Читать книгу Butler Parker 121 – Kriminalroman - Gunter Donges - Страница 3
ОглавлениеLady Agatha Simpson langweilte sich sichtlich.
Sie saß zusammen mit ihrer Gesellschafterin und Sekretärin in einer Loge der Festival Bowl und konnte dieser Musik keinerlei Geschmack abgewinnen. Es handelte sich um eine festliche Gala-Vorstellung, in der klassische Musik dargeboten wurde.
Lady Agatha hatte es längst aufgegeben, auf einen Fehler des Pianisten zu warten. Dieser Mann dort im Frack, der ihrer Ansicht nach den Konzertflügel traktierte, war sich seiner Arbeit vollkommen sicher. Bisher hatte er noch nicht einmal danebengegriffen. Alles deutete darauf hin, daß dies auch bis zum Ende des Konzerts nicht anders werden würde.
Lady Agatha hätte viel lieber etwas Flottes angehört. Sie war ein Fan der Beatles und liebte darüber hinaus den guten alten Swing aus der Zeit Benny Goodmans. Damit war hier jedoch nicht zu rechnen. Man spielte etwas von Tschaikowski, wie sie dem Programm entnommen hatte. Die Sache hatte gerade erst angefangen und dauerte sicher seine Zeit.
Agatha Simpson war eine ältere Dame, die über ihr Alter nicht gern sprach. Seit ihrem 60. Geburtstag zählte sie ihre Lebensjahre nicht mehr, denn über solche Kleinigkeiten war sie erhaben. Ihrer Ansicht nach war man stets so alt, wie man sich fühlte. Nach dieser Rechnung hatte sie gerade erst fünfzig Jahre hinter sich gebracht.
Sie war eine majestätische Erscheinung, groß, füllig und an eine Bühnenheroine erinnernd. Lady Agatha war sehr vermögend und konnte sich praktisch jede Extravaganz leisten. Verwandt und verschwägert mit dem Blut- und Geldadel des Königreichs, betätigte sie sich seit dem Tod ihres Mannes als leidenschaftliche Amateurdetektivin. Darüber hinaus wollte sie eines Tages eine gewisse Agathe Christie in den Schatten stellen, denn sie träumte davon, eines Tages eine berühmte Kriminalromanautorin zu werden. Zur Zeit aber war sie noch damit beschäftigt, sich den passenden Stoff zu suchen.
Diese etwas skurrile Dame konnte ihre Gesellschafterin und Sekretärin nicht verstehen. Kathy Porter saß neben ihr und hatte verzückt die Augen geschlossen. Sie gab sich ganz der Musik hin und schien sie sichtlich zu genießen. Sie war es schließlich gewesen, die Lady Agatha in dieses verdammte Konzert gelockt hatte. Mit Kathy war im Moment überhaupt nichts anzufangen.
Lady Agatha beschäftigte sich inzwischen mit Entfernungsschätzen, um ihre Fähigkeiten zu konzentrieren. Ihr Blick wanderte hinüber zum Solisten am Flügel, dann zurück zu einem der Saaldiener und dann hinauf zur Galerie. Doch dieses Spiel langweilte sie bald. Sie wurde zudem auch abgelenkt vom Dirigenten, der endlich die ersehnte Abwechslung brachte.
Der Mann im Frack stach mit seinem Dirigentenstab in das Orchester hinein, war abwechselnd aggressiv und kampfbetont, dann wieder vorsichtig und beschwörend. Er schien mit seinem Stab eine Art Gefecht zu führen und wirkte auf Lady Agatha äußerst begabt. Der Mann wußte zu fintieren und dann plötzlich auszufallen und zuzustoßen.
Nachdem Lady Agathas Interesse an diesem Scheingefecht erlahmt war, nahm sie ihr Opernglas hoch und schaute sich die Zuhörer an. Sie schmunzelte erleichtert und unverhohlen, als sie einen Zuschauer entdeckte, der selig schlief. Dieser Mann hatte sich in sein Innenleben geflüchtet und nutzte die Zeit. Die Musik schien ihn überhaupt nicht zu stören.
Lady Simpson entdeckte ein neues Spiel, um sich die Langeweile zu vertreiben. Es war statistisch vielleicht interessant, wie viele Zuhörer dort unten im Parkett ein kleines Nickerchen machten. Sie machte sich daher augenblicklich daran, Material für diese Studie zu sammeln. Sie suchte mit ihrem recht leistungsfähigen Opernglas die Reihen im Parkett und dann später die Besucher in den Logen ab.
Sie war ehrlich überrascht, daß allein im Parkett sechs Besucher schliefen. Obwohl die Musik gerade schmetterte, wachten diese Herrschaften keineswegs auf. Es mußte sich um durchs trainierte und erfahrene Konzertbesucher handeln, die sich auch nicht mehr durch Lautstärke ablenken ließen.
Lady Agatha befaßte sich inzwischen mit den Logen auf der gegenüberliegenden Seite der Konzerthalle und hoffte auch hier auf reiche Beute. Plötzlich jedoch erhielt sie so etwas wie einen elektrischen Schlag und sie war sofort alarmiert. Dort in einer Loge spielte sich etwas ab, was man nicht mehr als regulär bezeichnen konnte. Die Ermordung eines Mannes war zumindest in dieser festlichen Umgebung mehr als unpassend und ungewöhnlich.
Zwei junge Männer, die sehr drahtig aussahen, standen hinter einem vor der Logenbrüstung sitzenden Herrn und strangulierten ihn. Einer der beiden Täter hatte einen Schal um den Hals des Opfers geschlungen und zog ihn zu. Der zweite Täter zerrte das Opfer vom Stuhl nach hinten in die Tiefe der Loge.
Agatha Simpson reagierte prompt, impulsiv und sehr gekonnt.
Sie schien direkt erleichtert zu sein, endlich etwas tun zu können. Sie war bereits aufgesprungen und ließ ihren Pompadour kreisen. Es handelte sich dabei um einen perlenbestickten Handbeutel, wie er um die Jahrhundertwende und davor in Mode gewesen war. In ihm befand sich Myladys ›Glücksbringer‹, wie sie das Pferdehufeisen untertreibend nannte. Dieses schwere Hufeisen war nur sehr oberflächlich mit dünnem Schaumstoff umwickelt, um schwere Verletzungen zu vermeiden.
