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31. MÄRZ 1979, SAMSTAG
ОглавлениеAm nächsten Morgen weckte mich meine Mutter. Sie riss die Tür auf und schrie: »Der Umzugswagen ist da!«
Ich hatte tatsächlich Kopfschmerzen, und vor allem hatte ich keine Lust. Wie spät mochte es sein? In welchem Körper mochte ich stecken? Es fühlte sich nicht wie meiner an. Es fühlte sich nicht einmal nach einem Körper an.
»Was muss ich denn tun? Muss ich etwa mittragen?«, fragte ich verquollen.
»Nein, das weißt du doch«, erklärte meine Mutter, »den Umzug zahlt Papas Firma. Das ist eine Umzugsfirma, die trägt alles rauf.«
»Aber wieso muss ich denn dann wach sein?«
»Du kannst doch nicht schlafen, wenn hier Möbelpacker in der Wohnung herumrennen«, schalt mich Mutter. »Komm, steh auf. Hurtig.«
Ich guckte sie entgeistert an und meinte: »Mama, echt. Das ist denen doch völlig egal, wenn ich hier penne.«
»Nein, das ist nicht egal. Das ist unhöflich den Leuten gegenüber. Die müssen schwer schuften.«
»Ja, aber die kriegen doch auch Geld dafür.«
»Trotzdem.«
»Ach so.«
»Genau.«
Da kam mein Vater um die Ecke, er hatte den Dialog mit angehört.
Er stand da, hatte ich extra einen Blaumann angezogen, wahrscheinlich, um Solidarität mit den Arbeitern zu zeigen. Er guckte mich mit seiner befremdlichen Art an und meinte: »Es ist herablassend, wenn man schläft, während andere arbeiten. Damit zeigst du, dass du was Besseres bist als die. Da sind Handwerker sehr empfindlich.«
»Ich glaube eher, das zeigt, dass ich später ins Bett gegangen bin als die«, meinte ich verschlafen und gähnte. »Das ist doch nichts Schlimmes.«
»Aber du zeigst damit, dass du es dir leisten kannst, spät ins Bett zu gehen, während die Handwerker früh ins Bett müssen, um ihr Geld zu verdienen. Und damit zeigst du, dass du was Besseres bist als die«, belehrte er mich weiter. Er glaubte wohl, dass die Arbeiter es gut finden, wenn er im Blaumann daneben steht und zuguckt, wie sie schuften.
»Die könnten doch aber auch was anderes arbeiten«, sagte ich zu ihm. »Die könnten zum Beispiel Barkeeper werden, dann bräuchten die auch nicht so früh ins Bett. Und könnten morgens länger schlafen, weil der Job eh erst abends anfängt.«
»Barkeeper ist doch aber kein richtiger Job«, meinte Vater und verschwand. Mistkerl, so hatte er wieder das letzte Wort, ohne auch nur ein zündendes Argument vorzubringen. Der Ärger bewog mich dann aber doch, endlich aufzustehen. In voller Montur von gestern Nacht ging ich ihm wütend hinterher.
»Wieso ist Barkeeper denn kein richtiger Job?«, pöbelte ich los, meine Kopfschmerzen verhinderten, dass ich die Augen richtig aufbekam. »Das kann total anstrengend sein. Möbelpacker haben auch einen anstrengenden Beruf, das sehe ich ein, aber Barkeeper ist auch anstrengend. Stell dir vor, du stehst den ganzen Abend hinter der Theke und die Leute sind alle total besoffen, aber du kannst nichts trinken und musst immer guter Laune sein und die auch noch bedienen. Und alle blasen dir den Zigarettenrauch ins Gesicht. Und anderes womöglich. Da schert sich auch niemand darum, ob der Barkeeper glaubt, dass die Gäste sich womöglich für was Besseres halten.«
»Okay«, gab mein Vater zu, »ich einige mich darauf, dass Barkeeper auch einen anstrengenden Beruf haben.«
»Und dass sie spät ins Bett kommen und morgens länger schlafen können, da die Arbeitszeiten anders sind als bei Handwerkern, oder?«
»Ja, darauf lasse ich mich auch ein«, meinte er genervt.
Ich war der Meinung, einer der Möbelpacker hatte uns gerade eben komisch angeguckt, aber ich könnte mich auch getäuscht haben.
»Gut, Papa, ich lege mich jetzt wieder hin. Bitte sag denen, ich jobbe als Barkeeper und dürfe deshalb länger schlafen, okay? Dann sind die nicht beleidigt.«
»Tim, das mache ich nicht«, meinte er. »Ich lüge nicht für dich. Das musst du schon selbst ausbaden. Wer lange aufbleiben kann, kann auch früh aufstehen.«
Eine Logik, die sich mir zwar nicht unbedingt erschloss, aber um den Friedens willen sagte ich nichts und ging zurück in mein Zimmer. Doch ich konnte nicht sofort wieder einschlafen, dazu rumpelte es hin und wieder einfach zu laut. Mein Vater guckte noch kurz rein und seinem Gesichtsausdruck konnte ich entnehmen, dass er dachte, er hätte unseren kleinen Streit gewonnen mit seinem finalen klugen Spruch. Wenn der wüsste. Als ich gerade etwas eingedöst war, polterte es erneut heftig und zwei Typen trugen meinen alten Jugendzimmerschrank in mein Zimmer.
