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Erstes Buch

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Erster Teil

Erstes Buch

Prometheus

Himmel und Erde waren geschaffen: das Meer wogte in seinen Ufern, und die Fische spielten darin;

in den Lüften sangen beflügelt die Vögel; der Erdboden wimmelte von Tieren. Aber noch fehlte es an

dem Geschöpfe, dessen Leib so beschaffen war, daß der Geist in ihm Wohnung machen und von ihm

aus die Erdenwelt beherrschen konnte. Da betrat Prometheus die Erde, ein Sprößling des alten

Göttergeschlechtes, das Zeus entthront hatte, ein Sohn des erdgebornen Uranossohnes Iapetos,

kluger Erfindung voll. Dieser wußte wohl, daß im Erdboden der Same des Himmels schlummre;

darum nahm er vom Tone, befeuchtete denselben mit dem Wasser des Flusses, knetete ihn und

formte daraus ein Gebilde nach dem Ebenbilde der Götter, der Herren der Welt. Diesen seinen

Erdenkloß zu beleben, entlehnte er allenthalben von den Tierseelen gute und böse Eigenschaften

und schloß sie in die Brust des Menschen ein. Unter den Himmlischen hatte er eine Freundin,

Athene, die Göttin der Weisheit. Diese bewunderte die Schöpfung des Titanensohnes und blies dem

halbbeseelten Bilde den Geist, den göttlichen Atem ein.

So entstanden die ersten Menschen und füllten bald vervielfältigt die Erde. Lange aber wußten diese

nicht, wie sie sich ihrer edlen Glieder und des empfangenen Götterfunkens bedienen sollten. Sehend

sahen sie umsonst, hörten hörend nicht; wie Traumgestalten liefen sie umher und wußten sich der

Schöpfung nicht zu bedienen. Unbekannt war ihnen die Kunst, Steine auszugraben und zu behauen,

aus Lehm Ziegel zu brennen, Balken aus dem gefällten Holze des Waldes zu zimmern und mit allem

diesem sich Häuser zu erbauen. Unter der Erde, in sonnenlosen Höhlen, wimmelte es von ihnen, wie

von beweglichen Ameisen; nicht den Winter, nicht den blütenvollen Frühling, nicht den

früchtereichen Sommer kannten sie an sicheren Zeichen; planlos war alles, was sie verrichteten. Da

nahm sich Prometheus seiner Geschöpfe an; er lehrte sie den Auf‐ und Niedergang der Gestirne

beobachten, erfand ihnen die Kunst zu zählen, die Buchstabenschrift; lehrte sie Tiere ans Joch

spannen und zu Genossen ihrer Arbeit brauchen, gewöhnte die Rosse an Zügel und Wagen; erfand

Nachen und Segel für die Schiffahrt. Auch fürs übrige Leben sorgte er den Menschen. Früher, wenn

einer krank wurde, wußte er kein Mittel, nicht was von Speise und Trank ihm zuträglich sei, kannte

kein Salböl zur Linderung seiner Schäden; sondern aus Mangel an Arzneien starben sie elendiglich

dahin. Darum zeigte ihnen Prometheus die Mischung milder Heilmittel, allerlei Krankheiten damit zu

vertreiben. Dann lehrte er sie die Wahrsagerkunst, deutete ihnen Vorzeichen und Träume, Vogelflug

und Opferschau. Ferner führte er ihren Blick unter die Erde und ließ sie hier das Erz, das Eisen, das

Silber und das Gold entdecken; kurz, in alle Bequemlichkeiten und Künste des Lebens leitete er sie

ein.

Im Himmel herrschte mit seinen Kindern seit kurzem Zeus, der seinen Vater Kronos entthront und

das alte Göttergeschlecht, von welchem auch Prometheus abstammte gestürzt hatte.

Jetzt wurden die neuen Götter aufmerksam auf das eben entstandene Menschenvolk. Sie verlangten

Verehrung von ihm für den Schutz, welchen sie demselben angedeihen zu lassen bereitwillig waren.

Zu Mekone in Griechenland ward ein Tag gehalten zwischen Sterblichen und Unsterblichen, und

Rechte und Pflichten der Menschen bestimmt. Bei dieser Versammlung erschien Prometheus als

Anwalt seiner Menschen, dafür zu sorgen, daß die Götter für die übernommenen Schutzämter den

Sterblichen nicht allzu lästige Gebühren auferlegen möchten. Da verführte den Titanensohn seine

Klugheit, die Götter zu betrügen. Er schlachtete im Namen seiner Geschöpfe einen großen Stier,

davon sollten die Himmlischen wählen, was sie für sich davon verlangten. Er hatte aber nach

Zerstückelung des Opfertieres zwei Haufen gemacht; auf die eine Seite legte er das Fleisch, das

Eingeweide und den Speck, in die Haut des Stieres zusammengefaßt, und den Magen oben darauf,

auf die andere die kahlen Knochen, künstlich in das Unschlitt des Schlachtopfers eingehüllt. Und

dieser Haufen war der größere. Zeus, der Göttervater, der allwissende, durchschaute seinen Betrug

und sprach: »Sohn des Iapetos, erlauchter König, guter Freund, wie ungleich hast du die Teile

geteilt!« Prometheus glaubte jetzt erst recht, daß er ihn betrogen, lächelte bei sich selbst und sprach:

»Erlauchter Zeus, größter der ewigen Götter, wähle den Teil, den dir dein Herz im Busen anrät zu

wählen.« Zeus ergrimmte im Herzen, aber geflissentlich faßte er mit beiden Händen das weiße

Unschlitt. Als er es nun auseinandergedrückt und die bloßen Knochen gewahrte, stellte er sich an, als

entdeckte er jetzt eben erst den Betrug, und zornig sprach er: »Ich sehe wohl, Freund Iapetionide,

daß du die Kunst des Truges noch nicht verlernt hast!«

Zeus beschloß, sich an Prometheus für seinen Betrug zu rächen, und versagte den Sterblichen die

letzte Gabe, die sie zur vollendeteren Gesittung bedurften, das Feuer. Doch auch dafür wußte der

schlaue Sohn des Iapetos Rat. Er nahm den langen Stengel des markigen Riesenfenchels, näherte sich

mit ihm dem vorüberfahrenden Sonnenwagen und setzte so den Stengel in glostenden Brand. Mit

diesem Feuerzunder kam er hernieder auf die Erde, und bald loderte der erste Holzstoß gen Himmel.

In innerster Seele schmerzte es den Donnerer, als er den fernhinleuchtenden Glanz des Feuers unter

den Menschen emporsteigen sah. Sofort formte er, da des Feuers Gebrauch den Sterblichen nicht

mehr zu nehmen war, ein neues Übel für sie. Der seiner Kunst wegen berühmte Feuergott

Hephaistos mußte ihm das Scheinbild einer schönen Jungfrau fertigen; Athene selbst, die, auf

Prometheus eifersüchtig, ihm abhold geworden war, warf dem Bild ein weißes, schimmerndes

Gewand über, ließ ihr einen Schleier über das Gesicht wallen, den das Mädchen mit den Händen

geteilt hielt, bekränzte ihr Haupt mit frischen Blumen und umschlang es mit einer goldenen Binde,

die gleichfalls Hephaistos seinem Vater zulieb kunstreich verfertigt und mit bunten Tiergestalten

herrlich verziert hatte. Hermes, der Götterbote, mußte dem holden Gebilde Sprache verleihen und

Aphrodite allen Liebreiz. Also hatte Zeus unter der Gestalt eines Gutes ein blendendes Übel

geschaffen; er nannte das Mägdlein Pandora, das heißt die Allbeschenkte, denn jeder der

Unsterblichen hatte ihr irgendein unheilbringendes Geschenk für die Menschen mitgegeben. Darauf

führte er die Jungfrau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermischt mit den Göttern

lustwandelten. Alle miteinander bewunderten die unvergleichliche Gestalt. Sie aber schritt zu

Epimetheus, dem argloseren Bruder des Prometheus, ihm das Geschenk des Zeus zu bringen.

Vergebens hatte diesen der Bruder gewarnt, niemals ein Geschenk vom olympischen Herrscher

anzunehmen, damit dem Menschen kein Leid dadurch widerführe, sondern es sofort

zurückzusenden. Epimetheus, dieses Wortes uneingedenk, nahm die schöne Jungfrau mit Freuden

auf und empfand das Übel erst, als er es hatte. Denn bisher lebten die Geschlechter der Menschen,

von seinem Bruder beraten, frei vom Übel, ohne beschwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit. Das

Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen. Kaum bei

Epimetheus angekommen, schlug sie den Deckel zurück, und alsbald entflog dem Gefäße eine Schar

von Übeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über die Erde. Ein einziges Gut war zuunterst in

dem Fasse verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rat des Göttervaters warf Pandora den Deckel

wieder zu, ehe sie herausflattern konnte, und verschloß sie für immer in dem Gefäß. Das Elend füllte

inzwischen in allen Gestalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag und bei Nacht unter

den Menschen umher, heimlich und schweigend, denn Zeus hatte ihnen keine Stimme gegeben; eine

Schar von Fiebern hielt die Erde belagert, und der Tod, früher nur langsam die Sterblichen

beschleichend, beflügelte seinen Schritt.

Darauf wandte sich Zeus mit seiner Rache gegen Prometheus. Er übergab den Verbrecher dem

Hephaistos und seinen Dienern, dem Kratos und der Bia (dem Zwang und der Gewalt). Diese mußten

ihn in die skythischen Einöden schleppen und hier, über einem schauderhaften Abgrund, an eine

Felswand des Berges Kaukasus mit unauflöslichen Ketten schmieden. Ungerne vollzog Hephaistos

den Auftrag seines Vaters, er liebte in dem Titanensohne den verwandten Abkömmling seines

Urgroßvaters Uranos, den ebenbürtigen Göttersprößling. Unter mitleidsvollen Worten und von den

roheren Knechten gescholten, ließ er diese das grausame Werk vollbringen. So mußte nun

Prometheus an der freudlosen Klippe hängen, aufrecht, schlaflos, niemals imstande, das müde Knie

zu beugen. »Viele vergebliche Klagen und Seufzer wirst du versenden«, sagte Hephaistos zu ihm,

»denn des Zeus Sinn ist unerbittlich, und alle, die erst seit kurzem die Herrschergewalt an sich

gerissen [Zeus hatte den Kronos (Saturn), seinen Vater, und mit ihm die alten Götterdynastie gestürzt

und sich des Olymps mit Gewalt bemächtigt. Iapetos und Kronos waren Brüder, Prometheus und

Zeus Geschwisterkinder]. , sind hartherzig.« Wirklich sollte auch die Qual des Gefangenen ewig oder

doch dreißigtausend Jahre dauern. Obwohl laut aufseufzend und Winde, Ströme, Quellen und

Meereswellen, die Allmutter Erde und den allschauenden Sonnenkreis zu Zeugen seiner Pein

aufrufend, blieb er doch ungebeugten Sinnes. »Was das Schicksal beschlossen hat«, sprach er, »muß

derjenige tragen, der die unbezwingliche Gewalt der Notwendigkeit einsehen gelernt hat.« Auch ließ

er sich durch keine Drohungen des Zeus bewegen, die dunkle Weissagung, daß dem Götterherrscher

durch einen neuen Ehebund [Mit der Thetis] Verderben und Untergang bevorstehe, näher

auszudeuten. Zeus hielt Wort; er sandte dem Gefesselten einen Adler, der als täglicher Gast an seiner

Leber zehren durfte, die sich, abgeweidet, immer wieder erneuerte. Diese Qual sollte nicht eher

aufhören, bis ein Ersatzmann erscheinen würde, der durch freiwillige Übernahme des Todes

gewissermaßen sein Stellvertreter zu werden sich erböte.

Jener Zeitpunkt erschien früher, als der Verurteilte nach dem Spruch des Göttervaters erwarten

durfte. Als er viele Jahre an dem Felsen gehangen, kam Herakles des Weges, auf der Fahrt nach den

Hesperiden und ihren Äpfeln begriffen. Wie er den Götterenkel am Kaukasus hängen sah und sich

seines guten Rates zu erfreuen hoffte, erbarmte ihn sein Geschick, denn er sah zu, wie der Adler, auf

den Knien des Prometheus sitzend, an der Leber des Unglücklichen fraß. Da legte er Keule und

Löwenhaut hinter sich, spannte den Bogen, entsandte den Pfeil und schoß den grausamen Vogel von

der Leber des Gequälten hinweg. Hierauf löste er seine Fesseln und führte den Befreiten mit sich

davon. Damit aber Zeus' Bedingung erfüllt würde, stellte er ihm als Ersatzmann den Zentauren

Chiron, der erbötig war, an jenes Statt zu sterben; denn vorher war er unsterblich. Auf daß jedoch

des Kroniden Urteil, der den Prometheus auf weit längere Zeit an den Felsen gesprochen hatte, auch

so nicht unvollzogen bliebe, so mußte Prometheus fortwährend einen eisernen Ring tragen, an

welchem sich ein Steinchen von jenem Kaukasusfelsen befand. So konnte sich Zeus rühmen, daß sein

Feind noch immer an den Kaukasus angeschmiedet lebe.

Die Menschenalter

Die ersten Menschen, welche die Götter schufen, waren ein goldenes Geschlecht. Diese lebten,

solange Kronos (Saturnus) dem Himmel vorstand, sorgenlos und den Göttern selbst ähnlich, von

Arbeit und Kummer entfernt. Auch die Leiden des Alters waren ihnen unbekannt; an Händen, Füßen

und allen Gliedern immer rüstig, freuten sie sich, von jeglichem Übel frei, heiterer Gelage. Die seligen

Götter hatten sie lieb und schenkten ihnen auf reichen Fluren stattliche Herden. Wenn sie

verscheiden sollten, sanken sie nur in sanften Schlaf. Solange sie aber lebten, hatten sie alle

möglichen Güter; das Erdreich gewährte ihnen alle Früchte von selbst und im Überflusse, und ruhig,

mit allen Gütern gesegnet, vollbrachten sie ihr Tagewerk. Nachdem jenes Geschlecht dem Beschlusse

des Schicksals zufolge von der Erde verschwunden war, wurden sie zu frommen Schutzgöttern,

welche, dicht in Nebel gehüllt, die Erde rings durchwandelten, als Geber alles Guten, Behüter des

Rechts und Rächer aller Vergehungen.

Hierauf schufen die Unsterblichen ein zweites Menschengeschlecht, das silberne; dieses war schon

weit von jenem abgeartet und glich ihm weder an Körpergestaltung noch an Gesinnung. Sondern

ganze hundert Jahre wuchs der verzärtelte Knabe noch unmündig an Geist unter der mütterlichen

Pflege im Elternhause auf, und wenn einer endlich zum Jünglingsalter herangereift war, so blieb ihm

nur noch kurze Frist zum Leben übrig. Unvernünftige Handlungen stürzten diese neuen Menschen in

Jammer; denn sie konnten schon ihre Leidenschaften nicht mehr mäßigen und frevelten im

Übermute gegeneinander. Auch die Altäre der Götter wollten sie nicht mehr mit den gebührenden

Opfern ehren. Deswegen nahm Zeus dieses Geschlecht wieder von der Erde hinweg; denn ihm gefiel

nicht, daß sie der Ehrfurcht gegen die Unsterblichen ermangelten. Doch waren auch diese noch nicht

so entblößt von Vorzügen, daß ihnen nach ihrer Entfernung aus dem Leben nicht einige Ehre zum

Anteil geworden wäre, und sie durften als sterbliche Dämonen noch auf der Erde umherwandeln.

Nun erschuf der Vater Zeus ein drittes Geschlecht von Menschen; das hieß das eherne. Das war auch

dem silbernen völlig ungleich, grausam, gewalttätig, immer nur den Geschäften des Krieges ergeben,

immer einer auf des andern Beleidigung sinnend. Sie verschmähten es, von den Früchten des Feldes

zu essen, und nährten sich vom Tierfleische; ihr Starrsinn war hart wie Diamant, ihr Leib von

ungeheurem Gliederbau; Arme wuchsen ihnen von den Schultern, denen niemand nahekommen

durfte. Ihre Wehr war Erz, ihre Wohnung Erz, mit Erz bestellten sie das Feld; denn Eisen war damals

noch nicht vorhanden. Sie kehrten ihre eigenen Hände gegeneinander; aber so groß und entsetzlich

sie waren, so vermochten sie doch nichts gegen den schwarzen Tod und stiegen, vom hellen

Sonnenlichte scheidend, in die schaurige Nacht der Unterwelt hernieder.

Als die Erde auch dieses Geschlecht eingehüllt hatte, brachte Zeus, der Sohn des Kronos, ein viertes

Geschlecht hervor, das auf der nährenden Erde wohnen sollte. Dies war wieder edler und gerechter

als das vorige. Es war das Geschlecht der göttlichen Heroen, welche die Vorwelt auch Halbgötter

genannt hat. Zuletzt vertilgte aber auch sie Zwietracht und Krieg, die einen vor den sieben Toren

Thebens, wo sie um das Reich des Königes Ödipus kämpften, die andern auf dem Gefilde Trojas,

wohin sie um der schönen Helena willen zahllos auf Schiffen gekommen waren. Als diese ihr

Erdenleben in Kampf und Not beschlossen hatten, ordnete ihnen der Vater Zeus ihren Sitz am Rande

des Weltalls an, im Ozean, auf den Inseln der Seligen. Dort führen sie nach dem Tode ein glückliches

und sorgenfreies Leben, wo ihnen der fruchtbare Boden dreimal im Jahr honigsüße Früchte zum

Labsal emporsendet.

»Ach wäre ich«, so seufzet der alte Dichter Hesiod, der diese Sage von den Menschenaltern erzählt,

»wäre ich doch nicht ein Genosse des fünften Menschengeschlechtes, das jetzt gekommen ist; wäre

ich früher gestorben oder später geboren! denn dieses Menschengeschlecht ist ein eisernes!

Gänzlich verderbt, ruhen diese Menschen weder bei Tage noch bei Nacht von Kümmernis und

Beschwerden; immer neue nagende Sorgen schicken ihnen die Götter. Sie selbst aber sind die größte

Plage. Der Vater ist dem Sohne, der Sohn dem Vater nicht hold; der Gast haßt den ihn bewirtenden

Freund, der Genosse den Genossen; auch unter Brüdern herrscht nicht mehr herzliche Liebe wie

vorzeiten. Dem grauen Haare der Eltern selbst wird die Ehrfurcht versagt, Schmachreden werden

gegen sie ausgestoßen, Mißhandlungen müssen sie erdulden. Ihr grausamen Menschen, denket ihr

denn gar nicht an das Göttergericht, daß ihr euren abgelebten Eltern den Dank für ihre Pflege nicht

erstatten wollet? Überall gilt nur das Faustrecht; auf Städteverwüstung sinnen sie gegeneinander.

