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Goethes historische Zeit Rede zum Dank für
den Deutschen Sprachpreis in Weimar
am 30. September 2011

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Als Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach am 14. August 1828 in Graditz bei Torgau starb, war sein Sohn, der Erbgroßherzog Carl Friedrich, weder in seiner Nähe noch auch nur in Weimar. Zusammen mit seiner Gemahlin, der Großfürstin Maria Paulowna, besuchte er deren Bruder, den russischen Zaren Nikolaus I., in der Sommerresidenz Pawlowsk unweit von St. Petersburg. Das nun großherzogliche Paar brauchte mehrere Wochen, um heimzukehren, bis Ende Juli. Da war Carl August längst bestattet worden. Bei dem feierlichen Begräbnis des Großherzogs fehlte also nicht nur Goethe, sein engster Freund und Vertrauter, sondern auch der eigene Sohn; weder seine Gemahlin, die Großherzogin Louise, die leidend in Wilhelmsthal weilte, war anwesend noch Prinz Bernhard. Carl August wurde vom Hofadel, den Vertretern der Stände und den Honoratioren des Staates zu Grabe geleitet.

Wie schwer sich Goethe auch mit diesem Tod eines Nächststehenden tat, lässt sich dem fast schneidend knappen Brief entnehmen, den er erst vierzehn Tage nach Carl Augusts Ableben an die verwitwete Großherzogin Louise schrieb – eine Kondolenz mag man das eigentlich nicht nennen: »Schon alle die letzten traurigen Tage her suche ich nach Worten, Ew. Königlichen Hoheit auch aus der Ferne schuldigst aufzuwarten, wo aber sollte der Ausdruck zu finden seyn, die vielfachen Schmerzen zu bezeichnen die mich beängstigen? und wie soll ich wagen, den Antheil auszusprechen zu dem die gegenwärtige Lage Ew. Königlichen Hoheit mich auffordert?« Umso auffälliger ist die zarte Rücksicht, mit der das großherzogliche Haus auf Goethes wohlbekannten Schrecken vor dem Tod und allen Trauerfeierlichkeiten einging. Schon am 3. Juli, wenige Tage vor dem Staatsbegräbnis, erhielt er, wie das Tagebuch festhält, die »Vergünstigung eines Aufenthalts in Dornburg«; am 7. Juli, am Morgen des Tages, an dem die Leiche des Toten feierlich aufgebahrt wurde, reiste Goethe ab.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ihn schon ein Schreiben erreicht, in dem der neue Großherzog und seine Gemahlin ihm, dem Freund des Toten, ihr Beileid aussprechen ließen, wenn auch nicht mit eigener Hand, sondern durch den Generaladjutanten Friedrich August von Beulwitz, den sie mitteilen ließen, »daß mitten in dem eigenen Schmerz der Gedanke an den Eurer Exzellenz Höchst Denenselben vorgeschwebt hat«, und dass nur der Drang des Augenblicks sie davon abgehalten habe, eigenhändig zu schreiben. Ein Fürstenpaar kondoliert dem ältesten Minister des eigenen Landes zum Tod des verstorbenen Monarchen und Vaters, einem Minister wohlgemerkt, der sich dem nun zu begehenden Akt der Staatstrauer mit allerhöchster Erlaubnis entzog – so hatten sich in Weimar in den fünf Jahrzehnten von Goethes Wirken die Rangverhältnisse justiert. Die Abwesenheit Goethes in den Sommermonaten 1828 führte unter anderem auch dazu, dass er an der feierlichen Eidesleistung für den neuen Großherzog am 12. August in Weimar nicht teilnahm.

Die Ungeheuerlichkeit der Flucht auf die Dornburg hat Albrecht Schöne in einem der bedeutendsten Texte, die je über Goethe geschrieben wurden, ans Licht gehoben. Dass der Brief, den Goethe drei Tage nach seiner Ankunft auf dieser »Felsenburg« (so Goethe an Knebel) an Zelter schrieb – ihr gilt Schönes Abhandlung –, gleichwohl eine der »großen Antworten des Menschen auf die menschliche Sterblichkeit« ist, hat dessen Auslegung unwiderleglich zur Anschauung gebracht.

