Читать книгу Griechische Mythologie und die Götter der Sagen: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Gustav Schwab - Страница 13
Ion
ОглавлениеDer König Erechtheus von Athen erfreute sich einer schönen Tochter, die Krëusa hieß. Mit dieser hatte sich, ohne Wissen ihres Vaters, Apollo vermählt, und sie hatte ihm einen Sohn geboren, welchen sie aus Furcht vor dem Zorn ihres Vaters in eine Kiste verschloß und in der Höhle aussetzte, wo sie ihre heimlichen Zusammenkünfte mit dem Gotte gehalten hatte, in der Hoffnung, daß sich die Götter des Verlassenen erbarmen würden. Um aber den neugeborenen Knaben nicht ohne Erkennungszeichen zu lassen, hing sie ihm den Schmuck um, den sie als Jungfrau zu tragen pflegte. Apollo, dem als einem Gotte die Geburt seines Sohnes nicht verborgen geblieben war und der weder seine Geliebte verraten noch den Knaben ohne Hilfe lassen wollte, wandte sich an seinen Bruder Hermes, welcher als Götterbote, ohne Aufsehen zu erregen, zwischen Himmel und Erde zu verkehren hatte. „Lieber Bruder“, sprach er, „eine Sterbliche hat mir ein Kind geboren, es ist die Tochter des Königes Erechtheus zu Athen. Aus Furcht vor ihrem Vater hat sie es in einem hohlen Felsen verborgen; hilf mir es retten, bring es in der Kiste, in der es liegt, und mit den Windeln, in die es gewickelt ist, nach meinem Orakel zu Delphi und lege es dort auf die Schwelle des Tempels. Das übrige laß meine Sorge sein, denn es ist mein Kind.“ Hermes, der geflügelte Gott, eilte nach Athen, fand den Knaben an der bezeichneten Stelle und trug ihn in dem geflochtenen Weidenkorbe, in welchem er verschlossen lag, nach Delphi, wo er ihn vor den Pforten des Tempels niedersetzte und den Deckel des Korbes öffnete, damit das Kind bemerklich würde. Dies geschah bei Nacht. Am andern Morgen, als schon die Sonne emporstieg, kam die delphische Priesterin nach dem Tempel geschritten, und als sie ihn betreten wollte, fiel ihr Auge auf das neugeborne Kind, das in der Kiste schlummerte. Sie hielt dasselbe für die Frucht irgendeines Verbrechens und war schon geneigt, es von der heiligen Schwelle fortzustoßen, als das Mitleid doch in ihrer Seele die Oberhand gewann; denn der Gott wandte ihr Herz und sprach in demselben für seinen Sohn. Die Prophetin nahm also das Kind aus dem Korbe und zog es auf, ohne seinen Vater und seine Mutter zu kennen. Der Knabe erwuchs, um den Altar seines Vaters spielend, und wußte nichts von seinen Eltern. Er wurde ein stattlicher Jüngling. Die Bewohner von Delphi, die ihn schon als kleinen Tempelhüter gewohnt worden waren, setzten ihn zum Schatzmeister über alle Geschenke, die der Gott erhielt, und so brachte er fortwährend ein ehrbares und heiliges Leben im Tempel seines Vaters zu.
