Читать книгу Der Diktator oder Mr. Parham wird allmächtig (Roman) - H. G. Wells - Страница 5
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Wie Sir Bussy und Mr. Parham sich zusammenfanden
ОглавлениеAls Mr. Parham Sir Bussy vor fünf Jahren oder mehr zum ersten Male sah, hatte es den Anschein gehabt, als sei in dem großen Finanzmann ein wirkliches Interesse an geistigen Dingen lebendig. Ein bescheidenes, aber ernstes Interesse.
Bei einem von Sebright Smith im Hotel Rialto veranstalteten Herren-Souper hatte Mr. Parham über Michelangelo und Botticelli gesprochen. Es war eine jener Veranstaltungen gewesen, die Mr. Parham als Sebrights wunderbare Geselligkeitskunststücke zu bezeichnen pflegte. Sebright Smith ging allezeit in größter Unbekümmertheit eine Fülle gesellschaftlicher Verpflichtungen ein, und wenn es ihrer so viele geworden waren, daß sie ihn zu bedrücken begannen, gab er ein riesenhaftes Diner oder Souper, um sich ihrer zu entledigen. Es war ihm gleichgültig, welche Leute bei ihm zusammentrafen, er verließ sich darauf, daß der Champagner die Zungen lösen werde. Und der liberal moderne und dabei doch so kultivierte Mr. Parham fand diese Feste entzückend vorurteilslos.
Niemand hört so gut zu wie Leute, die sich in einer Gesellschaft nicht ganz behaglich fühlen, und Mr. Parham, der zum Vielwisser geboren worden war, ließ seiner Zunge freien Lauf. Er sagte Dinge über Botticelli, mit denen ein gewinnsüchtigerer Mann vierzig oder fünfzig Pfund verdient haben würde, indem er sie zu einem kleinen Buche verarbeitet hätte. Sir Bussy lauschte mit einem Gesichtsausdruck, den Leute, die ihn nicht kannten, für boshaft hätten halten können. Jedoch mit Unrecht: Er hatte nämlich die Gewohnheit, den linken Mundwinkel herabzuziehen, wenn ihn etwas interessierte oder wenn er mit irgend einem Aktionsplan beschäftigt war.
Als mit den Zigarren Bewegung in die Gesellschaft kam und Negersänger ein Lied anzustimmen begannen, nahm Sir Bussy die Gelegenheit wahr, sich auf dem neben Mr. Parham freigewordenen Stuhle niederzulassen.
»Sie wissen in diesen Dingen Bescheid?« fragte er, der herzbewegenden Klänge des geistlichen Negerliedes nicht achtend.
Mr. Parham blickte ihm fragend ins Gesicht.
»Alte Meister, Kunst und so weiter.«
»Sie interessieren mich«, sagte Mr. Parham mit freundlich herablassendem Lächeln, denn noch waren ihm Name und Ansehen des Mannes, mit dem er sprach, unbekannt.
»Mich hätten sie vielleicht auch interessieren können – aber ich gab es auf, mich mit ihnen zu beschäftigen. Essen Sie manchmal in der City zu Mittag?«
»Nicht oft.«
»Nun, wenn der Weg Sie einmal dahin führt – nächste Woche zum Beispiel – rufen Sie mich doch im Marmion House an.«
Der Name sagte Mr. Parham nichts.
»Gerne«, erwiderte er höflich.
Sir Bussy schien im Begriff zu gehen. Er schwieg einen Augenblick. »Es mag allerlei hinter der Kunst stecken«, hob er darauf wieder an. »Kommen Sie doch bestimmt. Was Sie sagten, hat mich wirklich interessiert.« Er lächelte, wobei ein seltsamer Schimmer von Liebenswürdigkeit in seinem Gesicht aufleuchtete, um sofort wieder zu verschwinden, und verließ die Gesellschaft lebhaften Schrittes inmitten einer Pause, während welcher Sebright Smith und die Neger mit lauter Stimme besprachen, welches Lied als nächstes gesungen werden sollte.
Ein wenig später suchte Mr. Parham den Gastgeber. »Wer ist der untersetzte kleine Mann mit dem roten Gesicht und den borstigen Haaren, der ganz früh wegging?«
»Meinen Sie vielleicht, daß ich hier jedermann kenne?« sagte Sebright Smith.
»Aber er saß neben Ihnen!«
»Ach so, der! Das ist einer unserer Er- Eroberer«, erwiderte Sebright Smith, der betrunken war.