Ähnliches könnte man von dem langen Schreiben sagen, mit dem Goethe wenige Tage nach seinem ersten Dornburger Brief an Zelter dem Kammerherren von Beulwitz, also eigentlich dem neuen Großherzog Carl Friedrich und seiner Frau Maria Paulowna, antwortete. Auch dieser Brief – Goethe schrieb und feilte vier Tage an ihm, vom 14. bis zum 18. Juli 1828 – ist keine Kondolenz. Er ist vieles in einem, zeremoniöses Huldigungsschreiben, Lebensresümee und Ermahnung, nicht zuletzt kann er als Goethes politisches Testament begriffen werden. Der Brief an Beulwitz, dessen schwarzumrandetes Konzept Goethe Eckermann noch zweieinhalb Jahre später in einer feierlichen Stunde zu lesen gab, antwortet auf eigene, unverkennbare Weise auf den Tod. Denn er handelt von der historischen Zeit und entwickelt dabei eine Anschauung von menschlicher Geschichte insgesamt. Goethes Text lässt sich überraschenderweise auf eine der bedeutendsten und folgenreichsten Abhandlungen der Geschichtwissenschaft des 20. Jahrhunderts beziehen, auf Fernand Braudels Theorie der historischen Zeiten. Er erlaubt uns Heutigen also die Frage, wo Goethes Geschichtsbegriff im Spektrum der uns zugänglichen historischen Erfahrungen steht.

Der Anfang sei bei Braudel genommen. Dieser hat 1958 im Oktober-Heft der Zeitschrift »Annales« ein dreistufiges Modell geschichtlicher Zeit entwickelt, das von der Ereignisgeschichte bis zur Strukturgeschichte reicht, von den sichtbaren Geschehnissen der Oberfläche wie Kriegen, Feuersbrünsten, Eisenbahnkatastrophen, Verbrechen und Theateraufführungen bis zu den grundlegenden, auf natürlichen Bedingungen ruhenden Ordnungen des Daseins, der Wirtschafts- und Herrschaftsbeziehungen, der Weltbilder und Mentalitäten. Auf dem einen Pol also die Vergangenheit als Meer kleinerer oder größerer Fakten, als Stoff für Chronisten und Journalisten, bewegt durch diplomatische Depeschen, Parlamentsreden oder militärische Befehle; am anderen Ende die »longue durée«, die zähe Kohärenz »halber Unbeweglichkeiten«, bedingt etwa durch den Zwang der Geographie und des Klimas, der Siedlungsgeschichte, der Lage an den Küsten oder im Binnenland, aber auch durch bildungsgeschichtliche und religiöse Prägungen der Kultur. Hier Jahreszahlen und Aktionen, dort Formationen wie »Feudalismus«, »Handelskapitalismus« oder »lateinisches Mittelalter« und »aristotelisches Weltbild«.

Zwischen diesen beiden Polen unterscheidet der französische Historiker noch eine mittlere Ebene, auf der sich die Arbeit der Generationen abspielt, in Bevölkerungsschwankungen, Preis- und Zinskurven, Lohnbewegungen, Produktionssteigerungen, Konjunkturen und Depressionen. Als Beispiel nennt Braudel die Entwicklung der Preise, die in Europa zwischen 1791 und 1817 fast nur stiegen, während sie von 1817 bis 1852 fielen. Auch die Wissenschaften und Techniken haben solche Konjunkturen mittlerer, annähernd lebenszeitlicher Dimension, und da hätte Braudel vor allem auch den ganzen Bereich der Literatur- und Kunstgeschichte mit ihren wechselnden Stilen und Moden nennen können. Wer die Beispiele des französischen Historikers sortiert, kann für dessen drei historische Rhythmen annähernd drei Gegenstandsbereiche der Geschichte auseinanderhalten: Krieg und politisch-diplomatisches Handeln spielen sich auf der Ebene der Ereignisgeschichte ab, Bevölkerungs-, Wirtschafts-, Kultur- und Technikgeschichte im Modus der Konjunkturen und Generationen. Die Geschichte von Landschaften und Herrschaftsformen, von Institutionen, zum Beispiel auch der Kirchen, oder der Sitten und Gebräuche aber in den Riesenwogen der »longue durée«.

Es versteht sich aber von selbst, dass diese Sphären sich nicht reinlich trennen lassen, vor allem aber, dass sie von Fall zu Fall ineinandergreifen. So kann eine länger vorbereitete technische Entwicklung, beispielsweise die Handfeuerwaffe, auf einmal ganz punktuell einen Krieg entscheiden und in längerer Wirkung eine ganze Herrschaftsordnung umstürzen. Der Buchdruck gehört zweifellos zu den konjunkturellen Ereignissen, die in beide Richtungen ausstrahlten – ereignisgeschichtlich ermöglichte er die lauffeuerhafte Ausbreitung der Reformation, strukturgeschichtlich die Entwicklung von Öffentlichkeit im modernen Sinn. Es ist die Aufgabe moderner Historie, solche Ebenen zunächst auseinanderzuhalten, in einem zweiten, entscheidenden Schritt aber auch wieder zusammenzuführen.

