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5. Kapitel

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Mit einem triumphierenden Lächeln steckte Beate Holzapfel den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür. Sie war soeben über sich selbst hinausgewachsen. Für andere Sportler wären die 500 Meter, die ihre ebenerdige Wohnung vom Briefkasten entfernt lag, nicht mehr als ein Fliegenschiss. Beate hatte, für ihre Verhältnisse, soeben einen Halbmarathon hingelegt. Noch immer etwas außer Atem lehnte sie den Carbon-Gehstock gegen die Flurwand und streifte die Jacke ab. Dabei fiel ihr Blick in den Spiegel, der neben der weißen Garderobe hing. Beate verzog den Mund automatisch zu einer Grimasse. Dann atmete sie einmal tief durch und konfrontierte sich nochmals mit ihrem Spiegelbild. Ihre Psychotherapeutin und sie arbeiteten seit mehr als fünf Jahren daran, dass sie ihr neues Ich endlich akzeptierte. Mit ihrem jetzigen Aussehen zurechtkam. Ob es ihr gefiel, spielte dabei keine Rolle. Sie musste lernen, mit dem, was geschehen war, zu leben.

Beate zog den langen, schräg geschnittenen Pony über die Narbe auf der Stirn. Der dicke Wulst an rotem, wucherndem Fleisch war dank mehrerer Operationen zu einem drei Millimeter breiten weißen Strich geschrumpft. Mit geschickt aufgetragenem Make-up bemerkten Leute, die nichts von ihrem Unfall wussten, den Makel meist überhaupt nicht. Der Rest von ihrem Gesicht – nun, das war eine andere Sache.

Vor dem Tag, an dem sich ihr ganzes Leben geändert hatte, war Beate nicht nur eine begnadete Turnerin, sondern auch eine richtige Schönheit gewesen. Mit ihrem herzförmigen Gesicht, den hoch liegenden Wangenknochen, der geraden Nase, dem sinnlichen Mund und den strahlend blauen Augen hatte sie allen Jungen im Landeskader sowie ihren Trainern den Kopf verdreht. Obwohl sie das gar nicht nötig hatte. Beate Holzapfel war die geborene Turnerin: Auf dem Schwebebalken tänzelte sie wie eine Ballerina, den Stufenbarren beherrschte sie wie keine andere, beim Sprung flog sie einer Feder gleich durch die Lüfte und auf der Bodenmatte zeigte sie sich als wahre Akrobatin. Beate war auf dem besten Weg, in den Olympiakader aufgenommen zu werden. Bis, ja, bis zu jener Nacht kurz vor ihrem 17. Geburtstag. Als sie plötzlich im Straßengraben lag, aus einer klaffenden Wunde auf der Stirn blutete, halbseitig gelähmt war und es nicht einmal merkte. Beate hatte, bedingt durch die schwere Schädel-Hirn-Verletzung, vier Jahre im Wachkoma gelegen. Dass sie es überhaupt zurück ins Leben geschafft hatte, grenzte an ein Wunder.

Beate atmete tief durch und streckte die Zunge heraus. »Hallo, funny face!«

Die Medikamente und die vielen Jahre, in denen sie zum körperlichen Nichtstun verdammt gewesen war, hatten ihre Spuren hinterlassen. Wenn Beate sich auf Fotos von früher sah, erkannte sie sich selbst fast nicht wieder. Nur ihre blauen Augen, die hatten nichts an Strahlkraft eingebüßt. Sie zeugten von Optimismus. Trotz allem. Alle Rückschläge, alle Niederlagen hatten ihren starken Willen nicht brechen können. In Beates Brust steckte das Herz einer Kämpferin. Mit eiserner Disziplin hatte sie sich aus dem Rollstuhl einen Weg in die Freiheit gebahnt. Denn Beate hatte ein Ziel: Sie wollte Rache. Endlich Genugtuung. Um jeden Preis.

»Beeil dich! Das Essen ist gleich fertig!«, rief Jörg aus der Küche. Er stand am Herd und rührte in einem Topf mit Tomatensoße. Die abgegossenen Spaghetti standen bereits in einer abgedeckten Schüssel auf dem Esszimmertisch.

