Читать книгу Butler Parker 112 – Kriminalroman - Gunter Donges - Страница 3

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In dieser Nacht wollten sie den endgültigen Beweis herbeischaffen.

Tom Haley und Peter Ward hockten seit Stunden in den Steilklippen der Küste und sahen immer wieder hinunter in die Brandung. Dort beobachteten sie vor ein paar Tagen die beiden Seejungfrauen. Sie hatten sich ganz bestimmt nicht getäuscht, aber leider etwas vorschnell in der Dorfkneipe davon erzählt. Sie waren von ihren Freunden und Bekannten nach allen Regeln der Kunst durch den sprichwörtlichen Kakao gezogen worden. Doch jetzt wollten sie es wissen.

Sie hatten sich mit einem großen, grobmaschigen Fischernetz bewaffnet, mit dem sie wenigstens eine der Seejungfrauen an Land ziehen konnten. Sie freuten sich schon jetzt auf die Sensation, die ihr Fang hervorrief. Es war für sie klar, daß die geheimnisvollen Wesen auch in dieser Nacht wieder aus der See auftauchten.

»Ob das noch was wird?« fragte Tom Haley skeptisch, als sich auch nach Stunden immer noch nichts tat.

»Die kommen«, behauptete Peter Ward hartnäckig, »die Brandung hat sich beruhigt. Sie werden bestimmt auftauchen.«

Tom Haley wollte antworten, doch genau in diesem Augenblick machte er eine Entdeckung, die ihn förmlich elektrisierte. Im Wasser trieb ein Gegenstand, den man auf den ersten Blick für ein Stück Treibholz halten konnte. Doch es war kein Treibholz, es handelte sich um einen Menschen, dessen Arme jetzt deutlich auszumachen waren. Die Gestalt wurde um einen mächtigen Felsklotz gespült, der wie ein Turm in der Brandung stand. Sie arbeitete sich dann mit kraftvollen Kraulschlägen an den schmalen Sandstreifen heran, der unten zwischen den Steilklippen zu sehen war.

»Da ist eine«, stieß Tom Haley hervor. »Mann, Peter, da ist eine!«

»Schon gesehen«, erwiderte Peter Ward, »komm’, wir steigen weiter runter!«

Sie kannten sich in den Klippen aus und fürchteten nicht die Dunkelheit. Zudem gab der Mond ausreichend Licht. Auf dem Wasser lag ein silbriger Schein, der bis hinauf in die Klippen wirkte. Schnell und geschmeidig stiegen die beiden jungen Männer weiter nach unten. Das Jagdfieber hatte sie erfaßt.

Das seltsame Wesen brauchte einige Minuten, bis es die Brandung endgültig überwunden hatte. Zu dieser Zeit standen Tom Haley und Peter Ward bereits neben dem »Nußknacker«, einem bizarr geformten Felsen, der von der See tief ausgewaschen worden war. Die Höhlungen in diesem Felsen hatten eine Art Gesicht geformt, das an das eines riesigen Nußknackers erinnerte.

Das Wesen aus der See hatte das relativ stille Wasser hinter dem Nußknacker erreicht. Es saß auf einem tischartigen Felsen und war im Mondlicht deutlich zu erkennen.

Nein, sie hatten sich wirklich nicht getäuscht!

Das dort war eine Seejungfrau. Ihr Oberkörper war nackt und zeigte feste Brüste. Das triefend nasse Haar fiel über die Schultern und war mit Seetang vermischt. Der Unterleib ging in einen schuppenartigen Fischkörper über, der in einer kräftigen Schwanzflosse endete. Dieses unheimliche Wesen strähnte sich das Haar mit seinen gespreizten Fingern, bewegte den fischartigen Leib und zog ihn noch weiter hoch auf den Felsen.

»Sagenhaft«, flüsterte Tom Haley.

»Ich kann’s kaum glauben«, gab Peter Ward fast andächtig zurück, »’ne echte Seejungfrau. Mann, werden die im Dorf Augen machen!«

»Warten wir noch auf die zweite?«

»Eine reicht vollkommen, Tom. Los, wir müssen sie erwischen, bevor sie wieder abhaut!«

Die beiden jungen Männer hatten sich vorher alles genau überlegt. Einzelheiten brauchten sie nicht mehr zu besprechen. Sie nickten sich zu und rannten aus ihrem Versteck, hielten das flatternde Netz zwischen sich und hetzten ins seichte Wasser. Die Beute war ihnen so gut wie sicher.

Sie hatten wirklich eine echte Chance, die Seejungfrau ins Netz zu ziehen, denn sie drehte ihnen den Rücken zu, sah auf die See hinaus und schien keine Ahnung zu haben, in welcher Gefahr sie schwebte. Von der drohenden Nähe der beiden Männer hatte sie nichts bemerkt.

Sie war jetzt in allen Einzelheiten genau zu erkennen. Es handelte sich tatsächlich um ein Fabelwesen, halb Mensch, halb Fisch. Die seltsame, faszinierende Gestalt, die aus den unergründlichen Tiefen des Meeres stammte, wandte sich plötzlich langsam um, sah die beiden heranjagenden Männer und ... lächelte auf geheimnisvolle Weise. Erschrecken zeigte dieses Fabelwesen überhaupt nicht. Das Lächeln war lockend und vielleicht auch ein wenig melancholisch.

Tom Haley und Peter Ward waren bereits bis zu den Oberschenkeln im Wasser der auslaufenden Brandung. Sie ahnten nicht, daß der Tod bereits nach ihnen griff.

*

Lady Agatha Simpson saß vor ihrer elektrischen Schreibmaschine und sah das weiße, unbeschriebene Blatt beschwörend an. Sie wartete schon seit gut einer halben Stunde darauf, von der Muse geküßt zu werden. Bisher hatte ihr die Muse diese Gunstbezeigung allerdings hartnäckig verweigert.

Die große, etwas zu Fülle neigende Dame arbeitete bereits seit einigen Monaten an dem Bestseller, den sie schreiben wollte. Lady Agatha hatte die feste Absicht, eine gewisse Agatha Christie weit in den Schatten zu stellen. Sie hielt es für selbstverständlich, daß ihr das gelang.