Wer Goethes an den Obersten von Beulwitz, eigentlich aber an das Weimarer neue Herrscherpaar gerichteten Brief mit Braudels Unterscheidungen im Kopf liest, wird dort mühelos und in großer Klarheit die drei Zeitebenen unterscheiden können. Das beginnt schon damit, dass die Epistel auf ein einschneidendes, den Absender wie die Empfänger gleichermaßen tief berührendes Ereignis reagiert, den Tod des Landesherren. Und es endet damit, dass der Brief zu einem großen, ja fast überwiegenden Teil mit Schilderungen von Örtlichkeiten und Landschaften gefüllt ist; wie schon der erste Dornburger Brief an Zelter enthält er eine ruhige, weit ausschwingende Darstellung der Dornburger Schlösser und der von dieser »Zinne« aus überblickten Umgebung. Damit sind die beiden äußeren Zeitpole markiert, der schockhafte Verlust eines Menschen durch den Tod einerseits und die tröstend dagegengesetzte Dauerhaftigkeit einer vom Menschen nur mitgeschaffenen Landesnatur andererseits.

Goethe beginnt seinen Brief fast herausfordernd mit einem zur Freude aufrufenden Zitat, nämlich der Inschrift über dem Portal zu dem südlichsten der drei Dornburger Schlösser: »Freudig trete herein und froh entferne dich wieder! / Ziehst du als Wandrer vorbei, segne die Pfade dir Gott.« So lautet seine Übersetzung des lateinischen Distichons. Es gibt ihm zusammen mit der schönen architektonisch-plastischen Einfassung der Tür »die Überzeugung, daß vor länger als zweyhundert Jahren gebildete Menschen hier gewirkt, daß ein allgemeines Wohlwollen hier zu Hause gewesen«. Der Vers ruft in Goethe die Erinnerung hervor, »gerade ein so einladend-segnendes Motto sey durch eine Reihe von mehr als funfzig Jahren der Wahlspruch meines verewigten Herrn gewesen«: »Hier schien es also, daß ich abermals bey ihm einkehre als dem wohlwollenden Eigenthümer dieses uralten Hauses, als dem Nachfolger und Repräsentanten aller vorigen gastfreyen und also auch selbst behaglichen Besitzer.«

Das ist der erste Einspruch gegen den Tod in diesem Text, die Vergegenwärtigung des Kommens und Gehens der Generationen im gemeinsamen Zeichen von Wohlwollen und Bildung. Der Verstorbene geht ein in diese Kette. Im nächsten Schritt erweitert Goethe das durch die Aufzählung der drei Dornburger Schlösser, die für drei Epochen der Geschichte stehen. Alle drei sind sie hingestellt auf eine schroffe Felskante, doch jedes zeigt ein anderes zeitliches Gesicht: Am nördlichen Ende »ein hohes, altes, unregelmäßig-weitläufiges Schloß, große Säle zu kaiserlichen Pfalztagen umschließend, nicht weniger genugsame Räume zu ritterlicher Wohnung; es ruht auf starken Mauern zu Schutz und Trutz.« Hier wird das Hochmittelalter zum Bild. Weiter südlich aber steht ein »heiteres Lustschloß neuerer Zeit, zu anständigster Hofhaltung und Genuß in günstiger Jahreszeit«, also das kleine Rokoko-Schlösschen von Carl Augusts Vorgänger Ernst August aus den Jahren um 1750. Am südlichsten Ende dann ein Renaissance-Bau, das sogenannte Freigut, in dem Goethe selbst wohnt und seinen Brief schreibt und dessen Portalinschrift er eingangs zitiert hatte.

In dieser epochal rhythmisierten Abfolge – Mittelalter, Renaissance, Rokoko – aber werden die drei Schlösser Goethe zu einem »erwünschten Symbol« für geschichtlich wandelbare Kontinuität, und zwar einer »für alle Zeiten ruhigen Folge bestätigten Daseyns und genießenden Behagens«. Hier erfährt sein bekümmertes Gemüt die Tröstung, »die vernünftige Welt sey von Geschlecht zu Geschlecht auf ein folgereiches Thun entschieden angewiesen«.