»Hat er einen Namen?«
»Keinen wird er haben! Sir Blas-dich-auf Bussy-Bussy Kauf-das-Weltall-zusammen Woodcock. Er gehört zu der Sorte Menschen, die alles aufkaufen. Läden, Häuser und Fabriken, Landgüter und Kneipen. Steinbrüche. Ganze Handelszweige. Er kauft die Dinge, die man nötig braucht, und spielt ein bißchen mit ihnen herum, bis man sie dann endlich kriegt. Sie können heute in London kein Stückchen Butter essen, das er nicht zuvor gekauft und wieder verkauft hätte. Eisenbahnen kauft er, Hotels, Kinos und Vorstädte, Männer und Frauen mit Seele und Leib. Passen Sie auf, daß er Sie nicht auch kaufe.«
»Ich bin keine Marktware.«
»Sondern nur unter der Hand zu haben, wie?« meinte Sebright Smith. Der erschrocken fragende Gesichtsausdruck Mr. Parhams belehrte ihn, daß er sich eine Taktlosigkeit hatte zuschulden kommen lassen, und er versuchte sie mit der Frage »Noch ein Glas Champagner?« wieder gutzumachen.
Mr. Parham erblickte einen alten Freund, der ihm zuwinkte, und ließ die Bemerkung seines Wirtes unbeantwortet. Er konnte auch keinerlei Sinn in ihr entdecken, überdies war der Mann offenkundig betrunken. Gegen den Freund hin gewendet, hob er die Hand senkrecht empor, als wolle er einen Wagen aufhalten, und bahnte sich einen Weg zu ihm hinüber.
Im Laufe der folgenden Tage zog Mr. Parham auf sehr diskrete Art Erkundigungen über Sir Bussy ein und beschloß daraufhin überaus nachdrücklich, die Einladung in das Marmion House anzunehmen. Wenn der Mann Unterweisung in Dingen der Kunst haben wollte, sollte er sie bekommen. Hatte nicht Lord Rosebery gesagt: »Wir müssen die Leute erziehen, die uns beherrschen?«
Es sollte ein freundschaftliches Tête-à-Tête werden. Mr. Parham gedachte, seinem Wirt das Tor zur goldenen Welt der Kunst zu öffnen und nebenbei einen langgehegten Traum zu erwähnen, den Sir Bussy mit leichter Mühe in herrliche Wirklichkeit verwandeln konnte.
Dieser Traum, der Mr. Parham während langer Jahre vergeblichen Hoffens zu einem grollenden Vasallen Sir Bussys machen sollte, war der Plan, ein vornehmes und angesehenes Wochenblatt herauszugeben, zweispaltig und mit zurückhaltenden Überschriften. Eine jener Zeitschriften sollte es sein, die zwar keineswegs übermäßig stark verbreitet sind, trotzdem aber die öffentliche Meinung beeinflussen und in der ganzen zivilisierten Welt das geschichtliche Geschehen der Gegenwart lenken. Was der Spectator, die Saturday Review, die Nation und der New Statesman waren und sind, sollte sie sein, und noch mehr. Mr. Parham und einige von ihm entdeckte und beeinflußte junge Leute sollten sie zum größten Teile schreiben. Das ganze Schauspiel des Lebens sollte sie kritisch betrachten, öffentliche Angelegenheiten, Gegenwartsprobleme, Wissenschaft, Kunst und Literatur. Sie sollte für alles Verständnis zeigen, stets gute Ratschläge bereit haben, jedoch niemals von der hohen Warte ihres geistigen Ranges herabsteigen. Bald sollte sie kühn sein, bald würdig streng, bald freimütig, bei keinem Anlaß aber laut oder gemein. Als Herausgeber einer Zeitung hat man etwas vom Wesen Gottes an sich; man ist Gott mit einem einzigen Hemmnis: dem Zeitungsinhaber nämlich. Wenn man jedoch tüchtig ist, kann man Gott mit einem wohlausgearbeiteten Kontrakt sein. Und ohne Gottes Verantwortlichkeit für die Mängel und Fehler des Weltalls, das man betrachtet. Man kann lächeln und Witze reißen, was ihm verboten ist. Denn er würde in den Verdacht kommen, daß er sich die Anlässe zu seinen Scherzen absichtlich geschaffen habe.
