist ja noch ein Kind.«
»Man soll die Gefahren, die einem jungen Mädchen nachts in der Großstadt drohen, keinesfalls unterschätzen, Mister Blooming«, pflichtete Parker dem besorgten Vater bei.
»Erst gestern stand ein großer Artikel in der Zeitung«, wußte Blooming zu berichten. »Wir haben Linda die Seite gezeigt, aber sie hat nur gelacht und gesagt, wir bräuchten uns keine Sorgen zu machen.«
»Darf man höflichst um Aufklärung darüber bitten, welchen Zeitungsartikel Sie zu meinen geruhen, Mister Blooming?«
»Es ging um die zahllosen Vermißtenanzeigen, die die Londoner Polizei Jahr für Jahr bearbeitet«, gab Lindas Vater Auskunft. »Der Reporter hat herausgefunden, daß in letzter Zeit auffallend viele junge Mädchen verschwunden sind, die mit Sicherheit nicht unter die Kategorie ›Ausreißer‹ fallen und ihr Elternhaus wohl kaum freiwillig verlassen haben.«
Edward Blooming ging in sein Arbeitszimmer hinüber. Sekunden später kehrte er mit einer Zeitung zurück, die er auseinanderfaltete und vor Parker auf den Tisch legte.
»Das ist der Bericht«, sagte er und tippte auf die betreffende Seite.
Das Blatt berichtete in großer Aufmachung über die vergebliche Mühe der Polizei, das Schicksal von Kindern, Erwachsenen und Greisen aufzuklären, die seit mehr oder weniger langer Zeit als vermißt gelten. Besonderes Augenmerk richtete der Verfasser auf ein knappes Dutzend Fälle, die erst in den letzten Wochen in die Polizeiakten geraten waren.
Es handelte sich ausnahmslos um Mädchen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, die überwiegend aus wohlgeordneten Familienverhältnissen stammten und nach Diskothekenbesuchen spurlos verschwunden waren. Porträtfotos unterstrichen, was der Reporter als gemeinsame Merkmale der Mädchen herausgefunden hatte: Alle waren blond und auffallend hübsch.
Der Bericht gipfelte in der etwas nebulösen Spekulation, ein geheimnisvoller Lustmörder treibe sein Unwesen, und schloß mit der makabren Frage, ob und wie wohl das erste Opfer gefunden werde.
Parker prägte sich den Namen des Reporters ein, bevor er die Zeitung zurückgab.
»Ich habe doch richtig verstanden, daß Sie Privatdetektiv sind?« vergewisserte sich Blooming.
»Lady Simpson ist eine passionierte Detektivin, deren Ermittlungsmethoden man als einzigartig bezeichnen kann und muß«, korrigierte der Butler. »Meine Wenigkeit genießt den Vorzug, in Myladys Diensten stehen zu dürfen.«
»Sie haben doch aber die Polizei eingeschaltet?« wollte Blooming wissen.
»Keineswegs und mitnichten, Sir«, antwortete Parker wahrheitsgemäß. »Mylady hat sich ausdrücklich ausbedungen, daß die Polizei vorläufig herausgehalten wird. Mylady fürchtet eine nachhaltige Störung und Beeinträchtigung ihrer Ermittlungsarbeit. Und das nicht zu Unrecht, wie die Erfahrung lehrt.«
»Sehr erfolgreich scheint die Polizei in den Entführungsfällen wirklich nicht zu sein«, gab Blooming dem Butler recht. »Der Zeitungsbericht trägt nicht gerade dazu bei, das Vertrauen in Scotland Yard zu stärken.«
»Eine Feststellung, die man nur mit Nachdruck unterstreichen kann, Sir«, meinte auch Parker.