Lady Simpson war eine erstklassige Sportlerin. Nachdem sie den Pompadour in Fahrt gebracht hatte, ließ sie ihn los. Das Wurfgeschoß segelte quer über das Parkett und landete in der gegenüberliegenden Loge, in der das Opfer bereits sichtlich unter Luftnot litt. Eine Hammerwerferin hätte nicht kraftvoller und genauer zielen können.
Der Pompadour landete prompt im Gesicht eines der beiden Täter. Der Aufschrei, der unmittelbar danach ertönte, wirkte sich auf das Geschehen in der Konzerthalle erheblich störend aus. Er paßte einfach nicht zu Tschaikowski!
*
Der ältere Herr röchelte beachtlich und schnappte nach Luft. Er lag in einer Ecke der Loge und stierte Lady Simpson mit einer Mischung aus Dankbarkeit und noch nicht überwundenem Entsetzen an.
»Die Kette«, schnaufte er. »Nehmen Sie die Kette!«
»Sie brauchen keine Angst zu haben, ich bin ja bei Ihnen«, meinte Lady Agatha beruhigend. »Was für eine Kette meinen Sie?«
»Hier!« Der ältere Herr zerrte sich sein Frackhemd auf und wollte noch etwas sagen, doch da verließen ihn die Kräfte. Er rutschte haltlos zurück und schloß die Augen.
»Er wird doch nicht?« Lady Simpson sah ihre Gesellschafterin an, die sich jetzt um den Herrn kümmerte.
»Nur eine Ohnmacht, Mylady«, beruhigte Kathy Porter die Lady.
»Das möchte ich mir auch ausgebeten haben!« Lady Simpson hörte Schritte vor der geöffneten Logentür und griff blitzschnell nach der dünnen Kette, die unter dem Frackhemd des Ohnmächtigen hervorschimmerte. Die resolute Dame zögerte keinen Augenblick. Mit fester und sicherer Hand langte sie herzhaft zu und riß dem Herrn die dünne Kette vom Hals. Ohne sich lange mit ihr zu beschäftigen, ließ Lady Simpson sie dann geistesgegenwärtig in ihrem Ausschnitt verschwinden.
Sie schaute hoch und sah sich einem uniformierten Beamten gegenüber, der gerade die Loge betreten hatte. Der Sergeant, ein schlanker, energisch aussehender Mann, kümmerte sich sofort um das Opfer, ohne sich durch Kathys Nähe ablenken zu lassen. Demnach mußte der Sergeant sogar noch sehr pflichtbewußt sein. Kathy sah nämlich ungewöhnlich attraktiv aus.
Das Konzert war selbstverständlich abgebrochen worden. Unten im Parkett, auf den Rängen und in den Logen standen die festlich gekleideten Menschen herum und diskutierten mehr oder weniger erregt diesen Zwischenfall. Lady Simpson hätte sich liebend gern angeschaut, woraus der Anhänger am Kettchen bestand, doch dies verbot sich im Augenblick von selbst.
Es dauerte gar nicht lange, bis ein gewisser Superintendent McWarden auf der Bildfläche erschien. McWarden, ein alter Bekannter von Lady Simpson, schluckte nervös, als er die Dame in der Loge entdeckte. McWarden, ein untersetzter, bullig wirkender Mann von fünfzig Jahren, witterte natürlich sofort Komplikationen. Wo Lady Simpson ihre Hand im Spiel hatte, war es mit seiner üblichen Bombenruhe vorbei. Daran hatte er sich bereits gewöhnt.
Das Opfer war inzwischen wieder zu sich gekommen, schien aber nicht vernehmungsfähig zu sein. McWarden richtete einige Fragen an den älteren Herrn, doch der reagierte nicht. Ob er es absichtlich tat, vermochte selbst die stets mißtrauische Lady Simpson nicht eindeutig zu sagen. McWarden wartete bis die Männer des Krankenwagens erschienen und das Opfer auf eine Trage packten. Als der Mann dann aus der Loge gebracht war, konzentrierte der Superintendent sich auf Lady Simpson.
»Ich bin Ihnen für jede Geschichte dankbar«, sagte er mit einer gewissen Bitterkeit. »Sie darf sogar wahr sein.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich, McWarden«, gab Lady Simpson grimmig zurück. »Als ob ich Sie schon jemals belogen hätte!«
»Oh, Lady Simpson«, seufzte McWarden auf, »eines Tages werde ich mich in die Provinz versetzen lassen, weit weg von Ihnen.«
»Wie wollen Sie dann noch Kriminalfälle lösen?« erkundigte sich die Lady ironisch. »Sie sollten dankbar sein, daß ich mich etwas um Sie kümmere.«
»Um was ging’s denn diesmal?« fragte McWarden, ohne dieses Thema zu vertiefen.
»Miß Porter wird Ihnen alles erzählen«, gab Lady Simpson zurück. »Und Sie werden nichts zu hören bekommen, als die Wahrheit, die reine Wahrheit.«
»Ich weiß!« McWarden verdrehte die Augen und nickte Kathy Porter zu. Lady Simpsons Gesellschafterin berichtete knapp und präzise von dem, was sich in der Loge abgespielt hätte. Sie vergaß allerdings das Kettchen zu erwähnen, doch das konnte möglicherweise mit ihrer Aufregung Zusammenhängen.
»Also reiner Zufall, daß Sie diesen versuchten Mord beobachteten?« McWarden drehte sich zu Lady Simpson um.
»Sie scheinen gut zugehört zu haben. Reiner Zufall, Superintendent. Wollen Sie mir nicht endlich sagen, wen ich da vor dem Tod gerettet habe? Darauf habe ich doch wohl einen Anspruch, nicht wahr?«
»Sie kennen den Mann wirklich nicht, Mylady?«
»Sie werden albern, junger Mann«, raunzte die ältere Dame den Superintendent an. »Ich spiele nicht mit gezinkten Karten. Ich bin ahnungslos.«
McWarden durchforschte bereits die Brieftasche des Opfers und fand eine Menge Hinweise auf dessen Identität. In der Brieftasche befanden sich Kreditkarten, ein internationaler Führerschein, Pfundnoten und dann auch ein Hotelausweis.
»Nun zieren Sie sich nicht länger«, brummte Lady Simpson. »Wie heißt der Mann?«
»James Findlay«, antwortete der Superintendent zögernd. »Er ist Amerikaner und scheint sich erst seit zwei Tagen hier in London aufzuhalten.«
»In welchem Hotel ist er abgestiegen?«
»Im ›Palace‹, Mylady, aber das darf ich Ihnen schon nicht mehr sagen.«
»,Ich habe auch nichts gehört«, antwortete Lady Simpson.