Inzwischen hatte Krëusa von dem Gotte nichts mehr erfahren und mußte wohl glauben, daß er ihrer und ihres Sohnes vergessen habe. Um diese Zeit gerieten die Athener in einen Krieg mit den Bewohnern der Nachbarinsel Euböa, der bis zur Vertilgung geführt wurde und in welchem die letzteren unterlagen. In diesem Kampfe war den Athenern besonders wirksam ein Fremdling aus Achaja beigestanden. Es war dies Xuthos, ein Sohn des Äolos, der selbst ein Sohn des Zeus war. Zum Lohne seiner Hilfe begehrte und erhielt er die Hand der Königstochter Krëusa; aber es war, als ob der ihr heimlich angetraute Gott die Geliebte seinen Zorn empfinden ließe, daß sie sich einem andern vermählt hatte; denn ihre Ehe war nicht mit Kindern gesegnet. Nach langer Zeit verfiel Krëusa auf den Gedanken, sich an das Orakel zu Delphi zu wenden und von ihm Kindersegen zu erflehen. Dies war es, was Apollo gewollt; denn er hatte seines Sohnes keineswegs vergessen. So brach die Fürstin mit ihrem Gemahl und einem kleinen Gefolge von Dienerinnen auf und wallfahrtete zu dem Tempel nach Delphi. Als sie vor dem Gotteshause ankamen, trat gerade der junge Sohn Apollos über die Schwelle, um gewohnterweise das Tor und den Vorhof mit Lorbeerzweigen zu fegen. Da fiel sein Auge auf die edle Matrone, welche auf die Tore des Tempels zugewandelt kam und der beim Anblicke des Heiligtums Tränen über die Wangen rollten. Er wagte es, die Frau, deren würdige Gestalt ihm auffiel, bescheiden um die Ursache ihres Kummers zu befragen. „Es wundert mich nicht, o Jüngling“, erwiderte sie seufzend, „daß meine Traurigkeit deinen Blick auf sich zieht; habe ich doch Geschicke zu beweinen, die man mir wohl ansehen mag. Die Götter verfahren oft hart mit uns Sterblichen!“ „Ich will deinen Kummer nicht weiter stören“, sprach der Jüngling, „aber sage mir, wenn es zu wissen erlaubt ist, wer du bist und von wannen du kommst.“ „Ich bin Krëusa“, antwortete die Fürstin, „mein Vater heißt Erechtheus, mein Vaterland ist Athen.“ Mit unschuldiger Freude rief der Jüngling: „Ei, aus welchem berühmten Lande, aus welch berühmtem Geschlechte stammst du! Aber sage mir, ist es wahr, wie man es auf Bildern bei uns sieht, daß deines Vaters Großvater Erichthonios aus der Erde wie ein anderes Gewächs emporgesprossen ist, daß die Göttin Athene den erdgeborenen Knaben in eine Kiste eingeschlossen, ihm zwei Drachen als Wächter beigegeben und das Kistchen den Töchtern des Kekrops zur Bewahrung überlassen habe; daß diese aus Neugierde dasselbe eröffnet und beim Anblicke des Knaben in Wahnsinn geraten und sich von dem Felsen der Kekropischen Burg herabgestürzt?“ Krëusa bejahte die Frage schweigend, denn das Schicksal ihres Urahns erinnerte sie an das Geschick ihres verlorenen Sohnes. Dieser aber, der vor ihr stand, fuhr fort, unbefangen weiter zu fragen: „Sage mir auch, hohe Fürstin, ist es wahr, daß dein Vater Erechtheus seine Töchter, deine Schwestern, auf den Ausspruch eines Orakels und mit ihrem freien Willen dem Tode geopfert, um über die Feinde zu siegen? Und wie kam es, daß du allein gerettet worden bist?“ „Ich war“, sprach Krëusa, „ein neugeborenes Kind und lag in den Armen der Mutter.“ „Und ist es auch wahr“, so fragte der Jüngling weiter, „daß dein Vater Erechtheus von einem Erdspalt verschlungen worden ist, daß der Dreizack Poseidons ihn verderbt hat und daß in der Nähe seines Erdgrabes eine Grotte ist, die mein Herr, der pythische Apollo, so lieb hat?“ „O schweige mir von jener Grotte, Fremdling“, unterbrach ihn seufzend Krëusa, „in ihr ist eine Treulosigkeit und ein großer Frevel begangen worden.“ Die Fürstin schwieg eine Weile, sammelte sich wieder und erzählte dem Jüngling, in welchem sie den Tempelhüter des Gottes erkannte, daß sie die Gemahlin des Fürsten Xuthos und mit diesem nach Delphi gewallfahrtet sei, um für ihre unfruchtbare Ehe den Segen Gottes zu erflehen. „Phöbos Apollo“, sprach sie mit einem Seufzer, „kennt die Ursache meiner Kinderlosigkeit; er allein kann mir helfen.“ „So bist du kinderlos, Unglückliche?“ sagte betrübt der Jüngling. „Ich bin es längst“, erwiderte Krëusa, „und ich muß deine Mutter beneiden, guter Jüngling, die sich eines so holdseligen Sohnes erfreut.“ „Ich weiß nichts von einer Mutter und von einem Vater“, gab der junge Mann betrübt zur Antwort, „ich lag nie an eines Weibes Brust; ich weiß auch nicht, wie ich hierhergekommen bin; nur so viel weiß ich aus dem Munde meiner Pflegemutter, der Priesterin dieses Tempels, daß sie sich meiner erbarmt und mich großgezogen hat; das Haus des Gottes ist seitdem meine Wohnung, und ich bin sein Knecht.