»Linda ist ja noch mal mit einem blauen Auge davongekommen«, fuhr Edward Blooming fort. »Trotzdem werde ich alles dransetzen, daß die Gangster, die unsere Tochter entführen wollten, hinter Schloß und Riegel kommen.«
»Dazu wäre zuerst nötig, daß Ihre Tochter sich erinnert, wo sie den Abend verbracht hat, Mister Blooming«, entgegnete Parker. »Möglicherweise darf man Sie also bitten, morgen früh die entsprechenden Fragen zu stellen, damit Mylady unverzüglich konkrete Ermittlungsschritte einleiten kann.«
»Sie schläft«, meldete Bloomings Frau, die gerade hereinkam. »Das arme Kind muß einen fürchterlichen Schock erlebt haben. Wenn man nur wüßte, was wirklich passiert ist.«
»Der morgige Tag dürfte Sie der Antwort auf diese Frage einen großen Schritt näherbringen, falls man sich nicht gründlich täuscht, Missis Blooming«, prophezeite der Butler, bevor er sich höflich verabschiedete.
*
»Man erlaubt sich, einen ausgesprochen angenehmen Tag zu wünschen.« Parker lüftete ein wenig die schwarze Melone, als er den jungen Mann ansprach, der gerade zum Fahrstuhl eilen wollte. »Darf man höflich fragen, ob Mister Winter im Haus ist?«
»Da hinten im Glaskasten«, lautete die hastige Antwort im Vorübergehen.
Umsichtig geleitete der Butler Mylady durch das hektische Getriebe des Großraumbüros, in dem die Stadtredaktion der LONDON NEWS an der nächsten Ausgabe arbeitete. Fernschreiber ratterten, Telefone klingelten, Boten durchquerten mit wehenden Rockschößen den Raum.
Kriminalreporter Bary Winter gehörte zu den wenigen Auserwählten, die ihre Storys in einer Art eigenem Büro schreiben durften, abgeschirmt durch eine Glaswand, die den Lärm der Umgebung mehr schlecht als recht fernhielt. Der Reporter saß mit dem Rücken zur Tür und war viel zu beschäftigt, um das Eintreten seiner Besucher zu bemerken.
Mit der linken Hand tippte er einen Text in das Bildschirmgerät, das vor ihm auf dem Tisch stand. In der Rechten hielt er die halbvolle Teetasse. Den Telefonhörer hatte er zwischen Schulter und Ohr geklemmt, so daß er gleichzeitig schreiben, telefonieren und Tee trinken konnte. Am Rand des überquellenden Aschenbechers qualmten zwei vergessene Zigaretten vor sich hin.
»Alles klar, Jeff«, sagte Winter gerade, als Josuah Parker und Agatha Simpson den mit alten Zeitungen und Stößen von Fotos vollgestopften Verschlag betraten. »Dann bis heute abend.«
Er legte den Hörer auf und griff nach dem zweiten Apparat auf seinem Schreibtisch, der seit einer Weile entnervend schrillte.
»Moment, junger Mann!«
Winter fuhr regelrecht zusammen und ließ vor Schreck den Hörer in die Gabel zurückfallen, als Myladys sonores Organ in seinem Rücken dröhnte.
»Sie wünschen?« fragte er und musterte das skurrile Paar aus Shepherd’s Market mit langem Blick.
»Lady Simpson möchte Ihnen einige Fragen stellen, die mit Ihrem gestrigen Bericht über das ominöse Verschwinden junger Damen in Zusammenhang stehen, Mister Winter«, gab Parker über den Anlaß des Besuches Auskunft.
»Ich bin nämlich Detektivin, müssen Sie wissen«, setzte Mylady mit bedeutungsvoller Miene hinzu.