Hinderlich an diesem Vorhaben war vielleicht die Tatsache, daß sie sich nicht auf ein bestimmtes Thema zu konzentrieren vermochte. Zu viele Ideen befanden sich in ihrem Kopf.

Lady Agatha Simpson war schon eine recht bemerkenswerte Dame. Verwandt und verschwägert mit dem Blut- und Geldadel Englands, immens reich und Witwe, konnte sie sich jede gewünschte Extravaganz leisten. Auf dem glatten Parkett der Gesellschaft bewegte sie sich ebenso sicher wie in der Unterwelt. Bissig meinte sie ungeniert, daß es da kaum Unterschiede gab.

Ihre oft ruppige Offenheit paßte ausgezeichnet zu ihrem Aussehen.

Lady Agatha erinnerte an die Walküre einer Wagneroper. Sie war eine stattliche Erscheinung und bewegte sich auf großen Füßen, die meist in bequemen und ausgetretenen Wanderschuhen steckten. Mit Vorliebe trug sie Chanel-Kostüme, die durchweg recht ausgebeult wirkten.

Ihr weißes Haar war meist in neckische Locken gelegt, die keineswegs zu den kühl dreinschauenden Augen paßten. Unter einer Art Adlernase befand sich ein auffallend großer Mund, der gefährlich schmal werden konnte.

Die Dame, die auf die sechzig Jahre zuging, war noch ungewöhnlich rüstig und unternehmungslustig. Und kriegerisch dazu war sie ebenfalls. Man konnte sie leicht reizen und in Schwung bringen. War das mal geschehen, ließ sie sich kaum noch aufhalten oder gar bremsen. Der kleine, perlenbestickte Pompadour an ihrem linken Handgelenk konnte dann zu einer beeindruckenden Waffe werden.

Lady Agatha kämpfte vor der Schreibmaschine mit ihrer Unlust. Sie hatte die Suche nach dem ersten Satz ihres Romans bereits aufgegeben und sehnte sich nach Abwechslung. Ihr stand im Moment wieder mal der Sinn nach einem netten, komplizierten Kriminalfall. Sie war nämlich Detektiv aus Leidenschaft und auf diesem Gebiet recht erfolgreich. Was wohl mit einem Mann zusammenhing, der sich Josuah Parker nannte.

Der Butler erschien wie auf ein Stichwort hin im Arbeitszimmer der Lady, nachdem er vorher diskret angeklopft hatte.

»Du lieber Himmel, Mister Parker, müssen Sie denn immer stören?« fragte Agatha Simpson gereizt. »Gerade wollte ich den ersten Satz schreiben.«

»Mylady mögen die kleine Störung gütigst entschuldigen«, schickte Parker gemessen voraus, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Sir Edwards vom Geheimdienst Ihrer Majestät bittet um eine Unterredung.«

»Aber doch nicht jetzt«, erregte sich Parkers Herrin. »Ich stecke mitten in meinem ersten Kapitel.«

»Es scheint sich offensichtlich um einen Fall zu handeln, der Myladys Hilfe bedarf.«

»Papperlapapp, Mr. Parker, mein Roman ist wichtiger.«

»Sehr wohl, Mylady. Sir Edwards sollte sich demnach allein mit den Seejungfrauen befassen.«

»Natürlich«, grollte Agatha Simpson, »machen Sie ihm klar, daß ich keine weiteren Fälle mehr übernehme. Mein Roman ist wichtiger als der interessanteste Kriminalfall.«

»Wie Mylady befehlen.« Parker deutete eine seiner knappen Verbeugungen an und wollte das Zimmer verlassen. In diesem Augenblick erst zündete es in der kriegerischen Dame.

»Seejungfrauen?« fragte sie und stieg aus ihrem Arbeitssessel. In ihren Augen glitzerte es.

»Besagte Fabelwesen, Mylady, scheinen sich an Schottlands Ostküste ein Stelldichein zu geben, wie Sir Edward meint.«

»Und das sagen Sie mir erst jetzt?« Agatha Simpson sah ihren Butler strafend an. »Seejungfrauen ändern natürlich die allgemeine Sachlage.«

»Dennoch scheint es sich nur um einen Kriminalfall zu handeln, Mylady.«

»Ausnahmen bestätigen die Regel«, schickte die ältere Dame voraus, »ich trenne mich zwar nur sehr ungern von meinem Roman. Aber wenn Elizabeth meine Hilfe braucht, kann ich sie schlecht verweigern.«

»Ihre Majestät werden das zu schätzen wissen«, antwortete der Butler. Er hatte den Vornamen sofort richtig interpretiert. Lady Simpson war selbstverständlich auch mit dem britischen Königshaus verschwägert.

»Ich weiß doch, wie schlecht ihr Geheimdienst ist«, fügte die Detektivin grimmig hinzu. Die Dame machte plötzlich einen sehr animierten Eindruck. Sie hatte sich innerlich bereits fest entschlossen, den geplanten Bestseller noch etwas hinauszuschieben. Man merkte es daran, daß sie die Abdeckhaube über die Maschine spannte, nachdrücklich und erleichtert.

Damit war für Parker bereits alles gelaufen. Die Seejungfrauen in Schottland konnten sich auf etwas gefaßt machen. Lady Simpson nahte!

*

»Ich hab’ doch Augen im Kopf«, sagte Buddy Frazer gereizt. »Ich hab’ sie ganz deutlich gesehen. Die paddelten in der Brandung wie Robben.«

»Wieviel hattest du denn vorher inhaliert?« erkundigte sich der Wirt der Hafenkneipe. Herb Malone war ein untersetzter, stämmiger Mann von etwa fünfundvierzig Jahren. Spottlust war in seinen Augen. Er zwinkerte jetzt den übrigen Männern zu, die am Tresen standen und ihr Bier tranken. Es ging auf die nächtliche Sperrstunde zu, und die Männer am Tresen beeilten sich, in möglichst kurzer Zeit noch möglichst viel Alkohol zu vertilgen. Malone schloß seit einiger Zeit überpünktlich. In jüngster Vergangenheit hatte er bereits einige Male Ärger mit der Polizei gehabt. Er wollte seine Lizenz nicht aufs Spiel setzen.