»Glossen der Woche« zu schreiben, ist vielleicht eine der reinsten Freuden, die das Leben einem klugen und kultivierten Menschen bieten kann. Man muntert Nationen auf oder weist sie zurecht. Man zeigt, wie Rußland geirrt und Deutschland die Anregung, die man vorvorige Woche gab, sich zunutze gemacht hat. Man analysiert die Beweggründe der Staatsmänner und warnt Bankiers, ja selbst die Großen der Geschäftswelt! Man richtet Richter. Für die oft so törichte Schar der Schreibenden hat man ein Wort des freundlichen Lobes oder der milden Verachtung. Die Künstler bedenkt man mit Komplimenten, manchmal mit boshaften. Lärmende kleine Korrespondenten blicken zu einem empor, schreiben aufgebrachte Protestbriefe und bedürfen von Zeit zu Zeit eines freundlichen Tadels. Heute läßt man einen bisher Unbekannten zu Ruhm gelangen, morgen stürzt man eine anerkannte Größe. Man kritisiert jedermann und bleibt selbst von aller Kritik verschont. Man spricht aus einer Wolke, glorreich, mächtig, der Menge entrückt. Nur wenige Menschen sind dieser großen Aufgabe würdig, doch wußte Mr. Parham seit langem, daß er zu dieser auserwählten Minderheit zählte. Nur schwer hatte er sein Geheimnis gewahrt, hatte auf seine Zeitung gewartet wie einst Jungfrauen hinter klösterlichen Mauern, des Liebsten harrten. Und hier war nun endlich Sir Bussy, Sir Bussy, der kaum den Finger zu rühren brauchte, um Mr. Parham zu der ersehnten Versetzung unter die Götter zu verhelfen.
Er brauchte nur »ja« zu sagen. Mr. Parham wußte genau, wohin er sich zu wenden und was er zu tun hatte. Es war die große Gelegenheit für Sir Bussy. Er konnte einen Gott ins Leben rufen. Er selbst besaß weder die nötige Bildung noch überhaupt die Fähigkeit, ein Gott zu sein, aber er konnte einen Gott schaffen.
Sir Bussy hatte alles mögliche aufgekauft, das aufregende Erlebnis jedoch, eine Zeitung sein eigen zu nennen, war ihm bisher fremd geblieben. Es war Zeit, daß er es kennen lernte. Es war Zeit, daß er Macht, Einfluß und Wissen frisch von der Quelle zu kosten bekam. Von seiner eigenen Quelle.
Von solchen Gedanken erfüllt, hatte sich Mr. Parham zu seinem ersten Mittagessen im Marmion House begeben.
Er entdeckte, daß in diesem Marmion House ein sehr reges Leben herrschte. Sir Bussy hatte das Gebäude errichten lassen. Achtunddreißig Handelsgesellschaften hatten ihre Büros darin, und in dem breiten Torweg des Victoria-Street-Einganges geriet Mr. Parham in eine Schar eilfertiger Büroangestellter und Stenographen, die zum Essen weggingen. Ein vollgepfropfter Fahrstuhl setzte in jedem Stockwerk eine Anzahl von Passagieren ab; schließlich fuhr Mr. Parham mit dem Liftjungen allein nach dem Obergeschoß hinauf.
Es sollte nicht das nette kleine Tête-à-Tête werden, das Mr. Parham seit seinem telephonischen Anruf am Morgen erwartet hatte. In einem großen Eßzimmer mit einem langen Tische fand er Sir Bussy, umgeben von einer recht beträchtlichen Anzahl von Leuten, die ihn beim ersten Anblick Schmarotzer der schlimmsten Sorte dünkten. Später sollte er erfahren, daß zumindest etliche unter ihnen ganz achtbare Menschen waren und in dieser oder jener der achtunddreißig Handelsgesellschaften arbeiteten, die Sir Bussy ins Leben gerufen hatte; der erste Eindruck aber war ein anderer. Es war dazu Sir Bussys Linker eine Stenographin mit ernster, wachsamer Miene, die Mr. Parham für ihre Stellung viel zu würdevoll im Gehaben, dabei viel zu hübsch und zu gut gekleidet schien; ferner waren da zwei junge Damen mit überaus familiären Manieren, die Sir Bussy »lieber Bussy« nannten und Mr. Parham anstarrten, als ob er ein Ausländer wäre. Bei näherer Bekanntschaft erfuhr Mr. Parham, daß diese beiden jungen Mädchen Sir Bussys angeheiratete Lieblingsnichten waren – er hatte keine eigenen Kinder –; im Augenblicke aber dachte Mr. Parham das Allerschlimmste von ihnen. Sie waren geschminkt. Dann war da ein unendlich dicker und fröhlicher Mann in einem hellen Anzug, der eine einschmeichelnde Stimme hatte und Mr. Parham ganz unvermittelt fragte, ob seiner Meinung nach nicht etwas mit Westernhanger geschehen sollte, worauf er sich in ein unverständliches Wortgeplänkel mit einer der beiden Nichten einließ, während Mr. Parham darüber nachdachte, wer oder was Westernhanger wohl sein mochte. Überdies war da ein nachdenklicher kleiner Mann mit außerordentlich hoher Stirn: Sir Titus Knowles aus der Harley-Street, wie Mr. Parham erfuhr. Während des Essens wurde kein ernstes Gespräch geführt, man tauschte nur belanglose Bemerkungen aus. Ein ruhiger Mann, der zwischen Mr. Parham und Sir Bussy saß, fragte Mr. Parham, ob er nicht die meisten Gebäude der City abscheulich finde.