»Ach so.« Winter nickte und schien sich über diese Mitteilung nicht im geringsten zu wundern. »Dann wurden Sie vermutlich von den Eltern eines der Mädchen engagiert, über die ich berichtet habe?«
»Diese an sich naheliegende Vermutung trifft die Wahrheit nicht ganz, Mister Winter«, schränkte der Butler ein. »Der Fall, in dem Mylady ermittelt, konnte nicht der Gegenstand Ihres gestrigen Berichts sein, weil er sich erst gestern abend ereignete, falls dieser Hinweis erlaubt ist.«
»Gestern abend?« wiederholte Winter überrascht. »Da ist es für ernsthafte Nachforschungen doch noch viel zu früh. Vermutlich hat das Mädchen die Nacht in einem fremden Bett verbracht und traut sich jetzt nicht nach Hause. Die Kleine wird schon wieder auftauchen, wenn ihr das Taschengeld ausgeht.«
»Die fragliche junge Dame befindet sich bereits wieder in der Obhut ihrer Eltern«, teilte Parker mit, während der Reporter sich irritiert eine Zigarette anzündete. »Die Umstände des Falles lassen allerdings kaum Zweifel, daß Miß Blooming gewaltsam entführt werden sollte.«
»Hätte ich das arme Kind nicht durch einen entschlossenen Handstrich aus der Gewalt der skrupellosen Gangster befreit – wer weiß, was passiert wäre«, setzte Mylady hinzu. »Bedauerlicherweise ließ Mister Parker die Lümmel entwischen, bevor ich sie zur Rechenschaft ziehen konnte.«
Winter legte die Stirn in Falten und zündete sich die nächste Zigarette an, obwohl inzwischen schon drei Rauchsäulen aus dem überfüllten Aschenbecher stiegen. Er wußte offenbar nicht, was er von den Besuchern und ihren Eröffnungen halten sollte.
»Und Sie vermuten einen Zusammenhang mit den Fällen, über die ich berichtet habe?« erkundigte er sich zögernd.
»Ob ein solcher Zusammenhang tatsächlich besteht, werden Myladys Ermittlungen erweisen«, gab Parker zur Antwort. »Doch treffen die in Ihrem Bericht genannten Merkmale der vermißten jungen Damen auch auf Miß Blooming zu. Sie ist zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt, ist blond und verfügt über einen Körperbau,, den man nur als ausgesprochen weiblich bezeichnen kann und muß.«
»Der Mörder scheint einen guten Geschmack zu haben«, witzelte Winter, wurde aber sofort wieder ernst, als er den strafenden Blick der älteren Dame bemerkte.
»Darf man höflich fragen, worauf sich Ihre Annahme stützt, die vermißten jungen Damen seien einem Mörder in die Hände gefallen, Mister Winter?« ließ Parker sich vernehmen.
»Das war doch nur ein Dreh, um die Story interessanter zu machen«, gestand Winter und grinste. »In Wahrheit hat auch die Polizei noch keine Ahnung, was mit den Mädchen passiert ist.«
»Daß die Polizei keine Ahnung hat, wundert mich überhaupt nicht, junger Mann«, fuhr Lady Agatha dazwischen. »Meine Ermittlungen sind dagegen schon ziemlich fortgeschritten. Doch davon später.«
»Die Fälle, die ich genannt habe, sind zu hundert Prozent authentisch, Mylady«, warf der Reporter ein. »Sie stammen aus der offiziellen Statistik von Scotland Yard.«
»Darf man vermuten, daß Sie Näheres über die Umstände in Erfahrung bringen konnten, unter denen die jungen Damen verschwanden, Mister Winter?« übernahm Parker wieder das Ruder.
»Sie meinen, wo die Mädchen zuletzt gesehen wurden?« vergewisserte sich Winter.
»Das ist exakt die Richtung, in die die Frage meiner Wenigkeit zielt, Sir«, bestätigte der Butler mit einer angedeuteten Verbeugung.
»Keine Ahnung. Tut mir leid«, entgegnete Winter. »Die Story mußte unbedingt ins Blatt. Deshalb hatte ich keine Zeit, alle Anschriften abzuklappern und die Eltern zu interviewen.«
»Ein Umstand, den man nur aufrichtig bedauern kann«, bemerkte Parker.
»Wenn Sie mehr Zeit haben als ich, können Sie das Versäumte ja nachholen«, bot Winter an. »Die Adressen sind alle im Redaktionscomputer gespeichert. Ich kann sie Ihnen ausdrucken, wenn Sie möchten.«
»Diesem Vorschlag sollte man unverzüglich nähertreten, Mister Winter«, willigte der Butler ein.