Nicht derjenige wird begünstigt, der die Wahrheit schwört, der gerecht und gut ist, nein, nur den

Übeltäter, den schnöden Frevler ehren sie; Recht und Mäßigung gilt nichts mehr, der Böse darf den

Edleren verletzen, trügerische, krumme Worte sprechen, Falsches beschwören. Deswegen sind diese

Menschen auch so unglücklich. Schadenfrohe, mißlaunige Scheelsucht verfolgt sie und grollt ihnen

mit dem neidischen Antlitz entgegen. Die Göttinnen der Scham und der heiligen Scheu, welche sich

bisher doch noch auf der Erde hatten blicken lassen, verhüllen traurig ihren schönen Leib in das

weiße Gewand und verlassen die Menschen, um sich wieder in die Versammlung der ewigen Götter

zurückzuflüchten. Unter den sterblichen Menschen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und

keine Rettung von diesem Unheil ist zu erwarten.«

Deukalion und Pyrrha

Als das eherne Menschengeschlecht auf Erden hauste und Zeus, dem Weltbeherrscher, schlimme

Sage von seinen Freveln zu Ohren gekommen, beschloß er, selbst in menschlicher Bildung die Erde zu

durchstreifen. Aber allenthalben fand er das Gerücht noch geringer als die Wahrheit. Eines Abends in

später Dämmerung trat er unter das ungastliche Obdach des Arkadierkönigs Lykaon, welcher durch

Wildheit berüchtigt war. Er ließ durch einige Wunderzeichen merken, daß ein Gott gekommen sei;

und die Menge hatte sich auf die Knie geworfen. Lykaon jedoch spottete über diese frommen

Gebete. »Laßt uns sehen«, sprach er, »ob es ein Sterblicher oder ein Gott sei!« Damit beschloß er im

Herzen, den Gast um Mitternacht, wenn der Schlummer auf ihm lastete, mit ungeahntem Tode zu

verderben. Noch vorher aber schlachtete er einen armen Geisel, den ihm das Volk der Molosser

gesandt hatte, kochte die halb lebendigen Glieder in siedendem Wasser oder briet sie am Feuer und

setzte sie dem Fremdling zum Nachtmahle auf den Tisch. Zeus, der alles durchschaut hatte, fuhr vom

Mahle empor und sandte die rächende Flamme über die Burg des Gottlosen. Bestürzt entfloh der

König ins freie Feld. Der erste Wehlaut, den er ausstieß, war ein Geheul, sein Gewand wurde zu

Zotteln, seine Arme wurden zu Beinen: er war in einen blutdürstigen Wolf verwandelt.

Zeus kehrte in den Olymp zurück, hielt mit den Göttern Rat und gedachte das ruchlose

Menschengeschlecht zu vertilgen. Schon wollte er auf alle Länder die Blitze verstreuen; aber die

Furcht, der Äther möchte in Flammen geraten und die Achse des Weltalls verlodern, hielt ihn ab. Er

legte die Donnerkeile, welche ihm die Zyklopen geschmiedet, wieder beiseite und beschloß, über die

ganze Erde Platzregen vom Himmel zu senden und so unter Wolkengüssen die Sterblichen

aufzureiben. Auf der Stelle ward der Nordwind samt allen andren die Wolken verscheuchenden

Winden in die Höhlen des Äolos verschlossen und nur der Südwind von ihm ausgesendet. Dieser flog

mit triefenden Schwingen zur Erde hinab, sein entsetzliches Antlitz bedeckte pechschwarzes Dunkel,

sein Bart war schwer von Gewölk, von seinem weißen Haupthaare rann die Flut, Nebel lagerten auf

der Stirne, aus dem Busen troff ihm das Wasser. Der Südwind griff an den Himmel, faßte mit der

Hand die weit umherhangenden Wolken und fing an, sie auszupressen. Der Donner rollte, gedrängte

Regenflut stürzte vom Himmel; die Saat beugte sich unter dem wogenden Sturm, darnieder lag die

Hoffnung des Landmanns, verdorben war die langwierige Arbeit des ganzen Jahres. Auch Poseidon,

des Zeus Bruder, kam ihm bei dem Zerstörungswerke zu Hilfe, berief alle Flüsse zusammen und

sprach: »Laßt euren Strömungen alle Zügel schießen, fallt in die Häuser, durchbrechet die Dämme!«

Sie vollführten seinen Befehl, und Poseidon selbst durchstach mit seinem Dreizack das Erdreich und

schaffte durch Erschütterung den Fluten Eingang. So strömten die Flüsse über die offene Flur hin,

bedeckten die Felder, rissen Baumpflanzungen, Tempel und Häuser fort. Blieb auch wo ein Palast

stehen, so deckte doch bald das Wasser seinen Giebel, und die höchsten Türme verbargen sich im

Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr unterschieden; alles war See, gestadelose See. Die

Menschen suchten sich zu retten, so gut sie konnten; der eine erkletterte den höchsten Berg, der

andere bestieg einen Kahn und ruderte nun über das Dach seines versunkenen Landhauses oder über

die Hügel seiner Weinpflanzungen hin, daß der Kiel an ihnen streifte. In den Ästen der Wälder

arbeiteten sich die Fische ab; den Eber, den eilenden Hirsch erjagte die Flut; ganze Völker wurden

vom Wasser hinweggerafft, und was die Welt verschonte, starb den Hungertod auf den unbebauten

Heidegipfeln.

Ein solcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen im Lande Phokis über die alles bedeckende

Meerflut hervor. Es war der Parnassos. An ihm schwamm Deukalion, des Prometheus Sohn, den

dieser gewarnt und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit seiner Gattin Pyrrha im Nachen heran. Kein

Mann, kein Weib war je erfunden worden, die an Rechtschaffenheit und Götterscheu diese beiden

übertroffen hätten. Als nun Zeus, vom Himmel herabschauend, die Welt von stehenden Sümpfen

überschwemmt und von den vielen tausendmal Tausenden nur ein einziges Menschenpaar übrig sah,

beide unsträflich, beide andächtige Verehrer der Gottheit, da sandte er den Nordwind aus, sprengte

die schwarzen Wolken und hieß ihn die Nebel entführen; er zeigte den Himmel der Erde und die Erde

dem Himmel wieder. Auch Poseidon, der Meeresfürst, legte den Dreizack nieder und besänftigte die

Flut. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüsse kehrten in ihr Bett zurück; Wälder streckten ihre mit

Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folgten, endlich breitete sich auch

wieder ebenes Land aus, und zuletzt war die Erde wieder da.

Deukalion blickte um sich. Das Land war verwüstet und in Grabesstille versenkt. Tränen rollten bei

diesem Anblick über seine Wangen, und er sprach zu seinem Weibe Pyrrha: »Geliebte, einzige

Lebensgenossin! Soweit ich in die Länder schaue, nach allen Weltgegenden hin, kann ich keine

lebende Seele entdecken. Wir zwei bilden miteinander das Volk der Erde, alle andren sind in der

Wasserflut untergegangen. Aber auch wir sind unsres Lebens noch nicht mit Gewißheit sicher. Jede

Wolke, die ich sehe, erschreckt meine Seele noch. Und wenn auch alle Gefahr vorüber ist, was fangen

wir Einsamen auf der verlassenen Erde an? Ach, daß mich mein Vater Prometheus die Kunst gelehrt

hätte, Menschen zu erschaffen und geformtem Tone Geist einzugießen!« So sprach er, und das

verlassene Paar fing an zu weinen; dann warfen sie vor einem halb zerstörten Altar der Göttin Themis

sich auf die Knie nieder und begannen zu der Himmlischen zu flehen: »Sag uns an, o Göttin, durch

welche Kunst stellen wir unser untergegangenes Menschengeschlecht wieder her? O hilf der

versunkenen Welt wieder zum Leben!«

»Verlasset meinen Altar«, tönte die Stimme der Göttin, »umschleiert euer Haupt, löset eure

gegürteten Glieder und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken.«

Lange verwunderten sich beide über diesen rätselhaften Götterspruch. Pyrrha brach zuerst das

Schweigen. »Verzeih mir, hohe Göttin«, sprach sie, »wenn ich zusammenschaudre, wenn ich dir nicht

gehorsame und meiner Mutter Schatten nicht durch Zerstreuung ihrer Gebeine kränken will!« Aber

dem Deukalion fuhr es durch den Geist wie ein Lichtstrahl. Er beruhigte seine Gattin mit dem

freundlichen Worte: »Entweder trügt mich mein Scharfsinn, oder die Worte der Götter sind fromm

und verbergen keinen Frevel! Unsere große Mutter, das ist die Erde, ihre Knochen sind die Steine;

und diese, Pyrrha, sollen wir hinter uns werfen!«

Beide mißtrauten indessen dieser Deutung noch lange. Jedoch, was schadet die Probe, dachten sie.

So gingen sie denn seitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre Kleider und warfen, wie ihnen

befohlen war, die Steine hinter sich. Da ereignete sich ein großes Wunder: das Gestein begann seine

Härtigkeit und Spröde abzulegen, wurde geschmeidig, wuchs, gewann eine Gestalt; menschliche

Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deutlich, sondern rohen Gebilden oder einer in

Marmor vom Künstler erst aus dem Groben herausgemeißelten Figur ähnlich. Was jedoch an den

Steinen Feuchtes oder Erdichtes war, das wurde zu Fleisch an dem Körper; das Unbeugsame, Feste

ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewannen mit Hilfe der

Götter in kurzer Frist die vom Manne geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe

geworfenen weibliche.

Diesen seinen Ursprung verleugnet das menschliche Geschlecht nicht, es ist ein hartes Geschlecht

und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachsen ist.

Io

Inachos, der uralte Stammfürst und König der Pelasger, hatte eine bildschöne Tochter mit Namen Io.

Auf sie war der Blick des Zeus, des olympischen Herrschers, gefallen, als sie auf der Wiese von Lerna

der Herden ihres Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr entzündet, trat zu ihr in

Menschengestalt und fing an, sie mit verführerischen Schmeichelworten zu versuchen: »O Jungfrau,

glücklich ist, der dich besitzen wird; doch ist kein Sterblicher deiner wert, und du verdientest des

höchsten Gottes Braut zu sein! Wisse denn, ich bin Zeus. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags

brennt heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Haines, der uns dort zur Linken in seine

Kühle einlädt; was machst du dir in der Glut des Tages zu schaffen? Fürchte dich doch nicht, den

dunklen Wald und die Schluchten, in welchen das Wild hauset, zu betreten. Bin doch ich da, dich zu

schirmen, der Gott, der den Zepter des Himmels führt und die zackigen Blitze über den Erdboden

versendet.« Aber die Jungfrau floh vor dem Versucher mit eiligen Schritten, und sie wäre ihm auf den

Flügeln der Angst entkommen, wenn der verfolgende Gott seine Macht nicht mißbraucht und das

ganze Land in Finsternis gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren

ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felsen zu rennen oder in einen Fluß zu stürzen. So

kam die unglückliche Io in die Gewalt des Gottes.

Hera, die Göttermutter, war längst an die Treulosigkeit ihres Gatten gewöhnt, der sich von ihrer

Liebe ab‐ und den Töchtern der Halbgötter und der Sterblichen zuwandte; aber sie vermochte ihren

Zorn und ihre Eifersucht nicht zu bändigen, und mit immer wachem Mißtrauen beobachtete sie alle

Schritte des Gottes auf der Erde. So schaute sie auch jetzt gerade auf die Gegenden hernieder, wo ihr

Gemahl ohne ihr Wissen wandelte. Zu ihrem großen Erstaunen bemerkte sie plötzlich, wie der

heitere Tag auf einer Stelle durch nächtlichen Nebel getrübt wurde und wie dieser weder einem

Strome noch dem dunstigen Boden entsteige, noch sonst von einer natürlichen Ursache herrühre. Da

kam ihr schnell ein Gedanke an die Untreue ihres Gatten; sie spähte rings durch den Olymp und sah

ihn nicht. »Entweder ich täusche mich«, sprach sie ergrimmt zu sich selbst, »oder ich werde von

meinem Gatten schnöde gekränkt!« Und nun fuhr sie auf einer Wolke vom hohen Äther zur Erde

hernieder und gebot dem Nebel, der den Entführer mit seiner Beute umschlossen hielt, zu weichen.

Zeus hatte die Ankunft seiner Gemahlin geahnt, und um seine Geliebte ihrer Rache zu entziehen,

verwandelte er die schöne Tochter des Inachos schnell in eine schmucke, schneeweiße Kuh. Aber

auch so war die Holdselige noch schön geblieben. Hera, welche die List ihres Gemahls alsbald

durchschaut hatte, pries das stattliche Tier und fragte, als wüßte sie nichts von der Wahrheit, wem

die Kuh gehöre, von wannen und welcherlei Zucht sie sei. Zeus, in der Not und um sie von weiterer

Nachfrage abzuschrecken, nahm seine Zuflucht zu einer Lüge und gab vor, die Kuh entstamme der

Erde. Hera gab sich damit zufrieden, aber sie bat sich das schöne Tier von ihrem Gemahl zum

Geschenke aus. Was sollte der betrogene Betrüger machen? Gibt er die Kuh her, so wird er seiner

Geliebten verlustig; verweigert er sie, so erregt er erst recht den Verdacht seiner Gemahlin, welche

der Unglücklichen dann rasches Verderben senden wird! So entschloß er sich denn, für den

Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und schenkte die schimmernde Kuh, die er noch immer für

unentdeckt hielt, seiner Gemahlin. Hera knüpfte, scheinbar beglückt durch die Gabe, dem schönen

Tier ein Band um den Hals und führte die Unselige, der ein verzweifelndes Menschenherz unter der

Tiergestalt schlug, im Triumphe davon. Doch machte der Göttin dieser Diebstahl selbst Angst, und sie

ruhte nicht, bis sie ihre Nebenbuhlerin der sichersten Hut überantwortet hatte. Daher suchte sie den

Argos, den Sohn des Arestor, auf, ein Ungetüm, das ihr zu diesem Dienste besonders geeignet schien.

Denn Argos hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar abwechslungsweise sich schloß

und der Ruhe ergab, während die übrigen alle, über Vorder‐ und Hinterhaupt wie funkelnde Sterne

zerstreut, auf ihrem Posten ausharrten. Diesen gab Hera der armen Io zum Wächter, damit ihr

Gemahl Zeus die entrissene Geliebte nicht entführen könne. Unter seinen hundert Augen durfte Io,

die Kuh, des Tags über auf einer fetten Trift weiden; Argos aber stand in der Nähe, und wo er sich

immer hinstellen mochte, erblickte er die ihm Anvertraute; auch wenn er sich abwandte und ihr das

Hinterhaupt zukehrte, hatte er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen war, schloß er sie

ein und belastete den Hals der Unglückseligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub waren ihre

Speise, ihr Bett der harte, nicht einmal immer mit Gras bedeckte Boden, ihr Trank schlammige

Pfützen. Io vergaß oft, daß sie kein Mensch mehr war; sie wollte, Mitleiden erflehend, ihre Arme zu

Argos erheben, da ward sie erst daran erinnert, daß sie keine Arme mehr hatte. Sie wollte ihm in

Worten rührende Bitten vortragen, dann entfuhr ihrem Munde ein Brüllen, daß sie vor ihrer eigenen

Stimme erschrak, welche sie daran mahnte, wie sie durch ihres Räubers Selbstsucht in ein Tier

verwandelt worden sei. Doch blieb Argos mit ihr nicht an einer Stelle, denn so hatte es ihn Hera

geheißen, die durch Veränderung ihres Aufenthalts sie dem Gemahl um so gewisser zu entziehen

hoffte. Daher zog ihr Wächter mit ihr im Lande herum, und so kam sie auch mit ihm in ihre alte

Heimat, an das Gestade des Flusses, wo sie so oft als Kind zu spielen gepflegt hatte. Da sah sie zum

ersten Mal ihr Bild in der Flut; als das Tierhaupt mit Hörnern ihr aus dem Wasser entgegenblickte,

schauderte sie zurück und floh bestürzt vor sich selbst. Ein sehnsüchtiger Trieb führte sie in die Nähe

ihrer Schwestern, in die Nähe ihres Vaters Inachos; aber diese erkannten sie nicht; Inachos

streichelte wohl das schöne Tier und reichte ihm Blätter, die er von dem nächsten Strauche pflückte;

Io beleckte dankbar seine Hand und benetzte sie mit Küssen und heimlichen menschlichen Tränen.

Aber wen er liebkoste und von wem er geliebkost wurde, das ahnete der Greis nicht. Endlich kam der

Armen, deren Geist unter der Verwandlung nicht gelitten hatte, ein glücklicher Gedanke. Sie fing an,

Schriftzeichen mit dem Fuße zu ziehen, und erregte durch diese Bewegung die Aufmerksamkeit des

Vaters, der bald im Staube die Kunde las, daß er sein eigenes Kind vor sich habe. »Ich

Unglückseliger«, rief der Greis bei dieser Entdeckung aus, indem er sich an Horn und Nacken der

stöhnenden Tochter hing, »so muß ich dich wiederfinden, die ich durch alle Länder gesucht habe!

Wehe mir, du hast mir weniger Kummer gemacht, solange ich dich suchte, als jetzt, wo ich dich

gefunden habe! Du schweigst? Du kannst mir kein tröstendes Wort sagen, mir nur mit einem Gebrüll

antworten! Ich Tor, einst sann ich darauf, wie ich dir einen würdigen Eidam zuführen könnte, und

dachte nur an Brautfackel und Vermählung. Nun bist du ein Kind der Herde...« Argos, der grausame

Wächter, ließ den jammernden Vater nicht vollenden, er riß Io von dem Vater hinweg und schleppte

sie fort auf einsame Weiden. Dann klomm er selbst einen Berggipfel empor und versah sein Amt,

indem er mit seinen hundert Augen wachsam nach allen vier Winden hinauslugte.

Zeus konnte das Leid der Inachostochter nicht länger ertragen. Er rief seinem geliebten Sohne

Hermes und befahl ihm, seine List zu brauchen und dem verhaßten Wächter das Augenlicht

auszulöschen. Dieser beflügelte seine Füße, ergriff mit der mächtigen Hand seine einschläfernde Rute

und setzte seinen Reisehut auf. So fuhr er von dem Palaste seines Vaters zur Erde nieder. Dort legte

er Hut und Schwingen ab und behielt nur den Stab; so stellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an

sich und trieb sie auf die abgelegenen Fluren, wo Io weidete und Argos die Wache hielt. Dort

angekommen, zog er ein Hirtenrohr, das man Syrinx nennt, hervor und fing an, so anmutig und voll

zu blasen, wie man von irdischen Hirten zu vernehmen nicht gewohnt ist. Der Diener Heras freute

sich dieses ungewohnten Schalles, erhob sich von seinem Felsensitze und rief hernieder: »Wer du

auch sein magst, willkommener Rohrbläser, du könntest wohl bei mir auf diesem Felsen hier

ausruhen. Nirgends ist der Graswuchs üppiger für das Vieh als hier, und du siehst, wie behaglich der

Schatten dieser dicht gepflanzten Bäume für den Hirten ist!« Hermes dankte dem Rufenden, stieg

hinauf und setzte sich zu dem Wächter, mit welchem er eifrig zu plaudern anfing und sich so ernstlich

ins Gespräch vertiefte, daß der Tag herumging, ehe Argos sich dessen versah. Diesem begannen die

Augen zu schläfern, und nun griff Hermes wieder zu seinem Rohre und versuchte sein Spiel, um ihn

vollends in Schlummer zu wiegen. Aber Argos, der an den Zorn seiner Herrin dachte, wenn er seine

Gefangene ohne Fesseln und Obhut ließe, kämpfte mit dem Schlaf, und wenn sich auch der

Schlummer in einen Teil seiner Augen einschlich, so wachte er doch fortdauernd mit dem andern

Teile, nahm sich zusammen, und da die Rohrpfeife erst kürzlich erfunden worden war, so fragte er

seinen Gesellen nach dem Ursprunge dieser Erfindung. »Das will ich dir gerne erzählen«, sagte

Hermes, »wenn du in dieser späten Abendstunde Geduld und Aufmerksamkeit genug hast, mich

anzuhören. In den Schneegebirgen Arkadiens wohnte eine berühmte Hamadryade (Baumnymphe),

mit Namen Syrinx. Die Waldgötter und Satyrn, von ihrer Schönheit bezaubert, verfolgten sie schon

lange mit ihrer Werbung, aber immer wußte sie ihnen zu entschlüpfen. Denn sie scheute das Joch der

Vermählung und wollte, umgürtet und jagdliebend wie Artemis, gleich dieser in jungfräulichem

Stande verharren. Endlich wurde auf seinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige Gott

Pan der Nymphe ansichtig, näherte sich ihr und warb um ihre Hand, dringend und im stolzen

Bewußtsein seiner Hoheit. Aber die Nymphe verschmähte sein Flehen und flüchtete vor ihm durch

unwegsam Steppen, bis sie zuletzt an das Wasser des versandeten Flusses Ladon kam, dessen Wellen

doch noch tief genug waren, der Jungfrau den Übergang zu wehren. Hier beschwor sie ihre

Schwestern, die Nymphen, ehe sie in die Hand des Gottes fiele, ihrer sich zu erbarmen und sie zu

verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und umfaßte die am Ufer Zögernde; aber wie

staunte er, als er, statt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr umfaßt hielt; seine lauten

Seufzer zogen vervielfältigt durch das Rohr und wiederholten sich mit tiefem, klagendem Gesäusel.