»Denken Sie einmal an New York«, sagte er.
Mr. Parham überlegte. »New York ist anders.«
Der ruhige Mann meinte nach einer Pause des Nachdenkens, das sei wohl wahr, trotzdem aber …
Sir Bussy hatte Mr. Parham mit dem ihm eigenen, flüchtig in seinem Gesichte aufleuchtenden Schimmer von Liebenswürdigkeit begrüßt und ihm gesagt, er möge sich irgendwo hinsetzen. Und nach einem dunklen Geschäker quer über den Tisch hin mit einem der hübschen geschminkten Mädchen über die Frage, ob sie in London »echtes Tennis« spielen könne, war der Gastgeber in nachdenkliches Stillschweigen versunken. Einmal sagte er aus keinem ersichtlichen Grunde »Nu!«
Das Mittagessen hatte nichts von der ruhigen Gemessenheit, die eine Tischgesellschaft im West-End auszuzeichnen pflegt. Drei oder vier junge Männer in weißen Leinenjacken bedienten flink, aber ohne irgendwelche Würde. Es gab Nierenragout und Roast-Beef, Sellerie in reichlichen Mengen nach amerikanischer Art, und auf einem Buffet standen verschiedene Sorten kalten Fleisches, ferner Obsttörtchen und Wein in Flaschen. Mehrere Glaskrüge auf dem Tisch enthielten eine Art Bowle. Mr. Parham dachte, einem schlichten Gelehrten und Gentleman gezieme es, die Weine des Plutokraten zu verachten und gewöhnliches Bier aus einem Deckelkruge zu trinken. Als das Mahl vorüber war, verschwand mehr als die Hälfte der Teilnehmer, darunter auch die hübsche Sekretärin, deren Gesicht Mr. Parham zu interessieren begonnen hatte; die übrigen folgten Sir Bussy in einen großen, niedrigen Raum, wo Zigarren und Zigaretten, sowie Kaffee und Liköre herumgereicht wurden.
»Wir fahren mit Tremayne nach diesem Tennisplatz«, verkündeten die hübschen Mädchen wie aus einem Munde.
»Doch nicht Lord Tremayne!« dachte Mr. Parham und betrachtete den Mann von riesenhaftem Leibesumfang mit neuem Interesse. Lord Tremayne war nämlich im Christ’s College zu Cambridge gewesen.
»Wenn er nach dem Mittagessen, das er eben verzehrt hat, mit Keulen und harten Bällen Tennis spielt, wird ihn der Schlag treffen«, meinte Sir Bussy.
»Sie unterschätzen die Leistungsfähigkeit meines Verdauungsapparates«, sagte der umfangreiche Herr.
»Trinken Sie einen Kognak, Tremayne, und dann frisch ans Werk«, sagte Sir Bussy.
»Kognak!« rief Tremayne einem vorübergehenden Diener zu. »Einen Doppelkognak.«
»Bringen Sie Lord Tremayne einen alten Kognak«, befahl Sir Bussy.
Es war also wirklich Lord Tremayne! So dick geworden! Mr. Parham war bereits Tutor gewesen, als Lord Tremayne, damals ein reizender schlanker Jüngling, nach Cambridge gekommen war. Allzu lange hatte sein Aufenthalt in der Universitätsstadt nicht gedauert, doch war er in der kurzen Zeit sehr bewundert worden.
Die drei gingen ab, und Sir Bussy kam auf Mr. Parham zu.
»Haben Sie für heute nachmittag etwas vor?« fragte er.
Mr. Parham hatte nichts Unaufschiebbares zu erledigen.
»Dann wollen wir uns ein paar Bilder anschauen gehen«, sagte Sir Bussy. »Ich möchte das sehr gerne. Ist es Ihnen recht? Sie scheinen von Bildern etwas zu verstehen.«
»Es gibt so viele Bilder«, meinte Mr. Parham in belustigtem Ton und lächelnd.
»Ich meine, wir wollen in die National Gallery. Vielleicht auch in die Tate Gallery. Auch die Academy ist noch geöffnet. Überdies können wir zu dem einen oder dem anderen Kunsthändler gehen. Wir wollen uns so viel ansehen, wie uns nötig scheint. Ich möchte einen allgemeinen Überblick bekommen. Und Ihre Ansicht kennen lernen.«
Während sein Rolls-Royce in glatter rascher Fahrt westwärts rollte, legte Sir Bussy den Zweck des Ausflugs klarer dar. »Ich möchte einen Begriff von der ganzen Malerei bekommen«, sagte er. »Welchen Sinn hat sie? Und welchen Zweck? Wie sind die Menschen dazu gekommen? Und was bedeuten ihnen die Gemälde? All die Gemälde?«
Seine Mundwinkel waren herabgezogen, und er blickte seinem Gefährten mit einem sonderbaren Gemisch von Feindseligkeit und flehender Wißbegier ins Gesicht.
