Читать книгу Frau Bovary - Гюстав Флобер, Gustave Flaubert, Silvia Bardelás - Страница 10

Zweites Buch
Erstes Kapitel

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Abtei Yonville (so genannt nach einer ehemaligen Kapuzinerabtei, von der indessen nicht einmal mehr die Ruinen stehen) ist ein Marktflecken, acht Wegstunden östlich von Rouen, zwischen der Straße von Abbeville und der von Beauvais. Der Ort liegt im Tale der Rieule, eines Nebenflüßchens der Andelle. Nahe seiner Einmündung treibt der Bach drei Mühlen. Er hat Forellen, nach denen die Dorfjungen reihenweise an den Sonntagen zu ihrer Belustigung angeln.

Man verläßt die Heeresstraße bei La Boissière und geht auf der Hochebene bis zur Höhe von Leux, wo man das Tiefland offen vor sich liegen sieht. Der Fluß teilt es in zwei deutlich unterscheidbare Hälften: zur Linken Weideland, rechts ist alles bebaut. Diese Prärie, die sich bis zu den Triften der Landschaft Pray hinzieht, wird von einer ganz niedrigen Hügelkette begrenzt, während die Ebene gegen Osten allmählich ansteigt und sich im Unermeßlichen verliert. So weit das Auge reicht, schweift es über meilenweite Kornfelder. Das Gewässer sondert wie mit einem langen weißen Strich das Grün der Wiesen von dem Blond der Äcker, und so liegt das ganze Land unten ausgebreitet da wie ein riesiger gelber Mantel mit einem grünen silberngesäumten Samtkragen.

Fern am Horizont erkennt man geradeaus den Eichwald von Argueil und die steilen Abhänge von Sankt Johann mit ihren eigentümlichen, senkrechten, ungleichmäßigen roten Strichen. Das sind die Wege, die sich das Regenwasser sucht; und die roten Streifen auf dem Grau der Berge rühren von den vielen eisenhaltigen Quellen drinnen im Gebirge her, die ihr Wasser nach allen Seiten hinab ins Land schicken.

Man steht auf der Grenzscheide der Normandie, der Pikardie und der Ile-de-France, inmitten eines von der Natur stiefmütterlich behandelten Geländes, das weder im Dialekt seiner Bewohner noch in seinem Landschaftsbilde besondre Eigenheiten aufweist. Von hier kommen die allerschlechtesten Käse des ganzen Bezirks von Neufchâtel. Allerdings ist die Bewirtschaftung dieser Gegend kostspielig, da der trockene steinige Sandboden viel Dünger verlangt.

Bis zum Jahre 1835 führte keine brauchbare Straße nach Yonville. Erst um diese Zeit wurde ein sogenannter „Hauptvizinalweg“ angelegt, der die beiden großen Heeresstraßen von Abbeville und von Amiens untereinander verbindet und bisweilen von den Fuhrleuten benutzt wird, die von Rouen nach Flandern fahren. Aber trotz dieser „neuen Verbindungen“ gelangte Yonville zu keiner rechten Entwicklung. Anstatt sich mehr auf den Getreidebau zu legen, blieb man hartnäckig immer noch bei der Weidebewirtschaftung, so kargen Gewinn sie auch brachte; und die träge Bewohnerschaft baut sich auch noch heute lieber nach dem Berge statt nach der Ebene zu an. Schon von weitem sieht man den Ort am Ufer lang hingestreckt liegen, wie einen Kuhhirten, der sich faulenzend am Bache hingeworfen hat.