Nach solcher Vergegenwärtigung des Kommens und Gehens der Generationen, ihrer Baustile und Bildungsformen bei gleichbleibendem Wohlwollen, also dessen, was Braudel »Konjunkturen« nennt, geht der Blick des Briefschreibers in noch weitere Ferne auf die umgebende Landschaft. Wie in einer Luftaufnahme zeigt sich ihm die dauerhafte Landkarte der in die Natur eingebetteten Kultur: »Ich sehe zu Dörfern versammelte ländliche Wohnsitze, durch Gartenbeete und Baumgruppen gesondert, einen Fluß, der sich vielfach durch Wiesen zieht, wo eben eine reichliche Heuernte die Emsigen beschäftigt; Wehr, Mühle, Brücke folgen auf einander, die Wege verbinden sich auf- und absteigend. Gegenüber erstrecken sich Felder an wohlbebauten Hügeln bis an die steilen Waldungen hinan, bunt anzuschauen nach Verschiedenheit der Aussaat und des Reifegrades. Büsche, hie und da zerstreut, dort zu schattigen Räumen zusammengezogen. Reihenweis auch den heitersten Anblick gewährend seh ich große Anlagen von Fruchtbäumen; sodann aber, damit der Einbildungskraft ja nichts Wünschenswerthes abgehe, mehr oder weniger aufsteigende, alljährlich neu angelegte Weinberge.« Das einleuchtendste Beispiel für seine »lange Dauer« fand Braudel in der Geographie: »Jahrhundertelang ist der Mensch der Gefangene des Klimas, der Vegetation, der Tierwelt, der Bodennutzung, kurzum eines im Lauf der Zeit langsam aufgebauten Gleichgewichts.« Goethe sagt es freundlicher: »Das alles zeigt sich mir wie vor funfzig Jahren und zwar in gesteigertem Wohlseyn.«

Dieses gewaltige, reich gegliederte Bild von langsamem Wandel und naturhafter Kontinuität, vom Zusammenhang menschlicher Arbeit und Kultur in der Abfolge der Generationen, bietet Goethe auf zur Tröstung gegen den von ihm und seinen neuen Herrschaften gemeinsam erlittenen Tod des Großherzogs. Der Tote wird gleichsam vergöttlicht als segnender Geist, der durch sein Ableben in die Landschaft eingegangen ist. Doch nicht nur Trost ist das, sondern auch eine Mahnung, der Appell an die jungen Herrscher, im alten Sinne fortzufahren. »Ein so geregeltes sinniges Regiment waltet von Fürsten zu Fürsten.« Und wieder unterscheidet Goethe zwei Zeitmaße: »Feststehend sind die Einrichtungen, zeitgemäß die Verbesserungen; so war es vor, so wird es nach sein, damit das hohe Wort eines Weisen erfüllt werde, welcher sagt: › Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, welches unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn erhebt.‹«

Zum Herrn sogar über das Zufällige: Das ist die dritte Zeitstufe des Textes, die der Ereignisgeschichte, die er am wenigstens bedenkt, denn, natürlich: Wer wie Goethe, den Tod »nicht statuiert«, der kann eigentlich auch die Ereignisgeschichte nicht statuieren. Und doch flackert auch sie noch jenseits des traurigen Anlasses durch diesen großen Brief. Die Wohnung, über deren Portal das wohlwollende Distichon steht, sei, so heißt es gleich zu Beginn »durch so viele Kriegs- und Schreckenszeiten hindurch aufrecht bestehend erhalten worden«. Und beim Blick über die blühenden, von Siedlungen, Feldern und Ernten geschmückten sommerlichen Fluren, hält dieser Lynkeus fest: »Keine Spur von Verderben ist zu sehen, schritt auch die Weltgeschichte hart auftretend gewaltsam über die Thäler.« Nur ein Nebensatz ist es, aber er hat die Wucht der großen malerischen Allegorie des Krieges, die man bis vor kurzem Goya zugeschrieben hat: »schritt auch die Weltgeschichte hart auftretend gewaltsam über die Täler.« Goethe, der sich mit der Geschichte Dornburgs gut auskannte, mag hier an eine Episode aus dem Dreißigjährigen Krieg gedacht haben, die ein von ihm damals studiertes antiquarisches Heft zu den Dornburger Schlössern erzählte; doch vor allem muss ihm die große Schlacht von 1806 vor Augen gestanden haben, die nur wenige Kilometer entfernt bei Auerstedt und Jena begonnen und sich an ihrem Ende bis auf sein eigenes Haus in Weimar ausgedehnt hatte, und die, in Gestalt einer preußischen Besatzung natürlich auch Dornburg berührte. Auch durchs Tal der Saale unterhalb der Burgzinne trat die Weltgeschichte in diesen Oktoberwochen hart auf, preußische und napoleonische Heere durchzogen es in langen Reihen.