Mr. Parham bedauerte, daß er sich auf diese Unterredung nicht hatte vorbereiten können. Er zeigte Sir Bussy sein Profil.
»Was ist die Kunst?« sagte er, um Zeit zu gewinnen. »Eine große Frage.«
»Nicht die Kunst – nur die Malerei«, verbesserte Sir Bussy.
»Das ist eben die Kunst«, sagte Mr. Parham. »Die Kunst in ihrer ureigensten Wesensart. Ein unteilbares Ganzes.«
»Nu«, sagte Sir Bussy leise, und seine Miene wurde noch erwartungsvoller.
»Vielleicht ist die Malerei die Quintessenz der Kunst«, meinte Mr. Parham tastend. Er schüttelte die erhobene Hand, eine Bewegung, die ihm unter seinen Studenten den ungerechten und häßlichen Spitznamen »Langfinger« eingetragen hatte. In Wirklichkeit waren seine Hände sehr wohlgeformt. »Sie bemüht sich, uns alles Liebliche und Schöne rings um uns in konzentrierter Form vor Augen zu führen.«
»Das Schöne sollen wir wirklich suchen«, warf Sir Bussy ein.
»Und es festhalten. Ihm eine dauernde Form geben.«
Nach einer Pause des Nachdenkens hob Sir Bussy aufs neue zu sprechen an. Und zwar sprach er mit einer Miene, als ob er einen lange unterdrückten Gedanken in Worte zu kleiden versuche. »Wollen uns die Maler nicht am Ende etwas weismachen – uns übertölpeln? Ich dachte mir – neulich abends – während Sie sprachen … es kam mir nur so in den Sinn …«
Mr. Parham betrachtete seinen Gefährten von der Seite. »Nein«, sagte er langsam und nachdrücklich, »ich glaube nicht, daß sie uns etwas weismachen.« Der leise Beigeschmack von Ironie, den er dem letzten Worte gab, war an Sir Bussy verloren.
»Davon möchte ich mich eben überzeugen.«
Es war der seltsame Anfang eines seltsamen Nachmittages – eines Nachmittages mit einem Barbaren. Der aber unbestreitbar »einer unserer Eroberer war«, wie Sebright Smith gesagt hatte. Kein Barbar, den man einfach übersehen konnte. Er kämpfte für sein Barbarentum gleich einem Bullenbeißer. Mr. Parham war überrascht worden. Indes der Nachmittag fortschritt, wünschte er immer sehnlicher, daß er sich auf die so dringlich an ihn gestellte Frage hätte vorbereiten können. Dann hätte er bestimmte Bilder herausgreifen und einen wohlgeordneten Vortrag halten können. So aber mußte er aufs Geratewohl zu Werke gehen. Anstatt in regelrechtem Kampf für die Kunst und ihre erhabenen Wunder einzutreten, sah er sich in der Lage eines Heerführers, der zu den Waffen gerufen wird, während der Feind schon ins Lager gedrungen ist. Es war eine zerstückte Diskussion.
Sir Bussys Haltung war, soweit Mr. Parham aus seiner abgerissenen und ungebildeten Ausdrucksweise schließen konnte, die eines wißbegierigen Zweiflers. Der Mann war ungebildet – über alle Maßen ungebildet – doch fehlte es ihm nicht an natürlicher Klugheit. Die Ehrerbietung, die alle Menschen von Verstand und Geschmack den großen Meistern auf dem Gebiete der Malerei zollen, hatte offenbar tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und er konnte nicht begreifen, warum man sie so überaus hoch pries. Er wollte eine Erklärung dafür. Es war offenkundig eine starke Wißbegier in ihm lebendig. Heute verlangte er, über Michelangelo und Tizian belehrt zu werden. Morgen mochte Beethoven oder Shakespeare an die Reihe kommen. Mit dem seit langem feststehenden Ansehen ließ er sich nicht abspeisen. Es gab für ihn kein unerschütterlich feststehendes Ansehen. Die Anerkennung, die Generationen jenen Formen der Größe gezollt hatten, mußte man völlig aus dem Spiele lassen.
Er schritt die Stufen zum Eingang der National Gallery so rasch und sicher empor, daß Mr. Parham der Gedanke kam, er müsse schon dagewesen sein. Und ohne zu zögern, begab er sich zu den Italienern.