Beate hauchte Jörg einen Kuss auf den Haaransatz im Nacken. Er hatte das Gewicht auf sein gesundes Bein verlagert, weil die neue Unterschenkelprothese drückte. Bis die Prothese richtig saß, war eine Menge Anpassungsarbeit notwendig.

»Es duftet himmlisch«, sagte Beate.

»Setz dich schon mal hin! Ich komme gleich mit der Soße«, erwiderte Jörg und lächelte.

Er besaß die beneidenswerte Gabe, das, was vorher war, nicht mit dem, was nachher kam, zu vergleichen. Er schaute nicht zurück. Jörg hatte sich während ihres gemeinsamen Aufenthaltes in der Rehaklinik in Beate verliebt. Wie sie vor ihrem Unfall, vor den vielen chirurgischen Eingriffen ausgesehen hatte, interessierte ihn nicht. Für ihn zählte nur das Hier und Jetzt. Eine winzige Unachtsamkeit auf dem Weg ins freie Wochenende hatte Jörg gezeigt, wie schnell das Leben vorbei sein konnte. Sein bester Freund Max, der hinter ihm auf der Moto Guzzi saß, hatte den Motorradunfall nicht überlebt. Jörg dagegen hatte »nur« den rechten Unterschenkel samt Fuß eingebüßt. Im Vergleich zu Max’ Schicksal ein, wie Jörg fand, geringer Preis.

Jörg zog den Topf vom Herd und humpelte zum Esstisch.

»Wollen wir morgen eine kleine Wanderung machen?«, schlug Beate vor, während sie ein paar Spaghetti um ihre Gabel wickelte.

Jörg warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Du willst wandern? Ist das nicht ein bisschen früh?«

»Nun ja«, erwiderte Beate, nachdem sie die Spaghetti hinuntergeschluckt hatte. »Wandern ist vielleicht zu viel gesagt. Aber ich muss lernen, mit dem Stock auch in unebenem Gelände klarzukommen.«

»Eins nach dem anderen«, bremste Jörg ihren Übereifer. »Lass uns morgen eine Runde um den Teich im Hermannshof-Garten drehen! Die Ärzte haben dich davor gewarnt, dich zu schnell zu überanstrengen. Oder willst du zurück in den Rollstuhl?«

»Niemals!«, brachte Beate keuchend hervor.

»Siehst du.« Jörg gab etwas geriebenen Parmesan über seine Spaghetti. »Wir gehen morgen in den Park und bewundern die Frühlingsblüher. Der Rest wird sich finden.« Er gab Beate einen liebevollen Nasenstüber. »Und jetzt iss weiter, bevor alles kalt wird!«

Beate tat, als ob sie sich mit Jörgs Vorschlag einverstanden zeigte. Insgeheim überlegte sie jedoch, wie sie so schnell wie möglich in den Odenwald gelangen könnte. Sie musste das Gelände auskundschaften. Und ihre wackligen Beine an das Gehen über Stock und Stein trainieren. Denn Beate wusste: Ohne ihr entschlossenes Handeln würde sich nichts finden oder lösen. Sie musste aktiv werden. Und bleiben.

»Kann mir vielleicht jemand verraten, was das soll?« Kriminalrat Doktor Kuno Wölfelschneider blickte anklagend in die im Besprechungszimmer der Regionalen Kriminalinspektion Heppenheim versammelte Runde.

Kriminalhauptkommissar Gunter Haase unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen. »Es tut mir aufrichtig leid, aber ich habe mir den Samstagnachmittag auch anders vorgestellt«, wagte er einzuwenden. Seine langen Beine steckten noch immer in der mit Erde verschmierten Jeans, die er bei der Holzpflockaktion auf dem Atzeldoalhof getragen hatte. Sein hellgraues T-Shirt war verschwitzt. Aber was hätte er tun sollen? Nach Charlies Anruf blieb keine Zeit, die Klamotten zu wechseln. Da hatten andere Aufgaben Priorität.