“ Bei diesen Mitteilungen wurde die Fürstin sehr nachdenklich, doch drängte sie ihre Gedanken in die Brust zurück und sprach die traurigen Worte: „Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der es gegangen ist wie deiner Mutter; um ihretwillen bin ich hierhergekommen und soll das Orakel befragen. So will ich denn dir, als dem Diener des Gottes, ihr Geheimnis anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der diese Wallfahrt auch gemacht, aber unterwegs abgelenkt ist, um das Orakel des Trophonios zu hören, den Tempel betritt. Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit dem großen Gotte Phöbos Apollo vermählt gewesen zu sein und ihm ohne Wissen ihres Vaters einen Sohn geboren zu haben. Diesen setzte sie aus und weiß seitdem nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht schaut oder nicht. Über sein Leben oder seinen Tod den Gott auszuforschen, bin ich im Namen meiner Freundin hierhergekommen.“ „Wie lang ist es her, daß der Knabe tot ist?“ fragte der Jüngling. „Wenn er noch lebte, so hätte er dein Alter, o Knabe“, sprach Krëusa. „O wie ähnlich ist das Schicksal deiner Freundin und das meine!“ rief mit dem Ausdrucke des Schmerzes der junge Mann; „sie sucht ihren Sohn, und ich suche meine Mutter. Doch ist, was ihr geschehen ist, fern von diesem Lande geschehen, und leider sind wir beide einander ganz fremd. Hoffe auch nicht, daß der Gott von seinem Dreifuße dir die gewünschte Antwort erteilen wird. Bist du doch gekommen, ihn im Namen deiner Freundin einer Treulosigkeit anzuklagen; er wird nicht über sich selbst Richter sein wollen!“ „Halt ein, Jüngling“, rief jetzt Krëusa, „dort sehe ich den Gatten jener Frau herannahen; laß dir nichts von dem merken, was ich dir, vielleicht allzu vertraulich, vorgeplaudert habe.“
Xuthos kam fröhlich in den Tempel und auf seine Gemahlin zugeschritten. „Frau“, rief er ihr entgegen, „Trophonios hat einen glücklichen Ausspruch getan: ich soll nicht ohne Kinder von hinnen ziehen! Aber sage mir, wer ist dieser junge Prophet des Gottes?“ Der Jüngling trat dem Fürsten bescheiden entgegen und erzählte ihm, wie er nur der Tempeldiener Apollos sei und im innersten Heiligtume die vornehmsten Delphier selbst, durchs Los ausgewählt, den Dreifuß umlagern, von dem jetzt eben die Priesterin Orakel zu geben bereit sei. Als der Fürst dieses hörte, befahl er Krëusen, sich mit den Zweigen zu schmücken, welche Bittflehende zu tragen pflegen, und an dem Altare des Gottes, der mit Lorbeer umwunden unter freiem Himmel stand, zu Apollo zu beten, daß er ihnen ein günstiges Orakel senden möge. Er selbst eilte nach dem Heiligtume des Tempels, indes der junge Schatzmeister des Gottes im Vorhofe seine Wache fortsetzte. Es hatte nicht sehr lange gedauert, so hörte dieser die Türen des innersten Heiligtums gehen und sich dröhnend wieder schließen, dann sah er den Xuthos in freudiger Bestürzung herauseilen; dieser warf sich mit Ungestüm dem Jüngling um den Hals, nannte ihn zu wiederholten Malen seinen Sohn und verlangte seinen Handschlag und Kindeskuß. Der junge Mann aber, der von alledem nichts begriff, hielt den Alten für wahnsinnig und stieß ihn mit jugendlicher Kraft von sich. Doch Xuthos ließ sich nicht abweisen. „Der Gott selbst hat es mir geoffenbart“, sprach er; „sein Spruch lautete: Der erste, der mir draußen begegnen würde, der sei mein Sohn und ein Göttergeschenk. Wie das möglich ist, weiß ich zwar nicht, denn meine Gattin hat mir nie zuvor Kinder geboren. Doch trau ich dem Gotte; mag er selbst sein Geheimnis enthüllen.“ Jetzt gab sich auch der Jüngling der Freude hin; doch halb nur, und mitten unter den Küssen und Umarmungen seines Vaters mußte er seufzen: „O geliebte Mutter, wer bist du, wo bist du? wann wird es mir vergönnt sein, auch dein teures Antlitz zu schauen?“ Dazu kamen ihm große Zweifel, wie die kinderlose Gemahlin des Xuthos, die er nicht zu kennen glaubte, ihn als unerwarteten Stiefsohn aufnehmen, wie die Stadt Athen den nicht gesetzlichen Erben ihres Fürsten empfangen würde. Sein Vater hieß ihn aber guten Mutes sein; er versprach ihm, ihn den Athenern und seiner Gattin als einen Fremdling und nicht als seinen Sohn vorzustellen, und gab ihm den Namen Ion, das heißt Gänger, weil er im Tempel den ihm Entgegengehenden als seinen Sohn erkannt hatte.