»Also, hier haben wir Bilder«, sagte er, indem er raschen Schrittes von einem Saal zum andern weitereilte und erst im größten halt machte. »Sie sind recht nett und interessant. Die meisten wenigstens. Sehr viele haben strahlende Farben. Sie könnten vielleicht noch strahlender sein. Man merkt, welche Freude es den Kerlen bereitet haben muß, die Bilder zu machen. Das gebe ich alles gerne zu. Ich hätte nicht das Geringste dagegen, wenn etliche von den Dingern im Carfex House hingen. Ich hätte sogar Lust, selber so ein bißchen herumzupinseln. Wenn aber behauptet wird, daß noch etwas ganz anderes in diesen Bildern steckt, und wenn man so ehrfurchtsvoll von ihnen spricht, als ob die Maler Gott weiß was gewußt und es uns verkündet hätten, so verstehe ich das nicht. Nein, wahrhaftig, ich verstehe es nicht.«
»Hier aber zum Beispiel«, sagte Mr. Parham, »dieser Francesca – göttlich ist doch gewiß nicht zu viel gesagt für solche Süße und Zartheit.«
»Süße und Zartheit! Göttlich! Nehmen Sie einen Frühlingstag in England, nehmen Sie den Flaum auf der Brust eines Fasans oder einen Sonnenuntergang oder das Morgenlicht, das ein Glas mit Blumen auf dem Fensterbrett bescheint. Dinge dieser Art sind ganz gewiß unendlich viel süßer, zarter, göttlicher und so weiter als all dies – dies gepfefferte Machwerk hier.«
»Gepfeffert!« Einen Augenblick lang war Mr. Parham überwältigt.
»Es ist eine gepfefferte Schönheit«, sagte Sir Bussy herausfordernd. »Eine gepfefferte Lieblichkeit, wenn Sie wollen … Und recht viele unter den Dingern sind gar nicht so sehr schön und nicht einmal besonders gut, was das Gepfeffertsein anbelangt.«
Sir Bussy benutzte die Fassungslosigkeit Mr. Parhams, um ihm weiter zuzusetzen. »All diese Madonnen. Wollten die Kerle sie malen oder wurden sie dazu gezwungen? Wer hat je Geschmack an einer Frau gefunden, die so patzig auf einem Thron sitzt?«
»Gepfeffert!« Mr. Parham blieb bei der wesentlichen Frage. »Nein!«
Sir Bussy wurde plötzlich erwartungsvoll, ließ die Mundwinkel sinken und schob den Kopf seitwärts an Mr. Parham heran.
Mr. Parham schüttelte die erhobene Hand und fand das Wort, das er suchte. »Wunderbar Schönes ist da ausgewählt worden.«
Es gelang ihm noch besser. »Wunderbar Schönes ist auserlesen und festgehalten worden. Diese Menschen gingen auf der Welt umher und sahen – sahen mit all ihrer Kraft. Sahen aus einer außerordentlichen Begabung heraus. Sie waren zum Sehen geboren. Und sie versuchten – meiner Ansicht nach mit Erfolg – etwas von ihren stärksten Eindrücken festzuhalten. Uns wiederzugeben. Die Madonna war oft – war in der Regel – nichts weiter als ein Vorwand …«
Sir Bussys Mund wurde wieder normaler, und er wandte sich mit einem Ausdruck größeren Respekts aufs neue den Bildern zu. Er wollte sie von jenem Gesichtspunkt aus auf sich wirken lassen. Doch dauerte seine prüfende Betrachtung nicht lange.
»Dies da«, sagte er, indem er zu dem Gegenstand ihrer ersten Diskussion zurückkehrte.
»Francescas Taufe Christi«, hauchte Mr. Parham.
»Meiner Meinung nach ist da keine Auswahl getroffen: es ist vielmehr ein Vielerlei. Alles mögliche, was er eben gerne malen wollte. Der Hintergrund macht Spaß, aber nur, weil er einen an Dinge erinnert, die man schon gesehen hat. Nein, ich werde mich nicht anbetend davor niederknien. Und die meisten anderen …«
Er schien die gesamten Schätze der National Gallery zu meinen.
»… sind weiter nichts als Malerei.«
»Das muß ich bestreiten«, sagte Mr. Parham. »Das muß ich bestreiten.«
Er führte die feine Farbgebung Filippo Lippis ins Treffen, die Erhabenheit, Anmut und klassische Lieblichkeit Botticellis; er sprach von Reichtum des Ausdrucks, anatomischem Wissen und Virtuosität; schließlich gipfelte seine Rede in einem Hinweis auf die unendlich feierliche Schönheit der Madonna in der Felsengrotte von Leonardo. »Sehen Sie den geheimnisvollen, den heiteren und doch geheimnisvollen Ausdruck in dem beschatteten Gesichte jener Frau; die süße Weisheit in der selbstzufriedenen Miene des Engels«, sagte Mr. Parham. »Malerei! Es ist eine Enthüllung.«
»Nu«, sagte Sir Bussy, den Kopf zur Seite gelegt.