»Werden Sie sich mit dieser Sache befassen?« fragte McWarden vorsichtig an. Ihm war nur zu bekannt, welchem Hobby die resolute Dame hemmungslos frönte.
»Der Fall soll doch aufgeklärt werden, oder?« Sie sah ihn grimmig an. »Natürlich werde ich ein wenig neugierig sein, McWarden. Vielleicht wartet hier ein Stoff auf mich, der mir einen Bestseller garantiert.«
*
»Wann werden Sie sich endlich einen größeren Wagen zulegen, Kindchen?« grollte Lady Simpson und deutete auf den Mini-Cooper. »Dieser Schuhkarton ist doch eine Zumutung.«
»Man hat daher mit ihm keinerlei Parkprobleme, Mylady«, sagte Kathy Porter lächelnd. »Ich komme mit ihm praktisch überall hin.«
Lady Simpson faltete sich zusammen und schob sich ächzend und stöhnend auf den Beifahrersitz. Kathy Porter wartete, bis die ältere Dame sich endlich zurechtgerückt hatte, dann ging sie um den Mini-Cooper herum und setzte sich vor das Steuer.
»Fahren Sie los«, sagte Lady Simpson. »Ich wette, McWarden beobachtet uns. Er traut mir mal wieder nicht über den Weg.«
»Gebranntes Kind scheut das Feuer, Mylady.« Kathy ließ den Motor an und fuhr langsam los. Als sie den Parkplatz verließ, tauchte der Superintendent auf, gestikulierte und schien den Mini-Cooper unbedingt anhalten zu wollen. Ja, er machte einen geradezu aufgeregten Eindruck.
»Ich hoffe, Sie wollen nicht reagieren«, meinte Lady Agatha. »Ich sehe nichts. Haben Sie mich verstanden?«
»Es scheint aber wichtig zu sein, Mylady.«
»Wir sehen nichts. Biegen Sie nach rechts ab, Kindchen. McWarden geht mir auf die Nerven.«
Kathy Porter hielt sich also an die strikte Anweisung der Lady Agatha, übersah den Superintendent und witschte mit ihrem Mini-Cooper in eine schmale Gasse, die von parkenden Wagen gebildet wurde. Wenig später waren sie auf der regulären Straße und fuhren in Richtung Hyde Park, in dessen Nähe sich das Palace-Hotel befand.
»Sie scheinen wieder mal mit einer Schnecke konkurrieren zu wollen«, mokierte sich die energische Lady. »Geht’s nicht etwas schneller, Kindchen?«
»Mylady, der Verkehr ist einfach zu dicht.«
»Sie sind überfordert, Kathy«, stellte die Lady fest. »Ich denke, ich sollte das Steuer übernehmen.«
Kathy Porter hätte am liebsten entsetzt aufgeschrien. Sie kannte den Fahrstil der resoluten Lady. Ein ehemaliger Kamikaze-Flieger wäre gegen Myladys Verwegenheit nur ein zaudernder Anfänger gewesen. Wenn Lady Agatha am Steuer eines Wagens saß, war das stets so etwas wie ein Happening. Sie hatte die Spielregeln des Verkehrs längst vergessen, zudem auch noch sämtliche Verkehrszeichen. Sie fuhr so, wie es ihr gerade in den Sinn kam.
»Sollten Sie sich nicht das Kettchen ansehen, Mylady?« lenkte Kathy Porter schnell ab. Sie konnte nur hoffen, daß Lady Agatha auf diesen Trick hereinfiel.
Sie tat es erfreulicherweise.
»Richtig, das Kettchen!« erinnerte sich die Lady und suchte in ihrem mächtigen und fülligen Ausschnitt nach besagtem Gegenstand. Nach einiger Anstrengung hatte sie endlich den Gegenstand gefunden und sicher geborgen. Sie betrachtete ihn neugierig.
Das Silberkettchen hatte einen Anhänger. Bei diesem Anhänger handelte es sich um eine längliche Kapsel, die aus zwei Hälften bestand. Sie war etwa vier bis fünf Zentimeter lang und hatte einen Durchmesser von ungefähr anderthalb Zentimeter. Die zwei Hälften waren genau in der Mitte gegeneinander geschraubt. Die obere Hälfte war mit eingelassenen roten Kreuzen versehen, mit denen Lady Simpson nichts anzufangen wußte.
»Das sieht aber reichlich medizinisch aus«, fand sie und zeigte ihrer Begleiterin die Kapsel. Sie zeigte sie ihr derart nachdrücklich, daß Kathy die Sicht auf die Fahrbahn versperrt wurde. Doch das bekam Lady Simpson in ihrem Eifer nicht mit.
Kathy mußte eine Notbremsung durchführen und entging nur mit knapper Not einem Auffahrunfall. Davon bekam Lady Agatha jedoch nichts mit.
»Moment, Kindchen«, sagte sie ahnungslos. »Sie können wahrscheinlich nicht genug sehen.«
Lady Simpson nahm die Kapsel noch höher und damit Kathy auch die letzte Sicht. Kathy Porter seufzte auf.
»Was ist denn, Kathy?« wunderte sich die ältere Dame. »Warum blockieren Sie plötzlich den gesamten Verkehr? Wir sind doch nicht allein auf der Straße? Sie sollten mal wieder Fahrunterricht nehmen.«
»Mylady, ich kann beim besten Willen nichts sehen«, gab Kathy ergeben zurück. Es hatte keinen Sinn, sich über die Lady zu wundern. Sie war ein Naturereignis, das man einfach hinnehmen mußte. Kathy steuerte den Wagen vorsichtig an den Straßenrand und hielt an.
»Der Straßenverkehr hat Sie geschafft, Kindchen, nicht wahr?« Mitgefühl schwang in Myladys Stimme mit.
»Darf ich die Kapsel sehen, Mylady?« fragte Kathy, ohne auf die Feststellung Lady Agathas einzugehen. Sie überhörte sie geflissentlich.
»Ein sehr eigenartiger Talisman«, fand Lady Agatha, als sie ihrer Gesellschafterin die Kapsel reichte.
»Das ist eine Rettungskapsel«, sagte Kathy nach einem kurzen und prüfenden Blick.
»Eine was?« Lady Simpson schüttelte irritiert den Kopf.