Krëusa war indessen von dem Altare Apollos, vor dem sie sich betend niedergeworfen, nicht gewichen. Sie wurde endlich in ihrem brünstigen Flehen von ihren Dienerinnen unterbrochen, welche sich ihr unter Wehklagen nahten. „Unglückliche Herrin“, riefen sie ihr entgegen, „dein Gatte zwar ist in große Freude versetzt, du aber wirst nie ein eigenes Kind in deine Arme nehmen und an deine Brust legen. Ihm freilich hat Apollo einen Sohn gegeben, einen erwachsenen Sohn, den ihm vor Zeiten wer weiß welch ein Nebenweib geboren hat; als er aus dem Tempel trat, kam ihm dieser entgegen. Er wird sich seines wiedergefundenen Kindes freuen, du aber wirst wie zuvor einer Witwe gleich im öden Hause wohnen.“ Die arme Fürstin, deren Geist der Gott selbst mit Blindheit geschlagen zu haben schien, daß sich ein so naheliegendes Geheimnis ihr nicht enthüllte, brütete über ihrem traurigen Schicksal eine Weile fort. Endlich fragte sie nach der Person und dem Namen des Stiefsohnes, den sie so unvermutet erhalten hatte. „Es ist der junge Tempelhüter, den du schon kennst“, erwiderten die Dienerinnen; „sein Vater hat ihm den Namen Ion gegeben; wer seine Mutter ist, wissen wir nicht; jetzt ist dein Gatte zu dem Altare des Bakchos gegangen, um heimlich für seinen Sohn zu opfern und dann mit ihm den Erkennungsschmaus zu feiern. Uns hat er unter Androhung des Todes verboten, dir, o Herrin, die Geschichte zu entdecken; nur unsre große Liebe zu dir hat uns vermocht dieses Verbot zu übertreten. Du wirst uns ja nicht bei ihm verraten!“ Jetzt trat aus dem Gefolge ein alter Diener hervor, der dem Stamme der Erechthiden mit blinder Treue anhing und seiner Gebieterin mit großer Liebe zugetan war. Dieser schalt den Fürsten Xuthos einen treulosen Ehebrecher und ließ sich von seinem Eifer so weit verleiten, daß er ihr das Anerbieten machte, den Bastard, der das Erbe der Erechthiden unrechtmäßigerweise an sich bringen würde, aus dem Wege zu räumen. Krëusa glaubte sich von ihrem Gatten und von ihrem früheren Geliebten, dem Gott Apollo, verlassen, und betäubt von ihrem Kummer, lieh sie den frevelhaften Anschlägen des Greisen allmählich ihr Ohr und machte ihn auch zum Vertrauten ihres Verhältnisses zu dem Gott.