Doktor Kuno Wölfelschneider sah dagegen wie aus dem Ei gepellt aus: Statt Freizeitlook trug er einen dreiteiligen Anzug in feinstem schottischen Lovat Tweed. Die dunkelbraun-blauen Dreifachstreifen auf dem in Brauntönen gewebten Tweedstoff waren in Sachen Countrymode für den britischen Gentleman zwar der letzte Schrei, weckten in Gunter Haase jedoch Erinnerungen an einen Motorradurlaub in den schottischen Highlands, in dem es unaufhörlich geregnet hatte. So schlecht wie das Wetter war damals auch die Laune seiner Freundin gewesen; sie hatte ihm anschließend den Laufpass gegeben. Der Gesichtsausdruck des Kriminalrates verhieß ebenfalls nicht Gutes.

»Sie wagen es, mich wegen einer Lappalie von einem Polomatch im Georghof wegzuholen? Mitten im vierten Chukker, als wir gerade in Führung lagen?«, polterte Doktor Wölfelschneider los.

Timo Keil, der vor Eile vergessen hatte, den Fahrradrucksack vom Rücken zu nehmen, warf seinem Vorgesetzten einen anerkennenden Blick zu. »Sie meinen, Sie haben auf einem Polopferd gesessen und mit dem Schläger auf den Ball eingedroschen?«

Doktor Wölfelschneider zog die Tweedweste mit den fünf braunen Hornknöpfen zurecht, die auf seinem Bauchansatz nach oben wanderte. »Natürlich nicht! Ich gehöre zu den Sponsoren des Clubs.«

»Ach so.« Timo Keil wirkte sichtlich enttäuscht.

Gunter Haase verkniff sich trotz des Ernstes der Lage ein Grinsen. Seitdem Inge Wölfelschneider ihren Gatten über Weihnachten und Silvester in ein luxuriöses Landhotel in die Grafschaft Devon entführt hatte, machte der Kriminalrat auf britische High Society. Zum Anzug trug er eine optisch passende Fliege, seine Füße steckten in handgefertigten Oxford Boots. Die Gerüchteküche in der Regionalen Kriminalinspektion kolportierte, dass es dem Kriminalrat nach einem Landhaus im Hochtaunuskreis als Zweitwohnsitz gelüstete. Gunter Haase fragte sich, wann das erste Teegeschirr aus Silber in das Büro des Kriminalrats einziehen würde. Die venezianischen Masken, die bisher dort die Wände verziert hatten, waren seit Kurzem verschwunden.

»Den Mord an einer jungen Frau würde ich nicht gerade als Lappalie bezeichnen«, meldete sich Kriminalkommissarin Martina Lohse zu Wort. In ihrem schwarzen, zu einem kurzen Pixie Cut geschnittenen Haar waren helle Farbspritzer auszumachen. Gunter Haases Telefonanruf hatte sie beim Renovieren erwischt.

»Wieso eine Leiche?« Kriminalrat Wölfelschneider runzelte irritiert die buschigen grauen Augenbrauen.

»Das Bobbelsche, äh, ich meine Frau Knapp, hat bei einer Wanderung im Odenwald eine Tote entdeckt«, bemühte sich Gunter Haase, den Sachverhalt richtigzustellen.

»Schon wieder dieser Odenwald!«, stöhnte Doktor Wölfelschneider auf.

»Und schon wieder die Frau Knapp«, fügte Kriminalkommissar Franz-Josef – Frajo – Helferich mit einem breiten Grinsen hinzu. »Unsere verehrte Hobbyermittlerin zieht anscheinend die Leichen an wie ein Haufen Kuhdung die Schmeißfliegen.«

»Ich glaub nicht, dass sie das mit Absicht macht«, murmelte Martina Lohse. Nachdem Charlie im letzten Mordfall als Einzige die richtigen Rückschlüsse gezogen und das Geflecht aus Lügen und Intrigen aufgedeckt hatte, behandelte die Kriminalkommissarin die Juristin vom Atzeldoal­hof mit Hochachtung. Außerdem waren sich die beiden Frauen auf Anhieb sympathisch gewesen.