Der Zauber dieses Wohllautes tröstete den getäuschten Gott. »Wohl denn, verwandelte Nymphe«,

rief er mit schmerzlicher Freude, »auch so soll unsre Verbindung unauflöslich sein!« Und nun schnitt

er sich von dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte sie mit Wachs untereinander

und nannte die lieblich tönende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade; und seitdem heißt

dieses Hirtenrohr Syrinx...«

So lautete die Erzählung des Götterboten, bei welcher er den hundertäugigen Wächter unausgesetzt

im Auge behielt. Die Märe war noch nicht zu Ende, als er sah, wie ein Auge um das andere sich unter

der Decke geborgen hatte und endlich alle die hundert Leuchten in dichtem Schlaf erloschen waren.

Nun hemmte der Götterbote seine Stimme, berührte mit seinem Zauberstabe nacheinander die

hundert eingeschläferten Augenlider und verstärkte ihre Betäubung. Während nun der

hundertäugige Argos in tiefem Schlafe nickte, griff Hermes schnell zu dem Sichelschwerte, das er

unter seinem Hirtenrocke verborgen trug, und hieb ihm den gesenkten Nacken, da wo der Hals

zunächst an den Kopf grenzt, durch und durch. Kopf und Rumpf stürzten nacheinander vom Felsen

herab und färbten das Gestein mit einem Strome von Blut.

Nun war Io befreit, und obwohl noch unverwandelt, rannte sie ohne Fesseln davon. Aber den

durchdringenden Blicken Heras entging nicht, was in der Tiefe geschehen war. Sie dachte auf eine

ausgesuchte Qual für ihre Nebenbuhlerin und sandte ihr eine Bremse, die das unglückliche Geschöpf

durch ihren Stich zum Wahnsinn trieb. Diese Qual jagte die Geängstigte mit ihrem Stachel

landflüchtig über den ganzen Erdkreis, zu den Skythen, an den Kaukasus, zum Amazonenvolke, zum

Kimmerischen Isthmos und an die Mäotische See; dann hinüber nach Asien, und endlich nach

langem, verzweiflungsvollem Irrlaufe nach Ägypten. Hier am Strande des Nilufers angelangt, sank Io

auf ihre Vorderfüße nieder und hob, den Hals rücklings gebogen, ihre stummen Augen zum Olymp

empor, mit einem Blicke voll Haders gegen Zeus. Den jammerte dieses Anblickes; er eilte zu seiner

Gemahlin Hera, umfing ihren Hals mit den Armen, flehte um Barmherzigkeit für das arme Mädchen,

das schuldlos an seiner Verirrung war, und schwor ihr beim Wasser der Unterwelt, bei dem die

Götter schwören, von seiner Neigung zu ihr hinfort ganz abzulassen. Hera hörte während dieser Bitte

das flehentliche Brüllen der Kuh, das zum Olymp emporstieg. Da ließ sich die Göttermutter

erweichen und gab dem Gemahle Vollmacht, der Mißgestalteten den menschlichen Leib

zurückzugeben. Zeus eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier strich er der Kuh mit der Hand über

den Rücken. Da war es wunderbar anzuschauen: die Zotteln flohen vom Leibe des Tieres, das Gehörn

schrumpfte zusammen, die Scheibe der Augen verengte sich, das Maul zog sich zu Lippen zusammen,

Schultern und Hände kehrten wieder, die Klauen verschwanden, nichts blieb von der Kuh übrig als

die schöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Gestalt erhob sich Io vom Boden und stand aufrecht, in

menschlicher Schönheit leuchtend. Am Nilstrome gebar sie dem Zeus den Epaphos, und weil das Volk

die wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte, so herrschte sie lange mit

Fürstengewalt über jene Lande. Doch blieb sie auch so nicht ganz von Heras Zorne verschont. Diese

stiftete das wilde Volk der Kureten auf, ihren jungen Sohn Epaphos zu entführen, und nun trat sie

aufs neue eine lange vergebliche Wanderung an, den Geraubten aufzusuchen. Endlich, nachdem

Zeus die Kureten mit dem Blitz erschlagen, fand sie den entführten Sohn an der Grenze Äthiopiens

wieder, kehrte mit ihm nach Ägypten zurück und ließ ihn an ihrer Seite herrschen. Er heiratete die

Memphis, und diese gebar ihm Libya, von der das Land Libyen den Namen erhielt. Mutter und Sohn

wurden von dem Nilvolke nach beider Tode mit Tempeln geehrt und erhielten, sie als Isis, er als Apis,

göttliche Verehrung.

Phaëton

Auf herrlichen Säulen erbaut stand die Königsburg des Sonnengottes, von blitzendem Gold und

glühendem Karfunkel schimmernd; den obersten Giebel umschloß blendendes Elfenbein, gedoppelte

Türen strahlten in Silberglanz, darauf in erhabener Arbeit die schönsten Wundergeschichten zu

schauen waren. In diesen Palast trat Phaëthon, der Sohn des Sonnengottes Phöbos, und verlangte

den Vater zu sprechen. Doch stellte er sich nur von ferne hin, denn in der Nähe war das strahlende

Licht nicht zu ertragen. Der Vater Phöbos, von Purpurgewand umhüllt, saß auf seinem fürstlichen

Stuhle, der mit glänzenden Smaragden besetzt war; zu seiner Rechten und seiner Linken stand sein

Gefolge geordnet, der Tag, der Monat, das Jahr, die Jahrhunderte und die Horen; der jugendliche

Lenz mit seinem Blütenkranze, der Sommer mit Ährengewinden bekränzt, weinfarben der Herbst,

der eisige Winter mit schneeweißen Haaren. Phöbos, in ihrer Mitte sitzend, wurde mit seinen

allschauenden Augen bald den Jüngling gewahr, der über so viele Wunder staunte. »Was ist der

Grund deiner Wallfahrt«, sprach er, »was führt dich in den Palast deines göttlichen Vaters, mein

Sohn?« Phaëthon antwortete: »Erlauchter Vater, man spottet mein auf Erden und beschimpft meine

Mutter Klymene. Sie sprechen, ich heuchle nur himmlische Abkunft und sei der Sohn eines dunklen

Vaters. Darum komme ich, von dir ein Unterpfand zu erbitten, das mich vor aller Welt als deinen

wirklichen Sprößling darstelle.« So sprach er; da legte Phöbos die Strahlen, die ihm rings das Haupt

umleuchteten, ab und hieß ihn näher herantreten; dann umarmte er ihn und sprach: »Deine Mutter

Klymene hat die Wahrheit gesagt, mein Sohn, und ich werde dich vor der Welt nimmermehr

verleugnen. Damit du aber ja nicht ferner zweifelst, so erbitte dir ein Geschenk! Ich schwöre beim

Styx, dem Flusse der Unterwelt, bei welchem alle Götter schwören, deine Bitte, welche sie auch sei,

soll erfüllt werden!« Phaëthon ließ den Vater kaum ausreden. »So erfülle mir denn«, sprach er,

»meinen glühendsten Wunsch, und vertraue mir nur auf einen Tag die Lenkung deines geflügelten

Sonnenwagens.«

Schrecken und Reue ward sichtbar auf dem Angesichte des Gottes. Drei‐, viermal schüttelte er sein

umleuchtetes Haupt und rief endlich: »O Sohn, du hast mich ein sinnloses Wort sprechen lassen! O

dürfte ich dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du verlangst ein Geschäft, dem deine

Kräfte nicht gewachsen sind; du bist zu jung; du bist sterblich, und was du wünschest, ist ein Werk

der Unsterblichen! Ja, du erstrebest sogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen vergönnt ist.

Denn außer mir vermag keiner von ihnen auf der glutensprühenden Achse zu stehen. Der Weg, den

mein Wagen zu machen hat, ist gar steil, mit Mühe erklimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch

frisches Rossegespann. Die Mitte der Laufbahn ist zuoberst am Himmel. Glaube mir, wenn ich auf

meinem Wagen in solcher Höhe stehe, da kommt mich oft selbst ein Grausen an, und mein Haupt

droht ein Schwindel zu erfassen, wenn ich so herniederblicke in die Tiefe und Meer und Land weit

unter mir liegt. Zuletzt ist dann die Straße ganz abschüssig, da bedarf es gar sicherer Lenkung. Die

Meeresgöttin Thetis selbst, die mich in ihren Fluten aufzunehmen bereit ist, pflegt alsdann zu

befürchten, ich möchte in die Tiefe geschmettert werden. Dazu bedenke, daß der Himmel sich in

beständigem Umschwunge dreht und ich diesem reißenden Kreislaufe entgegenfahren muß. Wie

vermöchtest du das, wenn ich dir auch meinen Wagen gäbe? Darum, geliebter Sohn, verlange nicht

ein so schlimmes Geschenk und bessere deinen Wunsch, solange es noch Zeit ist. Sieh mein

erschrecktes Gesicht an. O könntest du durch meine Augen in mein sorgenvolles Vaterherz

eindringen! Verlange, was du sonst willst von alle Gütern des Himmels und der Erde! Ich schwöre dir

beim Styx, du sollst es haben! ‐ Was umarmst du mich mit solchem Ungestüm?«

Aber der Jüngling ließ mit Flehen nicht ab, und der Vater hatte den heiligen Schwur geschworen. So

nahm er denn seinen Sohn bei der Hand und führte ihn zu dem Sonnenwagen, Hephaistos' herrlicher

Arbeit. Achse, Deichsel und der Kranz der Räder waren von Gold, die Speichen Silber; vom Joche

schimmerten Chrysolithen und Juwelen. Während Phaëthon die herrliche Arbeit beherzt anstaunte,

tat im geröteten Osten die erwachte Morgenröte ihr Purpurtor und ihren Vorsaal, der voll Rosen ist,

auf. Die Sterne verschwanden allmählich, der Morgenstern ist der letzte, der seinen Posten am

Himmel verläßt, und die äußersten Hörner des Mondes verlieren sich am Rande. Jetzt gibt Phöbos

den geflügelten Horen den Befehl, die Rosse zu schirren; und diese führen die glutsprühenden Tiere,

von Ambrosia gesättigt, von den erhabenen Krippen und legen ihnen herrliche Zäume an. Während

dies geschah, bestrich der Vater das Antlitz seines Sohnes mit einer heiligen Salbe und machte es

dadurch geschickt, die glühende Flamme zu ertragen. Um das Haupthaar legte er ihm seine

Strahlensonne, aber er seufzte dazu und sprach warnend: »Kind, schone mir die Stacheln, brauche

wacker die Zügel; denn die Rosse rennen schon von selbst, und es kostet Mühe, sie im Fluge zu

halten; die Straße geht schräg in weit umbiegender Krümmung; den Südpol wie den Nordpol mußt

du meiden. Du erblickst deutlich die Gleise der Räder. Senke dich nicht zu tief, sonst gerät die Erde in

Brand; steige nicht zu hoch, sonst verbrennst du den Himmel. Auf, die Finsternis flieht, nimm die

Zügel zur Hand; oder ‐ noch ist es Zeit; besinne dich, liebes Kind; überlaß den Wagen mir, laß mich

der Welt das Licht schenken, und bleibe du Zuschauer!«

Der Jüngling schien die Worte des Vaters gar nicht zu hören, er schwang sich mit einem Sprung auf

den Wagen, ganz erfreut, die Zügel in den Händen zu haben, und nickte dem unzufriedenen Vater

einen kurzen, freundlichen Dank zu. Mittlerweile füllten die vier Flügelrosse mit glutatmendem

Wiehern die Luft, und ihr Huf stampfte gegen die Barren. Ohne etwas vom Lose ihres Enkels zu

ahnen, öffnete Thetis, die Mutter Klymenes, die Schranken; die Welt lag in unendlichem Raume vor

den Blicken des Knaben, die Rosse flogen die Bahn aufwärts und spalteten die Morgennebel, die vor

ihnen lagen.

Inzwischen fühlten die Rosse wohl, daß sie nicht die gewohnte Last trugen und das Joch leichter sei

als gewöhnlich; und wie Schiffe, wenn sie das rechte Gewicht nicht haben, im Meere schwanken, so

machte der Wagen Sprünge in der Luft, ward hoch emporgestoßen und rollte dahin, als wäre er leer.

Als das Rossegespann dies merkte, rannte es, die gebahnten Räume verlassend, und lief nicht mehr

in der vorigen Ordnung. Phaëthon fing an zu erbeben, er wußte nicht, wohin die Zügel lenken, wußte

den Weg nicht, wußte nicht, wie er die wilden Rosse bändigen sollte. Als nun der Unglückliche hoch

vom Himmel abwärts sah, auf die tief, tief unter ihm sich hinstreckenden Länder, wurde er blaß, und

seine Knie zitterten von plötzlichem Schrecken. Er sah rückwärts; schon lag viel Himmel hinter ihm,

aber noch mehr vor seinen Augen. Beides ermaß er in seinem Geiste. Unwissend, was beginnen,

starrte er in die Weite, ließ die Zügel nicht nach, zog sie auch nicht weiter an; er wollte den Rossen

rufen, aber er kannte ihre Namen nicht. Mit Grauen sah er die mannigfaltigen Sternbilder an, die in

abenteuerlichen Gestalten am Himmel herumhingen. Da ließ er, von kaltem Entsetzen gefaßt, die

Zügel fahren, und wie diese herabschlotternd den Rücken der Pferde berührten, so verließen die

Rosse ihre Spur, schweiften seitwärts in fremde Luftgebiete, gingen bald hoch empor, bald tief

hernieder; jetzt stießen sie an den Fixsternen an, jetzt wurden sie auf abschüssigem Pfade in die

Nachbarschaft der Erde herabgerissen. Schon berührten sie die erste Wolkenschicht, die bald

entzündet aufdampfte. Immer tiefer stürzte der Wagen, und unversehens war er einem Hochgebirge

nahe gekommen. Da lechzte vor Hitze der Boden, spaltete sich, und weil plötzlich alle Säfte

austrockneten, fing er an zu glimmen; das Heidegras wurde weißgelb und welkte hinweg; weiter

unten loderte das Laub der Waldbäume auf, bald war die Glut bei der Ebene angekommen; nun

wurde die Saat weggebrannt; ganze Städte loderten in Flammen auf, Länder mit all ihrer Bevölkerung

wurden versengt; rings brannten Hügel, Wälder und Berge. Damals sollen auch die Mohren schwarz

geworden sein. Die Ströme versiegten oder flohen erschreckt nach ihrer Quelle zurück, das Meer

selbst wurde zusammengedrängt, und was jüngst noch See war, wurde trockenes Sandfeld.

An allen Seiten sah Phaëthon den Erdkreis entzündet; ihm selbst wurde die Glut bald unerträglich;

wie tief aus dem Innern einer Feueresse atmete er siedende Luft ein und fühlte unter seinen Sohlen,

wie der Wagen erglühte. Schon konnte er den Dampf und die vom Erdbrand emporgeschleuderte

Asche nicht mehr ertragen; Qualm und pechschwarzes Dunkel umgab ihn; das Flügelgespann riß ihn

nach Willkür fort; endlich ergriff die Glut seine Haare, er stürzte aus dem Wagen, und brennend

wurde er durch die Luft gewirbelt, wie zuweilen ein Stern bei heiterer Luft durch den Himmel zu

schießen scheint. Ferne von der Heimat nahm ihn der breite Strom Eridanos auf und bespülte ihm

sein schäumendes Angesicht. Phöbos, der Vater, der dies alles mit ansehen mußte, verhüllte sein

Haupt in brütender Trauer. Damals, sagt man, sei ein Tag der Erde ohne Sonnenlicht

vorübergeflogen. Der ungeheure Brand leuchtete allein.

Europa

Im Lande Tyrus und Sidon erwuchs die Jungfrau Europa, die Tochter des Königs Agenor, in der tiefen

Abgeschiedenheit des väterlichen Palastes. Zu dieser ward nachmitternächtlicherweile, wo

untrügliche Träume die Sterblichen besuchen, ein seltsames Traumbild vom Himmel gesendet. Es

kam ihr vor, als erschienen zwei Weltteile in Frauengestalt, Asien und der gegenüberliegende, und

stritten um ihren Besitz. Die eine der Frauen hatte die Gestalt einer Fremden; die andere ‐ und dies

war Asien ‐ glich an Aussehen und Gebärde einer Einheimischen. Diese wehrte sich mit zärtlichem

Eifer für ihr Kind Europa, sprechend, daß sie es sei, welche die geliebte Tochter geboren und gesäugt

hätte. Das fremde Weib aber umfaßte sie wie einen Raub mit gewaltigen Armen und zog sie mit sich

fort, ohne daß Europa im Innern zu widerstreben vermochte. »Komm nur mit mir, Liebchen«, sprach

die Fremde, »ich trage dich als Beute dem Ägiserschütterer Zeus entgegen; so ist dir's vom Geschicke

beschieden.« Mit klopfendem Herzen erwachte Europa und richtete sich vom Lager auf, denn das

Nachtgesicht war hell wie ein Anblick des Tages gewesen. Lange Zeit saß sie unbeweglich aufrecht im

Bette, vor sich hinstarrend, und vor ihren weit aufgetanen Augensternen standen noch die beiden

Weiber. Erst spät öffneten sich ihre Lippen zum bangen Selbstgespräche: »Welcher Himmlische«,

sprach sie, »hat mir diese Bilder zugeschickt? Was für wunderbare Träume haben mich

aufgeschreckt, die ich im Vaterhause süß und sicher schlummerte? Wer war doch die Fremde, die ich

im Traume gesehen? Welch eine wunderbare Sehnsucht nach ihr regt sich in meinem Herzen? Und

wie ist sie selbst mir so liebreich entgegengekommen, und auch als sie mich gewaltsam entführte,

mit welchem Mutterblicke hat sie mich angelächelt! Mögen die seligen Götter mir den Traum zum

besten kehren!«

Der Morgen war herangekommen; der helle Tagesschein vermischte den nächtlichen Schimmer des

Traumes aus der Seele der Jungfrau, und Europa erhub sich zu den Beschäftigungen und Freuden

ihres jungfräulichen Lebens. Bald sammelten sich um sie ihre Altergenossinnen und Gespielinnen,

Töchter der ersten Häuser, welche sie zu Chortänzen, Opfern und Lustgesängen zu begleiten

pflegten. Auch jetzt kamen sie, ihre Herrin zu einem Gange nach den blumenreichen Wiesen des

Meeres einzuladen, wo sich die Mädchen der Gegend scharenweise zu versammeln und am üppigen

Wuchse der Blumen und am rauschenden Halle des Meeres zu erfreuen pflegten. Alle Mädchen

führten einen Korb zum Blumensammeln in den Händen. Europa selbst trug einen goldenen Korb,

geschmückt mit glänzenden Bildern aus der Göttersage; er war ein Werk des Hephaistos, ein uraltes

Göttergeschenk des Erderschütterers Poseidon, das dieser der Libya geschenkt hatte, als er um sie

warb. Aus ihrem Besitze war es von Hand zu Hand als Erbstück in das Haus des Agenor gekommen.