»Eine Rettungskapsel, Mylady«, wiederholte Kathy und schraubte die beiden Hälften auseinander. »Sie enthält Angaben zur Person des Besitzers. Blutgruppe, Rhesusfaktor, eine Liste der bereits verabreichten Impfungen und Hinweise auf Allergien, das alles ist hier verzeichnet.«
Während Kathy Porter noch redete, zog sie ein eng zusammengerolltes Stück Papier aus der unteren Kapselhälfte, rollte es auseinander und reichte es Lady Simpson.
»Tatsächlich«, sagte die Amateurdetektivin enttäuscht. »Der Name lautet James Findlay. Er ist identisch mit dem, den McWarden uns genannt hat. Das ist aber eine herbe Enttäuschung, Kindchen.«
»Sie hatten Mikrofilme erwartet, Mylady?« Kathy lächelte.
»Natürlich«, räumte Lady Simpson ehrlich ein, was an sich schon überraschend genug war. »Warum hat dieser Findlay mir sonst diese Kapsel aufgedrängt? Sein Rhesusfaktor interessiert mich doch überhaupt nicht.«
»Vielleicht birgt die Kapsel irgendein Geheimnis, Mylady?« Kathy wußte sehr genau, wie man Lady Simpson geschickt ablenken konnte. Sie hatte da so ihre Erfahrungen.
»Manchmal haben Sie sogar akzeptable Ideen, Kindchen«, gab Lady Simpson zurück und nickte beifällig. »Worauf warten Sie eigentlich noch? Wir wollen uns diese Kapsel zu Hause mal in aller Ruhe ansehen.«
Kathy wollte anfahren, doch in diesem Augenblick tat sich etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Die Fahrertür wurde aufgerissen, und sie sah Bruchteile von Sekunden später in den Lauf einer Pistole, die mit einem Schalldämpfer modernster Bauart ausgerüstet war.
*
»Ganz ruhig, die Damen«, sagte der junge Mann, der die Pistole hielt. Er mochte vielleicht fünfunddreißig Jahre alt sein, schlank und mittelgroß. Er hatte ein glattes Gesicht und trug trotz der Dunkelheit eine Sonnenbrille.
»Was soll das?« grollte Lady Simpson gereizt. »Wenn Sie mit Bargeld rechnen, so haben Sie sich gründlich in den Finger geschnitten. Ich zahle nur per Scheck.«
»Wie wär’s denn mit der Kapsel?« fragte der junge Mann und lächelte dünn. Kathy Porter überdachte blitzschnell ihre Chancen, dem Mann die Waffe aus der Hand zu schlagen, doch sie kam zu dem Schluß, daß sie es mit einem Profi zu tun hatte, den man so leicht nicht hereinlegen konnte.
»Meinen Sie etwa diese Kapsel?« fragte die energische Lady, die die Waffe gar nicht zu sehen schien. Sie hielt sie hoch, als hätte sie möglicherweise noch gar nicht mitbekommen, in welcher Gefahr sie schwebte.
»Sie sind ’ne Schnelldenkerin«, lobte der junge Mann Lady Simpson. »Reichen Sie mir das Ding rüber, und schon sind Sie aus dem Schneider. Aber ein bißchen plötzlich, wenn’s nicht peinlich werden soll.«
Nun hatte die ältere Dame endlich begriffen.
Sie stieß eigenartige Töne aus, rang sichtlich nach Luft und schien einem Herzanfall nahe zu sein. Sie beugte sich vor, griff nach ihrem Herzen und fiel dann gegen die Wagentür, deren Scheibe heruntergedreht war.
Dabei passierte ihr jedoch ein Mißgeschick. Ihre Hand, die die Kapsel hielt, rutschte nach draußen. Und Bruchteile von Sekunden später war ein Klicken draußen neben dem Wagen zu hören.
»Die Kapsel!« stieß Kathy Porter hervor und sah den jungen Mann verängstigt an.
Dieser Ansicht war auch der Mann.
Er stieß einen recht häßlichen Fluch aus und wußte im ersten Moment nicht, wie er sich jetzt verhalten sollte. Dann aber drückte er sich fluchend zurück und sah Kathy wütend an.
»Hauen Sie ab«, sagte er. »Los, machen Sie schon.«
»Aber die Kapsel«, warf Kathy ein, während die Lady weiterhin nach Luft schnappte und gar nicht mitbekam, was sich tat.
»Die liegt unter dem Schlitten. Los, fahren Sie endlich!«
Kathy wartete eine weitere Einladung nicht ab, sondern marschierte mit ihrem Mini-Cooper sofort los. Sie fuhr derart scharf an, daß Lady Simpson tief in die Polster gedrückt wurde. Im Rückspiegel beobachtete Kathy den jungen Mann. Er besichtigte die Gosse und die Fahrbahn. Auf die Kapsel schien er ganz versessen zu sein.
»Dieser Anfänger«, ließ Lady Agatha sich in diesem Moment abfällig vernehmen.
»Mylady?« Kathy wandte sich überrascht an die ältere Dame, die völlig normal und gesund neben ihr saß. Mit dem Herzen schien sie nie etwas gehabt zu haben. Gesünder konnte kein Mensch aussehen.
»Er sollte sein Lehrgeld zurückzahlen«, mokierte sich Lady Agatha und nickte grimmig. »Wie kann man denn nur auf solch einen alten Trick hereinfallen! Das ist einfach nicht zu glauben!«
»Oh, Mylady, ich dachte wirklich ...«
»Nun geben Sie schon Gas, Kindchen. Der Lümmel wird gleich sehr wütend sein.«
»Sie haben die Kapsel noch, Mylady?« Kathy war ein Licht aufgegangen.
»Aber natürlich.« Lady Simpson nickte triumphierend. »Ich werde meinen Fall doch nicht so leicht verspielen.«
Sie präsentierte die Kapsel und lachte dröhnend. Ihre dunkle Stimme kam dabei voll zur Geltung,
»Und was haben Sie auf die Straße geworfen, Mylady?« Kathy lachte nun ebenfalls.
»Meinen Ring, Kindchen. Aber diesen Verlust wird dieser Strolch mir noch ersetzen, so wahr ich Lady Simpson heiße!«
Kathy schaute wieder in den Rückspiegel und suchte nach dem Verfolger. Der hereingelegte junge Mann mußte ja inzwischen den Schwindel entdeckt haben. Er mußte doch jetzt racheschnaubend die Hetzjagd aufgenommen haben.