»Nun reden Sie nicht so lange um den heißen Brei herum! Was hat es mit dieser Odenwälder Sache auf sich?« Doktor Kuno Wölfelschneider wurde zusehends ungehaltener. »Am Telefon hat man mir erklärt, dass es sich um einen tragischen Wanderunfall handelt. Der definitiv weder in meine noch in Ihre Zuständigkeit fällt.«

»Im Odenwald fliegen die Messer halt tief«, murmelte Timo Keil. »Wenn man sich nicht schnell genug duckt, dann: zack!« Zur Verdeutlichung fuhr er mit dem Handrücken an seiner Kehle entlang.

Martina Lohse warf dem jungen Kollegen einen genervten Blick zu.

»Lasst uns systematisch vorgehen!«, schlug Gunter Haase vor. »Am besten ist, wir tragen das zusammen, was wir schon wissen.«

Die Kollegen nickten.

»Ich fang mal an, weil ich als Erster davon erfahren habe.« Gunter Haase stellte sich vor die mit magnetischer Whiteboard-Farbe bestrichene Wandfläche und schrieb »Telefoneingang: 12.27 h« sowie »Fundort: Kapellenruine Lichten­klingen, Eiterbachtal« in schwarzen Lettern an die Wand.

»Opfer weiblich, zwischen 30 und 35 Jahre alt, voraussichtliche Todesursache: Schnitt in die Halsgefäße, dabei Durchtrennung der Hauptschlagadern«, diktierte Martina Lohse.

Doktor Kuno Wölfelschneider verzog angewidert das Gesicht.

»Was mich wundert«, warf Frajo Helferich ein, »ist das wenige Blut, das wir beim Opfer ausmachen konnten. Ich meine, bei so einem Halsschnitt, da spritzt das Blut doch wie bei einem Springbrunnen heraus.«

»Du liest zu viele drittklassige Kriminalromane!«, rügte Gunter Haase den Kollegen. »Ich schätze, dass Ulf von der Spurensicherung uns später Näheres dazu sagen wird. Aber ich habe den Eindruck, dass der Täter genau wusste, was er tut.«

»Ach ja?«, meinte Frajo Helferich skeptisch.

»Nach der jetzigen Spurenlage müssen wir uns das Geschehen, meiner Meinung nach, so vorstellen«, Gunter Haase blickte in die Runde. »Der Täter oder die Täterin nähert sich dem Opfer mit dem Messer von hinten. Mit einem einzigen Schnitt durchtrennt er die Halsschlagadern. Das Blut tritt in großem Schwall aus, wodurch das Opfer quasi augenblicklich bewusstlos wird. Der Täter legt sein Opfer auf den Boden, dreht die Schnittstelle am Hals nach unten, sodass das Blut nicht, wie Frajo annahm, durch die Gegend spritzt, sondern in den Boden sickert. Die von der Spurensicherung genommenen Proben werden das mit Sicherheit beweisen.«

»Mag sein. Ich habe trotzdem das Gefühl, dass wir am Tatort zu wenig Blut gefunden haben.« Frajo Helferich setzte einen störrischen Gesichtsausdruck auf. »An dem Kleid waren doch nur ein paar wenige Tropfen.«

»Weil sie das Kleid zum Zeitpunkt ihres Todes nicht getragen hat«, stellte Martina Lohse fest.

Timo Keil, der bis dahin an einem losen Fetzen Nagelhaut geknibbelt hatte, blickte erstaunt auf. »Meinst du etwa, dass das Opfer nackt war, als es ermordet wurde? Kann doch nicht sein! Wer rennt schon nackt im Odenwald rum?«

Doktor Wölfelschneider musste unvermittelt an die Herrenabende in der Freiluftsauna seines Freundes Kurt-Albert am Breitenbach denken und nestelte an seiner Tweedfliege.