Mit diesem Brautschmuck angetan, eilte die holdselige Europa an der Spitze ihrer Gespielinnen den

Meereswiesen zu, die voll der buntesten Blumen standen. Jubelnd zerstreute sich die Schar der

Mädchen da‐ und dorthin, jede suchte sich eine Blume auf, die nach ihrem Sinne war. Die eine

pflückte die glänzende Narzisse, die andere wandte sich der Balsam ausströmenden Hyazinthe zu,

eine dritte erwählte sich das sanfter duftende Veilchen, andern gefiel der gewürzige Quendel, wieder

andere brachen den gelben, lockenden Krokus. So flogen die Gespielinnen hin und her; Europa aber

hatte bald ihr Ziel gefunden, sie stand, wie unter den Grazien die schaumgeborne Liebesgöttin, alle

ihre Genossinnen überragend, und hielt hoch in der Hand einen vollen Strauß von glühenden Rosen.

Als sie genug Blumen gesammelt, lagerten sich die Jungfrauen, ihre Fürstin in der Mitte, harmlos auf

dem Rasen und fingen an, Kränze zu flechten, die sie, den Nymphen der Wiese zum Dank, an

grünenden Bäumen aufhängen wollten. Aber nicht lange sollten sie ihren Sinn an den Blumen

ergötzen, denn in das sorglose Jugendleben Europas griff unversehens das Schicksal ein, das ihr der

Traum der verschwundenen Nacht geweissagt hatte. Zeus, der Kronide, war von den Geschossen der

Liebesgöttin, die allein auch den unbezwungenen Göttervater zu besiegen vermochten, getroffen

und von der Schönheit der jungen Europa ergriffen worden. Weil er aber den Zorn der eifersüchtigen

Hera fürchtete, auch nicht hoffen durfte, den unschuldigen Sinn der Jungfrau zu betören, so sann der

verschlagene Gott auf eine neue List. Er verwandelte seine Gestalt und wurde ein Stier. Aber welch

ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wiese geht oder unters Joch gebeugt den schwerbeladenen

Wagen zieht; nein, groß, herrlich von Gestalt, mit schwellenden Muskeln am Halse und vollen

Wampen am Bug; seine Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrechselt, und

durchsichtiger als reine Juwelen; goldgelb war die Farbe seines Leibes, nur mitten auf der Stirne

schimmerte ein silberweißes Mal, dem gekrümmten Horne des wachsenden Mondes ähnlich;

bläulichte, von Verlangen funkelnde Augen rollten ihm im Kopfe.

Ehe Zeus diese Verwandlung mit sich vornahm, rief er zu sich auf den Olymp den Hermes und sprach,

ohne ihm etwas von seinen Absichten zu enthüllen: »Spute dich, lieber Sohn, getreuer Vollbringer

meiner Befehle! Siehst du dort unten das Land, das links zu uns emporblickt? Es ist Phönizien; dieses

betritt und treibe mir das Vieh des Königes Agenor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirst,

gegen das Meeresufer hinab.« In wenigen Augenblicken war der geflügelte Gott, dem Winke seines

Vaters gehorsam, auf der sidonischen Bergweide angekommen und trieb die Herde des Königes,

unter die sich auch, ohne daß Hermes es geahnt hätte, der verwandelte Zeus als Stier gemischt hatte,

vom Berge herab nach dem angewiesenen Strande, eben auf jene Wiesen, wo die Tochter Agenors,

von lyrischen Jungfrauen umringt, sorglos mit Blumen tändelte. Die übrige Herde nun zerstreute sich

über die Wiesen ferne von den Mädchen; nur der schöne Stier, in welchem der Gott verborgen war,

näherte sich dem Rasenhügel, auf welchem Europa mit ihren Gespielinnen saß. Schmuck wandelte er

im üppigen Grase einher, über seiner Stirne schwebte kein Drohen, sein funkelndes Auge flößte keine

Furcht ein, sein ganzes Aussehen war voll Sanftmut. Europa und ihre Jungfrauen bewunderten die

edle Gestalt des Tieres und seine friedlichen Gebärden, ja sie bekamen Lust, ihn recht in der Nähe zu

besehen und ihm den schimmernden Rücken zu streicheln. Der Stier schien dies zu merken, denn er

kam immer näher und stellte sich endlich dicht vor Europa hin. Diese sprang auf und wich anfangs

einige Schritte zurück; als aber das Tier sogar zahm stehenblieb, faßte sie sich ein Herz, näherte sich

wieder und hielt ihm ihren Blumenstrauß vor das schäumende Maul, aus dem sie ein ambrosisches

Atem anwehte. Der Stier leckte schmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte

Jungfrauenhand, die ihm den Schaum abwischte und ihn liebreich zu streicheln begann. Immer

reizender kam der herrliche Stier der Jungfrau vor, ja sie wagte es und drückte einen Kuß auf seine

glänzende Stirne. Da ließ das Tier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere gemeine Stiere

brüllen, sondern es tönte wie der Klang einer lydischen Flöte, die ein Bergtal durchhallt. Dann

kauerte es sich zu den Füßen der schönen Fürstin nieder, blickte sie sehnsüchtig an, wandte ihr den

Nacken zu und zeigte ihr den breiten Rücken. Da sprach Europa zu ihren Freundinnen, den

Jungfrauen: »Kommt doch auch näher, liebe Gespielinnen, daß wir uns auf den Rücken dieses

schönen Stieres setzen und unsere Lust haben; ich glaube, er könnte unserer viere aufnehmen und

beherbergen. Er ist so zahm und sanftmütig anzuschauen, so holdselig; er gleicht gar nicht anderen

Stieren; wahrhaftig, er hat Verstand wie ein Mensch, und es fehlt ihm gar nichts als die Rede!« Mit

diesen Worten nahm sie ihren Gespielinnen die Kränze, einen nach dem andern, aus den Händen und

behängte damit die gesenkten Hörner des Stieres, dann schwang sie sich lächelnd auf seinen Rücken,

während ihre Freundinnen zaudernd und unschlüssig zusahen.

Der Stier aber, als er die geraubt, die er gewollt hatte, sprang vom Boden auf. Anfangs ging er ganz

sachte mit der Jungfrau davon, doch so, daß ihre Genossinnen nicht gleichen Schritt mit seinem

Gange halten konnten. Als er die Wiesen im Rücken und den kahlen Strand vor sich hatte,

verdoppelte er seinen Lauf und glich nun nicht mehr einem trabenden Stiere, sondern einem

fliegenden Roß. Und ehe sich Europa besinnen konnte, war er mit einem Satz ins Meer gesprungen

und schwamm mit seiner Beute dahin. Die Jungfrau hielt mit der Rechten eins seiner Hörner

umklammert, mit der Linken stützte sie sich auf den Rücken; in ihre Gewänder blies der Wind wie ein

Segel; ängstlich blickte sie nach dem verlassenen Lande zurück und rief umsonst den Gespielinnen;

das Wasser umwallte den segelnden Stier, und seine hüpfenden Wellen scheuend, zog sie furchtsam

die Fersen hinauf Aber das Tier schwamm dahin wie ein Schiff; bald war das Ufer verschwunden, die

Sonne untergegangen, und im Helldunkel der Nacht sah die unglückliche Jungfrau nichts um sich her

als Wogen und Gestirne. So ging es fort, auch als der Morgen kam; den ganzen Tag schwamm sie auf

dem Tiere durch die unendliche Flut dahin; doch wußte dieses so geschickt die Wellen zu

durchschneiden, daß kein Tropfen seine geliebte Beute benetzte. Endlich gegen Abend erreichten sie

ein fernes Ufer. Der Stier schwang sich ans Land, ließ die Jungfrau unter einem gewölbten Baume

sanft vom Rücken gleiten und verschwand vor ihren Blicken. An seine Stelle trat ein herrlicher,

göttergleicher Mann, der ihr erklärte, daß er der Beherrscher der Insel Kreta sei und sie schützen

werde, wenn er durch ihren Besitz beglückt würde. Europa in ihrer trostlosen Verlassenheit reichte

ihm ihre Hand als Zeichen der Einwilligung; und Zeus hatte das Ziel seiner Wünsche erreicht.

Aus langer Betäubung erwachte Europa, als schon die Morgensonne am Himmel stand. Sie fand sich

einsam, sah mit verirrten Blicken um sich her, als wollte sie die Heimat suchen. »Vater, Vater!« rief

sie mit durchdringendem Wehelaut, besann sich eine Weile und rief wieder: »Ich verworfene

Tochter, wie darf ich den Vaternamen nur aussprechen? Welcher Wahnsinn hat mich die Kindesliebe

vergessen lassen!« Dann sah sie wieder, wie sich besinnend, umher und fragte sich selbst: »Woher,

wohin bin ich gekommen? ‐ Zu leicht ist ein Tod für die Schuld der Jungfrau! Aber wache ich denn

auch und beweine einen wirklichen Schimpf? Nein, ich bin gewiß unschuldig an allem, und es neckt

meinen Geist nur ein nichtiges Traumbild, das der Morgenschlaf wieder entführen wird! Wie wäre es

auch möglich, daß ich mich hätte entschließen können, lieber auf dem Rücken eines Untieres durch

unendliche Fluten zu schwimmen, als in holder Sicherheit frische Blumen zu pflücken!« ‐ So sprach

sie und fuhr mit der flachen Hand über die Augenlider, als wollte sie den verhaßten Traum

verwischen. Als sie aber um sich blickte, blieben die fremden Gegenstände unverrückt vor ihren

Augen; unbekannte Bäume und Felsen umgaben sie, und eine unheimliche Meeresflut schäumte, an

starren Klippen sich brechend, empor am niegeschauten Gestade. »Ach, wer mir jetzt den Stier

auslieferte«, rief sie verzweifelnd, »wie wollte ich ihn zerfleischen; nicht ruhen wollte ich, bis ich die

Hörner des Ungeheuers zerbrochen, das mir jüngst noch so liebenswürdig erschien! Eitler Wunsch!

Nachdem ich schamlos die Heimat verlassen, was bleibt mir übrig als zu sterben? Wenn mich nicht

alle Götter verlassen haben, so sendet mir, ihr Himmlischen, einen Löwen, einen Tiger! Vielleicht

reizt sie die Fülle meiner Schönheit, und ich muß nicht warten, bis der entsetzliche Hunger an diesen

blühenden Wangen zehrt!« Aber kein wildes Tier erschien; lächelnd und friedlich lag die fremde

Gegend vor ihr, und vom unumwölkten Himmel leuchtete die Sonne. Wie von Furien bestürmt,

sprang die verlassene Jungfrau auf »Elende Europa«, rief sie, »hörst du nicht die Stimme deines

abwesenden Vaters, der dich verflucht, wenn du deinem schimpflichen Leben nicht ein Ende machst!

Zeigt er dir nicht jene Esche, an welche du dich mit deinem Gürtel aufhängen kannst? Deutet er nicht

hin auf jenes spitze Felsgestein, von welchem herab dich ein Sprung in den Sturm der Meeresflut

begraben wird? Oder willst du lieber einem Barbarenfürsten als Nebenweib dienen und als Sklavin

von Tag zu Tag die zugeteilte Wolle abspannen, du, eines hohen Königes Tochter?« So quälte sich das

unglückliche verlassene Mädchen mit Todesgedanken und fühlte doch nicht den Mut in sich, zu

sterben. Da vernahm sie plötzlich ein heimliches spottendes Flüstern hinter sich, glaubte sich

belauscht und blickte erschrocken rückwärts. In überirdischem Glanze sah sie da die Göttin Aphrodite

vor sich stehen, ihren kleinen Sohn, den Liebesgott, mit gesenktem Bogen zur Seite. Noch schwebte

ein Lächeln auf den Lippen der Göttin, dann sprach sie: »Laß deinen Zorn und Hader, schönes

Mädchen! Der verhaßte Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerreißen darreichen; ich bin es,

die dir im väterlichen Hause jenen Traum gesendet. Tröste dich, Europa! Zeus ist es, der dich geraubt

hat; du bist die irdische Gattin des unbesiegten Gottes; unsterblich wird dein Name werden, denn

der fremde Weltteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!«

Kadmos

Kadmos war ein Sohn des phönizischen Königes Agenor, ein Bruder der Europa. Als Zeus, in einen

Stier verwandelt, diese entführt hatte, sandte ihr Vater den Kadmos und dessen Brüder aus, sie zu

suchen, und ohne sie erlaubte er ihnen nicht wieder zurückzukommen. Lange hatte Kadmos

vergebens die Welt durchirrt, ohne des Zeus Schliche entdecken zu können. Als er die Hoffnung

verloren hatte, seine Schwester wieder aufzufinden, scheute er seines Vaters Zorn, wandte sich an

das Orakel des Phöbos Apollo und forschte, welches Land er inskünftige bewohnen sollte. Apollo gab

ihm die Weisung: »Du wirst ein Rind auf einsamen Auen treffen, das noch kein Joch geduldet hat.

Von diesem sollst du dich leiten lassen, und an dem Platze, wo es im Grase ruhen wird, erbaue

Mauern und nenne die Stadt Theben.« Kaum hatte Kadmos die Kastalische Höhle verlassen, wo

Apolls Orakel war, als er schon auf der grünen Weide eine Kuh sich bedächtig ergehen sah, die noch

kein Zeichen der Dienstbarkeit um den Nacken trug. Lautlos zu Phöbos betend, folgte er mit

langsamen Schritten den Spuren des Tieres. Schon hatte er die Furt des Kephissos durchwatet und

war über eine gute Strecke Landes gekommen, als auf einmal das Rind stillestand, sein Gehörn gen

Himmel streckte und die Luft mit Brüllen erfüllte; dann schaute es rückwärts nach der Schar der

Männer, die ihm folgte, und kauerte sich endlich im schwellenden Grase nieder.

Voll Dankes warf sich Kadmos auf der fremden Erde nieder und küßte sie. Hierauf wollte er dem Zeus

opfern und hieß die Diener sich aufmachen, um ihm Wasser aus lebendigem Quell zum Trankopfer zu

holen. Dort war ein altes Gehölz, das noch von keinem Beile jemals ausgehauen worden war; mitten

darin bildete durch zusammengefügtes Felsgestein, mit Gestrüppe und Strauchwerk verwachsen,

eine Kluft, reich an Quellwasser, ein niedriges Gewölbe. In dieser Höhle versteckt ruhte ein

grausamer Drache. Weithin sah man seinen roten Kamm schimmern, aus den Augen sprühte Feuer,

sein Leib schwoll von Gift, mit drei Zungen zischte er und mit drei Reihen Zähne war sein Rachen

bewaffnet. Wie nun die Phönizier den Hain betreten hatten und der Krug, niedergelassen, in den

Wellen plätscherte, streckte der bläuliche Drache plötzlich sein Haupt weit aus der Höhle und erhub

ein entsetzliches Zischen. Die Schöpfurnen entglitten der Hand der Diener, und vor Schrecken stockte

ihnen das Blut im Leibe. Der Drache aber verwickelte seine schuppigen Ringe zum schlüpfrigen

Knäuel, dann krümmte er sich im Bogensprunge, und über die Hälfte aufgerichtet schaute er auf den

Wald herab. Darauf reckte er sich gegen die Phönizier aus, tötete die einen durch seinen Biß, die

andern erdrückte er mit seiner Umschlingung, noch andere erstickte sein bloßer Anhauch, und

wieder andere brachte sein giftiger Geifer um.

Kadmos wußte nicht, warum seine Diener solange zauderten. Zuletzt machte er sich auf, selbst nach

ihnen zu schauen. Er deckte sich mit dem Felle, das er einem Löwen abgezogen hatte, nahm Lanze

und Wurfspieß mit sich, dazu ein Herz, das besser war als jede Waffe. Das erste, was ihm beim

Eintritt in den Hain aufstieß, waren die Leichen seiner getöteten Diener, und über ihnen sah er den

Feind mit geschwollenem Leibe triumphieren und mit der blutigen Zunge die Leichname belecken.

»Ihr armen Genossen«, rief Kadmos voll Jammer aus, »entweder bin ich euer Rächer oder der

Gefährte eures Todes!« Mit diesen Worten ergriff er ein Felsstück und sandte es gegen den Drachen.

Mauern und Türme hätte wohl der Stein erschüttert, so groß war er. Aber der Drache blieb

unverwundet, sein harter schwarzer Balg und die Schuppenhaut schirmten ihn wie ein eherner

Panzer. Nun versuchte es der Held mit dem Wurfspieß. Diesem hielt der Leib des Ungeheuers nicht

stand, die stählerne Spitze stieg tief in sein Eingeweide nieder. Wütend vor Schmerz drehte der

Drache den Kopf gegen seinen Rücken und zermalmte dadurch die Stange des Wurfspießes, aber das

Eisen blieb im Leibe stecken. Ein Streich vom Schwerte steigerte noch seine Wut, der Schlund schwoll

ihm auf, und weißer Schaum floß aus dem giftigen Rachen. Aufrechter als ein Baumstamm schoß der

Drache hinaus, dann rannte er mit der Brust wieder gegen die Waldbäume. Agenors Sohn wich dem

Anfalle aus, deckte sich mit der Löwenhaut und ließ die Drachenzähne an der Lanzenspitze sich

abmüden. Endlich fing das Blut an, denn Untier aus dem Halse zu fließen, und rötete die grünen

Kräuter umher; aber die Wunde war nur leicht, denn der Drache wich jedem Stoß und Stiche aus und

verstattete den Streichen nicht, fest zu sitzen. Zuletzt jedoch stieß ihm Kadmos das Schwert in die

Gurgel, so tief, daß es hinterwärts in einen Eichbaum fuhr und mit dem Nacken des Ungeheuers

zugleich der Stamm durchbohrt wurde. Der Baum wurde von dem Gewichte des Drachen

krummgebogen und seufzte, weil er seinen Stamm von der Spitze des Schweifes gepeitscht fühlte.

Nun war der Feind überwältigt.