»Er ist doch hoffentlich hinter uns her«, erkundigte sich Lady Simpson neugierig.
»Ich kann nichts erkennen, Mylady, der Verkehr ist einfach zu dicht.«
»Macht ja nichts«, sagte die resolute Dame zufrieden. »Er wird sich wieder melden, Kindchen. Und dann werde ich diesem Lümmel mal zeigen, wie man sich Damen gegenüber zu benehmen hat!«
*
»Eine Geschichte, Mylady, die ich mit Ihrer Erlaubnis als ausgesprochen mysteriös bezeichnen möchte«, sagte Butler Parker eine knappe halbe Stunde später.
Er befand sich zusammen mit den beiden Damen im großen Kaminzimmer von Lady Simpsons Stadtwohnung in Shepherd’s Market, London. Er hatte der Lady gerade eine kleine Erfrischung serviert. Sie bestand, das nur am Rande, aus einem dreifachen Cognac, den Lady Simpson nach Kennermanier genüßlich zu sich nahm.
Parker war der Prototyp eines englischen Butlers. Er schien einem Gesellschaftsfilm entstiegen zu sein. Korrekter hätte auch dort kein Butler aussehen und sich bewegen können.
Parker war ein wenig über mittelgroß, fast schlank zu nennen, besaß ein ausdrucksstarkes Gesicht, das aber unbeweglich zu sein schien, und graugrüne Augen. Er trug einen schwarzen Zweireiher, einen weißen Eckkragen und eine schwarze Krawatte. Da er gerade die leichte Erfrischung serviert hatte, trug er weiße Handschuhe. Parker war ein Mann, der praktisch in jeder Lebenslage auf Formen hielt. Leichtfertige Nachlässigkeiten gestattete er sich nicht.
»Sehen Sie sich endlich die Kapsel an«, sagte Lady Simpson. »Sie muß so etwas wie einen doppelten Boden haben.«
»Wie Mylady befehlen.« Parker nahm die bewußte Kapsel entgegen und schraubte sie auf. Er legte den zusammengerollten Zettel zur Seite und ging zu einer der Wandlampen hinüber. Er sah das Innere der beiden Kapselhälften an und stocherte dann mit einem langen Kaminstreichholz im Inneren der beiden Hülsen herum.
»Mikrofilm, nicht wahr?« Für Lady Simpson gab es überhaupt keine andere Möglichkeit. Sie wollte ihren Mikrofilm sehen, doch Josuah Parker mußte bedauern.
»Die beiden Hälften scheinen keinen doppelten Boden zu besitzen, Mylady«, meldete er höflich. »Ich möchte sie allerdings noch einmal gründlich überprüfen.«
»Was ich mir auch ausgebeten haben möchte«, erwiderte Lady Simpson grimmig. »Vergessen Sie nicht, daß sie mir aufgedrängt worden ist. Und zwar von einem Mann, den man umbringen wollte! Und vergessen Sie außerdem nicht, daß dieser Strolch mir die Kapsel wieder abjagen wollte.«
»Was gewisse Rückschlüsse zuläßt, Mylady, falls mir diese Bemerkung erlaubt ist.«
»So, welche denn?«
»Mylady und Miß Porter wurden offensichtlich beobachtet, als Sie sich um den älteren Herrn kümmerten. Man muß gesehen haben, daß Mylady die Kapsel an sich nahmen.«
»Natürlich, Mr. Parker.« Lady Simpson wirkte leicht ungeduldig und deutete auf den zusammengerollten Zettel. »Halten wir uns nicht mit so unwichtigen Kleinigkeiten auf. Sehen Sie sich jetzt mal den Zettel an. Ich behaupte nach wie vor, daß diese Kapsel gefährlicher ist als eine Stange Dynamit.«
»Wie Mylady meinen.« Parker ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er rollte den Zettel auseinander und studierte die Angaben darauf. Er erfuhr etwas über die Blutgruppe, den Rhesusfaktor, die Impfungen und die Allergien des Mr. Findlay. Ferner war dessen Heimatadresse angegeben, demnach wohnte James Findlay in New York.
Parker hielt den Zettel, der einen leinenähnlichen Charakter hatte, gegen das Licht. Punktierungen waren allerdings nicht zu erkennen, bestimmte Buchstaben oder Zahlen so nicht gekennzeichnet.
»Haben Sie wenigstens jetzt etwas gefunden?« hoffte Lady Agatha grimmig.
»Ich muß nach wie vor außerordentlich bedauern, Mylady.«
»Sie lassen nach, Mr. Parker«, beurteilte Lady Simpson streng. »Vor ein paar Wochen noch hätten Sie ein Geheimnis mit einem Blick durchschaut.«
»Sehr wohl, Mylady.« Parker deutete eine leichte Verbeugung an. »Sie sehen meine bescheidene Wenigkeit untröstlich. Wenn es erlaubt ist, werde ich mich zurückziehen und eine genauere Untersuchung vornehmen.«
Bevor Lady Simpson sich dazu äußern konnte, war die Türglocke zu hören. Parker schritt gemessen aus dem Kaminzimmer und öffnete im Treppenhaus einen kleinen Wandschrank. Er schaltete die Fernsehkamera ein, die den Eingang überwachte. Auf dem Bildschirm des kleinen, im Wandschrank eingebauten Monitors war Superintendent McWarden zu sehen. Er kannte die Kamera und sah genau in die Optik.
»Machen Sie schon auf, Mr. Parker«, sagte er gereizt »Ich bringe wichtige Nachrichten. Lady Simpson hat keine Ahnung, daß sie in Lebensgefahr schwebt!«
*
»Findlay ist entführt worden«, sagte McWarden, nachdem er die beiden Frauen kurz und hastig begrüßt hatte.
»Das sieht Ihnen ähnlich«, antwortete Lady Simpson und verzog ihr Gesicht. »Wie ist es denn passiert?«
»Der Krankenwagen ist auf dem Hof des Konzerthauses gestoppt und überfallen worden«, berichtete McWarden und wischte sich den Schweiß von seinem bulligen Gesicht. »Die beiden Fahrer sind niedergeschlagen worden.«
»Ich werde mir einige anzügliche Bemerkungen ersparen, McWarden«, meinte die Lady. »Und jetzt? Wieso befinde ich mich dadurch in Lebensgefahr, wie Mr. Parker meldete.«
»Findlay hat einen besonderen Status, Mylady«, erwiderte McWarden. »Eigentlich darf ich darüber gar nicht sprechen, aber in diesem Fall werde ich eine Ausnahme machen.«
»Das möchte ich auch hoffen, McWarden. Wer ist also dieser Findlay?«
»Ein CIA-Agent, Mylady.« McWarden hatte unwillkürlich seine Stimme gedämpft. »Wir haben es eben erst von der amerikanischen Botschaft unter der Hand erfahren. Der Mann ist sogar ein Spitzenagent.«
»Der sich für diesen Tschaikowski interessiert?« Lady Simpson meinte selbstverständlich den russischen Komponisten, doch McWarden mißverstand und spitzte die Ohren.