Von der Brücke, die über die Rieule führt, geht der mit Pappeln besäumte Fahrweg in schnurgerader Linie nach den ersten Gehöften des Ortes. Alle sind sie von Hecken umschlossen. Neben den Hauptgebäuden sieht man allerhand ordnungslos angelegte Nebenhäuschen, Keltereien, Schuppen und Brennereien, dazwischen buschige Bäume, an denen Leitern, Stangen, Sensen und andres Gerät hängen oder lehnen. Die Strohdächer sehen wie bis an die Augen ins Gesicht hereingezogene Pelzmützen aus; sie verdecken ein Drittel der niedrigen Butzenscheibenfenster. Da und dort rankt sich dürres Spalierobst an den weißen, von schwarzem Gebälk durchquerten Kalkwänden der Häuser empor. Die Eingänge im Erdgeschoß haben drehbare Halbtüren, damit die Hühner nicht eindringen, die auf den Schwellen in Apfelwein aufgeweichte Brotkrumen aufpicken.

Allmählich werden die Höfe enger, die Gebäude rücken näher aneinander, und die Hecken verschwinden. An einem der Häuser hängt, schaukelnd an einem Besenstiel zum Fenster heraus, ein Bündel Farnkraut. Hier ist die Schmiede; ein Wagen und zwei oder drei neue Karren stehen davor und versperren die Straße. Weiterhin leuchtet durch die offene Pforte der Gartenmauer ein weißes Landhaus, eine runde Rasenfläche davor mit einem Amor in der Mitte, der sich den Finger vor den Mund hält. Die Freitreppe flankieren zwei Vasen aus Bronze. Ein Amtsschild mit Wappen glänzt am Tore. Es ist das Haus des Notars, das schönste der ganzen Gegend.

Zwanzig Schritte weiter, auf der andern Seite der Straße, beginnt der Marktplatz mit der Kirche. In dem kleinen Friedhofe um sie herum, den eine niedrige Mauer von Ellbogenhöhe umschließt, liegt Grabplatte an Grabplatte. Diese alten Steine bilden geradezu ein Pflaster, auf das aus den Ritzen hervorschießendes Gras grüne Rechtecke gezeichnet hat. Die Kirche selbst ist ein Neubau aus der letzten Zeit der Regierung Karls des Zehnten. Das hölzerne Dach beginnt bereits morsch zu werden. Auf dem blauen Anstrich der Decke über dem Schiff zeigen sich stellenweise schwarze Flecken. Über dem Eingang befindet sich da, wo gewöhnlich sonst in der Kirche die Orgel ist, eine Empore für die Männer, zu der eine Wendeltreppe hinaufführt, die laut dröhnt, wenn man sie betritt.

Das Tageslicht flutet in schrägen Strahlen durch die farblosen Scheiben auf die Bankreihen hernieder, die sich von Längswand zu Längswand hinziehen. Vor manchen Sitzen sind Strohmatten befestigt, und Namensschilder verkünden weithin sichtbar: „Platz des Herrn Soundso.“ Wo sich das Schiff verengert, steht der Beichtstuhl und ihm gegenüber ein Standbild der Madonna, die ein Atlasgewand und einen Schleier, mit lauter silbernen Sternen besät, trägt. Ihre Wangen sind genau so knallrot angemalt wie die eines Götzenbildes auf den Sandwichinseln. Im Chor über dem Hochaltar schimmert hinter vier hohen Leuchtern die Kopie einer Heiligen Familie von Pietro Perugino, eine Stiftung der Regierung. Die Chorstühle aus Fichtenholz sind ohne Anstrich.

Fast die Hälfte des Marktplatzes von Yonville nehmen „die Hallen“ ein: ein Ziegeldach auf etlichen zwanzig Holzsäulen. Das Rathaus, nach dem Entwurfe eines Pariser Architekten in antikem Stil erbaut, steht in der jenseitigen Ecke des Platzes neben der Apotheke. Das Erdgeschoß hat eine dorische Säulenhalle, der erste Stock eine offene Galerie, und darüber im Giebelfelde haust ein gallischer Hahn, der mit der einen Klaue das Gesetzbuch umkrallt und in der andern die Wage der Gerechtigkeit hält.