Kadmos betrachtete den erlegten Drachen lange; als er sich wieder umsah, stand Pallas Athene, die

vom Himmel herniedergefahren war, zu seiner Seite und befahl ihm, sofort die Zähne des Drachens

als Nachwuchs künftigen Volkes in aufgelockertes Erdreich zu säen. Er gehorchte der Göttin, öffnete

mit dem Pflug eine breite Furche auf dem Boden und fing an, die Drachenzähne, wie ihm befohlen

war, die Öffnung entlang auszustreuen. Auf einmal begann die Scholle sich zu rühren, und aus den

Furchen hervor blickte zuerst nur die Spitze einer Lanze, dann kam ein Helm hervor, auf welchem ein

farbiger Busch sich schwenkte, bald ragten Schulter und Brust und bewaffnete Arme aus dem Boden,

und endlich stand ein gerüsteter Krieger da, vom Kopf bis zum Fuße der Erde entwachsen. Dies

geschah an vielen Orten zugleich, und eine ganze Saat bewaffneter Männer wuchs vor den Augen des

Phöniziers empor.

Agenors Sohn erschrak und war gefaßt darauf, einen neuen Feind bekämpfen zu müssen. Aber einer

von dem erdentsprossenen Volke rief ihm zu: »Nimm die Waffen nicht, menge dich nicht in innere

Kriege!« Sofort holte dieser auf einen der ihm zunächst aus der Furche hervorgekommenen Brüder

mit einem Schwertstreich aus; ihn selbst streckte zu gleicher Zeit ein Wurfspieß nieder, der aus der

Ferne geflogen kam. Auch der, welcher ihm den Tod gegeben, verhauchte unter einer Wunde den

kaum empfangenen Lebensatem bald wieder. Der ganze Männerschwarm tobte in fürchterlichem

Wechselkampfe; fast alle lagen mit zuckender Brust auf dem Boden, und die Mutter Erde trank das

Blut ihrer eben erst geborenen Söhne. Nur fünf waren übriggeblieben. Einer davon ‐ er ward später

Echion genannt ‐ warf zuerst auf Athenes Geheiß die Waffen zur Erde und erbot sich zum Frieden;

ihm folgten die anderen.

Mit dieser fünf erdentsprossenen Krieger Hilfe baute der phönizische Fremdling Kadmos die neue

Stadt, dem Orakel des Phöbos gehorsam, und nannte sie, wie ihm befohlen war, Theben.

Pentheus

Zu Theben ward Bakchos oder Dionysos, der Sohn des Zeus und der Semele, der Enkel des Kadmos,

wunderbar geboren, der Gott der Fruchtbarkeit, der Erfinder des Weinstocks. In Indien erzogen,

verließ er bald die Nymphen, seine Pflegerinnen, und durchreiste die Länder, um allenthalben die

Menschen zu bilden, den Bau des herzerfreuenden Weines zu lehren und die Verehrung seiner

Gottheit zu gründen. So gütig er gegen seine Freunde war, so hart bestrafte er diejenigen, die seinen

Gottesdienst nicht anerkennen wollten. Schon war sein Ruhm durch die Städte Griechenlands und bis

zur Stadt seiner Geburt, nach Theben, gedrungen. Dort aber herrschte Pentheus, welchem Kadmos

das Königreich übergeben hatte, der Sohn des erdentsprossenen Echion und der Agave, einer

Mutterschwester des Bakchos. Dieser war ein Verächter der Götter und zumeist seines Verwandten,

des Dionysos. Als nun der Gott mit seinem jauchzenden Gefolge von Bakchanten herannahte, um

sich dem Könige von Theben als Gott zu offenbaren, hörte dieser nicht auf die Warnung des blinden,

greisen Sehers Tiresias, und als ihm die Nachricht zu Ohren kam, daß auch aus Theben Männer,

Frauen und Jungfrauen zur Verehrung des neuen Gottes hinausströmten, fing er an ergrimmt zu

schelten: »Welch ein Wahnsinn hat euch betört, ihr drachenentsprossenen Thebaner, daß euch, die

kein Schlachtschwert, keine Trompete jemals geschreckt hat, jetzt ein weichlicher Zug von

berauschten Toren und Weibern besiegt? Und ihr Phönizier, die ihr weit über Meere hierher

gefahren seid und euren alten Göttern eine Stadt gegründet, habt ihr ganz vergessen, aus welchem

Heldengeschlecht ihr gezeugt seid? Wollt ihr es dulden, daß ein wehrloses Knäblein Theben erobere,

ein Weichling mit balsamtriefendem Haar, auf dem ein Kranz aus Weinlaub sitzt, in Purpur und Gold

anstatt in Stahl gekleidet, der kein Roß tummeln kann, dem keine Wehr, keine Fehde behagt? Wenn

nur ihr wieder zur Besinnung kommet, so will ich ihn bald nötigen, einzugestehen, daß er ein Mensch

ist, wie ich, sein Vetter, daß nicht Zeus sein Vater und alle diese prächtige Gottesverehrung erlogen

ist!« Dann wandte er sich zu seinen Dienern und befahl ihnen, den Anführer dieser neuen Raserei,

wo sie ihn anträfen, zu fassen und in Fesseln herzuschleppen.

Seine Freunde und Verwandte, die um den König waren, erschraken über diesen frechen Befehl; sein

Ahnherr Kadmos, der in hohem Greisenalter noch lebte, schüttelte das Haupt und mißbilligte das Tun

des Enkels; aber durch Ermahnungen wurde seine Wut nur gestachelt, sie schäumte über alle

Hindernisse hin, wie ein rasender Fluß über das Wehr.

Unterdessen kamen die Diener mit blutigen Köpfen zurück. »Wo habt ihr den Bakchos?« rief ihnen

Pentheus zornig entgegen. »Den Bakchos«, antworteten sie, »haben wir nirgends gesehen. Dafür

bringen wir hier einen Mann aus seinem Gefolge. Er scheint noch nicht lange bei ihm zu sein.«

Pentheus starrte den Gefangenen mit grimmigen Augen an und schrie dann: »Mann des Todes! denn

auf der Stelle mußt du, den andern zu einem warnenden Beispiele, sterben! Sag an, wie heißt dein

und deiner Eltern Name, wie dein Land, und, sag auch, warum verehrst du die neuen Gebräuche?«

Frei und ohne Furcht erwiderte jener: »Mein Name ist Akötes, meine Heimat Mäonien, meine Eltern

sind aus dem gemeinen Volke. Keine Fluren, keine Herden ließ mir der Vater zum Erbteil, er lehrte

mich nur die Kunst, mit der Angelrute zu fischen; denn diese Kunst war all sein Reichtum. Bald lernte

ich auch ein Schiff regieren, die leitenden Gestirne, die Winde, die wohlgelegenen Häfen kennen und

fing an, Schiffahrt zu treiben. Einst, auf einer Fahrt nach Delos, geriet ich an eine unbekannte Küste,

wo wir anlegten. Ein Sprung brachte mich auf den feuchten Sand, und ich übernachtete hier noch

ohne die Gefährten am Ufer. Des andern Tages machte ich mich mit der ersten Morgenröte auf und

bestieg einen Hügel, um zu sehen, was der Wind uns verspreche. Inzwischen hatten auch meine

Gefährten gelandet, und auf dem Rückwege nach dem Schiffe begegnete ich ihnen, wie sie gerade

einen Jüngling mit sich schleppten, den sie am verlassenen Gestade geraubt hatten. Der Knabe, von

jungfräulicher Schönheit, schien vom Weine betäubt, taumelnd wie von Schläfrigkeit, und hatte

Mühe, ihnen zu folgen. Als ich Angesicht, Haltung, Bewegung des Jünglings näher ins Auge faßte,

schien sich mir an demselben etwas Überirdisches zu offenbaren. »Was für ein Gott in dem Jüngling

sei«, so sprach ich zu der Mannschaft, »Weiß ich noch nicht recht; aber so viel ist mir gewiß, daß ein

Gott in ihm ist. ‐ Wer du auch seiest«, sprach ich weiter, »sei uns hold und fördere unsre Arbeit!

Verzeih auch diesen, die dich geraubt!« »Was fällt dir ein«, rief ein anderer, »laß du das Beten!«

Auch die übrigen lachten über mich, von Raubgier verblendet, und somit faßten sie den Knaben, um

ihn in das Schiff zu schleppen. Vergebens stellte ich mich entgegen; der Jüngste und Kräftigste unter

der Rotte, aus einer tyrrhenischen Stadt wegen eines Mordes flüchtig, packte mich an der Gurgel und

schleuderte mich hinaus. Ich wäre im Meere ertrunken, wenn mich das Takelwerk nicht aufgefangen

hätte. Inzwischen lag der Knabe wie im tiefen Schlummer auf dem Schiffe, wohin man ihn gebracht

hatte. Plötzlich, wie vom Geschrei erwacht und vom Rausche zurückgekehrt, raffte er sich auf, trat

unter die Schiffer und rief»Welcher Lärm? Sprecht, ihr Männer, durch welches Geschick kam ich

hierher? Wohin wollt ihr mich bringen?« »Fürchte dich nicht, Knabe«, sprach einer der falschen

Schiffer, »nenne uns nur den Hafen, nach welchem du gebracht zu werden wünschest; gewiß, wir

setzen dich ab, wo du es verlangst.« »Nun wohl«, sprach der Knabe, »so richtet den Lauf nach der

Insel Naxos, dort ist meine Heimat!« Die Betrüger versprachen es ihm bei allen Göttern und hießen

mich die Segel richten. Uns zur rechten Seite lag Naxos. Wie ich nun die Segel rechtshin spanne,

winken und murmeln sie mir alle zu: »Unsinniger, was machst du? Was für ein Wahnwitz plagt dich?

Fahr links!« Ich erstaunte darüber und begriff sie nicht. »Nehme sich ein anderer des Schiffes an!«

sprach ich und trat auf die Seite. »Als ob das Heil unserer Fahrt allein auf dir beruhte!« schrie mir ein

roher Geselle zu und verrichtete das Geschäft anstatt meiner. So ließen sie Naxos liegen und

steuerten in der entgegengesetzten Richtung. Hohnlächelnd, als ob er den Trug jetzt erst bemerkte,

schaute der Götterjüngling vom Hinterverdeck in die See, und endlich, mit verstellten Tränen, sprach

er: »Wehe, nicht diese Gestade verhießet ihr mir, Schiffer, dies ist nicht das erbetene Land! Ist es

auch recht, daß ihr alten Männer ein Kind auf diese Weise täuschet?« Aber die gottesvergessene

Rotte spottete seiner und meiner Tränen und ruderte eilig davon. Plötzlich aber, als umschlösse sie

eine trockene Schiffswerft, stand die Barke mitten im Meere still. Vergebens schlagen ihre Ruder die

See, ziehen sie die Segel herab, streben fort mit doppelter Kraft. Efeu fängt an, die Ruder zu

umschlingen, kriecht rückwärts in geschlängelter Windung herauf, streift mit seinen schwellenden

Träubchen schon die Segel; Bakchos selbst ‐ denn er war es ‐ steht herrlich da, die Stirn mit

beerenbelasteten Trauben bekränzt, den mit Weinlaub umschlungenen Thyrsosstab schwingend.

Tiger, Luchse, Panther erschienen um ihn gelagert, ein duftiger Strom von Wein ergoß sich durch das

Schiff. Jetzt sprangen die Männer scheu empor, in Furcht und Wahnsinn. Dem ersten, der

aufschreien wollte, krümmte sich Mund und Nase zum Fischmaul, und ehe die andern sich darüber

entsetzen konnten, war auch ihnen das gleiche geschehen; ihr Leib senkte sich, von blauen Schuppen

umgeben; das Rückgrat wurde hochgewölbt; die Arme schrumpften zu Floßfedern ein; die Füße

vereinigten sich zu einem Schwanze. Sie waren alle zu Fischen geworden, sprangen in das Meer und

tauchten auf und nieder. Ich von zwanzigen war allein übriggeblieben, aber ich zitterte an allen

Gliedern und erwartete jeden Augenblick dieselbe Verwandlung. Bakchos jedoch sprach mir

freundlich zu, weil ich ihm ja nur Gutes erwiesen habe. »Fürchte dich nicht«, sagte er, »und steure

mich gen Naxos.« Als wir dort gelandet hatten, weihte er mich an seinem Altar zum feierlichen

Dienste seiner Gottheit ein.«

»Schon zu lange horchen wir deinem Geschwätz«, schrie jetzt der König Pentheus, »auf, ergreifet ihn,

ihr Diener, peinigt ihn mit tausend Martern und schickt ihn zur Unterwelt hinab!« Die Knechte

gehorchten und warfen den Schiffer gefesselt in einen tiefen Kerker. Aber eine unsichtbare Hand

befreite ihn.

Nun begann erst die ernstliche Verfolgung der Bakchosfeier. Des Pentheus eigene Mutter, Agave und

ihre Schwestern, hatten teil an dem rauschenden Gottesdienste genommen. Der König sandte nach

ihnen aus und ließ alle Bakchantinnen in den Stadtkerker werfen. Aber ohne Hilfe eines Sterblichen

werden auch sie ihrer Bande ledig; die Pforten ihres Gefängnisses tun sich auf, und sie rennen in

bakchischer Begeisterung frei in den Wäldern umher. Der Diener, der abgesandt worden, mit

bewaffneter Macht den Gott selbst einzufangen, kam ganz bestürzt zurück, denn jener hatte sich

willig und lächelnd den Fesseln dargeboten. So stand er jetzt gefangen vor dem Könige, der selber

nicht umhinkonnte, seine jugendliche göttliche Schönheit zu bewundern. Und doch beharrte er in

seiner Verblendung und behandelte ihn als einen Betrüger, der den Namen Bakchos fälschlich führe.

Er ließ den gefangenen Gott mit Fesseln belasten und im hintersten und tiefsten Teile seines

Palastes, in der Nähe der Pferdekrippen, in einem dunkeln Loche verwahren. Auf des Gottes Geheiß

spaltete jedoch ein Erdbeben das Gemäuer, seine Bande verschwanden. Er trat unversehrt und

herrlicher als zuvor in die Mitte seiner Verehrer.

Ein Bote über den andern kam vor den König Pentheus und meldete ihm, welche Wundertaten die

Chöre begeisterter Frauen, von seiner Mutter und ihren Schwestern angeführt, verrichteten. Ihr Stab

durfte nur an Felsen schlagen, so sprang Wasser oder sprudelnder Wein heraus; die Bäche flossen

unter seinem Zauberschlage mit Milch; aus den hohlen Bäumen träufelte Honig. »Ja«, fügte einer der

Boten hinzu, »wärest du zugegen gewesen, o Herr, und hättest den Gott, den du jetzt schiltst, selbst

gesehen, du würdest dich in Gebeten vor ihm niedergeworfen haben!«

Pentheus, immer entrüsteter, bot auf diese Nachrichten alle schwerbewaffneten Krieger, alle Reiter,

alle Leichtbeschildeten gegen das rasende Weiberheer auf Da erschien Bakchos selbst wieder und

trat als sein eigener Abgeordneter vor den König. Er versprach, ihm die Bakchantinnen entwaffnet

vorzuführen, wenn nur der König selbst die Frauentracht anlegen wolle, damit er nicht als Mann und

Uneingeweihter von ihnen zerrissen werde. Ungerne und mit sehr natürlichem Mißtrauen ging

Pentheus auf den Vorschlag ein; doch folgte er endlich dem Gotte zur Schlachtbank. Aber als er

hinausschritt zur Stadt, war er schon vom Wahnsinne, den ihm der mächtige Gott zugesandt hatte,

besessen. Ihm deuchte es, als schaue er zwei Sonnen, ein gedoppeltes Theben und jedes seiner Tore

zwiefach. Bakchos selbst kam ihm vor wie ein Stier, der mit großen Hörnern an dem Kopfe vor ihm

herschreite. Er selbst wurde wider Willen von bakchischer Begeisterung ergriffen, verlangte und

erhielt einen Thyrsosstab und stürmte in Raserei dahin. So gelangten sie in ein tiefes, quellenreiches,

von Fichten beschattetes Tal, wo die Bakchospriesterinnen ihrem Gotte Hymnen sangen, andere ihre

Thyrsosstäbe mit frischem Efeu bekleideten. Des Pentheus Augen aber waren mit Blindheit

geschlagen, oder sein Führer Bakchos hatte ihn so zu leiten gewußt, daß sie die Versammlung der

begeisterten Frauen nicht gewahr wurden. Der Gott faßte nun mit seiner wunderbar in die Höhe

reichenden Hand den Gipfel eines Tannenbaumes, beugte ihn hernieder, wie man einen

Weidenzweig biegt, setzte den wahnsinnigen Pentheus darauf und ließ den Baum sachte und

vorsichtig allmählich wieder in seine vorige Lage zurückkehren. Wie durch ein Wunder blieb der

König fest sitzen und erschien auf einmal, hoch auf dem Tannenwipfel hingepflanzt, den

Bakchantinnen im Tale, ohne daß er sie erblickte. Dann rief Dionysos mit lauter Stimme ins Tal hinab:

»Ihr Mägde, schauet hier den, der unsere heiligen Feste verspottet; bestrafet ihn!« Der Äther

schwieg, kein Blatt im Walde regte sich, kein Schrei eines Wildes ertönte. Auf richteten sich die

Bakchantinnen, ihre Augen leuchteten in irrem Glanz; so horchten sie auf der Stimme Hall, die zum

zweitenmal ertönte. Als sie in dem Wort ihren Meister erkannt, schossen sie dahin, schneller denn

Tauben; wilder Wahnsinn, vom Gotte gesandt, trieb sie mitten durch die angeschwollenen

Waldbäche. Endlich waren sie nahe genug gekommen, um ihren Herrn und Verfolger auf dem

Tannenwipfel sitzen zu sehen. Schnell flogen Kiesel, abgerissene Tannenäste, Thyrsosstäbe gegen

den Unglücklichen empor, ohne die Höhe zu erreichen, in der er zitternd schwebte. Endlich

durchwühlten sie mit harten Eichenästen den Boden rings um den Tannenbaum, bis die Wurzel bloß

war und Pentheus unter lautem Jammergeschrei mit der stürzenden Tanne aus der Höhe zu Boden

fiel. Seine Mutter Agave, vom Gotte geblendet, daß sie den Sohn nicht wiedererkannte, gab das erste

Zeichen zum Morde. Dem Könige selbst hatte die Angst seine volle Besinnung wiedergegeben.

»Mutter«, rief er, sie umhalsend, »kennst du deinen Sohn nicht mehr, deinen Sohn Pentheus, den du

im Hause Echions geboren? Hab Erbarmen mit mir, sei du es nicht, Mutter, die meine Sünden am

eigenen Kinde straft!« Aber die wahnsinnige Bakchospriesterin, schäumend und mit weit

aufgesperrten Augen, sah nicht ihren Sohn in Pentheus, sondern glaubte einen Berglöwen in ihm zu

erblicken, faßte ihn an der Schulter und riß ihm den rechten Arm vom Leibe; die Schwestern

verstümmelten den linken; die ganze wütende Rotte stürmte auf ihn ein, jede ergriff ein Glied des

Zerrissenen; Agave selbst umklammerte das entrissene Haupt mit blutigen Fingern und trug es als ein

Löwenhaupt auf einen Thyrsosstab gesteckt durch die Wälder des Kithairon.

So rächte der mächtige Gott Bakchos sich an dem Verächter seines Gottesdienstes

Perseus

Perseus, der Sohn des Zeus, wurde mit seiner Mutter Danae von dem Großvater Akrisios, Könige von

Argos, dem ein Orakelspruch gesagt hatte, daß ein Enkel ihm Leben und Thron rauben würde, in

einen Kasten eingeschlossen und ins Meer geworfen; Zeus behütete sie in den Stürmen des Meeres,

und sie schwammen bei der Insel Seriphos ans Land. Dort herrschten zwei Brüder, Diktys und

Polydektes. Diktys fischte eben, als der Kasten angeschwommen kam, und zog ihn ans Land. Beide

Brüder nahmen sich der Verlassenen liebreich an; Polydektes erhob die Mutter zu seiner Gemahlin,

und der Sohn des Zeus, Perseus, wurde von ihm sorgfältig erzogen.