Als Xuthos mit Ion, in welchem er unbegreiflicherweise einen Sohn gefunden zu haben meinte, den Tempel des Gottes verlassen hatte, begab er sich mit ihm nach dem doppelten Gipfel des Berges Parnassos, wo der Gott Bakchos, nicht weniger heilig als Apollo selbst, von den Delphiern verehrt und mit seinem wilden Orgiendienste von den Frauen gefeiert wurde. Nachdem er hier ein Trankopfer ausgegossen, zum Danke für den gefundenen Sohn, errichtete Ion im Freien mit Hilfe der Diener, die ihn begleitet hatten, ein herrliches und geräumiges Zelt, das er mit schön gewirkten Teppichen bedeckte, die er aus Apollos Tempel hatte herbeischaffen lassen. In dem Zelte wurden lange Tafeln aufgestellt und mit silbernen Schüsseln voll köstlicher Speisen und goldenen Bechern voll des edelsten Weines belastet; dann sandte der Athener Xuthos seinen Herold in die Stadt Delphi und lud sämtliche Einwohner ein, an seiner Freude teilzunehmen. Bald füllte sich das große Zelt mit bekränzten Gästen, und sie tafelten in Herrlichkeit und Freude. Beim Nachtische trat ein alter Mann, dessen sonderbare Gebärden den Gästen zur Belustigung dienten, mitten in den Saal des Zeltes und maßte sich das Amt des Mundschenken an. Xuthos erkannte in ihm jenen greisen Diener seiner Gemahlin Krëusa, lobte den Gästen seinen Eifer und seine Treue und ließ ihn arglos schalten. Der Alte stellte sich an den Schenktisch und fing an, sich der Becher anzunehmen und die Gäste zu bedienen. Als nun gegen Schluß des Mahles die Flöten ertönten, befahl er den Knechten, die kleinen Becher von der Tafel wegzunehmen und den Gästen große silberne und goldene Trinkgefäße vorzusetzen. Er selbst ergriff das herrlichste Gefäß und trat, als wollte er damit seinen neuen jungen Herrn ehren, an den Schenktisch, füllte es zuoberst mit köstlichem Weine, schüttete aber zugleich unvermerkt ein tödliches Gift in den Becher. Indem er sich nun damit dem Ion näherte und einige Tropfen des Weines als Trankopfer auf den Boden goß, entfuhr zufälligerweise einem der nahestehenden Knechte ein Fluch. Ion, der unter den heiligen Gebräuchen des Tempels aufgewachsen war, erkannte darin eine böse Vorbedeutung und befahl, indem er den vollen Becher auf den Boden schüttete, daß ihm ein neuer Becher gereicht würde, aus welchem er selbst feierlich das Trankopfer ausgoß, während alle Gäste aus ihren Bechern dasselbe taten. Während dies geschah, flatterte eine Schar heiliger Tauben, die im Tempel des Apollo unter dem Schirme des Gottes aufgefüttert wurden, lustig in das Zelt herein. Als sie die Ströme Weines sahen, die von allen Seiten ausgegossen wurden, ließen sie sich, lüstern gemacht, auf den Boden nieder und fingen an, von dem herumschwimmenden Weine mit ausgereckten Schnäbeln zu nippen. Und allen übrigen schadete das Trankopfer nicht; nur die eine Taube, die sich an die Stelle gesetzt hatte, wo Ion seinen ersten Becher ausgegossen, schüttelte, sowie sie den Trank gekostet hatte, krampfhaft ihre Flügel, fing, zum Staunen aller Gäste, zu ächzen und zu toben an und starb unter Flügelschlag und Zuckungen. Da erhub sich Ion von seinem Sitze, streifte sein Gewand zürnend von den Armen, ballte die Fäuste und rief. „Wo ist der Mensch, der mich töten wollte? Rede, Alter! denn du hast deine Hand dazu geliehen, du hast mir den Trank gemischt!“ Damit faßte er den Greis bei der Schulter, um ihn nicht wieder loszulassen. Dieser, überrascht und erschrocken, gestand die ganze Freveltat als von Krëusen herrührend. Da verließ der durch Apollos Orakel für des Xuthos Sohn erklärte Ion das Zelt, und alle Gäste folgten ihm in wilder Aufregung nach. Als er draußen im Freien stand, erhub er die Hände, umringt von den vornehmsten Delphiern, und sprach: „Heilige Erde, du bist mein Zeuge, daß dieses fremde Erechthidenweib mich mit Gift aus dem Wege räumen will!“ „Steiniget, steiniget sie!“ erscholl es von der Versammlung der Delphier wie aus einem Munde; und die ganze Stadt brach mit Ion auf, die Verbrecherin zu suchen. Xuthos selbst, dem die schreckliche Entdeckung seine Besinnung geraubt hatte, wurde von dem Strome mit fortgerissen, ohne zu wissen, was er tat.