Sein Umsatz im Pub steigerte sich von Woche zu Woche. Trinkfeste Männer waren hierher nach Panrose gekommen, die ihr Geld springen ließen. Seitdem in der Nordsee Öl und Erdgas gefunden wurden, erlebte die nordöstliche Region Schottlands einen geradezu erregenden Aufschwung. Draußen auf dem Meer standen die Bohrinseln, die mit Material versorgt werden mußten. Pipelines wurden unter Wasser verlegt, Öltanks und Raffinerien schossen aus dem Boden.

Das kleine Fischernest Panrose war bis vor wenigen Monaten noch völlig unbekannt gewesen. Wenn man von Aberdeen hinauf nach Fraserburgh fuhr, hatte man hier kaum angehalten. Jetzt aber war das anders. Hinter der Steilküste wurde eine Raffinerie gebaut. Es herrschte eine wahre Goldgräberatmosphäre. Barackenstädte waren aus dem Boden gestampft worden, die die Raffineriearbeiter aufnahmen. Viel Abwechslung gab es in dieser kargen Gegend nicht, und man war froh, sich in einem Pub treffen zu können.

Buddy Frazer merkte natürlich, daß man ihm nicht glaubte und ihn sogar auf den Arm nehmen wollte. Der kleine zähe Mann mit dem vom Wetter gegerbten Gesicht winkte ab. Es war zu erkennen, daß er über dieses Thema nicht weiter sprechen wollte. Frazer war Fischer geblieben und tuckerte mit seinem kleinen Kutter Tag für Tag hinaus auf die See. Er hatte keine Lust, seine Freiheit aufzugeben, auch wenn er weniger verdiente.

»Du hast also auch Seejungfrauen gesehen«, wiederholte Malone und sah Buddy gespielt ernst an.

»Nee, war ein Irrtum«, antwortete Buddy Frazer.

»Nun hab’ dich nicht, so«, meinte Herb Malone, »aber du mußt doch zugeben, daß das ziemlich unwahrscheinlich klingt. So was gibt’s doch nur in Märchen.«

»Ich sag’ doch schon, daß ich mich getäuscht habe.« Frazer war nicht bereit, sich über dieses Thema noch mal zu verbreiten. Er trank sein Bier aus und verließ die Kneipe. Er war verärgert. Warum hatte Malone ihn durch den Kakao ziehen wollen? Herb wußte doch verdammt genau, was mit Tom Haley und Peter Ward passiert war. Die beiden armen Teufel hatte man doch erst vor knapp einer Woche aus der Brandung gefischt. Gut hatten sie wirklich nicht mehr ausgesehen.

Und warum waren sie raus zum Nußknacker gegangen?

Die Seejungfrauen hatten sie sich ansehen wollen, davon sprachen hier alle Fischer. Es gab sie, daran war überhaupt nicht zu zweifeln. Und Buddy Frazer hatte sie schließlich auch gesehen. Das war in der vergangenen Nacht gewesen, als er mit seinem Kutter zurück nach Panrose geschippert war. In der Brandung waren zwei Seejungfrauen gewesen, wie sie in alten Märchenbüchern abgebildet sind ...

Buddy Frazer hatte an diesem Abend leider eine Menge getrunken. Die Sticheleien ärgerten ihn maßlos. Er ließ sich nicht gern für einen abergläubischen Trottel halten. Er nahm sich vor, sofort zum Nußknacker zu fahren. Vielleicht hatte er Glück und konnte die beiden Seejungfrauen noch mal sehen. Und vielleicht klappte es auch, eine davon zu erwischen.

Würden die Burschen in Malones Kneipe Augen machen, wenn er mit einer Seejungfrau anrauschte!

Buddy Frazer machte sich sofort auf den Weg – und ging seinem Tod entgegen ...

*

»Mylady hätten sich vielleicht nicht bemühen sollen«, stellte Josuah Parker fest.

»Hören Sie endlich auf, mich wie eine alte Frau zu behandeln«, raunzte Agatha Simpson ungnädig. »Sorgen Sie lieber für eine kleine Erfrischung!«

»Bevorzugen Mylady Tee oder Cognac?«

»Fangen Sie mit dem Cognac mal an«, erwiderte die Sechzigjährige. »Ich glaube, mein Kreislauf braucht eine kleine Beschleunigung.«

Parker war ein perfekter Butler.

Er lagerte mit Lady Simpson in den steilen Felsklippen der Küste und hatte das Versteck mit viel Sinn für Komfort hergerichtet. Über ihren Köpfen befand sich eine dunkle Plastikhaut, die den aufkommenden Sprühregen abhielt. Mylady saß auf einem zusammenfaltbaren Polster und ließ sich von Parker verwöhnen. Er hatte den schwarzen Picknickkoffer geöffnet und servierte seiner Herrin zuerst einen Cognac. Anschließend klappte er die Beine des Koffers heraus und verwandelte ihn in einen kleinen praktischen Tisch.

»Ein wenig Schildkrötensuppe?« fragte er weiter. »Darüber hinaus könnte ich noch mit kaltem Huhn und einigen Sandwiches dienen, Mylady.«

»Wollen Sie mich mästen?« grollte sie.

»Nur, wenn Mylady darauf bestehen«, gab Parker gemessen zurück. »In Anbetracht der Nachtkühle sollten Mylady aber an eine intensivere Verbrennung denken.«

»Ruhe! Was war das gerade?« Lady Simpson hob ruckartig den Kopf und schob dann vorsichtig die dunkle Plane zur Seite. Sie beugte sich vor und sah auf die Brandung hinunter. Die Flut lief gerade auf und schäumte gegen die Klippen.

Parker war das seltsame Geräusch ebenfalls nicht entgangen. Um sofort einsatzbereit zu sein, packte er den Picknickkoffer wieder zusammen. Die Cognacflasche allerdings ließ er draußen. Er kannte den Kreislauf seiner Herrin nur zu gut. Er brauchte in nächster Zeit mit Sicherheit noch einige freundliche Ermunterungen.

»Da war doch was«, stellte Lady Simpson gereizt fest.

»Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, Mylady.«

»Hörte sich dumpf an, wie?«

»In der Tat, Mylady!« Parker sah längst hinunter in die Brandung und versuchte etwas zu erkennen. Die Sicht war leider sehr schlecht. Der Sprühregen war kompakter geworden.