»Herr, schmeiß Hirn!«, entfuhr es Martina Lohse. »Selbstverständlich war das Opfer nicht nackt. Der Täter hat die Frau in ihren normalen Klamotten überfallen und ermordet. Dann hat er sie ausbluten lassen und das Blut abgewaschen. Genügend Wasser stand ihm ja durch den Brunnen zur Verfügung. Nach dem Waschen hat er ihr das Kleid angezogen und sie zurechtgemacht.«

»Sind inzwischen andere Kleidungsstücke vor Ort gefunden worden?«, wollte Frajo Helferich wissen. »Die Kollegen von der Polizeistation sind doch noch im Einsatz, oder?«

»Bis jetzt haben sie nichts gefunden.« Gunter Haase fuhr sich mit dem Handballen über die hohe Stirn, hinter der sich ein pochender Schmerz bemerkbar machte. »Von der Mordwaffe fehlt leider auch noch jede Spur.«

»Wissen Sie überhaupt schon was?«, blaffte Doktor Wölfelschneider den Hauptkommissar an.

»Wir sind gerade erst vom Tatort zurückgekommen«, versuchte Gunter Haase, sich zu rechtfertigen. »Mit der Auswertung der Spuren und dem Bericht des Pathologen können wir frühestens morgen Abend, realistischerweise wohl eher am Montag rechnen. Schließlich haben wir Wochenende.«

»Eben.« Timo Keil verschränkte vielsagend die Arme vor der Brust.

»Noch mal zum Blut und zum Kleid zurück.« Frajo Helferich zeigte sich beharrlich. »Wenn eure Vermutungen stimmen, hat der Täter das Opfer zuerst ermordet und im Anschluss ganz großes Kino veranstaltet: Er hat sie fein säuberlich gewaschen und ihr das mitgebrachte Kleid angezogen. Dann hat er das viele Grün, die Blumen und die Blumenkrone, die Kerzen und die Fähnchen arrangiert. Alles farblich perfekt aufeinander abgestimmt, nichts dem Zufall überlassen. Damit will er der Welt an sich, ergo auch uns, doch was sagen, nicht wahr?«

»Mit Sicherheit ist das eine Botschaft. Die Frage ist nur, welche«, murmelte Gunter Haase.

»Für mich hat die Frau wie eine Jungfrau oder Madonna ausgesehen«, bemerkte Martina Lohse. »Dieses Bild will er für die Nachwelt hinterlassen.«

»Ich hatte sogar den Eindruck«, erinnerte sich Gunter Haase, »dass ihre Zehen- und Fingernägel frisch lackiert waren. Das muss der Täter nach ihrem Tod gemacht haben. Lippenstift hat er ebenfalls aufgetragen.«

Timo Keil verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. »Wie krank ist das denn?«

Doktor Wölfelschneider nickte. »Da muss ich Ihnen ausnahmsweise einmal recht geben.«

»Der Täter scheint ein Pedant zu sein«, sagte Frajo Helferich.

»Das alles hat viel Zeit in Anspruch genommen. Woher konnte der Täter sicher sein, dass er nicht gestört wird?«, wunderte sich Gunter Haase.

»Vielleicht hat er der Frau im Morgengrauen aufgelauert«, mutmaßte Frajo Helferich. »Um die Zeit ist niemand im Wald. Höchstens Jäger oder Förster oder so.«

»Zeugenbefragung???«, schrieb Gunter Haase an die Wand.

»Oder die beiden kannten sich und waren verabredet«, spann Martina Lohse den gedanklichen Faden weiter. »Der Mord und die Inszenierung der Toten waren bis ins letzte Detail geplant. Das war kein spontaner Überfall, weil er die Frau zum Beispiel vergewaltigen wollte.«

Doktor Wölfelschneider räusperte sich. »Wissen wir diesbezüglich schon Näheres? Wenn die Frau ein Opfer von sexueller Gewalt mit Todesfolge wurde, haben wir gleich die Medien im Nacken. Die warten doch nur auf so was.«

»Auf den ersten Blick handelt es sich nicht um ein Sexualdelikt«, erwiderte Gunter Haase. »Aber das muss die Pathologie noch bestätigen.«

Frajo Helferich nahm die Brille von der Nase und massierte die Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger. »Jetzt sagt nicht, dass ich zu viele schlechte Krimis im Fernsehen schaue«, meinte er, nachdem er die Brille wieder aufgesetzt hatte. »Aber für mich wirkt dieses ganze Arrangement fast wie ein Opferritual.«

Martina Lohse runzelte die Stirn. »Hat diese Kapellenruine nicht diesbezüglich eine Vergangenheit?«

»Was für eine Vergangenheit?« Frajo Helferich schaute seine Kollegin verwundert an.