Krëusa hatte am Altar Apollos die Früchte ihrer verzweifelten Tat erwartet. Diese aber keimten ganz anders auf, als sie vermutet hatte. Ein Tosen aus der Ferne schreckte sie aus ihrer Versunkenheit auf, und noch ehe es ganz nahe kam, war dem heranstürmenden Haufen einer der Knechte ihres Gemahls, der ihr selbst vor andern getreu war, vorangeeilt und hatte kaum Zeit gehabt, die Entdeckung ihres Frevels und den Beschluß, den das Volk von Delphi gefaßt hatte, ihr zu melden. Ihre Dienerinnen scharten sich um sie. „Halte dich fest am Altare, Gebieterin“, riefen sie, „denn sollte dich auch der heilige Ort nicht vor deinen Mördern schützen, so werden sie doch durch deine Ermordung eine unsühnbare Blutschuld auf sich laden!“ Indessen kam die tobende Schar der Delphier, von Ion angeführt, dem Altare immer näher. Noch ehe sie bei demselben angelangt waren, hörte man des Jünglings zürnende Worte, die der Wind durch die Lüfte führte: „Die Götter haben es gut mit mir gemeint“, rief er in lautem Grimme, „daß dieser Frevel mich von der Stiefmutter befreien sollte, die mich zu Athen erwartete. Wo ist die Verruchte, die Viper mit der Giftzunge, der Drache mit dem todspeienden Flammenauge? Auf, daß die Mörderin vom höchsten Felsen in den Abgrund gestürzt werde!“ Das ihn begleitende Volk brüllte Beifall.
Jetzt waren sie am Altare angekommen, und Ion zerrte an der Frau, die seine Mutter war und in der er nur seine Todfeindin erkannte, um sie von dem Asyl, auf dessen Heiligkeit und Unverletzlichkeit sie sich berief, hinwegzureißen. Aber Apollo wollte nicht, daß sein eigener Sohn der Mörder seiner Mutter würde. Auf seinen göttlichen Wink war das Gerücht von dem gedrohten Verbrechen Krëusens und der Strafe, welche sie dafür erwartete, schnell bis in den Tempel und zu den Ohren der Priesterin gedrungen, und der Gott hatte ihren Sinn erleuchtet, so daß sie einen raschen Blick in den Zusammenhang aller Ereignisse warf und ihr plötzlich klar wurde, daß ihr Pflegling Ion nicht des Xuthos, wie sie selbst nebelhaft prophezeit hatte, sondern Apollos und Krëusas Sohn sei. Sie verließ den Dreifuß und suchte das Kistchen hervor, in welchem der neugeborene Knabe samt einigen Erkennungszeichen, die sie gleichfalls sorgsam aufbewahrt hatte, einst zu Delphi vor dem Tempeltor ausgesetzt worden war. Mit diesem im Arme, eilte sie ins Freie und nach dem Altare, wo Krëusa gegen den eindringenden Ion um ihr Leben kämpfte. Als Ion die Priesterin herannahen sah, ließ er sogleich von seiner Beute ab, ging ihr ehrerbietig entgegen und rief. „Sei mir willkommen, liebe Mutter, denn so muß ich dich nennen, obgleich du mich nicht geboren hast! Hörst du, welchen Nachstellungen ich entgangen bin? Kaum habe ich einen Vater gefunden, so sinnt auch schon die böse Stiefmutter auf meinen Tod! Nun sage mir, Mutter, was soll ich tun; denn deiner Mahnung will ich folgen!“ Die Priesterin erhob warnend ihren Finger und sprach: „Ion, geh mit unbefleckter Hand und unter günstigen Vogelzeichen nach Athen!“ Ion besann sich eine Weile, eh er antwortete. „Ist denn der nicht fleckenlos“, sprach er endlich, „der seine Feinde tötet?“ „Tue du nicht also, bist du mich gehört hast“, sagte die ehrwürdige Frau. „Siehst du dies alte Körbchen, das ich, mit frischen Kränzen umwunden, in meinen Armen trage? In diesem bist du einst ausgesetzt worden, aus ihm habe ich dich hervorgezogen.“ Ion staunte. „Davon Mutter“, sprach er, „hast du mir nie etwas gesagt. Warum hast du es so lange vor mir verborgen?