Er und Lady Simpson saßen nun schon seit zwei Stunden in den Steilklippen und hielten Ausschau nach Seejungfrauen. Sie waren gegen Mittag in Peterhead angekommen, jenem alten Fischereihafen, der von Touristen gern besucht wurde. Von dort aus waren sie nach Anbruch der Dunkelheit losgefahren. Parkers Wagen stand ein paar hundert Meter entfernt von diesem Versteck in einer schmalen Bodenfalte und konnte von der Küstenstraße aus nicht gesehen werden.

Agatha Simpson und Josuah Parker wußten von Sir Edward, daß vor knapp einer Woche zwei Fischer umgekommen waren. Es handelte sich um zwei Männer, die laut Aussage ihrer Freunde Jagd auf Seejungfrauen machen wollten. Mit gebrochenem Genick waren sie später in der Brandung entdeckt worden.

Jagd auf diese Seejungfrauen machten nun auch Lady Simpson und ihr Butler. Sie befanden sich an der Stelle, wo die beiden jungen Männer sich versteckt haben mußten. Die Polizei hatte hier zwischen den Klippen eine leere Whisky-Taschenflasche und einige Zigarettenkippen gefunden. Die kriminaltechnischen Untersuchungen ergaben eindeutig, daß die beiden jungen Männer aus der Flasche getrunken und die Zigaretten geraucht hatten.

Parker beobachtete inzwischen die Brandung durch ein lichtstarkes Marineglas. Von Seejungfrauen war leider nichts zu sehen. Dafür erschien in der Optik eine Gestalt, die über den schmalen Pfad zur Brandungszone hinunterrutschte.

Parker tauschte das Marineglas gegen ein Nachtsichtgerät aus, das auf der Basis der Restlichtmenge arbeitete. Selbst die schwächsten Lichtspuren wurden durch die Elektronik dieses Geräts vertausendfacht.

Die Gestalt entpuppte sich als ein schmaler, nicht gerade großer Mann, der offensichtlich nicht fest auf den Beinen stand. Vielleicht hatte er auch nur zuviel Schwung. Er rutschte schon nicht mehr über den steilen Pfad nach unten, er rannte eigentlich und lief Gefahr, jeden Moment nach unten in die Brandung zu stürzen.

Josuah Parker hegte einen schlimmen Verdacht. Wurde der Mann etwa verfolgt und gehetzt?

Er richtete sein Nachtsichtgerät weiter nach oben und fand seine Vermutung bestätigt. Zwei schmale, geschmeidige Gestalten, die in schwarze Trikots gehüllt zu sein schienen, waren hinter dem Mann her.

Sie hielten, was Parker mißbilligend feststellte, Preßluftharpunen in den Händen. Noch weniger erfreulich war die Tatsache, daß die Personen schwarze Gesichtsmasken trugen, die nur ihre Augen frei ließen.

Parker schloß messerscharf, daß die beiden Gestalten keineswegs auf dem Pfad der Tugend wandelten. Sie schienen die Absicht zu haben, den Flüchtenden ins Jenseits zu befördern.

*

»Ein Zimmer wollen Sie haben?« fragte Norman Carty und sah die junge Frau aus schlauen Augen abschätzend an. »Das sieht schlecht aus. Das Nest hier ist bis unters Dach voll belegt.«

»Ich nehme sogar eine Badewanne«, entgegnete die junge Frau. »Hauptsache, ich kann mich irgendwo hinlegen. Ich bin restlos fertig.«

Sie gefiel ihm auf den ersten Blick, war etwas über mittelgroß, hatte unwahrscheinlich lange Beine von tadellosem Wuchs und zeigte auch sonst jene Formen in Perfektion, die ein Mann schätzte. Sie hatte tizianrotes Haar und Augen, deren Farbe nicht so recht festzustellen war. Sie konnten grün, aber auch grau sein. Die hoch angesetzten Backenknochen gaben diesem Gesicht einen exotischen Reiz.

Sie trug eng anliegende Jeans, einen Pulli und darüber eine Jacke aus Schaffell. Die große Reisetasche aus Jeansstoff war auf dem Boden abgesetzt.

Norman Carty, der Besitzer des kleinen Hotels, war ein guter Menschenkenner. Er versuchte herauszufinden, wer die junge Frau wohl sein mochte. Ihr Auftreten war eine Mischung aus Selbstbewußtsein und Temperament, auch wenn die junge Frau einen etwas müden Eindruck machte. Seiner Schätzung nach war sie vielleicht gerade fünfundzwanzig.

»Haben Sie ’ne Panne gehabt?« fragte Carty.

»Der Wagen steht ein bis zwei Meilen von hier auf der Straße«, antwortete sie. »Irgendwas mit dem Motor klappt nicht. Von solchen Dingen haben ich keine Ahnung.«

»Vielleicht kann ich Ihnen für eine Nacht helfen«, sagte Carty. »Um diese Zeit werden Sie hier in Panrose doch nichts finden. Toll ist das Zimmer aber nicht.«

»Ich kann mich anpassen«, sagte die junge Frau, »ich heiße übrigens Jane Wells und komme aus London.«

Sie nahm ihre Tasche hoch und folgte ihm ins Haus. Norman Carty ließ sie absichtlich vorgehen und kam voll auf seine Kosten. Sein Gast bewegte sich mit der lässigen Geschmeidigkeit eines Tieres und hätte allein schon mit diesem Gang ein Topmannequin ausgestochen.

Es ging auf Mitternacht zu, die Halle des kleinen Hotels war leer. Durch eine nur angelehnte Tür konnte man hinüber in die Bar sehen, die noch beleuchtet war. Einige Männer schienen sich dort aufzuhalten. Man hörte Stimmen, Gelächter und das Klirren von Gläsern.

»Sie haben beruflich hier zu tun?« erkundigte sich Carty und zog das Gästebuch heran.

»Ich bin ... Journalistin«, lautete die Antwort der jungen Frau. Carty war das kurze Zögern nicht entgangen. Er tat aber so, als habe er nichts gemerkt.

»Vielleicht tragen Sie sich schon mal ein«, schlug er vor, »Privatanschrift und Zeitung.«

»So streng sind hier die Bräuche?«

»Sind Sie beruflich hier?« fragte er ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.