Gleich einem widerspenstigen Kinde ließ er sich von Bild zu Bild führen. »Ich sage ja nicht, daß die Sachen schlecht sind«, wiederholte er; »ich gebe zu, daß sie mich interessieren; aber ich sehe keinen Anlaß, sie so übermäßig zu loben. Man wird an alles mögliche erinnert, aber doch nur an Dinge, die man eben in sich hat. Alles in allem sind es gewiß kluge und tüchtige Arbeiten, doch soll mich der Kuckuck holen, wenn ich etwas Göttliches darin finden kann.«
Überdies machte er der Kultur ein sonderbar ungnädiges Zugeständnis. »Nach einer Weile«, meinte er, »gewöhnt man sich an das Zeug. So wie man sich im Kino allmählich an die Dunkelheit gewöhnt.«
Es wäre langweilig, wenn wir berichten wollten, wie jeder einzelne der Kunstschätze auf ihn wirkte, die unserem Geiste ein so teures Erbe sind. Raphael erklärte er als »verflixt fein«. Gegen El Greco lehnte er sich auf. »Diese byzantinische Feierlichkeit« – das Wort war Mr. Parham nachgesprochen – »erinnert mich an das langgezogene Gesicht, das man hat, wenn man sich in der Hinterseite eines Löffels beguckt.« Vor Tintorettos Ursprung der Milchstraße geriet er jedoch fast in Begeisterung. »Nu«, sagte er warm. »Das ja! Es ist nicht sehr anständig, aber es ist verflixt hübsch.«
Er kehrte um und besah das Bild noch einmal.
Vergebens versuchte Mr. Parham, ihn an der Venus mit dem Spiegel vorüberzulocken.
»Wer hat das gemacht?« fragte er, als ob er irgend einen Argwohn gegen Mr. Parham hege.
»Velasquez.«
»Also, welcher wesentliche Unterschied besteht zwischen dem da und einer guten großen Photographie einer nackten Frau, koloriert und so gestellt, daß der Anblick einen aufregt?«
Mr. Parham schämte sich ein wenig, daß er ein so primitives Problem an einem öffentlichen Ort und noch dazu hörbar erörtern mußte, doch Sir Bussy betrachtete ihn mit einem ihm eigenen Ausdruck der unbewußten Drohung, der eine Antwort erzwang.
»Die beiden Dinge sind nicht in einem Atem zu nennen. Eine Photographie ist materiell, beruht auf Tatsachen, ist persönlich, individuell. Hier handelt es sich um Schönheit, die entzückenden Linien eines schlanken menschlichen Körpers sind einfach nur das Thema einer vollendeten Komposition. Der Körper wird transzendental. Er ist sublimiert. Er ist frei von allen individuellen Mängeln und aller individuellen Roheit.«
»Unsinn! Die Frau da ist sehr individuell – individuell genug für jedermann.«
»Ich bin nicht dieser Meinung. Ich bin durchaus nicht dieser Meinung.«
»Nu! Ich habe ja an dem Bilde gar nichts auszusetzen, nur kann ich das Transzendentale und Sublimierte darin nicht sehen. Ich mag es gerne – ebenso wie ich den Tintoretto da drüben gerne mag. Aber eine schöne nackte Frau ist immer und überall schön, besonders wenn man in der nötigen Stimmung ist, und ich sehe nicht ein, warum ein armer kleiner Händler, der auf der Straße unzüchtige Bilder feilbietet, eingesteckt werden soll: er verkauft doch nur just das, was hier jedermann betrachten kann! Und nicht nur betrachten kann man’s, man kann sich im Vestibül auch Photographien davon kaufen. Ich habe nichts gegen die Kunst, ich kann es nur nicht leiden, wenn sie gar so groß tut. Es ist, als ob sie zum Diner im Buckingham Palace eingeladen worden wäre und sich nun nicht mehr mit ihren armen Verwandten sehen lassen wollte. Die aber ebenso viel Existenzberechtigung haben wie sie.«
Mr. Parham ging mit einem Gesichtsausdruck weiter, der andeuten sollte, daß die Diskussion auf üble Abwege geraten sei.