»Der Ort wird doch für verschiedene religiöse Zwecke genutzt«, erwiderte Martina Lohse. »Das haben mir die Kollegen von der Polizeistation Wald-Michelbach bestätigt.«

»Ganz genau!«, stimmte der Kriminalhauptkommissar seiner Mitarbeiterin zu. »Für Katholiken ist die Kapelle ein Wallfahrtsort. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, wurden die jährlichen Wallfahrten um 1980 wieder aufgenommen. Am Sonntag nach Mariä Himmelfahrt pilgern die Gläubigen mit der Muttergottesstatue dorthin, die ansonsten in der Kapelle von Unter-Abtsteinach untergebracht ist. Aber viele suchen die Kappellenruine auch zwischendurch für ein Gebet auf.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie beabsichtigen, sämtliche Gläubige aus der Region unter die Lupe zu nehmen?«, stöhnte Doktor Wölfelschneider auf. »Ich bitte Sie! Überlegen Sie mal, was für eine Außenwirkung das hätte! Die Schlagzeilen in der lokalen Presse mag ich mir gar nicht ausmalen.«

»Wir machen das, was nötig sein wird, um den Fall aufzuklären«, presste Gunter Haase zwischen schmalen Lippen hervor.

Martina Lohse blickte von ihrem Handy auf. »Ich habe schnell gegoogelt. Um Sankt Maria in Lichtenklingen ranken sich verschiedene Mythen und Legenden. Angeblich soll dort ein Schatz aus dem Dreißigjährigen Krieg vergraben sein, den ein großer schwarzer Hund bewacht.«

Frajo Helferich seufzte. »Leider habe ich davon heute nichts gesehen. Weder vom Hund noch vom Schatz. Sonst säße ich wahrscheinlich nicht mehr hier.« Sehnsüchtig schaute der Kommissar aus dem Fenster, wo die Frühlingssonne strahlte.

Martina Lohse grinste. »Wer was findet, muss teilen!« Dann wurde sie wieder ernst. »Angeblich treibt in Lichten­klingen auch eine weiße Frau ihr Unwesen. Die erblickte einst der Förster, der als Einziger in dem neben der Kapelle errichteten Forsthaus verblieben war. Die weiße Frau war Teil einer nächtlichen Prozession von Frauen, die sich singend an den Wänden der Kapelle entlangbewegte. Der Förster griff nach seinem Gewehr und legte auf die mystischen Gestalten an. Aber sein Arm versagte ihm den Dienst und blieb danach steif.«

»Genau das sollte allen Jägern passieren«, murmelte Timo Keil leise vor sich hin. »Dann müssten weniger unschuldige Tier sterben.«

»Timo!« Gunter Haase rügte den jungen Kollegen mit einem strengen Blick.

Frajo Helferich wandte sich an Martina Lohse. »Meinst du, dass der Täter von der Sage wusste und die Tote diese weiße Frau darstellen soll?«

»Damit wäre der Täter in Jägerkreisen zu vermuten«, warf Doktor Kuno Wölfelschneider ein. »Hören Sie sich dort einmal um! Möglichst schnell.«

»Das werden wir machen«, versprach Gunter Haase. »Aber wir sollten eher nachfragen, ob jemandem von der Jägerschaft oder den Förstern etwas in der Gegend um Lich­ten­klingen aufgefallen ist. Ein Pkw, der dort im Forst nichts zu suchen hat, ein früher Wanderer oder Jogger. Wenn wir Glück haben, hat jemand die Frau vor ihrem Tod gesehen.«