Das Augenmerk des Fremden fällt immer zuerst auf die Apotheke des Herrn Homais, schräg gegenüber vom „Gasthof zum goldnen Löwen“. Zumal am Abend, wenn die große Lampe im Laden brennt und ihr helles, durch die bunten Flüssigkeiten in den dickbauchigen Flaschen, die das Schaufenster schmücken sollen, rot und grün gefärbtes Licht weit hinaus über das Straßenpflaster fällt, dann sieht man den Schattenriß des über sein Pult gebeugten Apothekers wie in bengalischer Beleuchtung. Außen ist sein Haus von oben bis unten mit Reklameschildern bedeckt, die in allen möglichen Schriftarten ausschreien: „Mineralwasser von Vichy“, „Sauerbrunnen“, „Selterswasser“, „Kamillentee“, „Kräuterlikör“, „Kraftmehl“, „Hustenpastillen“, „Zahnpulver“, „Mundwasser“, „Bandagen“, „Badesalz“, „Gesundheitsschokolade“ usw. usw. Auf der Firma, die so lang ist wie der ganze Laden, steht in mächtigen goldnen Buchstaben: „Homais, Apotheker“. Drinnen, hinter den hohen, auf der Ladentafel festgeschraubten Wagen, liest man über einer Glastüre das Wort „Laboratorium“ und auf der Tür selbst noch einmal in goldnen Lettern auf schwarzem Grunde den Namen „Homais“.

Weitere Sehenswürdigkeiten gibt es in Yonville nicht. Die Hauptstraße (die einzige) reicht einen Büchsenschuß weit und hat zu beiden Seiten ein paar Kramläden. An der Straßenbiegung ist der Ort zu Ende. Wenn man vorher nach links abwendet und dem Hange folgt, gelangt man hinab zum Gemeindefriedhof.

Zur Zeit der Cholera wurde ein Stück der Kirchhofsmauer niedergelegt und der Friedhof durch Ankauf von drei Morgen Land vergrößert, aber dieser ganze neue Teil ist so gut wie noch unbenutzt geblieben. Wie vordem drängen sich die Grabhügel nach dem Eingangstor zu zusammen. Der Pförtner, der zugleich auch Totengräber und Kirchendiener ist und somit aus den Leichen der Gemeinde eine doppelte Einnahme zieht, hat sich das unbenutzte Land angeeignet, um darauf Kartoffeln zu erbauen. Aber von Jahr zu Jahr vermindert sich sein bißchen Boden, und es brauchte bloß wieder einmal eine Epidemie zu kommen, so wüßte er nicht, ob er sich über die vielen Toten freuen oder über ihre neuen Gräber ärgern solle.

„Lestiboudois, Sie leben von den Toten!“ sagte eines Tages der Pfarrer zu ihm.

Diese gruselige Bemerkung stimmte den Küster nachdenklich. Eine Zeitlang enthielt er sich der Landwirtschaft. Dann aber und bis auf den heutigen Tag zog er seine Erdäpfel weiter. Ja, er versichert sogar mit Nachdruck, sie wüchsen ganz von selber.

Seit den Ereignissen, die hier erzählt werden, hat sich in Yonville wirklich nichts verändert. Noch immer dreht sich auf der Kirchturmspitze die weiß-rot-blaue Fahne aus Blech, noch immer flattern vor dem Laden des Modewarenhändlers zwei Kattunwimpel im Winde, noch immer schwimmen im Schaufenster der Apotheke häßliche Präparate in Glasbüchsen voll trübgewordnem Alkohol, und ganz wie einst zeigt der alte, von Wind und Wetter ziemlich entgoldete Löwe über dem Tore des Gasthofes den Vorübergehenden seine Pudelmähne.