Eine Weile hantierte der Reporter an der verwirrenden Tastatur seines Bildschirmterminals und ließ den grünleuchtenden Curser über endlose Zahlenkolonnen gleiten. Endlich hatte er das Gesuchte gefunden.
Ein kleiner Drucker begann hektisch zu rattern und spuckte eine lange Papierbahn aus, die zwölf Namen und Anschriften nebst einigen weiteren Daten zur Person enthielt. Winter riß den Streifen ab, rollte ihn zusammen und übergab ihn dem Butler.
»Dann viel Erfolg!« wünschte er und geleitete seine Besucher zur Tür. »Falls Sie was Konkretes herausfinden, rufen Sie mich doch einfach an. Unsere Leser würden eine Fortsetzung der Story buchstäblich verschlingen.«
»Man dankt, auch in Myladys Namen, in aller Form für die freundliche Hilfsbereitschaft, Mister Winter«, sagte Parker und lüftete seine Melone. Anschließend geleitete er Mylady durch das Großraumbüro zum Ausgang.
Als der Butler sich noch mal umwandte, war Winter schon wieder bei der Arbeit. Seine linke Hand wanderte über die Tasten des Terminals, in der Rechten hielt er die Teetasse. Den Telefonhörer hatte er zwischen Ohr und Schulter geklemmt ...
*
»Das ist ja gräßlich«, stöhnte Agatha Simpson, während sie sich in die weichen Polster im Fond des hochbeinigen Monstrums sinken ließ. »Einfach gräßlich, Mister Parker!«
»Darf man um Auskunft darüber bitten, was Mylady mit dieser Äußerung zu meinen geruhen?«
»Gräßlich ist, daß zwölf unschuldige, junge Mädchen einem Lustmörder in die Hände fallen mußten, ehe ich ihm sein dreizehntes Opfer entreißen konnte, Mister Parker.«
»Demnach darf und muß man davon ausgehen, daß Mylady sich Mister Winters Einschätzung anschließen, was das Schicksal der vermißten jungen Damen angeht?«
»Was heißt hier anschließen, Mister Parker?« ereiferte sich die passionierte Detektivin. »Der Bursche hat doch nur nachgeplappert, was für mich schon lange feststeht.«
»Nähere Aufschlüsse dürften möglicherweise erst nach einer Befragung der bedauernswerten Eltern zu erwarten sein, Mylady«, wandte Parker vorsichtig ein.
»Sie kleben wieder an völlig unwichtigen Details, Mister Parker«, sagte Lady Simpson. »Mich interessieren die Aussagen der Eltern kaum, da mein taktisches Konzept steht und ich mich anschicke, den Mörder einzukreisen.«
»Darf man Myladys Äußerung so verstehen, daß Mylady auf eine Befragung der Eltern zu verzichten gedenken?« antwortete Parker mit einer Gegenfrage.
»Eine Detektivin meines Ranges kann sich mit derartigen Nebensächlichkeiten nicht belasten, Mister Parker. Erfolg hat nur, wer sich auf das Wesentliche konzentriert.«
»Nichts liegt meiner Wenigkeit ferner, als Mylady zu widersprechen«, versicherte der Butler. »Dennoch darf man daran erinnern, daß die Umstände von Miß Bloomings Entführung nicht unbedingt an einen geplanten Sexualmord denken lassen.«
»Darauf wollte ich Sie auch gerade hinweisen, Mister Parker«, behauptete Lady Simpson. »Welche Umstände sind es, die mich an der Sexualmord-Theorie zweifeln lassen?«
»Triebtäter der erwähnten Kategorien pflegen spontan und allein zu agieren, falls man richtig unterrichtet ist«, gab Parker die gewünschte Auskunft.