Martina Lohse tippte nochmals auf ihrem Handy herum. »Hier steht auch, dass der Ort schon in vorchristlicher Zeit als Quellenheiligtum verehrt wurde. Deshalb wird Lichtenklingen neben den katholischen Wallfahrern auch von neuheidnischen Gruppen als Kraftort oder magischer Ort genutzt. Der Brunnen unterhalb ist, wie ihr vielleicht bemerkt habt, mit eindeutig heidnischen Symbolen geschmückt. Dem Wasser wird laut Google eine heilende Wirkung zugesprochen.«

Frajo Helferich zog die Luft zwischen den Zähnen ein. »Also ist an meiner Vermutung doch was dran! Könnte es nicht sein, dass die Frau irgendwelchen Göttern, an die so kranke Typen glauben, geopfert wurde? Dass wir es nicht mit einem Einzeltäter, sondern mit einer ganzen Gruppe zu tun haben?«

»War gestern nicht Frühlingsanfang?«, meinte Timo Keil.

»Ein Frühlingsopfer, das dem Frühlingsgott dargebracht wird?« Gunter Haase drehte den Boardmarker nervös zwischen den Fingern. »Wie bei Igor Strawinskys ›Le sacre du printemps‹, wo nach der Anbetung der Erde eine Jungfrau ausgewählt wird, die dem Frühlingsgott geopfert werden soll?«

»Für eine Jungfrau im klassischen Sinn war die Tote zu alt«, wandte Martina Lohse ein.

»Sind hier in der Region denn neuheidnische Gruppierungen, zu Gewalt neigende Esoteriker, Hexen, Druiden oder Magiker unterwegs?«, wollte Frajo Helferich wissen.

»Ich kann mich an keine Vorfälle in den letzten Jahren erinnern«, erwiderte Gunter Haase. »Aber hör dich doch mal bei den Polizeistationen um, ob den Kollegen vor Ort etwas aufgefallen ist! Ich werde diesbezüglich beim Verfassungsschutz anklopfen.«

Beim Wort »Verfassungsschutz« zuckte Doktor Wölfelschneider zusammen. Er richtete seinen Blick auf das linke Handgelenk, wo seit Weihnachten eine sündhaft teure Bremont-Fliegeruhr prangte, stand auf und rückte das Tweedjackett zurecht. »Nun, Sie wissen, was zu tun ist. Wir sehen uns Montagfrüh um acht in meinem Büro. Dann möchte ich erste Erfolge sehen. Meine Dame, meine Herren!« Doktor Kuno Wölfelschneider nickte seinen Mitarbeitern zu und war aus dem Besprechungszimmer verschwunden. Ein Hauch von Kent-Rasierseife verblieb in der Luft.

Gunter Haase zog eine Grimasse, als ob ihn plötzlich Zahnschmerzen plagten.

Martina Lohse sprang auf und öffnete eins der Fenster. »Ich brauch frische Luft.«

»Also gut.« Gunter Haase versuchte, sich zu sammeln. »Lasst uns so vorgehen: Frajo, du stellst eine Liste mit allen Förstern, Jägern und Jagdpächtern aus der unmittelbaren Nähe des Tatortes auf und klapperst sie telefonisch ab, ob sie etwas gesehen haben! Falls ja, fahr hin und befrag sie vor Ort!«

Der Kriminalkommissar nickte.

»Timo«, fuhr Gunter Haase fort, »du setzt dich an den Computer und findest heraus, ob es Parallelen zu anderen Fällen in der Region gibt! Nimm dir ruhig die letzten 20 Jahre vor! Ich will nachher eine komplette Zusammenstellung!«

»Wenn’s unbedingt sein muss.« Timo Keil stöhnte theatralisch auf.

Gunter Haase verkniff sich einen Kommentar und berührte Martina Lohse kurz am Arm. »Und wir beide, wir machen jetzt noch einmal einen Ausflug in den Odenwald.«

»Allemal besser, als Wohnzimmer und Küche zu streichen«, erwiderte die Kommissarin grinsend und schnappte sich ihre dunkle, mit Nieten besetzte Lederjacke.

Odenwaldjagd

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