»Tschaikowski?« Er beugte sich vor. »Ein Sowjetagent?«
»Möglich ist alles«, antwortete Lady Agatha genußvoll, »aber laut Kathy Porter soll der Mann ein ziemlich begabter Komponist gewesen sein.«
»Ach so, jetzt begreife ich!« McWarden schüttelte den Kopf und schämte sich ein wenig. »Ich sehe schon überall Gespenster. Man hat uns ganz schön auf Trab gebracht, Mylady. Selbst der Innenminister ist an dieser Sache interessiert. Findlay scheint ein äußerst wichtiger Mann zu sein.«
»Darf man höflichst fragen, Sir, warum Mr. Findlay den Konzertsaal aufsuchte?« schaltete sich Butler Parker gemessen ein. »Wollte er nur der klassischen Musik frönen oder suchte er dort Kontakt mit irgendeiner Person?«
»Scheint so, aber genau weiß ich das nicht. Die amerikanische Botschaft ist da sehr zurückhaltend. Sie verlangt nur, daß wir Findlay herbeischaffen.«
»Und warum, Sir, hält man dann Myladys Leben für gefährdet?« erkundigte Parker sich weiter.
»Man vermutet in der Botschaft, daß wichtiges Material an Findlay übergeben worden ist, Material aus dem Fernen Osten. Ich möchte da nicht deutlicher werden.«
»Was habe ich denn damit zu tun?« fragte die ältere Dame amüsiert.
»Sie, Mylady, selbstverständlich auch Miß Porter, Sie also hinderten die beiden Mörder daran, ihre Tat auszuführen. Und Sie waren zuletzt bei Findlay, wenn Sie sich recht erinnern.«
»Natürlich, wir leisteten Erste Hilfe.« Lady Simpson trank ihr Glas leer und sah McWarden interessiert an. »Demnach waren die beiden Lümmel, die Findlay strangulieren wollten, Agenten aus dem Fernen Osten, nicht wahr?«
»Das ist anzunehmen, Mylady.« McWarden blieb reserviert und zurückhaltend. Er wollte offensichtlich nicht zuviel ausplaudern. Man schien ihn eingehend vergattert zu haben.
»Wurde das bewußte Material denn an Findlay übergeben, Sir?« erkundigte sich Parker höflich. »Steht das wenigstens fest?«
»Man weiß es nicht, Mr. Parker. Nur Findlay kannte diesen Überbringer. Und der wird sich auf keinen Fall melden, denke ich. Der Mann dürfte nun vorgewarnt sein und sich nicht mehr rühren.«
»Ich möchte endlich wissen, warum ich mich in Lebensgefahr befinde?« Lady Simpson war unwillig geworden. »Und warum muß auch Miß Porter um ihr Leben fürchten, McWarden? Lassen Sie gefälligst die Katze aus dem Sack und zieren Sie sich nicht wie eine Jungfrau!«
»Nun ja, Mylady, Mr. Findlay wurde doch zum Krankenwagen getragen, nicht wahr?«
»Halten Sie sich nicht mit solchen Kleinigkeiten auf.«
»Im Treppenhaus kam er wieder kurz zu sich und redete von einer Kette.«
»Von einer Kette?« Lady Simpson zuckte mit keiner Wimper. Sie hatte sich wunderbar unter Kontrolle. »Was hat denn das nun wieder zu bedeuten?«
»Findlay redete auch von einer Kapsel, Mylady.« McWarden sah die resolute Lady prüfend an.
»Das wird ja immer geheimnisvoller«, wunderte sich Lady Agatha gekonnt.
»Dabei fingerte Findlay an seiner Brust herum, Mylady. Er muß dort etwas gesucht haben.«
»Eine Kette und eine Kapsel etwa, McWarden?«
»Richtig, Lady Simpson. Die beiden Krankenträger sagten übereinstimmend aus, daß das Hemd zerrissen war.«
»Sie hegen eine bestimmte Vermutung, Sir?« fragte Butler Parker.
»Die beiden Krankenträger haben weder eine Kette noch eine Kapsel entdecken können, Mr. Parker. Sie muß also vorher entwendet worden sein.«
»Wahrscheinlich von den beiden Lümmeln«, sagte Lady Simpson.
»Wäre Findlay dann noch entführt worden?« McWarden schüttelte den Kopf.
»Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit«, erwiderte Butler Parker. »Nur Mr. Findlay kann doch sagen, wer ihm das Material übergeben hat. Diese Information will man wahrscheinlich aus ihm herauspressen.«
»Das fürchte ich allerdings auch«, pflichtete der Superintendent ihm bei.
»Ich weiß immer noch nicht, warum Kathy und ich uns in Lebensgefahr befinden«, ließ Lady Simpson sich ungeduldig vernehmen. »McWarden, Sie sind wieder einmal sehr umständlich.«
»Nun, es könnte ja sein, theoretisch wenigstens, daß die beiden Mörder annehmen, Sie hätten die Kapsel, Mylady.« Nun hatte McWarden die sprichwörtliche Katze aus dem Sack gelassen. »In diesem Fall würde man wahrscheinlich vor keinem Mord zurückschrecken.«
»Das ist richtig«, fand die Lady und nickte zustimmend.
»Man würde Sie in solch einem Fall erbarmungslos jagen«, warnte McWarden eindringlich.
»Das kann ich mir sehr gut vorstellen«, fand auch Lady Agatha. »In dieser komischen Kapsel muß sich also irgend etwas sehr Wichtiges befinden, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich«, gab der Superintendent zurück.
»Hat die Botschaft Ihnen dazu wenigstens eine Andeutung gemacht, Sir?« wollte Josuah Parker wissen.