“ „Weil der Gott“, antwortete die Priesterin, „dich bis hierher zu seinem Priester haben wollte. Jetzt, wo er dir einen Vater gegeben hat, entläßt er dich nach Athen.“ „Was soll mir aber dieses Kistchen helfen?“ fragte Ion weiter. „Es enthält die Windeln, in welchen du ausgesetzt worden bist, lieber Sohn!“ antwortete die Priesterin. „Meine Windeln?“ sprach Ion heftig. „Nun, das ist ja eine Spur, die mich auf meine rechte Mutter führen kann. O erwünschte Entdeckung!“ Die Priesterin hielt ihm nun das offene Kistchen hin, und Ion griff gierig hinein und zog die reinlich zusammengewickelte Leinwand heraus. Während er seine betränten Augen auf die kostbaren Überbleibsel heftete, hatte sich Krëusas Angst allmählich verloren und ein Blick auf das Kistchen ihr die ganze Wahrheit entdeckt. Mit einem Sprunge verließ sie den Altar, und mit dem Freudenrufe: „Sohn!“ hielt sie den staunenden Ion umschlungen. Diesem schlich sich aufs neue Mißtrauen ins Herz, er fürchtete die Umarmungen der Fremden als eine Hinterlist und wollte sich unwillig losmachen. Aber Krëusa selbst raffte sich zusammen, trat einige Schritte zurück und sprach: „Diese Leinwand soll für mich zeugen, Kind! Wickle sie getrost auseinander; du wirst die Zeichen finden, die ich dir angebe. Die Stickerei, die sie schmückt, ist das Werk meiner mädchenhaften Nadel. In der Mitte des Gewebes muß sich das Gorgonenhaupt finden, umringt von Schlangen, wie auf dem Ägisschilde!“ Ungläubig entfaltete Ion die Windeln, aber mit einem plötzlichen Freudenschrei rief er aus: „O großer Zeus, hier ist die Gorgone, hier sind die Schlangen!“ „Noch nicht genug“, sprach Krëusa, „es müssen in dem Kistchen auch kleine goldne Drachen sein, zur Erinnerung an die Drachen in der Kiste des Erichthonios; ein Halsschmuck für das neugeborene Knäbchen.“ Ion durchforschte den Korb weiter, und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch die Drachenbilder hervor. „Das letzte Zeichen“, rief Krëusa, „muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven sein, die vom erstgepflanzten Ölbaume Athenes stammen und den ich meinem neugeborenen Knaben aufgesetzt.“ Ion durchsuchte den Grund des Kistchens, und seine Hand brachte einen schönen grünen Olivenkranz hervor. „Mutter, Mutter!“ rief er mit einer von schluchzenden Tränen unterbrochenen Stimme, fiel Krëusen um den Hals und bedeckte ihre Wangen mit Küssen. Endlich riß er sich von ihrem Halse los und verlangte nach seinem Vater Xuthos. Da entdeckte ihm Krëusa das Geheimnis seiner Geburt und wie er des Gottes Sohn sei, dem er so lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëusens wurden ihm jetzt klar, und er fand selbst den verzweifelten Anschlag seiner Mutter auf des unerkannten Sohnes Leben verzeihlich. Xuthos nahm den Ion, obgleich nur als Stiefsohn, doch auch so als ein teures Göttergeschenk in seine Arme, und alle drei erschienen wieder im Tempel, dem Gotte zu danken. Die Priesterin aber weissagte von ihrem Dreifuß herab, daß Ion der Vater eines großen Stammes werden sollte, Ionier nach seinem Namen genannt; auch dem Xuthos weissagte sie Nachkommenschaft von Krëusen, einen Sohn, der Doros heißen und der weltberühmten Dorier Vater werden sollte. Mit so freudigen Erfüllungen und Hoffnungen brach das Fürstenpaar von Athen mit dem glücklich gefundenen Sohn nach der Heimat auf, und alle Einwohner Delphis gaben ihm das Geleite.