»Okay«, erwiderte sie, »hier in der Gegend soll sich ja eine Menge ereignet haben.«

»Sind Sie hinter einer bestimmten Story her?«

»Mal sehen«, wich sie aus, »vielleicht ist das hier auch nur ein Schlag ins Wasser.«

Sie hatte sich ins Gästebuch eingetragen und sah Carty fragend an. Er hielt bereits den Zimmerschlüssel in der Hand und ging dann voraus. Es war ein recht verwinkelter Weg, den sie durch das niedrige, aber dennoch zweistöckige Haus nahmen. Es ging durch Korridore, über Treppen und eine Galerie.

»Hoffentlich können Sie mir einen Kompaß überlassen«, fragte die junge Frau, als sie das Zimmer erreicht hatten, »allein finde ich kaum zurück ins Hotel.«

»Ich werd’ Ihnen einen Pfadfinder schicken«, gab Norman Carty lächelnd zurück. »Sie wohnen hier direkt über den früheren Ställen.«

»Selbst Mäuse werden mich nicht erschrecken«, erwiderte sie gähnend. »Vielen Dank, hier sieht’s ja beinahe fürstlich aus.«

Er wußte nicht, wie er sie einordnen sollte und nahm sich vor, den Dingen auf den Grund zu gehen. Vielleicht war sie genau das, was er gerade brauchte...

*

Butler Parker stand grundsätzlich immer auf der Seite der Verfolgten.

Auch in diesem Fall hatte er das sichere Gefühl, etwas für den flüchtenden und stolpernden Mann tun zu müssen. Seine Chancen waren nämlich nicht sehr groß. Gegen die beiden Preßluftharpunen vermochte der Flüchtende nichts auszurichten.

»Vielleicht erfahre ich endlich, was eigentlich los ist«, machte Agatha Simpson sich bemerkbar. Ihre an sich schon baritonal gefärbte Stimme grollte erheblich.

»Falls Mylady gestatten, werde ich zu diesem Punkt später ausführlich Stellung nehmen«, antwortete der Butler und griff nach der Leuchtpistole, die er in die Steilküste mitgenommen hatte. Sie war an sich für das mögliche Auftauchen der Seejungfrauen gedacht, mußte nun aber umgehend zweckentfremdet werden.

Josuah Parker entsicherte diese ungewöhnliche Waffe und warf sicherheitshalber noch mal einen Blick durch das Nachtsichtgerät. Die beiden maskierten Verfolger hatten bereits gefährlich aufgeholt, es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie ihre Harpunen auf den Flüchtenden abschießen würden. Es wurde höchste Zeit, die beiden Maskierten ein wenig zu verunsichern.

Josuah Parker besorgte das sehr gründlich. Mit halben Dingen gab er sich grundsätzlich nicht ab.

Der Schuß dröhnte aus der großläufigen Waffe. Das Geschoß landete klatschend an der Felswand und platzte hier prompt auseinander. Das Leuchtmaterial spritzte herum und entwickelte eine gleißende Helligkeit, die unbedingt blenden mußte.

Der Flüchtende wurde davon kaum betroffen, da das Geschoß hinter ihm am Felsen gelandet war. Der Mann stutzte nur kurz und stolperte dann weiter nach unten. Die beiden Verfolger aber hatten echte Orientierungsschwierigkeiten, da der Leuchtsatz vor ihren Augen gezündet hatte. Sie rissen ihre Arme hoch, um sich gegen die grelle Lichtflut zu schützen, blieben stehen und tappten mit den Armen vor dem Gesicht anschließend durch die Gegend. Sie suchten Kontakt mit den Felsen, um nicht nach unten abzurutschen.

Für Parkers Spezialwaffen war die Distanz zu den beiden Verfolgern leider zu groß.

Weder mit seiner Gabelschleuder noch mit seinem Universal-Regenschirm ließ sich hier etwas ausrichten. Gewiß, der Butler hätte eine reguläre Schußwaffe benutzen können, doch darauf verzichtete er selbstverständlich. Verfolger waren schließlich auch Menschen, die man nicht ohne weiteres durch gezielte Schüsse außer Gefecht setzen konnte.

Die beiden Verfolger hatten zudem bereits die Nase voll, da ihre schwarzen Trikots rauchten. Das herumspritzende Leuchtmaterial hatte den Stoff entzündet. Die Maskierten schlugen und klopften an sich herum und löschten die vielen kleinen Brandstellen, um dann schleunigst den Rückzug anzutreten.

»Sehr effektvoll«, stellte Lady Simpson grimmig fest. »Die Seejungfrauen werden es jetzt kaum noch erwarten können, an Land zu kommen.«

»Es handelte sich um einen Notstand, Mylady«, entschuldigte Parker seine Eigenmächtigkeit. »Mir schien, daß schnelle Hilfe geboten war.«

»Und mir scheint, daß Sie mich unnötig hierher in die Klippen verschleppt haben«, grollte die Detektivin. »Von welchem Notstand reden Sie eigentlich? Warum haben Sie dieses Feuerwerk veranstaltet?«

»Wenn Mylady erlauben, werde ich auch zu diesem Ereignis erst später Stellung nehmen«, gab Parker zurück, »im Augenblick scheint meine Hilfe dringend benötigt zu werden.«

Obwohl der Butler es eilig hätte, verzichtete er keineswegs auf korrektes Benehmen. Er lüftete seine schwarze Melone, bevor er das Versteck verließ und nach unten stieg. Gerade in dieser Situation zeigte sich, wie fit Parker auch körperlich war. Die steilen Klippen konnten ihn nicht abschrecken. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er den schmalen Strandstreifen erreicht hatte.

Die Gischt wurde vom Wind herübergetrieben. Die Brandung war etwas schwächer geworden, die Flut schien abzulaufen.

Parker brauchte nach dem schmalen Mann nicht lange zu suchen.

Er fand ihn neben einem großen Felsklotz. Der Mann lag auf dem Bauch, sein Kopf war seltsam verrenkt. Nach einer schnellen Untersuchung fand Parker seinen Verdacht bestätigt. Der Mann war tot, er hatte sich offensichtlich das Genick gebrochen.

Ging das auf das Konto seiner Flucht? War er doch noch von dem schmalen Pfad nach unten abgestürzt? Oder hatten die Seejungfrauen vielleicht ihre Hände im Spiel?

Der Butler richtete sich auf und schaute aufs Meer hinaus.