»Eine mehr als vage Andeutung. Sie enthält die Belohnung für das Agentenmaterial.« McWarden schien wirklich nicht mehr zu wissen. Er zuckte hilflos die Achseln. »Diese Geheimniskrämer können einem schon auf die Nerven gehen. Ja, was ich noch fragen wollte, Mylady. Sie haben diese Kette samt Kapsel nicht zufällig gesehen?«
»Eine Gegenfrage, McWarden, glauben Sie wirklich, ich würde das in solch einem Fall jemals zugeben?« Lady Simpson lächelte unergründlich.
»Nein, Sie würden das sicher niemals zugeben«, erwiderte McWarden aufseufzend. »Ich kenne Sie inzwischen. Sie arbeiten ja immer auf eigene Faust. Aber diesmal werden Sie auf Granit beißen, glauben Sie mir! Das hier ist kein normaler Kriminalfall. Hier geht es um internationale Agenten. Wissen Sie, was ich machen werde?«
»Wahrscheinlich werden Sie es mir gleich sagen, McWarden.« Lady Agatha sah den Superintendent erwartungsvoll an.
»So makaber es klingen mag, Mylady, ich werde zu Ihrem baldigen Begräbnis erscheinen.« McWarden nickte knapp und wandte sich dann um. Er ging, ohne sich noch einmal umzuwenden.
*
Butler Parker hatte sich in seine ›Bastelstube‹ zurückgezogen und beschäftigte sich mit der Kapsel.
Diese Bastelstube befand sich im Souterrain des alten, wunderschönen Hauses. Sie war technisch hervorragend eingerichtet und eine gekonnte Mischung aus Labor, feinmechanischer und elektrischer Werkstatt. Hier schuf der Butler seine kleinen Überraschungen, die schon so manchen Gegner zur Verzweiflung getrieben hatten.
Nach den Andeutungen McWardens war der Butler nur noch neugieriger geworden. Er wollte das Geheimnis der Kapsel ergründen. Sie schien im übertragenen Sinne doch so etwas wie einen doppelten Boden zu haben. Warum wären Lady Simpson und Kathy Porter sonst wohl von dem jungen Mann bedroht worden?
Der Butler schaute sich den Zettel noch einmal sehr genau an. Er untersuchte ihn mit polarisiertem Licht, nahm eine Probe vor, ob vielleicht irgendeine Botschaft mit Geheimtinte abgefaßt worden war und studierte dann die medizinischen Hinweise auf den Impfdaten. Sie bestanden aus großen Buchstaben und Ziffern. Diese Zeichen konnten durchaus eine Art Schlüssel darstellen. Parker nahm sich vor, diese Eintragungen so schnell wie möglich einem Mediziner vorzulegen. Nur solch ein Mann konnte ihm sagen, ob sie regulär waren oder nicht.
James Findlay war also laut McWarden ins Konzert gegangen, um hier Kontakt mit einem Agenten aufzunehmen. Findlay sollte angeblich Spionagematerial entgegennehmen und dafür zahlen. Der Superintendent hatte anklingen lassen, daß diese Bezahlung durch die Übergabe der Kapsel erfolgen sollte.
Josuah Parker spannte zuerst die obere, dann die untere Hälfte der Kapsel in einen Schraubstock und schnitt sie mit einer winzig kleinen Kreissäge auf. Sie war nicht größer als das Instrument eines Zahnarztes. Anschließend bog er die Hülsen auseinander und glättete sie. Mit einer starken Lupe untersuchte er nun die Innenwandungen der beiden Kapselhälften.
Ratlos richtete er sich auf. Nichts war zu sehen. Das Metall war glatt und unbehandelt. Hatte der überfallene Findlay die Kapsel gemeint, die Lady Simpson an sich genommen hatte? Befand man sich vielleicht auf einer völlig falschen Spur? Nein, das kam eigentlich nicht in Betracht, denn da war ja noch immer der Überfall auf Lady Simpson und Kathy Porter. Der junge Mann war eindeutig hinter dieser Kapsel her gewesen.
»Ich hoffe, Sie haben das Geheimnis endlich gelüftet«, sagte Lady Simpson, die sich nach unten in Parkers Bastelstube bemüht hatte. Sie schaute sich die aufgetrennten Kapselhälften oberflächlich an.
»Ich muß leider außerordentlich bedauern, Mylady«, gab Parker zurück.
»Sollte man McWarden aufs Kreuz gelegt haben?« fragte die Hobbydetektivin grimmig.
»Diese Möglichkeit, Mylady, darf nicht übersehen werden«, erwiderte Parker. »Sind Mylady sicher, die richtige Kapsel sichergestellt zu haben?«
»Wie kommen Sie denn darauf?« Lady Simpson sah ihren Butler mehr als erstaunt an.
»Man sollte, wenn ich es so ausdrücken darf, jede Möglichkeit in Betracht ziehen.«
»Findlay kann nur die gemeint haben.« Die Lady deutete auf die beiden aufgeschnittenen Hälften. »Er stammelte etwas von einer Kapsel und riß sich dabei das Hemd auf. Und dann denken Sie doch an diesen Strolch, der Miß Porter und mich überfallen hat. Er wollte diese Kapsel haben und keine andere. Er schien sie zu kennen.«
»Mylady sehen meine bescheidene Wenigkeit zur Zeit ein wenig ratlos«, bekannte Josuah Parker. »Darf ich mich erkühnen, einen Vorschlag zu unterbreiten?«
»Zieren Sie sich nicht, Mr. Parker.«
»Sollte man die Kapsel samt Inhalt nicht der amerikanischen Botschaft Zuspielen? Vielleicht stehen da Interessen auf dem Spiel, die keineswegs einen weiteren Aufschub dulden.«
»Und wir geben damit den Fall ab, Mr. Parker?« Lady Simpson behagte diese Vorstellung überhaupt nicht.
»Nationale Sicherheiten könnten auf dem Spiel stehen, Mylady.«
»Nun gut, schicken Sie das Zeug weg, Mr. Parker.« Lady Simpson hatte sich zu einem Entschluß durchgerungen. »Vergessen wir also diesen kleinen Zwischenfall. Aber ich bitte mir eines aus.«
»Mylady?« Parker sah die energische Lady erwartungsvoll an.
»Besorgen Sie mir gefälligst einen Ersatzfall«, grollte Lady Simpson. »Sie wissen, ich brauche einen passenden Stoff für meinen Bestseller!«
*
Josuah Parker saß am Steuer seines hochbeinigen Monstrums und fuhr durch die nächtliche Stadt.