Als Perseus herangewachsen war, überredete ihn sein Stiefvater, auf Taten auszuziehen und etwas

Großes zu unternehmen. Der mutige Jüngling zeigte sich willig, und bald waren sie einig darüber, daß

Perseus der Medusa ihr furchtbares Haupt abschlagen und dem Könige nach Seriphos bringen sollte.

Perseus machte sich auf den Weg und kam unter Leitung der Götter in die ferne Gegend, wo Phorkys,

der Vater vieler entsetzlicher Ungeheuer, hauste. Zuerst traf er auf drei seiner Töchter, die Graien

oder Grauen; diese waren grauhaarig von Geburt an; alle drei miteinander hatten sie nur ein Auge

und einen Zahn, den sie einander gegenseitig abwechslungsweise zum Gebrauche liehen. Perseus

nahm ihnen beides weg, und als sie ihn flehentlich baten, das Unentbehrlichste ihnen doch

wiederzugeben, zeigte er sich zur Zurückerstattung nur unter der Bedingung bereit, daß sie ihm den

Weg zu den Nymphen zeigen sollten. Diese waren andere Wundergeschöpfe, die Flügelschuhe, einen

Schubsack als Tasche und einen Helm von Hundefell besaßen. Wer sich damit bekleidete, konnte

fliegen, wohin er wollte, sah, wen er wollte, und wurde von niemand gesehen. Die Töchter des

Phorkys zeigten dem Perseus den Weg zu den Nymphen und erhielten Zahn und Auge von ihm

zurück. Bei den Nymphen fand und nahm er, was er wollte, warf den Schubsack um, schnallte die

Flügelschuhe an seine Knöchel und setzte den Helm aufs Haupt. Dazu erhielt er von Hermes eine

eherne Sichel, und so ausgerüstet flog er zu dem Ozean, wo die andern drei Töchter des Phorkys, die

Gorgonen, hausten. Die dritte, die Medusa hieß, war allein sterblich; darum war auch Perseus

ausgesandt worden, ihr Haupt zu holen. Er fand die Ungeheuer schlafend, ihre Häupter waren mit

Drachenschuppen übersäet, mit Schlangen statt Haaren bedeckt; große Hauzähne hatten sie, wie

Schweine, eherne Hände und goldene Flügel, mit welchen sie flogen. Jeden, der sie ansah,

verwandelte dieser Anblick in Stein. Das wußte Perseus. Mit abgewandtem Gesicht stellte er sich

deswegen vor die Schlafenden und fing nur in seinem ehernen, glänzenden Schilde ihr dreifaches Bild

auf So erkannte er die Gorgo Medusa heraus, Athene führte ihm die Hand, und schnitt dem

schlafenden Ungeheuer ohne Gefährde das Haupt ab. Kaum war dies vollbracht, so entsprang dem

Rumpfe ein geflügeltes Roß, der Pegasus, und ein Riese, Chrysaor. Beides waren Geschöpfe des

Poseidon oder Neptunus. Perseus schob nun das Haupt der Medusa in den Schubsack und entfernte

sich rücklings, wie er gekommen war. Indessen hatten sich die Schwestern Medusas vom Lager

erhoben. Sie erblickten den Rumpf der getöteten Schwester und erhoben sich auf ihren Fittichen,

den Räuber zu verfolgen. Diesen aber verbarg der Nymphenhelm vor ihren Augen, und sie konnten

ihn nirgends innewerden. In der Luft faßten inzwischen den Perseus die Winde und schleuderten ihn,

wie Regengewölk, bald da‐, bald dorthin. Als er über den Sandwüsten Libyens schwebte, rieselten

blutige Tropfen vom Medusenhaupte auf die Erde nieder, welche sie auffing und zu bunten

Schlangen belebte. Seitdem ist jenes Erdreich an feindseligen Nattern so ergiebig. Perseus flog nun

weiter westwärts und senkte sich endlich im Reiche des Königes Atlas nieder, um ein wenig zu rasten.

Dieser hütete einen Hain voll goldener Früchte mit einem gewaltigen Drachen. Umsonst bat der

Besieger der Gorgone ihn um ein Obdach. Für sein goldenes Besitztum bange, stieß ihn Atlas

unbarmherzig von seinem Palaste fort. Da ergrimmte Perseus und sprach: »Du willst mir nichts

gönnen; empfange du wenigstens ein Geschenk von mir.« Er holte die Gorgo aus seinem Schubsacke

hervor, wandte sich ab und streckte sie dem König Atlas entgegen. Groß wie der König war, wurde er

augenblicklich zu Stein und in einen Berg verwandelt; Bart und Haupthaar dehnten sich zu Wäldern

aus; Schultern, Hände und Gebein wurden Felsrücken; sein Haupt wuchs als hoher Gipfel in die

Wolken. Perseus nahm seine Fittiche wieder und schnallte sie sich an die Sohlen, hängte sich den

Schubsack um, setzte den Helm auf und schwang sich in die Lüfte. Auf seinem Fluge kam er an eine

Küste Äthiopiens, wo der König Kepheus regierte. Hier sah er an eine hervorragende Meeresklippe

eine Jungfrau angebunden. Wenn nicht ihr Haupthaar ein Lüftchen bewegt hätte und in ihren Augen

Tränen gezittert, so würde er sie für ein Marmorbild gehalten haben. Fast hätte er in der Luft die

Flügel zu bewegen vergessen, so bezaubert war er von dem Reize ihrer Schönheit. »Sprich, schöne

Jungfrau«, redete er sie an, »du, die du ganz anderes Geschmeide verdientest, warum bist du hier in

Banden? Nenne mir doch den Namen deines Landes, nenne mir deinen eigenen Namen!« Das

gefesselte Mädchen schwieg verschämt; sie scheute sich, den fremden Mann anzureden, und hätte

gern ihr Angesicht mit den Händen bedeckt, wenn sie sich hätte regen können. So aber konnte sie

nur ihre Augen mit quellenden Tränen füllen. Endlich, damit der Fremdling nicht glauben möchte, sie

habe eine eigene Schuld vor ihm zu verbergen, erwiderte sie: »Ich bin Kepheus', des Königs der

Äthiopier, Tochter und heiße Andromeda. Meine Mutter hatte gegen die Töchter des Nereus, die

Meeresnymphen, geprahlt, schöner zu sein als sie alle. Darüber zürnten die Nereiden, und ihr

Freund, der Meeresgott, ließ eine Überschwemmung und einen alles verschlingenden Haifisch über

das Land kommen. Ein Orakelspruch versprach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Tochter

der Königin, dem Fische zum Fraße hingeworfen würde. Das Volk drang in meinen Vater, dieses

Rettungsmittel zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an diesen Felsen zu binden.«

Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgesprochen, als die Wogen aufrauschten und aus der Tiefe

des Meeres ein Scheusal auftauchte, das mit seiner breiten Brust die ganze Wasserfläche umher

einnahm. Das Mädchen jammerte laut auf; zugleich sah man Vater und Mutter herbeieilen, beide

trostlos, doch in der Mutter Zügen drückte sich noch dazu das Bewußtsein der Schuld aus. Sie

umarmten die gefesselte Tochter, aber sie brachten ihr nichts mit als Tränen und Wehklagen. Jetzt

begann der Fremdling: »Zum Jammern wird euch noch Zeit genug übrigbleiben; die Stunde der

Rettung ist kurz. Ich bin Perseus, der Sprößling des Zeus und der Danae; ich habe die Gorgone

besiegt; und wunderbare Flügel tragen mich durch die Luft. Selbst wenn die Jungfrau frei wäre und

zu wählen hätte, wäre ich kein verächtlicher Eidam! Jetzt werbe ich um sie mit dem Erbieten, sie zu

retten. Nehmet ihr meine Bedingung an?« Wer hätte in solcher Lage gezaudert? Die erfreuten Eltern

versprachen ihm nicht nur die Tochter, sondern auch ihr eigenes Königreich zur Mitgift.

Während sie dieses verhandelten, war das Untier wie ein schnellruderndes Schiff

herangeschwommen und nur noch einen Schleuderwurf von dem Felsen entfernt. Da plötzlich, das

Land mit dem Fuße abstoßend, schwang sich der Jüngling hoch empor in die Wolken. Das Tier sah

den Schatten des Mannes auf dem Meere. Während es tobend auf diesen losging, als auf einen

Feind, der ihm die Beute zu entreißen drohte, fuhr Perseus aus der Luft wie ein Adler herunter, trat

schwebend auf den Rücken des Tieres und senkte das Schwert, mit dem er die Meduse getötet hatte,

dem Haifisch unter dem Kopf in den Leib, bis an den Knauf. Kaum hatte er es wieder herausgezogen,

so sprang der Fisch bald hoch in die Lüfte, bald tauchte er wieder unter in die Flut, bald tobte er nach

beiden Seiten wie ein von Hunden verfolgter Eber. Perseus brachte ihm Wunde um Wunde bei, bis

ein dunkler Blutstrom sich aus seinem Rachen ergoß. Indessen troffen die Flügel des Halbgotts, und

Perseus wagte nicht länger, sich dem wasserschweren Gefieder anzuvertrauen. Glücklicherweise

erblickte er ein Felsriff, dessen oberste Spitze aus dem Meere hervorragte. Auf diese Felswand

stützte er sich mit der Linken und stieß das Eisen drei‐ bis viermal in das Gekröse des Ungetüms. Das

Meer trieb die ungeheure Leiche fort, und bald war sie in den Fluten verschwunden. Perseus hatte

sich indessen ans Land geschwungen, hatte den Felsen erklommen und die Jungfrau, die ihn mit den

Blicken des Dankes und der Liebe begrüßte, der Fesseln entledigt. Er brachte sie den glücklichen

Eltern, und der goldene Palast empfing ihn als Bräutigam. Noch dampfte das Hochzeitsmahl, und die

Stunden strichen dem Vater und der Mutter, dem Bräutigam und der geretteten Braut in

sorgenfreier Eile dahin, als plötzlich die Vorhöfe der Königsburg mit einem dumpfen, brausenden

Getümmel sich füllten. Phineus, der Bruder des Königs Kepheus, der früher um seine Nichte

Andromeda geworben, aber in der letzten Not sie verlassen hatte, nahte mit einer Schar von Kriegern

und erneuerte seine Ansprüche. Den Speer schwingend, trat er in den Hochzeitssaal und rief dem

erstaunten Perseus zu: »Sieh mich hier, der ich komme, die mir entrissene Gattin zu rächen; weder

deine Flügel noch dein Vater Zeus sollen dich mir entreißen!« So rief er, schon zum Speerwurfe sich

anschickend: da hub sich Kepheus, der König, vom Mahle. »Rasender Bruder«, rief er, »welcher

Gedanke treibt dich zur Untat? Nicht Perseus raubt dir die Geliebte; sie wurde dir schon damals

entrissen, als wir sie dem Tode preisgaben, als du zusahest, wie sie gefesselt wurde, und weder als

Oheim noch als Geliebter ihr deinen Beistand liehest. Warum hast du nicht selbst dir den Preis von

dem Felsen geholt, an den er geschmiedet war? So laß wenigstens den, der ihn sich errungen hat, der

mein Alter durch die Rettung meiner Tochter getröstet, in Ruhe!«

Phineus antwortete ihm nichts, er betrachtete nur abwechselnd mit grimmigen Blicken bald seinen

Bruder, bald seinen Nebenbuhler, als besänne er sich, auf wen er zuerst zielen sollte. Endlich nach

kurzem Verzuge schwang er mit aller Kraft, die der Zorn ihm gab, den Speer gegen Perseus; aber er

tat einen Fehlwurf, und die Waffe blieb im Polster hängen. Jetzt fuhr Perseus vom Lager empor und

schleuderte seinen Spieß nach der Türe, durch welche Phineus eingedrungen war, und er würde die

Brust seines Todfeindes durchbohrt haben, wenn dieser sich nicht mit einem Sprunge hinter den

Hausaltar geflüchtet hätte. Das Geschoß hatte die Stirne eines seiner Begleiter getroffen, und jetzt

kam das Gefolge des Eingedrungenen mit den längst von der Tafel aufgestörten Gästen ins

Handgemenge. Lang und mörderisch war der Kampf; aber der Eingebrochenen war die Mehrzahl.

Zuletzt wurde Perseus, an dessen Seite sich umsonst die Schwiegereltern und die Braut

schutzflehend stellten, von Phineus und seinen Tausenden umringt. Die Pfeile flogen an ihnen von

allen Seiten vorbei wie Hagelkörner im Sturme. Perseus hatte die Schultern an einen Pfeiler gelehnt

und sich so den Rücken gedeckt. Von da zur Heerschar der Feinde gewendet, hielt er den Anlauf der

Feinde ab und streckte einen um den andern nieder. Erst als er sah, daß die Tapferkeit der Menge

erliegen müsse, entschloß er sich, das letzte, aber untrügliche Mittel, das ihm zu Gebote stand, zu

gebrauchen. »Weil ihr mich genötigt«, sprach er, »will ich mir die Hilfe bei meinem alten Feinde

holen! Wende sein Antlitz ab, wer noch mein Freund ist!« Mit diesen Worten zog er aus der Tasche,

die ihm immer an der Seite hing, das Gorgonenhaupt und streckte es dem ersten Gegner zu, der jetzt

eben auf ihn eindrang. »Suche andere«, rief dieser verächtlich beim ersten flüchtigen Blicke, »die du

mit deinen Mirakeln erschüttern kannst.« Aber als seine Hand sich heben wollte, den Wurfspieß

abzusenden, blieb er mitten in dieser Gebärde versteinert wie eine Bildsäule. Und so widerfuhr es

einem nach dem andern. Zuletzt waren nur noch zweihundert übrig. Da hub Perseus das

Gorgonenhaupt hoch in die Luft empor, daß alle es erblicken konnten, und verwandelte die

zweihundert auf einmal in starres Gestein. Jetzt erst bereut Phineus den unrechtmäßigen Krieg.

Rechts und links erblickt er nichts als Steinbilder in der mannigfaltigsten Stellung. Er ruft seine

Freunde mit Namen, er berührt ungläubig die Körper der Zunächststehenden: alles ist Marmor.

Entsetzen faßte ihn, und sein Trotz verwandelte sich in demütiges Flehen. »Laß mir nur das Leben,

dein sei das Reich und die Braut!« rief er und kehrte sein verzagendes Angesicht seitwärts. Aber

Perseus, über den Tod seiner neuen Freunde erbittert, kannte kein Erbarmen. »Verräter«, schrie er

zornig, »ich will dir für alle Ewigkeit ein bleibendes Denkmal in meines Schwähers Hause stiften!«

Und sosehr Phineus bemüht war, dem Anblicke zu entgehen, so traf doch bald das ausgestreckte

Schreckensbild sein Auge: sein Hals erstarrte, sein feuchter Blick erharschte zu Stein. So blieb er

stehen mit furchtsamer Miene, die Hände gesenkt, in knechtischer, demütiger Stellung. Ohne

Hindernis führte jetzt Perseus seine Geliebte, Andromeda, heim. Lange glückliche Tage erwarteten

ihn, und er fand auch seine Mutter Danae wieder. Doch sollte er an seinem Großvater Akrisios das

Verhängnis erfüllen. Dieser war aus Furcht vor dem Orakelspruche zu einem fremden Könige ins

Pelasgerland geflohen. Hier half er Kampfspiele feiern, als eben Perseus ankam, der auf der Fahrt

nach Argos begriffen war, wo er seinen Großvater begrüßen wollte. Ein unglücklicher Wurf mit der

Scheibe traf den Großvater von des Enkels Hand, ohne daß dieser jenen kannte oder treffen wollte.

Nicht lange blieb ihm verborgen, was er getan. In tiefer Trauer begrub er den Akrisios außerhalb der

Stadt und vertauschte das Königreich, das ihm durch des Großvaters Tod zugefallen war. Doch

verfolgte ihn der Neid des Geschickes nicht länger. Andromeda gebar ihm viele herrliche Söhne, und

der Ruhm des Vaters lebte in ihnen fort.

Ion

Der König Erechtheus von Athen erfreute sich einer schönen Tochter, die Krëusa hieß. Mit dieser

hatte sich, ohne Wissen ihres Vaters, Apollo vermählt, und sie hatte ihm einen Sohn geboren,

welchen sie aus Furcht vor dem Zorn ihres Vaters in eine Kiste verschloß und in der Höhle aussetzte,

wo sie ihre heimlichen Zusammenkünfte mit dem Gotte gehalten hatte, in der Hoffnung, daß sich die

Götter des Verlassenen erbarmen würden. Um aber den neugeborenen Knaben nicht ohne

Erkennungszeichen zu lassen, hing sie ihm den Schmuck um, den sie als Jungfrau zu tragen pflegte.

Apollo, dem als einem Gotte die Geburt seines Sohnes nicht verborgen geblieben war und der weder

seine Geliebte verraten noch den Knaben ohne Hilfe lassen wollte, wandte sich an seinen Bruder

Hermes, welcher als Götterbote, ohne Aufsehen zu erregen, zwischen Himmel und Erde zu verkehren

hatte. »Lieber Bruder«, sprach er, »eine Sterbliche hat mir ein Kind geboren, es ist die Tochter des

Königes Erechtheus zu Athen. Aus Furcht vor ihrem Vater hat sie es in einem hohlen Felsen

verborgen; hilf mir es retten, bring es in der Kiste, in der es liegt, und mit den Windeln, in die es

gewickelt ist, nach meinem Orakel zu Delphi und lege es dort auf die Schwelle des Tempels. Das

übrige laß meine Sorge sein, denn es ist mein Kind.« Hermes, der geflügelte Gott, eilte nach Athen,

fand den Knaben an der bezeichneten Stelle und trug ihn in dem geflochtenen Weidenkorbe, in

welchem er verschlossen lag, nach Delphi, wo er ihn vor den Pforten des Tempels niedersetzte und

den Deckel des Korbes öffnete, damit das Kind bemerklich würde. Dies geschah bei Nacht. Am

andern Morgen, als schon die Sonne emporstieg, kam die delphische Priesterin nach dem Tempel

geschritten, und als sie ihn betreten wollte, fiel ihr Auge auf das neugeborne Kind, das in der Kiste

schlummerte. Sie hielt dasselbe für die Frucht irgendeines Verbrechens und war schon geneigt, es

von der heiligen Schwelle fortzustoßen, als das Mitleid doch in ihrer Seele die Oberhand gewann;

denn der Gott wandte ihr Herz und sprach in demselben für seinen Sohn. Die Prophetin nahm also

das Kind aus dem Korbe und zog es auf, ohne seinen Vater und seine Mutter zu kennen. Der Knabe

erwuchs, um den Altar seines Vaters spielend, und wußte nichts von seinen Eltern. Er wurde ein

stattlicher Jüngling. Die Bewohner von Delphi, die ihn schon als kleinen Tempelhüter gewohnt

worden waren, setzten ihn zum Schatzmeister über alle Geschenke, die der Gott erhielt, und so

brachte er fortwährend ein ehrbares und heiliges Leben im Tempel seines Vaters zu.