Er glaubte zwei im Wasser treibende Punkte zu sehen, die auf See abtrieben. Handelte es sich um die Köpfe dieser Fabelwesen oder war es Treibholz?

*

Agatha Simpson und ihr Butler hatten es eilig.

Sie liefen im Geschwindschritt auf Parkers hochbeiniges Monstrum zu. Dieser Wagen, der immer noch wie ein Londoner Taxi aussah, war im Grund eine vollgefüllte Trickkiste auf Rädern. In liebevoller Kleinarbeit war dieser Wagen nach den Plänen des Butlers umgestaltet worden. Er hätte damit auf jeder Erfindermesse Aufsehen erregt.

Man sah es Lady Simpson und dem Butler an, daß sie geschockt waren. Sie schauten sich immer wieder nach den nahen Klippen um und schienen eine Verfolgung zu befürchten. Sie verschwanden sehr schnell in dem hochbeinigen, altväterlich aussehenden Wagen, der Sekunden später Fahrt aufnahm und zur nahen Küstenstraße gesteuert wurde.

»Die sind wir los«, sagte einer der beiden Männer, die den Wagen beobachteten. Sie lagen im Heidekraut oberhalb der Klippen und verfolgten das Verschwinden des hochbeinigen Wagens.

»Wir hätten sie nicht verschwinden lassen sollen«, meinte der zweite Mann skeptisch.

»Die sehen wir nie wieder.«

»Sie hatten immerhin ’ne Leuchtpistole bei sich«, antwortete der Skeptiker, »und wußten verdammt gut damit umzugehen.«

»Zufall«, sagte der erste Mann optimistisch, »aber wir haben ja immer noch das Kennzeichen des Wagens.«

»Wir müssen wissen, wer die beiden Typen gewesen sind«, sinnierte der Skeptiker. »Das erledigen wir gleich morgen. Komm jetzt, wir müssen die Leiche verschwinden lassen!«

»Ist das wirklich nötig?«

»Sie muß raus in die See«, erklärte der Skeptiker energisch. »Die braucht erst nach Tagen gefunden zu werden. Das erhöht die Spannung.«

Die beiden immer noch maskierten Männer erhoben sich aus dem Heidekraut und gingen zu den nahen Klippen hinüber. Sie fühlten sich völlig sicher in der dunklen Nacht, rechneten auf keinen Fall mit weiteren Überraschungen.

Sie benutzten den schmalen und steilen Pfad, über den sie ihr Opfer gehetzt hatten. Sie hielten wieder die Preßluftharpunen in Händen und stiegen nach unten.

Etwa ein Drittel des Pfads war zurückgelegt, als der Optimist, der dem Skeptiker folgte, plötzlich wie unter einem Peitschenhieb zusammenzuckte.

Er blieb sofort stehen und faßte nach seinem Hinterkopf. Es gab da nämlich plötzlich eine Stelle, die ungemein brannte. Er konnte sich nicht erklären, woher der Schmerz kam, drehte sich um und versuchte oben am Rand der Steilfelsen etwas zu erkennen.

In diesem Augenblick jaulte der Skeptiker auf und faßte ebenfalls nach seinem Hinterkopf.

»Was ist denn?« fragte der Optimist nervös.

»Da hat mich gerade was getroffen.«

»Mich auch«, antwortete der Optimist, »irgendwas Hartes.«

»Komisch.« Der Skeptiker schüttelte den Kopf und konnte sich nicht erklären, was den stechenden Schmerz auslöste.

»Ich hab’ aber nichts gehört«, sagte der Optimist, »komm, laß uns weitergehen! Die Sache gefällt mir nicht.«

Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als er erneut zusammenzuckte.

Diesmal faßte der Maskierte nach seiner rechten Gesäßhälfte, stöhnte leicht auf und blieb dann wie erstarrt stehen.

»Nein«, sagte er fast andächtig, »nein, das kann doch nicht wahr sein!«

»Was denn?«

»Mann, da hat mir einer ’nen Pfeil in den Hintern gejagt.«

»Spinnst du?« Der Skeptiker war ärgerlich. Seine Stimme klang gereizt.

»Sieh dir das an!« Der Optimist war längst kein Optimist mehr. Er hatte den schmerzenden Gegenstand aus dem verlängerten Rücken gezogen und präsentierte ihn seinem Begleiter.

»Wie ’n Blasrohrpfeil«, sagte der Skeptiker, der seine Taschenlampe eingeschaltet hatte.

»Blasrohrpfeil?« Der Optimist keuchte vor Überraschung. »Gibt’s hier denn Indianer?«

»Sieht so aus, Auuuu!«

Jetzt hatte es den Skeptiker ebenfalls erwischt.

Er griff blitzschnell an seinen Oberschenkel und hielt Bruchteile von Sekunden später ebenfalls einen Blasrohrpfeil in der Hand.

Beide Pfeile waren etwa so lang wie Stopfnadeln und wiesen bunte Miniaturfedern auf, die den Flug wohl stabilisieren sollten.

»Mir ist schlecht«, verkündete der Optimist und lehnte sich gegen einen glatten Felsen. Er übertrieb keineswegs. In seinen Beinen fühlte er eine seltsame Mattigkeit, in seinem Magen die ersten Anzeichen einer kommenden Revolution.

»Mir ist speiübel«, meldete der Skeptiker und kämpfte verzweifelt gegen aufsteigenden Brechreiz.

Die beiden Maskierten setzten ihren Weg nach unten zum Strandstreifen nicht fort, hockten erst mal nieder und schnappten verzweifelt nach Luft.

»Wer hat uns die Dinger verpaßt?« wollte zwischendurch der Optimist wissen.

»Keine Ahnung«, würgte der Skeptiker hervor und wischte die Maske vom Gesicht. Er war schweißnaß darunter.

»Wir müssen weg, bevor noch mehr passiert.«

»Und der Bursche da unten?«

»Den holt sich die Brandung. Ich hau’ ab.«

Die beiden Männer waren wirklich nicht mehr auf der Höhe. Ein schleichendes Gift breitete sich immer weiter in ihren Körpern aus. Sie krochen schließlich auf allen vieren zurück nach oben und legten am Rand der Klippen erst mal eine kleine Ruhepause ein. Das Gift ihn ihrem Blut tat voll seine Wirkung und schüttelte sie durcheinander. Sie übergaben sich, fühlten sich hundeelend und schleppten sich nach einer Viertelstunde weiter zu ihrem Jeep, den sie in einer Bodenwelle versteckt hatten.