»Ob wir Zeit haben, auch noch in die Tate Gallery zu gehen?« erwog er. »Dort werden Sie die britische Schule finden und den wilden Nachwuchs, der sich noch nicht ganz durchgesetzt hat.« Er vermochte ein feines, kaum merkbares Hohnlächeln nicht zu unterdrücken. »Die Bilder dort sind neuer. Vielleicht werden sie Ihnen deshalb besser gefallen.«
Sie besuchten tatsächlich auch noch die Tate Gallery. Sir Bussy hatte dort zwar keine weiteren Einwände gegen die Kunst vorzubringen, konnte sich aber auch nicht mit ihr aussöhnen. Sein wesentlichstes Urteil ging dahin, daß Augustus John »Courage« habe. Als er und Mr. Parham das Gebäude verließen, schien er in Nachdenken versunken; dann äußerte er, was offenbar die nunmehr in seinem Innern ausgereifte Antwort auf die Frage war, die er sich für jenen Nachmittag gestellt hatte.
»Ich glaube nicht, daß die Malerei einen irgendwohin führt. Oder aus irgend etwas herausreißt. Sie bedeutet weder eine Entdeckung noch eine Befreiung. Die Leute reden so von ihr, als ob sie uns den Weg in eine bessere Welt zeigte. Sagen Sie ehrlich: tut sie das?«
»Sie hat das Leben ungezählter still beobachtender Menschen bereichert und verschönt.«
»Das kann das Cricketspiel auch«, meinte Sir Bussy.
Mr. Parham wußte auf eine solche Bemerkung keine Antwort zu geben. Einige kurze Augenblicke lang schien es ihm, als ob der Nachmittag durchaus verfehlt wäre. Er hatte sein Bestes getan, doch dieser Sir Bussy war verstockt und schwer zu beeinflussen; es war ihm, das fühlte er, nicht im geringsten gelungen, dem Mann die Idee der Kunst zu übermitteln. Stillschweigend standen sie im Licht des Abendrots nebeneinander und warteten, bis Sir Bussys Chauffeur merkte, daß sie aufgetaucht waren. Dieser Plutokrat, dachte Mr. Parham, wird mich nie verstehen, wird niemals begreifen, welches die Ziele der wahren Zivilisation sind, und niemals die Zeitschrift finanzieren, die ich brauche. Ich muß höflich und gelassen freundlich bleiben, wie es einem gebildeten Menschen geziemt, aber ich habe Zeit und Hoffnung an ihn verschwendet.
Im Wagen zeigte sich Sir Bussy jedoch ganz unerwartet dankbar, und Mr. Parham erkannte, daß sein Pessimismus verfrüht gewesen sei.
»Ich habe diesen Nachmittag sehr genossen«, sagte Sir Bussy. »Es waren schöne Stunden. Sie haben mein Interesse erweckt. Vieles von all dem, was Sie mir über die Kunst gesagt haben, werde ich mir gut merken. Und wir waren sehr fleißig. Ein Bild nach dem andern haben wir aufmerksam betrachtet. Ich glaube, ich habe Ihre Ansicht begriffen – ja, das glaube ich wirklich. Neulich abends sagte ich mir: ›Ich muß der Ansicht dieses Mannes auf den Grund kommen. Er ist erstaunlich.‹ Ich hoffe, daß ich noch oft das Vergnügen haben werde, mit Ihnen zusammen zu sein und Ihre Ansichten näher kennen zu lernen … Liegt Ihnen an hübschen Frauen?«
»Hm?« machte Mr. Parham.
»Liegt Ihnen an hübschen Frauen?«
»Der Mensch ist sterblich«, sagte Mr. Parham im Tone eines Beichtenden.
»Es würde mich außerordentlich freuen, wenn Sie an einer Abendgesellschaft teilnehmen wollten, die ich im Hotel Savoy gebe. Nächsten Donnerstag. Es wird die ganze Nacht hindurch gegessen, getrunken und getanzt. Alles, was es auf den Londoner Bühnen Hübsches gibt, wird da sein und sich im besten Lichte zeigen.«
»Ich bin kein Tänzer, müssen Sie wissen.«
»Ich auch nicht. Sie aber sollten Stunden nehmen. Sie haben die langen Beine, die ein guter Tänzer braucht. Doch können wir jedenfalls miteinander in einer gemütlichen Ecke sitzen, und Sie erzählen mir dann etwas über die Frauen. So wie Sie mich über die Kunst belehrt haben. Ich bin immer viel zu sehr beschäftigt gewesen, möchte aber seit jeher etwas über die Frauen wissen. Und so oft es Ihnen langweilig wird, können Sie sich eine Dame aussuchen und mit ihr in den Speisesaal gehen, um etwas zu essen oder zu trinken. Es sind immer ihrer genug da, die sich gern in den Speisesaal führen lassen. Auch wird mit Essen und Trinken nicht geknausert.«