An dem Abend, da das Ehepaar Bovary in Yonville eintreffen sollte, war die Löwenwirtin, die Witwe Franz, derartig beschäftigt, daß ihr beim Hantieren mit ihren Töpfen der Schweiß von der Stirne perlte. Am folgenden Tag war nämlich Markttag im Städtchen. Da mußte Fleisch zurechtgehackt, Geflügel ausgenommen, Bouillon gekocht und Kaffee gebrannt werden. Daneben die regelmäßigen Tischteilnehmer und heute obendrein der neue Doktor nebst Frau Gemahlin und Dienstmädchen! Am Billard lachten Gäste, und in der kleinen Gaststube riefen drei Müllerburschen nach Schnaps. Im Herde prasselte und schmorte es, und auf dem langen Küchentische paradierten neben einer rohen Hammelkeule Stöße von Tellern, die nach dem Takte des Wiegemessers tanzten, mit dem die Köchin Spinat zerkleinerte. Vom Hofe aus ertönte das ängstliche Gegacker der Hühner, die von der Magd gejagt wurden, weil sie etlichen die Köpfe abschneiden wollte.

Ein Herr in grünledernen Pantoffeln, eine goldne Troddel an seinem schwarzsamtnen Käppchen, wärmte sich am Kamin des Gastzimmers den Rücken. Im Gesicht hatte er ein paar Blatternarben. Sein ganzes Wesen strahlte förmlich von Selbstzufriedenheit. Offenbar lebte er genau so gleichmütig dahin wie der Stieglitz, der oben an der Decke in seinem Weidenbauer herumhüpfte. Dieser Herr war der Apotheker.

„Artemisia!“ rief die Wirtin. „Leg noch ein bißchen Reisig ins Feuer! Fülle die Wasserflaschen! Schaff den Schnaps hinein! Und mach schnell! Ach, wenn ich nur wüßte, was ich den Herrschaften, die heute eintreffen, zum Nachtisch vorsetzen soll? Heiliger Bimbam! Die Leute von der Speditionsgesellschaft hören mit ihrem Geklapper auf dem Billard auch gar nicht auf! Und der Möbelwagen steht draußen immer noch mitten auf der Straße, gerade vor der Hofeinfahrt! Wenn die Post kommt, wird es eine Karambolage geben. Ruf mir mal Hippolyt! Er soll den Wagen beiseiteschieben … Was ich sagen wollte, Herr Apotheker, diese Leute spielen schon den ganzen Vormittag. Jetzt sind sie bei der fünfzehnten Partie und beim achten Schoppen Apfelwein! Man wird mir noch ein Loch ins Tuch stoßen!“

Sie war auf einen Augenblick, den Kochlöffel in der Hand, ins Gastzimmer gelaufen.

„Das wär auch weiter kein Malheur!“ meinte Homais. „Dann schaffen Sie gleich ein neues Billard an!“

„Ein neues Billard!“ jammerte die Witwe.

„Nu freilich, Frau Franz! Das alte Ding da taugt nicht mehr viel! Ich habs Ihnen schon tausendmal gesagt. Es ist Ihr eigner Schaden! Und ein großer Schaden! Heutzutage verlangen passionierte Spieler große Bälle und schwere Queues. Mit solchen Bällchen spielt man nicht mehr. Die Zeiten ändern sich! Man muß modern sein! Sehen Sie sich mal bei Tellier im Café Français …“

Die Wirtin wurde rot vor Ärger, aber der Apotheker fuhr fort:

„Sie können sagen, was Sie wollen! Sein Billard ist handlicher als Ihrs. Und wenn es heißt, eine patriotische Poule zu entrieren, sagen wir: zum Besten der vertriebenen Polen oder für die Überschwemmten von Lyon …“

„Ach was!“ unterbrach ihn die Löwenwirtin verächtlich. „Vor dem Bettelvolk hat unsereiner noch lange keine Angst! Lassen Sies nur gut sein, Herr Apotheker! Solange der Goldne Löwe bestehen wird, sitzen auch Gäste drin! Wir verhungern nicht! Aber Ihr geliebtes Café Français, das wird eines schönen Tages die Bude zumachen! Oder vielmehr der Gerichtsvollzieher! Ich soll mir ein andres Billard anschaffen? Wo meins so bequem ist zum Wäschefalten! Und wenn Jagdgäste da sind, können gleich sechse drauf übernachten! Nee, nee … Wo bleibt nur eigentlich der langweilige Kerl, der Hivert!“

„Sollen denn Ihre Tischgäste mit dem Essen warten, bis die Post gekommen ist?“ fragte Homais ungeduldig.