In wilden Schlangenlinien kurvte dieser Jeep dann zurück zur Küstenstraße und verschwand in der Dunkelheit. Dort aber, wo er eben noch gewesen war, erhob sich jetzt ein gewisser Butler Parker, der mit dem Erfolg seiner Bemühungen durchaus zufrieden war.

Natürlich war er nicht zusammen mit Lady Simpson weggefahren. Die ältere Dame hatte den Wagen übernommen und war davongerumpelt. Josuah Parker war am Tatort zurückgeblieben, denn er hatte damit gerechnet, daß die beiden Maskierten sich um den Toten kümmerten.

Parkers Spezialwaffen hatten sich wieder mal voll bewährt.

Mit der Zwille oder Gabelschleuder hatte er seine berüchtigten Tonmurmeln verschossen. Und mit seinem Universal-Regenschirm waren die »Giftpfeile« durch die Dunkelheit gelenkt worden, angetrieben von komprimiertem Kohlensäuregas. Lautlosere Waffen konnte man sich nicht vorstellen.

Das Gift, mit dem die Spitzen der beiden Pfeile bestrichen waren, hinterließ natürlich keine gesundheitlichen Schäden. Es rief nur eine nachhaltige Übelkeit hervor. Parker hatte sich da von einem anerkannten Fachmann und Chemiker beraten lassen.

Er kannte jetzt das Kennzeichen des Jeeps und hatte sich die Gesichter der beiden Männer eingeprägt. Er war sicher, daß die beiden Männer ihm bald über den Weg laufen würden. Ja, er wußte möglicherweise schon, wo er sie fand. Der Jeep war nämlich kein Privatwagen, sondern gehörte zum Wagenpark eines großen Schwerlast-Fuhrunternehmens, wie die Aufschrift am Heck besagte.

Butler Parker schritt gemessen hinüber zur Küstenstraße und wartete geduldig auf die Rückkehr der Lady Simpson. Es war ausgemacht, daß sie ihn hier aufpickte, und falls nichts dazwischen gekommen war, mußte sie bald erscheinen.

Der Butler spielte gerade mit dem Gedanken, sich eine seiner Zigarren anzuzünden, als er plötzlich einen grellen Lichtschein sah, der die nächtliche Dunkelheit aufriß. Während eine Feuersäule zum Himmel stieg, war das dumpfe Grollen einer Detonation zu hören.

Natürlich dachte Parker sofort an Lady Simpson.

Hoffentlich führte sie nicht wieder einen Privatkrieg auf eigene Faust. Sie liebte solche Extravaganzen und ließ sich leicht provozieren. Parker hatte nach Myladys Temperamentsausbrüchen immer alle Hände voll zu tun, um die streitbare Dame wieder zu beruhigen.

Hier schien es sich allerdings nicht nur um einen mittelschweren Temperamentsausbruch zu handeln, denn der Feuerschein am nächtlichen Himmel weitete sich aus und eine zweite Detonation war zu hören.

Parker war in echter Sorge.

Auf was mochte Lady Simpson sich wieder mal eingelassen haben? Er setzte sich umgehend in Bewegung und legte ein forsches Tempo vor, das mit seiner sonstigen Gemessenheit aber auch gar nichts mehr zu tun hatte.

Er sah wenig später Autoscheinwerfer, die sich ihm näherten. Genau in diesem Moment atmete der Butler befreit auf. Aus dem Tempo des Wagens und dem ruckartigen Kurven auf der Straße ließ sich mit letzter Sicherheit schließen, daß Agatha Simpson diesen Wagen steuerte. Ihr Kamikaze-Stil war unverkennbar.

Parker hatte also keine Bedenken, sich dem Scheinwerferlicht zu präsentieren. Mit seinem altväterlich gebundenen Regenschirm winkte er dem Wagen entgegen.

Ja, sie war es!

Das Bremsmanöver war schon fast gewalttätig.

Parkers hochbeiniges Monstrum schleuderte fast quer über die Straße und hielt dann endlich vor dem gegenüberliegenden Graben.

»Hatten Mylady eine gute Fahrt, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, mich danach zu erkundigen?« Parker lüftete zu seinen Worten höflich die schwarze Melone.

»Ihr Wagen ist auch nicht mehr das, was er mal war«, erwiderte die resolute Dame am Steuer ungnädig.

»Kam es zu einem Unfall?« sorgte sich der Butler. Er ging davon aus, daß Lady Simpsons Bemerkung sich auf den momentanen Zustand des Wagens bezog.

»Lahm ist Ihr sogenannter Wunderwagen«, kritisierte die Detektivin. »Im zweiten Gang habe ich ihn nicht über hundertfünfzig bekommen.«

Parker schloß für Sekunden die Augen und dachte an die Ventile. Dann aber hatte er sich schon wieder unter Kontrolle.

»Vielleicht eine augenblickliche Unpäßlichkeit, Mylady«, entschuldigte er sein Auto. »Haben Sie möglicherweise die Feuersäule und die Detonation wahrgenommen?«

»Halten Sie mich für blind oder taub?« grollte sie prompt. »Natürlich hab’ ich das mitbekommen. Der Jeep ist in die Luft geflogen, und wenn mich nicht alles täuscht, auch die beiden Insassen!«

*

Jane Wells war früh auf den Beinen.

Sie saß in dem kleinen Frühstücksraum des Hotels und ließ sich von Norman Carty bedienen. Der rundliche Mann mit den schlauen Augen wußte inzwischen mehr über seinen Gast. Er hatte gewisse Verbindungen in London spielen lassen. Noch ließ Carty sich nichts anmerken. Er wirkte aber wie ein verfetteter Kater, der eine attraktive Maus belauert und mit ihr spielt.

Jane Wells sah in der Tat sehr gut aus an diesem Morgen. Zu den eng anliegenden Jeans trug sie eine frische Bluse. Das tizianrote Haar hatte sie sich mit einer grünen Schleife zusammengebunden. Sie war eine echte Augenweide.