Sein Ziel war die amerikanische Botschaft. Er wollte die beiden aufgetrennten Kapselhälften und den Zettel mit den medizinischen Hinweisen so schnell wie möglich los werden. Natürlich hatte er sich eine Fotokopie dieses Zettels angefertigt, doch das nur für besagten Fall des Falles. Parker hatte auch die Kapselhälften sorgfältig fotografiert. Er war eben ein sehr ordentlicher und korrekter Mensch, der sich später keine Vorwürfe machen wollte.
Daß er verfolgt wurde, wußte Parker übrigens schon seit knapp fünf Minuten, doch das bereitete ihm keinerlei Sorgen. Ja, genau das Gegenteil war der Fall. Er hatte es recht gern, wenn seine Gegner sich mit ihm beschäftigten. Es bot sich dann immer die Möglichkeit, sie gehörig aufs Glatteis zu führen.
In seinem Privatwagen war er zudem recht sicher.
Das hochbeinige Monstrum, wie Freunde und Gegner dieses ehemalige Londoner Taxi nannten, war nach Parkers Plänen gründlich umgestaltet worden. Von dem einstigen Taxi war nur noch die äußere Form übriggeblieben, alles anderes hatte der Butler austauschen lassen. Der Motor hätte durchaus in einen Rennsportwagen gepaßt, die Federung und Radaufhängung war exquisit und entsprach dem eines modernen Land-Rovers. Die Wagenscheiben bestanden aus schußsicherem Glas und hatten dem Butler in der Vergangenheit schon oft das Leben gerettet. Darüber hinaus aber war dieses eckige und hochbeinige Gefährt eine wahre Trickkiste auf Rädern. Auch davon wußten ehemalige Gegner ganze Arien zu singen.
Der Wagen, der sich an seine Fersen geheftet hatte, war ein Morris, klein, wendig und schnell. Er beförderte zwei Insassen, Männer, deren Gesichter Parker nicht erkennen konnte. Warum sie ihn verfolgten, lag für Josuah Parker auf der Hand. Die beiden Herren wollten sich früher oder später mit ihm intensiv unterhalten.
In Anbetracht dieser Umstände steuerte der Butler sein Ziel nicht direkt an. Er ließ das kleine Päckchen, das er bei der Botschaft abliefern wollte, erst einmal unter dem Sitz verschwinden. Dann kurvte er aus dem Zentrum, steuerte nach Norden und lockte seine Verfolger in eine Gegend, die ihm für sein Vorhaben passend erschien. Auch Parker war inzwischen an einem längeren Gespräch interessiert. Er wollte zumindest herausfinden, wer diese beiden Männer waren.
Parker hatte sich für den Regent’s Park entschieden. Es gab dort ein Freilichttheater, das um diese Zeit zwar seine Pforten geschlossen hatte, für den Kundigen aber noch Eintrittsmöglichkeiten bot. Der Butler ließ seinen Wagen auf einem der Parkplätze für das künstlerische Personal stehen und stieg aus. Unauffällig hielt er Ausschau nach dem Morris. Der kleine Wagen stand auf der Zufahrtsstraße und hielt ebenfalls an. Die beiden Männer blieben vorerst noch im Wagen und sondierten erst einmal die Lage.
Parker legte sich seinen Universal-Regenschirm über den linken Unterarm, vergewisserte sich, daß seine schwarze Melone korrekt auf dem Kopf saß und begab sich dann ohne jede Hast hinüber zum Kofferraum seines Wagens. Er öffnete ihn bedächtig und schien wirklich keine Ahnung davon zu haben, daß er intensiv beobachtet wurde. Parker griff nach einem kleinen, schwarzen Kasten, der nicht größer war als eine Zigarrenkiste. Er klemmte ihn sich unter den rechten Arm und ging dann auf den Bühneneingang zu.
Rechts davor gab es eine Taxushecke, die einen Weg verdeckte. Über diesen Weg gelangte man zu den Magazinräumen, die unter der Erde lagen. Von dieser Hecke aus beobachtete der Butler die beiden Männer. Sie hatten sich in Bewegung gesetzt und waren im Laufschritt hinter ihm her.
*
»Ich möchte bloß mal wissen, was der alte Knacker da unten auf der Freilichtbühne will«, sagte der erste Verfolger. Er hatte zusammen mit seinem Partner die Taxushecke erreicht.
»Das holen wir gleich aus der Type raus«, meinte der zweite Verfolger. »Los, den haben wir gleich. Da hinten geht er ja.«
Die beiden Verfolger setzten sich wieder in Bewegung. Es waren handfest aussehende Männer, jeder von ihnen knapp vierzig Jahre alt. Sie machten einen durchaus professionellen Eindruck und schienen über die nötige Härte des Berufes zu verfügen. Ihr Opfer hatte sie inzwischen entdeckt und rannte jetzt los. Es hielt auf einen Seitengang zu und verlor dabei den schwarzen Kasten. Im Licht der Lampen, die hier die ganze Nacht über brannten, war das genau zu sehen.
Die beiden Jäger waren mit schnellen Sätzen herangekommen und bremsten ihren Schwung ab. Das schwarze Kästchen übte einen geradezu magischen Zwang auf sie aus. Einer von ihnen bückte sich danach und wog es nachdenklich prüfend in der Hand.
»Das kann ’ne Falle sein«, warnte der zweite Mann.
»’ne Falle? Von der komischen Type? Das soll doch wohl ’n Witz sein, oder?« Während er noch redete, fingerte er am Verschluß herum und beugte sich leichtsinnigerweise etwas vor.
»Nun mach schon!« verlangte der andere Jäger ungeduldig. »Die Type darf uns nicht durch die Lappen gehen.«
Der Neugierige hatte sich mit der Mechanik des Verschlusses vertraut gemacht. Gewarnt von seinem Partner, löste er den kleinen Metallriegel nur sehr vorsichtig und hielt mit den linken Fingern den Deckel sicherheitshalber zu. Er wollte keine Überraschung erleben.
Der Mann konnte natürlich nicht wissen, daß Josuah Parker dieses Kästchen absichtlich zurückgelassen hatte. Er konnte noch weniger wissen, daß es in Parkers Bastelstube präpariert worden war. Es enthielt zwei äußerst starke, jetzt unter Druck stehende Spiralfedern, die den Widerstand der sichernden Finger ganz leicht überwanden. Der Deckel schnellte mit solch einer Wucht nach oben, daß die Hand des Mannes förmlich zur Seite geschleudert wurde.