Inzwischen hatte Krëusa von dem Gotte nichts mehr erfahren und mußte wohl glauben, daß er ihrer

und ihres Sohnes vergessen habe. Um diese Zeit gerieten die Athener in einen Krieg mit den

Bewohnern der Nachbarinsel Euböa, der bis zur Vertilgung geführt wurde und in welchem die

letzteren unterlagen. In diesem Kampfe war den Athenern besonders wirksam ein Fremdling aus

Achaja beigestanden. Es war dies Xuthos, ein Sohn des Äolos, der selbst ein Sohn des Zeus war. Zum

Lohne seiner Hilfe begehrte und erhielt er die Hand der Königstochter Krëusa; aber es war, als ob der

ihr heimlich angetraute Gott die Geliebte seinen Zorn empfinden ließe, daß sie sich einem andern

vermählt hatte; denn ihre Ehe war nicht mit Kindern gesegnet. Nach langer Zeit verfiel Krëusa auf

den Gedanken, sich an das Orakel zu Delphi zu wenden und von ihm Kindersegen zu erflehen. Dies

war es, was Apollo gewollt; denn er hatte seines Sohnes keineswegs vergessen. So brach die Fürstin

mit ihrem Gemahl und einem kleinen Gefolge von Dienerinnen auf und wallfahrtete zu dem Tempel

nach Delphi. Als sie vor dem Gotteshause ankamen, trat gerade der junge Sohn Apollos über die

Schwelle, um gewohnterweise das Tor und den Vorhof mit Lorbeerzweigen zu fegen. Da fiel sein

Auge auf die edle Matrone, welche auf die Tore des Tempels zugewandelt kam und der beim

Anblicke des Heiligtums Tränen über die Wangen rollten. Er wagte es, die Frau, deren würdige

Gestalt ihm auffiel, bescheiden um die Ursache ihres Kummers zu befragen. »Es wundert mich nicht,

o Jüngling«, erwiderte sie seufzend, »daß meine Traurigkeit deinen Blick auf sich zieht; habe ich doch

Geschicke zu beweinen, die man mir wohl ansehen mag. Die Götter verfahren oft hart mit uns

Sterblichen!« »Ich will deinen Kummer nicht weiter stören«, sprach der Jüngling, »aber sage mir,

wenn es zu wissen erlaubt ist, wer du bist und von wannen du kommst.« »Ich bin Krëusa«,

antwortete die Fürstin, »mein Vater heißt Erechtheus, mein Vaterland ist Athen.« Mit unschuldiger

Freude rief der Jüngling: »Ei, aus welchem berühmten Lande, aus welch berühmtem Geschlechte

stammst du! Aber sage mir, ist es wahr, wie man es auf Bildern bei uns sieht, daß deines Vaters

Großvater Erichthonios aus der Erde wie ein anderes Gewächs emporgesprossen ist, daß die Göttin

Athene den erdgeborenen Knaben in eine Kiste eingeschlossen, ihm zwei Drachen als Wächter

beigegeben und das Kistchen den Töchtern des Kekrops zur Bewahrung überlassen habe; daß diese

aus Neugierde dasselbe eröffnet und beim Anblicke des Knaben in Wahnsinn geraten und sich von

dem Felsen der Kekropischen Burg herabgestürzt?« Krëusa bejahte die Frage schweigend, denn das

Schicksal ihres Urahns erinnerte sie an das Geschick ihres verlorenen Sohnes. Dieser aber, der vor ihr

stand, fuhr fort, unbefangen weiter zu fragen: »Sage mir auch, hohe Fürstin, ist es wahr, daß dein

Vater Erechtheus seine Töchter, deine Schwestern, auf den Ausspruch eines Orakels und mit ihrem

freien Willen dem Tode geopfert, um über die Feinde zu siegen? Und wie kam es, daß du allein

gerettet worden bist?« »Ich war«, sprach Krëusa, »ein neugeborenes Kind und lag in den Armen der

Mutter.« »Und ist es auch wahr«, so fragte der Jüngling weiter, »daß dein Vater Erechtheus von

einem Erdspalt verschlungen worden ist, daß der Dreizack Poseidons ihn verderbt hat und daß in der

Nähe seines Erdgrabes eine Grotte ist, die mein Herr, der pythische Apollo, so lieb hat?« »O schweige

mir von jener Grotte, Fremdling«, unterbrach ihn seufzend Krëusa, »in ihr ist eine Treulosigkeit und

ein großer Frevel begangen worden.« Die Fürstin schwieg eine Weile, sammelte sich wieder und

erzählte dem Jüngling, in welchem sie den Tempelhüter des Gottes erkannte, daß sie die Gemahlin

des Fürsten Xuthos und mit diesem nach Delphi gewallfahrtet sei, um für ihre unfruchtbare Ehe den

Segen Gottes zu erflehen. »Phöbos Apollo«, sprach sie mit einem Seufzer, »kennt die Ursache meiner

Kinderlosigkeit; er allein kann mir helfen.« »So bist du kinderlos, Unglückliche?« sagte betrübt der

Jüngling. »Ich bin es längst«, erwiderte Krëusa, »und ich muß deine Mutter beneiden, guter Jüngling,

die sich eines so holdseligen Sohnes erfreut.« »Ich weiß nichts von einer Mutter und von einem

Vater«, gab der junge Mann betrübt zur Antwort, »ich lag nie an eines Weibes Brust; ich weiß auch

nicht, wie ich hierhergekommen bin; nur so viel weiß ich aus dem Munde meiner Pflegemutter, der

Priesterin dieses Tempels, daß sie sich meiner erbarmt und mich großgezogen hat; das Haus des

Gottes ist seitdem meine Wohnung, und ich bin sein Knecht.« Bei diesen Mitteilungen wurde die

Fürstin sehr nachdenklich, doch drängte sie ihre Gedanken in die Brust zurück und sprach die

traurigen Worte: »Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der es gegangen ist wie deiner Mutter; um

ihretwillen bin ich hierhergekommen und soll das Orakel befragen. So will ich denn dir, als dem

Diener des Gottes, ihr Geheimnis anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der diese Wallfahrt auch

gemacht, aber unterwegs abgelenkt ist, um das Orakel des Trophonios zu hören, den Tempel betritt.

Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit dem großen Gotte Phöbos Apollo vermählt gewesen

zu sein und ihm ohne Wissen ihres Vaters einen Sohn geboren zu haben. Diesen setzte sie aus und

weiß seitdem nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht schaut oder nicht. Über sein Leben

oder seinen Tod den Gott auszuforschen, bin ich im Namen meiner Freundin hierhergekommen.«

»Wie lang ist es her, daß der Knabe tot ist?« fragte der Jüngling. »Wenn er noch lebte, so hätte er

dein Alter, o Knabe«, sprach Krëusa. »O wie ähnlich ist das Schicksal deiner Freundin und das

meine!«rief mit dem Ausdrucke des Schmerzes der junge Mann; »sie sucht ihren Sohn, und ich suche

meine Mutter. Doch ist, was ihr geschehen ist, fern von diesem Lande geschehen, und leider sind wir

beide einander ganz fremd. Hoffe auch nicht, daß der Gott von seinem Dreifuße dir die gewünschte

Antwort erteilen wird. Bist du doch gekommen, ihn im Namen deiner Freundin einer Treulosigkeit

anzuklagen; er wird nicht über sich selbst Richter sein wollen!« »Halt ein, Jüngling«, rief jetzt Krëusa,

»dort sehe ich den Gatten jener Frau herannahen; laß dir nichts von dem merken, was ich dir,

vielleicht allzu vertraulich, vorgeplaudert habe.«

Xuthos kam fröhlich in den Tempel und auf seine Gemahlin zugeschritten. »Frau«, rief er ihr

entgegen, »Trophonios hat einen glücklichen Ausspruch getan: ich soll nicht ohne Kinder von hinnen

ziehen! Aber sage mir, wer ist dieser junge Prophet des Gottes?« Der Jüngling trat dem Fürsten

bescheiden entgegen und erzählte ihm, wie er nur der Tempeldiener Apollos sei und im innersten

Heiligtume die vornehmsten Delphier selbst, durchs Los ausgewählt, den Dreifuß umlagern, von dem

jetzt eben die Priesterin Orakel zu geben bereit sei. Als der Fürst dieses hörte, befahl er Krëusen, sich

mit den Zweigen zu schmücken, welche Bittflehende zu tragen pflegen, und an dem Altare des

Gottes, der mit Lorbeer umwunden unter freiem Himmel stand, zu Apollo zu beten, daß er ihnen ein

günstiges Orakel senden möge. Er selbst eilte nach dem Heiligtume des Tempels, indes der junge

Schatzmeister des Gottes im Vorhofe seine Wache fortsetzte. Es hatte nicht sehr lange gedauert, so

hörte dieser die Türen des innersten Heiligtums gehen und sich dröhnend wieder schließen, dann sah

er den Xuthos in freudiger Bestürzung herauseilen; dieser warf sich mit Ungestüm dem Jüngling um

den Hals, nannte ihn zu wiederholten Malen seinen Sohn und verlangte seinen Handschlag und

Kindeskuß. Der junge Mann aber, der von alledem nichts begriff, hielt den Alten für wahnsinnig und

stieß ihn mit jugendlicher Kraft von sich. Doch Xuthos ließ sich nicht abweisen. »Der Gott selbst hat

es mir geoffenbart«, sprach er; »sein Spruch lautete: Der erste, der mir draußen begegnen würde,

der sei mein Sohn und ein Göttergeschenk. Wie das möglich ist, weiß ich zwar nicht, denn meine

Gattin hat mir nie zuvor Kinder geboren. Doch trau ich dem Gotte; mag er selbst sein Geheimnis

enthüllen.« Jetzt gab sich auch der Jüngling der Freude hin; doch halb nur, und mitten unter den

Küssen und Umarmungen seines Vaters mußte er seufzen: »O geliebte Mutter, wer bist du, wo bist

du? wann wird es mir vergönnt sein, auch dein teures Antlitz zu schauen?« Dazu kamen ihm große

Zweifel, wie die kinderlose Gemahlin des Xuthos, die er nicht zu kennen glaubte, ihn als

unerwarteten Stiefsohn aufnehmen, wie die Stadt Athen den nicht gesetzlichen Erben ihres Fürsten

empfangen würde. Sein Vater hieß ihn aber guten Mutes sein; er versprach ihm, ihn den Athenern

und seiner Gattin als einen Fremdling und nicht als seinen Sohn vorzustellen, und gab ihm den

Namen Ion, das heißt Gänger, weil er im Tempel den ihm Entgegengehenden als seinen Sohn erkannt

hatte.

Krëusa war indessen von dem Altare Apollos, vor dem sie sich betend niedergeworfen, nicht

gewichen. Sie wurde endlich in ihrem brünstigen Flehen von ihren Dienerinnen unterbrochen,

welche sich ihr unter Wehklagen nahten. »Unglückliche Herrin«, riefen sie ihr entgegen, »dein Gatte

zwar ist in große Freude versetzt, du aber wirst nie ein eigenes Kind in deine Arme nehmen und an

deine Brust legen. Ihm freilich hat Apollo einen Sohn gegeben, einen erwachsenen Sohn, den ihm vor

Zeiten wer weiß welch ein Nebenweib geboren hat; als er aus dem Tempel trat, kam ihm dieser

entgegen. Er wird sich seines wiedergefundenen Kindes freuen, du aber wirst wie zuvor einer Witwe

gleich im öden Hause wohnen.« Die arme Fürstin, deren Geist der Gott selbst mit Blindheit

geschlagen zu haben schien, daß sich ein so naheliegendes Geheimnis ihr nicht enthüllte, brütete

über ihrem traurigen Schicksal eine Weile fort. Endlich fragte sie nach der Person und dem Namen

des Stiefsohnes, den sie so unvermutet erhalten hatte. »Es ist der junge Tempelhüter, den du schon

kennst«, erwiderten die Dienerinnen; »sein Vater hat ihm den Namen Ion gegeben; wer seine Mutter

ist, wissen wir nicht; jetzt ist dein Gatte zu dem Altare des Bakchos gegangen, um heimlich für seinen

Sohn zu opfern und dann mit ihm den Erkennungsschmaus zu feiern. Uns hat er unter Androhung des

Todes verboten, dir, o Herrin, die Geschichte zu entdecken; nur unsre große Liebe zu dir hat uns

vermocht dieses Verbot zu übertreten. Du wirst uns ja nicht bei ihm verraten!« Jetzt trat aus dem

Gefolge ein alter Diener hervor, der dem Stamme der Erechthiden mit blinder Treue anhing und

seiner Gebieterin mit großer Liebe zugetan war. Dieser schalt den Fürsten Xuthos einen treulosen

Ehebrecher und ließ sich von seinem Eifer so weit verleiten, daß er ihr das Anerbieten machte, den

Bastard, der das Erbe der Erechthiden unrechtmäßigerweise an sich bringen würde, aus dem Wege

zu räumen. Krëusa glaubte sich von ihrem Gatten und von ihrem früheren Geliebten, dem Gott

Apollo, verlassen, und betäubt von ihrem Kummer, lieh sie den frevelhaften Anschlägen des Greisen

allmählich ihr Ohr und machte ihn auch zum Vertrauten ihres Verhältnisses zu dem Gott.

Als Xuthos mit Ion, in welchem er unbegreiflicherweise einen Sohn gefunden zu haben meinte, den

Tempel des Gottes verlassen hatte, begab er sich mit ihm nach dem doppelten Gipfel des Berges

Parnassos, wo der Gott Bakchos, nicht weniger heilig als Apollo selbst, von den Delphiern verehrt und

mit seinem wilden Orgiendienste von den Frauen gefeiert wurde. Nachdem er hier ein Trankopfer

ausgegossen, zum Danke für den gefundenen Sohn, errichtete Ion im Freien mit Hilfe der Diener, die

ihn begleitet hatten, ein herrliches und geräumiges Zelt, das er mit schön gewirkten Teppichen

bedeckte, die er aus Apollos Tempel hatte herbeischaffen lassen. In dem Zelte wurden lange Tafeln

aufgestellt und mit silbernen Schüsseln voll köstlicher Speisen und goldenen Bechern voll des

edelsten Weines belastet; dann sandte der Athener Xuthos seinen Herold in die Stadt Delphi und lud

sämtliche Einwohner ein, an seiner Freude teilzunehmen. Bald füllte sich das große Zelt mit

bekränzten Gästen, und sie tafelten in Herrlichkeit und Freude. Beim Nachtische trat ein alter Mann,

dessen sonderbare Gebärden den Gästen zur Belustigung dienten, mitten in den Saal des Zeltes und

maßte sich das Amt des Mundschenken an. Xuthos erkannte in ihm jenen greisen Diener seiner

Gemahlin Krëusa, lobte den Gästen seinen Eifer und seine Treue und ließ ihn arglos schalten. Der Alte

stellte sich an den Schenktisch und fing an, sich der Becher anzunehmen und die Gäste zu bedienen.

Als nun gegen Schluß des Mahles die Flöten ertönten, befahl er den Knechten, die kleinen Becher von

der Tafel wegzunehmen und den Gästen große silberne und goldene Trinkgefäße vorzusetzen. Er

selbst ergriff das herrlichste Gefäß und trat, als wollte er damit seinen neuen jungen Herrn ehren, an

den Schenktisch, füllte es zuoberst mit köstlichem Weine, schüttete aber zugleich unvermerkt ein

tödliches Gift in den Becher. Indem er sich nun damit dem Ion näherte und einige Tropfen des

Weines als Trankopfer auf den Boden goß, entfuhr zufälligerweise einem der nahestehenden

Knechte ein Fluch. Ion, der unter den heiligen Gebräuchen des Tempels aufgewachsen war, erkannte

darin eine böse Vorbedeutung und befahl, indem er den vollen Becher auf den Boden schüttete, daß

ihm ein neuer Becher gereicht würde, aus welchem er selbst feierlich das Trankopfer ausgoß,

während alle Gäste aus ihren Bechern dasselbe taten. Während dies geschah, flatterte eine Schar

heiliger Tauben, die im Tempel des Apollo unter dem Schirme des Gottes aufgefüttert wurden, lustig

in das Zelt herein. Als sie die Ströme Weines sahen, die von allen Seiten ausgegossen wurden, ließen

sie sich, lüstern gemacht, auf den Boden nieder und fingen an, von dem herumschwimmenden

Weine mit ausgereckten Schnäbeln zu nippen. Und allen übrigen schadete das Trankopfer nicht; nur

die eine Taube, die sich an die Stelle gesetzt hatte, wo Ion seinen ersten Becher ausgegossen,

schüttelte, sowie sie den Trank gekostet hatte, krampfhaft ihre Flügel, fing, zum Staunen aller Gäste,

zu ächzen und zu toben an und starb unter Flügelschlag und Zuckungen. Da erhub sich Ion von

seinem Sitze, streifte sein Gewand zürnend von den Armen, ballte die Fäuste und rief. »Wo ist der

Mensch, der mich töten wollte? Rede, Alter! denn du hast deine Hand dazu geliehen, du hast mir den

Trank gemischt!« Damit faßte er den Greis bei der Schulter, um ihn nicht wieder loszulassen. Dieser,

überrascht und erschrocken, gestand die ganze Freveltat als von Krëusen herrührend. Da verließ der

durch Apollos Orakel für des Xuthos Sohn erklärte Ion das Zelt, und alle Gäste folgten ihm in wilder

Aufregung nach. Als er draußen im Freien stand, erhub er die Hände, umringt von den vornehmsten

Delphiern, und sprach: »Heilige Erde, du bist mein Zeuge, daß dieses fremde Erechthidenweib mich

mit Gift aus dem Wege räumen will!« »Steiniget, steiniget sie!« erscholl es von der Versammlung der

Delphier wie aus einem Munde; und die ganze Stadt brach mit Ion auf, die Verbrecherin zu suchen.

Xuthos selbst, dem die schreckliche Entdeckung seine Besinnung geraubt hatte, wurde von dem

Strome mit fortgerissen, ohne zu wissen, was er tat.

Krëusa hatte am Altar Apollos die Früchte ihrer verzweifelten Tat erwartet. Diese aber keimten ganz

anders auf, als sie vermutet hatte. Ein Tosen aus der Ferne schreckte sie aus ihrer Versunkenheit auf,

und noch ehe es ganz nahe kam, war dem heranstürmenden Haufen einer der Knechte ihres

Gemahls, der ihr selbst vor andern getreu war, vorangeeilt und hatte kaum Zeit gehabt, die

Entdeckung ihres Frevels und den Beschluß, den das Volk von Delphi gefaßt hatte, ihr zu melden. Ihre

Dienerinnen scharten sich um sie. »Halte dich fest am Altare, Gebieterin«, riefen sie, »denn sollte

dich auch der heilige Ort nicht vor deinen Mördern schützen, so werden sie doch durch deine

Ermordung eine unsühnbare Blutschuld auf sich laden!« Indessen kam die tobende Schar der

Delphier, von Ion angeführt, dem Altare immer näher. Noch ehe sie bei demselben angelangt waren,

hörte man des Jünglings zürnende Worte, die der Wind durch die Lüfte führte: »Die Götter haben es

gut mit mir gemeint«, rief er in lautem Grimme, »daß dieser Frevel mich von der Stiefmutter befreien

sollte, die mich zu Athen erwartete. Wo ist die Verruchte, die Viper mit der Giftzunge, der Drache mit

dem todspeienden Flammenauge? Auf, daß die Mörderin vom höchsten Felsen in den Abgrund

gestürzt werde!« Das ihn begleitende Volk brüllte Beifall.