Aber sie hinterließ eben keine Spur des Verderbens. Nein, hier deutet in diesen Sommertagen von 1828 alles längst wieder »auf eine emsig folgerechte, klüglich vermehrte Cultur eines sanft und gelassen regierten, sich durchaus mäßig verhaltenden Volkes«. Wir notieren, dass das Wort »Weltgeschichte« hier, wie übrigens öfter beim späten Goethe, eigentlich mit Kriegs- und Ereignisgeschichte zusammenfällt, also nur die erste der Braudelschen Zeitebenen, das bewegte Meer der Fakten, bezeichnet. Es ist die Ebene, von der Goethe am geringsten denkt, der Mischmasch aus Irrtum und Gewalt, aus dem für ihn nicht nur die Kirchengeschichte besteht. Ein Stück Weltgeschichte hatte er als das Desaster des in Regen, Kälte, Hunger und Krankheit scheiternden Feldzuges von 1792 selbst erlebt und dargestellt. Was er dagegen setzte, war die Kontinuität von Arbeit und Bildung in einer von Menschenhand kultivierten, gelassen regierten und maßvoll genutzten Natur. Wer diesen Brief liest, wird die gewaltsame Kolonisierung am Ende des »Faust« nicht mehr missverstehen können.

Was hat das mit uns zu tun? Die erstaunliche Nähe von Goethes Trost- und Mahnbrief an seine neuen Herrschaften zu Fernand Braudels Schichtenmodell historischer Zeit, sagt auch etwas über Reichweite und Gültigkeit dieses Modells aus. Braudels Konzept wurde formuliert in einer Gegenwart, für die es eigentlich schon überholt war, weil die Ereignisgeschichte längst die Gewalt erreicht hatte, irreversibel in die Strukturen der »longue durée« einzugreifen. Die Spuren des Verderbens lassen sich eben nicht mehr verwischen, wenn menschliche Arbeit das planetarische Klima verändert oder menschliche Politik die Atombombe zur Verfügung hat. Die Kontinuität der Sitten ist längst von einem sozialen Wandel überholt worden, der schneller verläuft als menschliche Lebenszeit. Der Geschichtsbegriff Braudels passt bei aller grundsätzlichen heuristischen Kraft am besten auf die Epochen des europäischen Mittelalters und der frühen Neuzeit vor dem Beginn des industriellen Zeitalters und der mit ihm einsetzenden Beschleunigung aller menschlichen Lebensverhältnisse. Hier findet sich jene Verbindung von Statik und Dynamik, von Struktur, Konjunktur und Ereignisgeschichte, die ein welthistorisches Kennzeichen des Alten Europa vor den Revolutionen des 18. Jahrhunderts gewesen ist.

Und genau an dieser Schwelle stand Goethe als Zeitgenosse dieser Sattelzeit. Der Dichter des »Faust«-Schlusses sah ja, was im Kommen war, das Maschinen-Zeitalter, das Veloziferische, die Möglichkeit zum Umsturz aller Lebensverhältnisse, nicht nur der politischen Verfassungen. Der Mann, der keine Kondolenzen schreiben konnte, hat vielleicht sogar geahnt, dass eine Weltgeschichte möglich sei, die auf allen ihren Ebenen schneller werden könnte als die menschliche Lebenszeit, als das Kommen und Gehen von Vorfahren und Nachfolgern. Die moderne Geschichtszeit sollte so total werden, dass als letzter, unhintergehbarer Einspruch gegen sie wirklich am Ende nur noch die menschliche Sterblichkeit bleibt – eben jenes Faktum, dem Goethe so ungern ins Antlitz blickte.

Am 15. August 1828, vier Wochen nach dem Brief an Friedrich August von Beulwitz und zwei Monate nach dem Tod von Carl August, notierte Goethe zum letzten Mal in seinem Taschenkalender unter Mariae Himmelfahrt: »Napoleons Geburtstag«.

Goethes Autorität

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