»Richtig, Mister Parker«, lobte die Detektivin. »Das Mädchen sollte entführt werden, um von den Eltern Lösegeld erpressen zu können. Das habe ich von Anfang an durchschaut.«
»Diese Möglichkeit sollte man keinesfalls ausschließen, Mylady«, pflichtete Parker seiner Herrin bei. »Allerdings ist in den zwölf anderen Fällen bisher nichts von einem Erpressungsversuch bekannt geworden, falls der Hinweis erlaubt ist.«
»Wie auch immer, Mister Parker«, beendete Mylady die Diskussion.
»Ich werde unmittelbar nach der Heimkehr eine Meditationsstunde einlegen und mich in mein taktisches Ermittlungskonzept vertiefen.«
»Darf man höflich nachfragen, ob Mylady Einwände erheben würden, wenn meine bescheidene Wenigkeit ...«, begann Parker, doch Agatha Simpson fiel ihm sofort ins Wort.
»Ich kann Sie während der Meditation nicht entbehren, Mister Parker«, stellte die Detektivin klar. »Sie müssen mich während meiner anstrengenden Tätigkeit mit Stärkungsmitteln versorgen.«
»Selbstverständlich wird man Mylady unbeschränkt zur Verfügung stehen«, versicherte der Butler. »Möglicherweise könnte es sich aber als sinnvoll erweisen, den ehrenwerten Mister Pickett in die Ermittlungen einzuschalten und ihn zu bitten, die bedauernswerten Eltern der verschwundenen Mädchen aufzusuchen.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Mister Parker«, reagierte die ältere Dame etwas mürrisch. »Sie werden feststellen, Ihr Weg führt in eine Sackgasse.«
Inzwischen hatte man das heimische Shepherd’s Market erreicht, wo Lady Simpson an einer stillen Wohnstraße ein zweistöckiges Fachwerkgebäude von repräsentativem Zuschnitt ihr eigen nannte. Gemächlich ließ Parker sein hochbeiniges Monstrum auf den Vorplatz rollen und assistierte seiner Herrin diskret beim Aussteigen.
Gerade hatte der Butler ein silbernes Tablett mit dem geforderten Kreislaufbeschleuniger und einem bauchigen Kognakschwenker in Myladys Studio gebracht, als das Telefon schellte.
»Hier bei Lady Simpson«, meldete er sich.
»Hallo, Mister Parker, sind Sie es? Hier spricht Linda Blooming.« Die Stimme der jungen Dame klang frisch und ausgeruht. Offenbar hatte sie sich schnell von dem Schock am Vorabend erholt.
»Darf man die Hoffnung äußern, daß Sie eine erholsame Nachtruhe hatten, Miß Blooming?« fragte Parker.
»Danke, ich habe geschlafen wie ein Stein«, entgegnete Linda. »Übrigens ist mir eben eingefallen, wo ich gestern abend war, bevor die Burschen mich in den Kofferraum ihres Wagens gesteckt haben.«
»Eine Nachricht, die man mit Freude vernimmt, Miß Blooming.«
»Ich bin gegen sieben Uhr mit dem Bus nach Holborn gefahren«, erzählte die junge Dame. »Da gibt es eine Diskothek, die ›Flashlight‹ heißt. Ich kann mich noch erinnern, daß ich an einem Tisch saß und auf Freunde wartete. Aber es kam niemand, den ich kannte.«
»Darf man vermuten, daß Sie in dieser Zeit möglicherweise von Fremden zum Tanzen aufgefordert wurden, Miß Blooming?«
»Ein- oder zweimal, Mister Parker. Aber ich hatte keine Lust und blieb allein.«
»Und Sie können sich nicht erinnern, das erwähnte Lokal später verlassen zu haben, Miß Blooming?«
»Als ich heute morgen die braunen Flecken an meinem Kleid fand, fiel mir ein, daß irgendwann im Laufe des Abends ein Colaglas umkippte«, fuhr Linda fort. »Was danach geschah, weiß ich nicht mehr. Meine Erinnerung setzt erst an dem Punkt wieder ein, als ich in Myladys Haus zu mir kam.«
»Ihre außerordentlich zweckdienlichen Hinweise dürften zweifellos dazu beitragen, Myladys Ermittlungen entscheidend zu beschleunigen, Miß Blooming«, versicherte der Butler und bedankte sich höflich und gemessen.