Jetzt waren sie am Altare angekommen, und Ion zerrte an der Frau, die seine Mutter war und in der

er nur seine Todfeindin erkannte, um sie von dem Asyl, auf dessen Heiligkeit und Unverletzlichkeit sie

sich berief, hinwegzureißen. Aber Apollo wollte nicht, daß sein eigener Sohn der Mörder seiner

Mutter würde. Auf seinen göttlichen Wink war das Gerücht von dem gedrohten Verbrechen Krëusens

und der Strafe, welche sie dafür erwartete, schnell bis in den Tempel und zu den Ohren der Priesterin

gedrungen, und der Gott hatte ihren Sinn erleuchtet, so daß sie einen raschen Blick in den

Zusammenhang aller Ereignisse warf und ihr plötzlich klar wurde, daß ihr Pflegling Ion nicht des

Xuthos, wie sie selbst nebelhaft prophezeit hatte, sondern Apollos und Krëusas Sohn sei. Sie verließ

den Dreifuß und suchte das Kistchen hervor, in welchem der neugeborene Knabe samt einigen

Erkennungszeichen, die sie gleichfalls sorgsam aufbewahrt hatte, einst zu Delphi vor dem Tempeltor

ausgesetzt worden war. Mit diesem im Arme, eilte sie ins Freie und nach dem Altare, wo Krëusa

gegen den eindringenden Ion um ihr Leben kämpfte. Als Ion die Priesterin herannahen sah, ließ er

sogleich von seiner Beute ab, ging ihr ehrerbietig entgegen und rief. »Sei mir willkommen, liebe

Mutter, denn so muß ich dich nennen, obgleich du mich nicht geboren hast! Hörst du, welchen

Nachstellungen ich entgangen bin? Kaum habe ich einen Vater gefunden, so sinnt auch schon die

böse Stiefmutter auf meinen Tod! Nun sage mir, Mutter, was soll ich tun; denn deiner Mahnung will

ich folgen!« Die Priesterin erhob warnend ihren Finger und sprach: »Ion, geh mit unbefleckter Hand

und unter günstigen Vogelzeichen nach Athen!« Ion besann sich eine Weile, eh er antwortete. »Ist

denn der nicht fleckenlos«, sprach er endlich, »der seine Feinde tötet?« »Tue du nicht also, bist du

mich gehört hast«, sagte die ehrwürdige Frau. »Siehst du dies alte Körbchen, das ich, mit frischen

Kränzen umwunden, in meinen Armen trage? In diesem bist du einst ausgesetzt worden, aus ihm

habe ich dich hervorgezogen.« Ion staunte. »Davon Mutter«, sprach er, »hast du mir nie etwas

gesagt. Warum hast du es so lange vor mir verborgen?« »Weil der Gott«, antwortete die Priesterin,

»dich bis hierher zu seinem Priester haben wollte. Jetzt, wo er dir einen Vater gegeben hat, entläßt er

dich nach Athen.« »Was soll mir aber dieses Kistchen helfen?« fragte Ion weiter. »Es enthält die

Windeln, in welchen du ausgesetzt worden bist, lieber Sohn!« antwortete die Priesterin. »Meine

Windeln?« sprach Ion heftig. »Nun, das ist ja eine Spur, die mich auf meine rechte Mutter führen

kann. O erwünschte Entdeckung!« Die Priesterin hielt ihm nun das offene Kistchen hin, und Ion griff

gierig hinein und zog die reinlich zusammengewickelte Leinwand heraus. Während er seine

betränten Augen auf die kostbaren Überbleibsel heftete, hatte sich Krëusas Angst allmählich verloren

und ein Blick auf das Kistchen ihr die ganze Wahrheit entdeckt. Mit einem Sprunge verließ sie den

Altar, und mit dem Freudenrufe: »Sohn!« hielt sie den staunenden Ion umschlungen. Diesem schlich

sich aufs neue Mißtrauen ins Herz, er fürchtete die Umarmungen der Fremden als eine Hinterlist und

wollte sich unwillig losmachen. Aber Krëusa selbst raffte sich zusammen, trat einige Schritte zurück

und sprach: »Diese Leinwand soll für mich zeugen, Kind! Wickle sie getrost auseinander; du wirst die

Zeichen finden, die ich dir angebe. Die Stickerei, die sie schmückt, ist das Werk meiner

mädchenhaften Nadel. In der Mitte des Gewebes muß sich das Gorgonenhaupt finden, umringt von

Schlangen, wie auf dem Ägisschilde!« Ungläubig entfaltete Ion die Windeln, aber mit einem

plötzlichen Freudenschrei rief er aus: »O großer Zeus, hier ist die Gorgone, hier sind die Schlangen!«

»Noch nicht genug«, sprach Krëusa, »es müssen in dem Kistchen auch kleine goldne Drachen sein,

zur Erinnerung an die Drachen in der Kiste des Erichthonios; ein Halsschmuck für das neugeborene

Knäbchen.« Ion durchforschte den Korb weiter, und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch die

Drachenbilder hervor. »Das letzte Zeichen«, rief Krëusa, »muß ein Kranz aus den unverwelklichen

Oliven sein, die vom erstgepflanzten Ölbaume Athenes stammen und den ich meinem neugeborenen

Knaben aufgesetzt.« Ion durchsuchte den Grund des Kistchens, und seine Hand brachte einen

schönen grünen Olivenkranz hervor. »Mutter, Mutter!« rief er mit einer von schluchzenden Tränen

unterbrochenen Stimme, fiel Krëusen um den Hals und bedeckte ihre Wangen mit Küssen. Endlich riß

er sich von ihrem Halse los und verlangte nach seinem Vater Xuthos. Da entdeckte ihm Krëusa das

Geheimnis seiner Geburt und wie er des Gottes Sohn sei, dem er so lang und getreu im Tempel

gedient habe. Auch die früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëusens wurden ihm jetzt

klar, und er fand selbst den verzweifelten Anschlag seiner Mutter auf des unerkannten Sohnes Leben

verzeihlich. Xuthos nahm den Ion, obgleich nur als Stiefsohn, doch auch so als ein teures

Göttergeschenk in seine Arme, und alle drei erschienen wieder im Tempel, dem Gotte zu danken. Die

Priesterin aber weissagte von ihrem Dreifuß herab, daß Ion der Vater eines großen Stammes werden

sollte, Ionier nach seinem Namen genannt; auch dem Xuthos weissagte sie Nachkommenschaft von

Krëusen, einen Sohn, der Doros heißen und der weltberühmten Dorier Vater werden sollte. Mit so

freudigen Erfüllungen und Hoffnungen brach das Fürstenpaar von Athen mit dem glücklich

gefundenen Sohn nach der Heimat auf, und alle Einwohner Delphis gaben ihm das Geleite.

Dädalos und Ikaros

Auch Dädalos aus Athen war ein Erechthide, ein Sohn des Metion, ein Urenkel des Erechtheus. Er war

der kunstreichste Mann seiner Zeit, Baumeister, Bildhauer und Arbeiter in Stein. In den

verschiedensten Gegenden der Welt wurden Werke seiner Kunst bewundert, und von seinen

Bildsäulen sagte man, sie leben, gehen und sehen und seien für kein Bild, sondern für ein beseeltes

Geschöpf zu halten. Denn während an den Bildsäulen der früheren Meister die Augen geschlossen

waren und die Hände, von den Seiten des Körpers nicht getrennt, schlaff herunterhingen, war er der

erste, der seinen Bildern offene Augen gab, sie die Hände ausstrecken und auf schreitenden Füßen

stehen ließ. Aber so kunstreich Dädalos war, so eitel und eifersüchtig war er auch auf seine Kunst,

und diese Untugend verführte ihn zum Verbrechen und trieb ihn ins Elend. Er hatte einen

Schwestersohn namens Talos, den er in seinen eigenen Künsten unterrichtete und der noch

herrlichere Anlagen zeigte als sein Oheim und Meister. Noch als Knabe hatte Talos die Töpferscheibe

erfunden; den Kinnbacken einer Schlange, auf den er irgendwo gestoßen, gebrauchte er als Säge und

durchschnitt mit den gezackten Zähnen ein kleines Brettchen; dann ahmte er dieses Werkzeug in

Eisen nach, in dessen Schärfe er eine Reihe fortlaufender Zähne einschnitt, und wurde so der

gepriesene Erfinder der Säge. Ebenso erfand er das Drechseleisen, indem er zuerst zwei eiserne Arme

verband, von welchen der eine stillestand, während der andere sich drehte. Auch andere künstliche

Werkzeuge ersann er, alles ohne die Hilfe seines Lehrers, und erwarb sich damit hohen Ruhm.

Dädalos fing an zu befürchten, der Name des Schülers möchte größer werden als der des Meisters;

der Neid übermannte ihn, und er brachte den Knaben hinterlistig um, indem er ihn von Athenes Burg

herabstürzte. Während Dädalos mit seinem Begräbnisse beschäftigt war, wurde er überrascht; er gab

vor, eine Schlange zu verscharren. Dennoch wurde er vor dem Gerichte des Areopagos wegen eines

Mordes angeklagt und schuldig befunden. Er entwich nun und irrte anfangs flüchtig in Attika umher,

bis er weiter nach der Insel Kreta floh. Hier fand er bei dem Könige Minos eine Freistätte, ward

dessen Freund und als berühmter Künstler hoch angesehen. Er wurde von ihm auserwählt, um dem

Minotauros, einem Ungeheuer von abscheulicher Abkunft, der ein Doppelwesen war, das vom Kopfe

bis an die Schultern die Gestalt eines Stieres hatte, im übrigen aber einem Menschen glich, einen

Aufenthalt zu schaffen, wo das Ungetüm den Augen der Menschen ganz entrückt würde. Der

erfindsame Geist des Dädalos erbaute zu dem Ende das Labyrinth, ein Gebäude voll gewundener

Krümmungen, welche Augen und Füße des Betretenden verwirrten. Die unzähligen Gänge schlangen

sich ineinander wie der verworrene Lauf des geschlängelten phrygischen Flusses Mäander, der in

verzweifelndem Gange bald vorwärts‐, bald zurückfließt und oft seinen eigenen Wellen

entgegenkommt. Als der Bau vollendet war und Dädalos ihn durchmusterte, fand sich der Erfinder

selbst mit Mühe zur Schwelle zurück, ein so trügerisches Irrsal hatte er gegründet. Im innersten

dieses Labyrinthes wurde der Minotauros gehegt, und seine Speisen waren sieben Jünglinge und

sieben Jungfrauen, die, vermöge alter Zinsbarkeit, alle neun Jahre von Athen dem Könige Kretas

zugesandt werden mußten.

Indessen wurde dem Dädalos die lange Verbannung aus der geliebten Heimat doch allmählich zur

Last, und es quälte ihn, bei dem tyrannischen und selbst gegen seinen Freund mißtrauischen Könige

sein ganzes Leben auf einem vom Meere rings umschlossenen Eilande zubringen zu sollen. Sein

erfinderischer Geist sann auf Rettung. Nachdem er lange gebrütet, rief er endlich ganz freudig aus:

»Die Rettung ist gefunden; mag mich Minos immerhin von Land und Wasser aussperren, die Luft

bleibt mir doch offen; soviel Minos besitzt, über sie hat er keine Herrschergewalt. Durch die Luft will

ich davongehen!« Gesagt, getan. Dädalos überwältigte mit seinem Erfindungsgeiste die Natur. Er fing

an, Vogelfedern von verschiedener Größe so in Ordnung zu legen, daß er mit der kleinsten begann

und zu der kürzeren Feder stets eine längere fügte, so daß man glauben konnte, sie seien von selbst

ansteigend gewachsen. Diese Federn verknüpfte er in der Mitte mit Leinfäden, unten mit Wachs. Die

so vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, so daß sie ganz das Ansehen von Flügeln

bekamen. Dädalos hatte einen Knaben namens Ikaros. Dieser stand neben ihm und mischte seine

kindischen Hände neugierig unter die künstliche Arbeit des Vaters; bald griff er nach dem Gefieder,

dessen Flaum von dem Luftzuge bewegt wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, dessen der

Künstler sich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater ließ es sorglos geschehen und

lächelte zu den unbeholfenen Bemühungen seines Kindes. Nachdem er die letzte Hand an seine

Arbeit gelegt hatte, paßte sich Dädalos selbst die Flügel an den Leib, setzte sich mit ihnen ins

Gleichgewicht und schwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte. Dann, nachdem er sich wieder

zu Boden gesenkt, belehrte er auch seinen jungen Sohn Ikaros, für den ein kleineres Flügelpaar

gefertigt und bereit lag. »Flieg immer, lieber Sohn«, sprach er, »auf der Mittelstraße, damit nicht,

wenn du den Flug zu sehr nach unten senktest, die Fittiche ans Meerwasser streifen und von

Feuchtigkeit beschwert dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder wenn du dich zu hoch in die

Luftregion verstiegest, dein Gefieder den Sonnenstrahlen zu nahe komme und plötzlich Feuer fange.

Zwischen Wasser und Sonne fliege dahin, immer nur meinem Pfade durch die Luft folgend.« Unter

solchen Ermahnungen knüpfte Dädalos auch dem Sohne das Flügelpaar an die Schultern, doch

zitterte die Hand des Greisen, während er es tat, und eine bange Träne tropfte ihm auf die Hand.

Dann umarmte er den Knaben und gab ihm einen Kuß, der auch sein letzter sein sollte.

Jetzt erhoben sich beide mit ihren Flügeln. Der Vater flog voraus, sorgenvoll wie ein Vogel, der eine

zarte Brut zum erstenmal aus dem Neste in die Luft fährt. Doch schwang er besonnen und kunstvoll

das Gefieder, damit der Sohn es ihm nachtun lernte, und blickte von Zeit zu Zeit rückwärts, um zu

sehen, wie es diesem gelänge. Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Insel Samos zur Linken,

bald Delos und Paros, die Eilande, vorüberflogen. Noch mehrere Küsten sahen sie schwinden, als der

Knabe Ikaros, durch den glücklichen Flug zuversichtlich gemacht, seinen väterlichen Führer verließ

und in verwegenem Übermute mit seinem Flügelpaar einer höheren Zone zusteuerte. Aber die

gedrohte Strafe blieb nicht aus. Die Nachbarschaft der Sonne erweichte mit allzukräftigen Strahlen

das Wachs, das die Fittiche zusammenhielt, und ehe es Ikaros nur bemerkte, waren die Flügel

aufgelöst und zu beiden Seiten den Schultern entsunken. Noch ruderte der unglückliche Jüngling und

schwang seine nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu fassen, und plötzlich stürzte er in die Tiefe.

Er hatte den Namen seines Vaters als Hilferuf auf den Lippen; doch ehe er ihn aussprechen konnte,

hatte ihn die blaue Meeresflut verschlungen. Das alles war so schnell geschehen, daß Dädalos, hinter

sich nach seinem Sohne, wie er von Zeit zu Zeit zu tun gewohnt war, blickend, nichts mehr von ihm

gewahr wurde. »Ikaros, Ikaros!« rief er trostlos durch den leeren Luftraum: »Wo, in welchem Bezirke

der Luft soll ich dich suchen?« Endlich sandte er die ängstlich forschenden Blicke nach der Tiefe. Da

sah er im Wasser die Federn schwimmen. Nun senkte er seinen Flug und ging, die Flügel abgelegt,

ohne Trost am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den Leichnam seines unglücklichen

Kindes ans Gestade spülten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der verzweifelnde Vater sorgte

für das Begräbnis des Sohnes. Es war eine Insel, wo er sich niedergelassen und wo der Leichnam ans

Ufer geschwemmt worden war. Zum ewigen Gedächtnis an das jammervolle Ereignis erhielt das

Eiland den Namen Ikaria.

Als Dädalos seinen Sohn begraben hatte, fuhr er von dieser Insel weiter nach der großen Insel

Sizilien. Hier herrschte der König Kokalos. Wie einst bei Minos auf Kreta fand er bei ihm gastliche

Aufnahme, und seine Kunst setzte die Einwohner in Erstaunen. Noch lange zeigte man da einen

künstlichen See, den er gegraben und aus dem ein breiter Fluß sich in das benachbarte Meer ergoß;

auf den steilsten Felsen, der nicht zu erstürmen war und wo kaum ein paar Bäume Platz zu haben

schienen, setzte er eine feste Stadt und führte zu ihr einen so engen und künstlich gewundenen Weg

empor, daß drei oder vier Männer hinreichten, die Feste zu verteidigen. Diese unbezwingliche Burg

wählte dann der König Kokalos zur Aufbewahrung seiner Schätze. Das dritte Werk des Dädalos auf

der Insel Sizilien war eine tiefe Höhle. Hier fing der den Dampf unterirdischen Feuers so geschickt

auf, daß der Aufenthalt in einer Grotte, die sonst feucht zu sein pflegte, so angenehm war wie in

einem gelinde geheizten Zimmer und der Körper allmählich in einen wohltätigen Schweiß kam, ohne

dabei von der Hitze belästigt zu werden. Auch den Aphroditentempel auf dem Vorgebirge Eryx

erweiterte er und weihte der Göttin eine goldene Honigzelle, die mit der größten Kunst

ausgearbeitet war und einer wirklichen Honigwabe täuschend ähnlich sah.

Nun erfuhr aber König Minos, dessen Insel der Baumeister heimlich verlassen hatte, daß Dädalos sich

nach Sizilien geflüchtet habe, und faßte den Entschluß, ihn mit einem gewaltigen Kriegsheere zu

verfolgen. Er rüstete eine ansehnliche Flotte aus und fuhr damit von Kreta nach Agrigent. Hier

schiffte er seine Landtruppen aus und schickte Botschaften an den König Kokalos, welche die

Auslieferung des Flüchtlings verlangen sollten. Aber Kokalos war über den Einfall des fremden

Tyrannen entrüstet und sann auf Mittel und Wege, ihn zu verderben. Er stellte sich an, als ginge er

auf die Absichten des Kreters ganz ein, versprach ihm in allem zu willfahren, und lud ihn zu dem Ende

zu einer Zusammenkunft ein. Minos kam und wurde mit großer Gastfreundschaft von Kokalos

aufgenommen. Ein warmes Bad sollte ihn von der Ermüdung des Weges heilen. Als er aber in der

Wanne saß, ließ Kokalos diese so lange heizen, bis Minos in dem siedenden Wasser erstickte. Die

Leiche überließ der König von Sizilien den Kretern, die mit ihm gekommen waren, unter dem

Vorgeben, der König sei im Bade ausgeglitten und in das heiße Wasser gefallen. Hierauf wurde Minos

von seinen Kriegern mit großer Pracht bei Agrigent bestattet und über seinem Grabmal ein offener

Aphroditentempel erbaut. Dädalos blieb bei dem Könige Kokalos in ununterbrochener Gunst; er zog

viele und berühmte Künstler und wurde der Gründer seiner Kunst auf Sizilien. Glücklich aber war er

seit dem Sturze seines Sohnes Ikaros nicht mehr, und während er dem Lande, das ihm Zuflucht

gewährt hatte, ein heiteres und lachendes Ansehen durch die Werke seiner Hand verlieh, durchlebte

er selbst ein kummervolles und trübsinniges Alter. Er starb auf der Insel Sizilien und wurde dort

begraben.

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil

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