»Wie sieht’s mit der kommenden Nacht aus?« erkundigte sie sich bei Norman Carty. »Kann ich das Zimmer noch mal benutzen?«

»Das stellt sich erst gegen Mittag heraus«, schwindelte der Hotelbesitzer, »aber bis dahin können Sie Ihr Gepäck dort lassen.«

»Was gibt es denn hier so für Abwechslungen?« wollte Jane Wells als nächstes wissen.

»Wonach suchen Sie denn?« Er sah sie schnell und abschätzend an und überlegte, ob er bereits zur Sache kommen durfte.

»Nach einem interessanten Job«, bekannte sie überraschend offen.

»Sie arbeiten doch für eine Zeitung«, meinte Carty.

»Seh’ ich so aus?« Sie sah ihn ein wenig kokett an.

»Keine Ahnung, ob Journalistinnen anders aussehen müssen«, sagte Carty.

»Ich bin keine Journalistin«, wiederholte sie noch mal. »Ich habe Ihnen was vorgeschwindelt.«

»Ich weiß.« Er hatte sich entschlossen, seinerseits eine Karte auf den Tisch zu legen.

»Sie wissen?« Jane Wells wunderte sich.

»Ich hab’ in London ’nen Freund und den hab’ ich angerufen«, erklärte Carty ausweichend.

»Ziehen Sie immer Erkundigungen über Ihre Gäste ein?«

»Nur in ganz besonderen Fällen.«

»Und solch einer bin ich?«

»Sie sehen verdammt gut aus, Miß Wells. Was meinen Sie dazu, wenn wir uns in meinem Büro unterhalten?«

Jane Wells sah den Hotelbesitzer kurz und prüfend an. Dann nickte sie und stand auf. Wenige Minuten später saßen sie sich in Cartys Büro gegenüber. Sie sah ihn abwartend an.

»Was Sie bisher getan haben, interessiert mich kaum«, schickte er voraus.

»Ich war Bardame in einem Privatclub«, antwortete sie sofort. »Offenheit gegen Offenheit! Der Laden heißt Club 88 und gehört einem Micha Lonski. Die Telefonnummer finden Sie im Verzeichnis.«

»Sie haben gekündigt?«

»Er war schneller und feuerte mich.«

»Darf man den Grund erfahren?« Norman Carty wußte längst, daß er sich nicht getäuscht hatte. Sein Blick hatte ihn nicht getrogen. Sie war genau das, was er brauchte.

»Er wollte etwas, das ich nicht wollte«, erklärte sie. »Reicht das?«

»Schon gut, schon gut.« Er hob abwehrend die Hände. »Ich mache Ihnen ein Angebot, Miß Wells.«

»Sagen Sie Jane zu mir!«

»In Ordnung, Jane. Also, Sie können die Bar hier im Hotel übernehmen. Ich bin sicher, daß dann mein Umsatz steigt.«

»An dem ich beteiligt sein werde, nicht wahr?«

»Darüber läßt sich reden. Sie bekommen ein anständiges Fixum und eine Umsatzbeteiligung. Wohnen werden Sie hier im Hotel. Nach der Polizeistunde leiten Sie den Privatclub, den ich heute eröffnen werde.«

»Sie sind ganz schön schnell.«

»Das muß man sein, wenn man hier in Panrose absahnen will.«

»Sie stammen nicht von hier?«

»Das Hotel habe ich gepachtet, als der Ölboom an der Küste begann. Bisher habe ich das nicht bereut. Sie sind also einverstanden?«

»Grundsätzlich ja, Mr. Wells.«

»Sie sehen Schwierigkeiten?«

»Sie kaufen meine Arbeitskraft, nicht mich!«

»In Ordnung, ich bin immer für Offenheit!«

»Wie setzt sich Ihr Publikum zusammen?« Jane war schon ganz bei der Sache.

»An ’nem normalen Kneipenbetrieb bin ich nicht interessiert. Hier verkehren Burschen, die dicke Brieftaschen haben. Und die sind nach der Sperrstunde wahrscheinlich noch dicker. Haben Sie Garderobe?«

»Die hat mir der Club gestellt.«

»Schön, dann komme auch ich dafür auf. Ich glaube, ich habe da noch ein paar Abendkleider.«

»Und woher stammen die, Mr. Carty?« Sie sah ihn lächelnd und wissend an.

»Von meiner Freundin, die vor ein paar Wochen verduftet ist. Sie sollte hier auch einen Privatclub aufziehen, doch dann bekam sie ’nen besseren Job in Ellon. Ich hab’ sie nicht unnötig aufgehalten.«

»Klingt fair«, meinte Jane Wells, »ich glaube, daß wir uns vertragen werden.«

»Steht Ihr Wagen wirklich ein paar Meilen von Panrose auf der Straße?«

»Ich bin per Anhalter gekommen«, antwortete die Tizianrote lächelnd. »Ich sag’s Ihnen lieber, bevor Sie sich unnötig erkundigen.«

»Dann wäre ja alles geregelt. Kommen Sie mit rauf in meine Wohnung, ich werde Ihnen die Kleidung zeigen!«

Sie ging wie selbstverständlich mit. Norman Carty freute sich schon jetzt auf die Modenschau, die sie notgedrungen vor seinen prüfenden Augen veranstalten mußte. Er wollte dabei voll auf seine Kosten kommen ...

*

»Nun setzen Sie sich endlich«, fauchte Agatha Simpson ihren Butler gereizt an. »Ich habe keine Lust, über die Schulter mit Ihnen zu sprechen.«

Die streitbare Dame hatte die kleine Hotelterrasse betreten und wartete auf das Frühstück. Von dieser Terrasse aus hatte man einen wundervollen Blick auf den kleinen Fischerhafen, der allerdings keine friedliche Idylle mehr bot wie noch vor ein paar Monaten. In dem Naturhafen drängten sich die Zubringerboote für die Bohrinseln draußen auf See. Die Hektik dort unten zeigte deutlich, wie sehr dieser Landstrich sich verändert hatte.

Neben der alten kleinen Fischfabrik stapelten sich die Materialien für eine Unterwasser-Pipeline. Kräne verluden die Stahlrohre auf Trawler und beherrschten das Bild. Die Fischkutter gingen in dem herrschenden Gewimmel fast unter.

Butler Parker 112 – Kriminalroman

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