„Warten? Herr Binet ist ja noch nicht da! Der kommt Schlag sechs, einen wie alle Tage! So ein Muster von Pünktlichkeit gibts auf der ganzen Welt nicht wieder. Er hat seit urdenklichen Zeiten seinen Stammplatz in der kleinen Stube. Er ließe sich eher totschlagen, als daß er wo anders äße. Was Schlechtes darf man dem nicht vorsetzen. Und auf den Apfelwein versteht er sich aus dem ff. Er ist nicht wie Herr Leo, der heute um sieben und morgen um halb acht erscheint und alles ißt, was man ihm vorsetzt! Übrigens ein feiner junger Mann! Ich hab noch nie ein lautes Wort von ihm gehört.“

„Da sehen Sie eben den Unterschied zwischen jemandem, der eine Kinderstube hinter sich hat, und einem ehemaligen Kürassier und jetzigen Steuereinnehmer!“

Es schlug sechs. Binet trat ein.

Er hatte einen blauen Rock an, der schlaff an seinem mageren Körper herunterhing. Unter dem Schirm seiner Ledermütze blickte ein Kahlkopf hervor, der um die Stirn eingedrückt von dem langjährigen Tragen des schweren Helms aussah. Er trug eine Weste aus schwarzem Stoff, einen Pelzkragen, graue Hosen und tadellos blankgewichste Schuhe, die vorn besonders ausgearbeitet waren, weil er dauernd an geschwollenen Zehen litt. Sein blonder Backenbart war peinlichst gestutzt und umrahmte ihm das lange bleiche Gesicht mit den kleinen Augen und der Adlernase wie eine Hecke den Garten. Er war ein Meister in jeglichem Kartenspiel und ein guter Jäger, hatte eine hübsche Handschrift und besaß zu Hause eine Drehbank, auf der er zu seinem Vergnügen Serviettenringe drechselte. Er hatte ihrer schon eine Unmenge, die er mit der Eifersucht eines Künstlers und dem Geiz des Spießers hütete.

Binet schritt nach der kleinen Stube zu. Erst mußten dort aber die drei Müllerburschen hinauskomplimentiert werden. Während man drin für ihn deckte, blieb er in der großen Gaststube stumm in der Nähe des Ofens stehen, dann ging er hinein, klinkte die Türe ein und nahm seine Mütze ab. Das hatte alles so seine Ordnung.

„An übermäßiger Höflichkeit wird der mal nicht sterben!“ bemerkte der Apotheker, als er wieder mit der Wirtin allein war.

„Er redet nie viel,“ entgegnete diese. „Vergangene Woche waren zwei Tuchreisende hier, lustige Kerle, die uns den ganzen Abend Schnurren erzählt haben. Ich wäre beinahe umgekommen vor Lachen. Der aber hat wie ein Stockfisch dabeigesessen und keine Miene verzogen.“

„Ja, ja,“ sagte der Apotheker, „der Mensch hat keine Phantasie, keinen Witz, keinen geselligen Sinn!“

„Er soll aber wohlhabend sein,“ warf die Wirtin ein.