»Ich drücke Ihnen und Mylady die Daumen, daß Sie die ekligen Kerle möglichst schnell hinter Schloß und Riegel bekommen«, versprach Linda Blooming, ehe das Gespräch endete.
Parker blieb gleich am Telefon stehen und wählte die Nummer, unter der Horace Pickett zu erreichen war.
Der ehrenwerte Mister Pickett, wie Parker ihn meist nannte, war ein hoch aufgeschossener Mann von etwa sechzig Jahren. Obwohl seine äußere Erscheinung auf einen pensionierten Offizier schließen ließ, hatte Pickett jahrelang seinen Lebensunterhalt als Taschendieb verdient. Da er seine flinken Finger grundsätzlich nur nach prall gefüllten Brieftaschen ausgestreckt hatte, konnte er seinen ehemaligen Beruf mit einem gewissen Recht als »Eigentumsumverteiler« angeben.
Seit der Butler ihm in einer unverschuldeten Notlage das Leben gerettet hatte, respektierte Pickett aber die Gesetze und ernährte sich auf redliche Weise. Er rechnete es sich zur Ehre an, gelegentlich für Parker und Mylady tätig werden zu dürfen. Und seine intimen Kenntnisse der Londoner Unterwelt hatten sich schon oft als außerordentlich hilfreich erwiesen.
»Ich werde mir die Arbeit mit ein paar zuverlässigen Freunden teilen, damit es schneller geht«, schlug Pickett vor, als Parker ihm die zwölf Anschriften übermittelt hatte. »Reicht es, wenn ich Ihnen in zwei Stunden Bericht erstatte, Mister Parker?«
»Ein Angebot, das man nur als erfreulich bezeichnen kann und muß, Mister Pickett«, entgegnete der Butler. »Bis zum genannten Zeitpunkt dürfte Mylady ihre Meditation abgeschlossen haben und die nächsten Ermittlungsschritte in Angriff nehmen.«
*
»Dieser Streß!« klagte Agatha Simpson, als die Haustürglocke ging. Hastig schob sich die ältere Dame noch ein Stück von der herrlich duftenden Sachertorte in den Mund. »Kaum will man zwischen all den Pflichten mal ein Häppchen zu sich nehmen, klingelt schon wieder das Telefon.«
»Verzeihung, Mylady«, korrigierte Parker und schenkte seiner Herrin goldschimmernden Darjeeling nach. »Falls man sich nicht gründlich täuscht, dürfte das Läuten von der Tür ausgehen.«
»Noch schlimmer«, kritisierte die Detektivin. »Hoffentlich ist es nicht Mister McWarden.« Vorsorglich ließ sie sich ein neues Tortenstück vorlegen, ehe sie ihren Butler in Richtung Haustür entließ.«
Myladys Befürchtung erwies sich als grundlos. Es war nicht Chief-Superintendent McWarden, der leitende Yard-Beamte, der sich bei Parker schon manch wertvollen Tip geholt hatte.
»Hallo, Parker«, grüßte Anwalt Mike Rander lässig, als der Butler die Tür öffnete. Myladys Gesellschafterin, die attraktive Kathy Porter, war auch mitgekommen. Die junge Dame mit den mandelförmig geschnittenen Augen und dem Kastanienschimmer im dunklen Haar hatte sich bei Rander eingehakt.
»Hoffentlich stören wir nicht, Mister Parker?« erkundigte sie sich.
»Keineswegs und mitnichten, Miß Porter«, gab der Butler mit einer höflichen Verbeugung zurück. »Mylady dürfte hocherfreut sein, Sie als Gäste am Teetisch begrüßen zu dürfen.«