„Wohlhabend?“ echote Homais. „Der und wohlhabend!“ Und gelassen fügte er hinzu: „Gott ja, so für seine Verhältnisse. Das ist schon möglich!“

Nach einer kleinen Weile fuhr er fort: „Hm! Wenn ein Kaufmann, der ein großes Geschäft hat, oder ein Rechtsanwalt, ein Arzt, ein Apotheker derartig in seinem Beruf aufgeht, daß er zum Griesgram oder Sonderling wird, so verstehe ich das. Davor gibt es Beispiele und Exempel. Solche Leute haben immerhin Gedanken im Kopfe. Wie oft ists mir nicht selber passiert, daß ich meinen Federhalter auf meinem Schreibtische gesucht habe, um ein Schildchen auszufüllen oder so was, – und weiß der Kuckuck, schließlich hatte ich ihn hinterm rechten Ohre stecken!“

Frau Franz ging indessen an die Haustür, um nachzusehen, ob die Post noch nicht angekommen sei. Sie war ganz aufgeregt. Da trat ein schwarz gekleideter Mann in die Küche. Das Dämmerlicht beleuchtete sein kupferrotes Antlitz und umfloß seine herkulischen Linien.

„Was steht dem Herrn Pfarrer zu Diensten?“ fragte die Wirtin und nahm vom Kaminsims einen der Messingleuchter, die mit ihren weißen Kerzen in einer wohlgeordneten Reihe dastanden. „Haben Ehrwürden einen Wunsch? Ein Gläschen Wacholder oder einen Schoppen Wein?“

Der Priester dankte verbindlich. Er kam wegen seines Regenschirmes, den er tags zuvor im Kloster Ernemont hatte stehen lassen. Nachdem er Frau Franz gebeten hatte, ihn gelegentlich holen und im Pfarrhause abgeben zu lassen, empfahl er sich, um nach der Kirche zu gehen, wo schon das Ave-Maria geläutet ward.

Als die Tritte des Geistlichen draußen verklungen waren, machte der Apotheker die Bemerkung, der Pfarrer habe sich eben sehr ungebührlich benommen. Eine angebotene Erfrischung abzuschlagen, sei seiner Ansicht nach eine ganz abscheuliche Heuchelei. Die Pfaffen söffen insgeheim alle miteinander. Am liebsten möchten sie den Zehnten wieder einführen.

Die Löwenwirtin verteidigte ihren Beichtvater.

„Na, übrigens nimmt ers mit vier Mannsen von Eurem Kaliber zugleich auf!“ meinte sie. „Voriges Jahr hat er unsern Leuten beim Strohaufladen geholfen. Er hat immer sechs Schütten auf einmal getragen. So stark ist er!“

„Natürlich!“ rief Homais aus. „Schickt nur Eure Mädels solchen Krafthubern zur Beichte! Wenn ich im Staate was zu sagen hätte, dann kriegte jeder Pfaffe aller vier Wochen einen Blutegel angesetzt. Jawohl, Frau Wirtin, aller vier Wochen einen ordentlichen Aderlaß zur Hebung von Sicherheit und Sittlichkeit im Lande!“

„Aber Herr Apotheker! Sie sind gottlos! Sie haben keine Religion!“

Homais erwiderte:

„Ich habe eine Religion: meine Religion! Und die ist mehr wert als die dieser Leute mit all dem Firlefanz und Mummenschanz. Ich verehre Gott. Erst recht tue ich das. Ich glaube an eine höhere Macht, an einen Schöpfer. Sein Wesen kommt hierbei nicht in Frage. Wir Menschen sind hienieden da, damit wir unsre Pflichten als Staatsbürger und Familienväter erfüllen. Aber ich habe kein Bedürfnis, in die Kirche zu gehen, silbernes Gerät zu küssen und eine Bande von Possenreißern aus meiner Tasche zu mästen, die sich besser hegen und pflegen als ich mich selber. Gott kann man viel schöner verehren im Walde, im freien Felde oder meinetwegen nach antiker Anschauung angesichts der Gestirne am Himmel. Mein Gott ist der Gott der Philosophen und Künstler. Ich bin für Rousseaus Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars. Für die unsterblichen Ideen von Anno 1789! Und da glaube ich nicht an den sogenannten lieben Gott, der mit einem Spazierstöckchen in der Hand gemütlich durch seinen Erdengarten bummelt, seine Freunde in einem Walfischbauch einquartiert, jammernd am Kreuze stirbt und am dritten Tage wieder aufersteht von den Toten. Das ist schon an und für sich Blödsinn und obendrein wider alle Naturgesetze! Es beweist aber nebenbei, daß sich die Pfaffen in der schmachvollen Ignoranz, mit der sie die Menschheit verdummen möchten, mir Wollust selber herumsielen.“

Er schwieg und überschaute seine Zuhörerschaft. Er hatte sich ins Zeug gelegt, als spräche er vor versammeltem Gemeinderat. Die Wirtin war längst aus der Gaststube gelaufen. Sie lauschte draußen und vernahm ein fernes rollendes Geräusch. Bald hörte sie deutlich das Rasseln der Räder und das Klappern eines lockeren Eisens auf dem Pflaster. Endlich hielt die Postkutsche vor der Haustüre.

Es war ein gelblackierter Kasten auf zwei Riesenrädern, die bis an das Wagendeck hinaufreichten. Sie raubten dem Reisenden jegliche Aussicht und bespritzten ihn fortwährend. Die winzigen Scheiben in den Wagenfenstern klirrten in ihrem Rahmen. Wenn man sie heraufzog, sah man, daß sie vor Staub und Straßenschmutz starrten. Der stärkste Platzregen hätte sie nicht rein gewaschen. Das Fahrzeug war mit drei Pferden bespannt: zwei Stangen- und einem Vorderpferde.

Vor dem Gasthofe entstand ein kleiner Menschenauflauf. Alles redete durcheinander. Der eine fragte nach Neuigkeiten, ein andrer wollte irgendwelche Auskunft, ein dritter erwartete eine Postsendung. Hivert, der Postkutscher, wußte gar nicht, wem er zuerst Bescheid geben sollte. Er pflegte nämlich allerlei Aufträge für die Landleute in der Stadt zu übernehmen. Er machte Einkäufe, brachte dem Schuster Leder und dem Schmied altes Eisen mit; er besorgte der Posthalterin eine Tonne Heringe, holte von der Modistin Hauben und vom Friseur Lockenwickel. Auf dem Rückwege verteilte er dann die Pakete längs seiner Fahrstraße. Wenn er am Gehöft eines Auftraggebers vorbeifuhr, schrie er aus voller Kehle und warf das Paket über den Zaun in das Grundstück, wobei er sich von seinem Kutscherbocke erhob und die Pferde eine Strecke ohne Zügel laufen ließ.

Heute kam er mit Verspätung. Unterwegs war Frau Bovarys Windspiel querfeldein weggelaufen. Eine Viertelstunde lang pfiff man nach ihm. Hivert lief sogar ein paar Kilometer zurück; aller Augenblicke glaubte er, den Hund von weitem zu sehen. Schließlich aber mußte weitergefahren werden.

Emma weinte und war ganz außer sich. Karl sei an diesem Unglück schuld. Herr Lheureux, der Modewarenhändler, der mit in der Post fuhr, versuchte sie zu trösten, indem er ein Schock Geschichten von Hunden erzählte, die entlaufen waren und sich nach langen Jahren bei ihren einstigen Herren wieder eingestellt hatten. Unter anderem wußte er von einem Dackel zu berichten, der von Konstantinopel aus den Weg nach Paris zurückgefunden haben sollte. Ein andrer Hund war hinter einander dreißig Meilen gelaufen und hatte dabei vier Flüsse durchschwommen. Und sein eigner Vater hatte einen Pudel besessen; der war volle zwölf Jahre weg. Eines Abends, als der alte Lheureux durch die Stadt nach dem Gasthaus ging, sprang der Hund an ihm hoch.

Frau Bovary

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