»Wo soll der hin?«, fragte der eine mürrisch. Ich öffnete erstmal nur ein Auge, man weiß ja nie. So ein ziemlich feister Kerl mit tätowiertem Unterarm, der dicker am mein Unterschenkel war, hatte da gesprochen.
»Egal«, meinte ich verschlafen.
Ich erntete einen verächtlichen Blick, dann guckten sich die zwei Typen an und schüttelten fast unmerklich mit dem Kopf.
»Hey Jungs«, meinte ich und öffnete das zweite Auge, »nicht böse sein. Ich musste bis tief in die Nacht arbeiten. Barkeeper. Bier ausschenken, kapiert?«
Bier, da hellte sich das Gesicht der Möbelleute etwas auf, das hatten sie verstanden.
»Aber wo soll das hin hier?«, fragte der eine Typ noch einmal, schon etwas freundlicher. Sie standen da beide und hatten diesen dunkelbraunen Schrank an ihren Gurten baumeln, sie hatten ihn bislang noch nicht abgesetzt und man merkte den zwei Menschen deutlich an, dass sie das Möbelstück gerne langsam irgendwo abgestellt hätten.
»Hmm«, überlegte ich und guckte mir das Zimmer an. So richtig hatte ich es ja noch gar nicht inspiziert.
»Echt egal, Leute«, sagte ich schließlich nach einigem Nachdenken, »stellt das irgendwie alles hier ab, ich schieb mir das dann schon irgendwie zurecht, okay?«
»Gut«, meinte der Kerl, dann stellten sie den Schrank einfach an eine der Wände.
Nach und nach brachten sie meine anderen Jugendzimmermöbel und diverse Umzugskartons, auf denen »Kinderzimmer« stand, rein. Ich war einfach zu schwach, um mich darüber auch noch aufzuregen.
Nur zwei Stunden dauerte der Spuk insgesamt, dann war es vorbei. Die Möbelleute waren weg und es wurde stiller im Haus, nur meine Eltern schienen sich bereits auf die Kisten zu stürzen und sie auszuräumen. Kurz darauf stand meine Mutter wieder in der Tür.
»Willst du nicht auspacken?«, fragte sie.
»Nein, noch nicht. Später vielleicht.«
»Vielleicht, welch komische Antwort«, sagte sie kopfschüttelnd, »als wenn du deine Sachen nur vielleicht auspacken würdest. Irgendwann musst du die Kartons doch eh leeren.«
»Ach so«, sagte ich.
»Ja«, meinte Mutter und schloss die Tür hinter sich. Ich hörte es weiter rumpeln.
Ich schlief dieses Mal sehr schnell ein und erwachte gegen 16:15 Uhr. Leider immer noch mit Kopfschmerzen. Ich stand langsam auf, aber so langsam, dass ich nicht sofort kotzen musste. Gegen 16:56 Uhr laut meiner Armbanduhr, keine von diesen neumodischen Digitaluhren, die sündhaft viel Geld kosteten, stand ich aufrecht. Ich schlich mich in den Flur, wo meine Eltern immer noch damit beschäftigt waren, Kartons zu leeren.
»Wo sind die Aspirin?«, fragte ich.
»Hast du Kopfschmerzen?«, fragte meine Mutter und guckte äußerst besorgt.
»Ja.«
»Das kommt doch hoffentlich nicht vom Alkohol?«, nun guckte sie verärgert. »Denk dran, du bist noch nicht volljährig!«
»Ja, ich weiß«, krächzte ich, nachdem ich alle meine Lebensgeister zusammengenommen hatte.
»Wenn die rauskriegen, dass wir dich bis in die Puppen rauslassen und du dann auch noch zu viel Alkohol trinkst, können wir echt Ärger kriegen, Tim! Ich sage nur: Aufsichtspflicht. Die hat man als Eltern.«
»Nein, Mama, das kommt sicher nur durch die ganze Aufregung hier. Man zieht ja nicht so oft um.«
»Das kommt davon, weil du so spät im Bett warst«, fing sie mit leicht keifigem Unterton erneut an. »Ich habe dich gehört, als du nach Hause gekommen bist. Das war ganz schön spät.«
Mein Vater hörte dem Dialog nur zu und packte seine Sammlung aus. Er hatte einen Setzkasten, in dem er irgendwelchen Kleinkram sammelte, mit dem er irgendwelche Erinnerungen verband. Da fand man kleine Flachmänner, Schlümpfe, eine Super-8-Filmrolle, Passfotos, kleine Zeitungsartikel und einiges mehr. Einen Sinn für Kitsch hatte er schon, obwohl es im Ganzen auch sehr viele Flachmänner waren. Leer natürlich.
»Was ist denn jetzt, haben wir irgendwo Aspirin?«, fragte ich noch einmal.
»Ja, guck mal im Bad, da steht der Karton mit den Badsachen. Der ist noch nicht ausgepackt, aber irgendwo da drin müssen die Tabletten sein.«
Ich wankte ins Bad und fand die Tabletten Gott sei Dank sehr schnell. Ich nahm eine, wankte ins Zimmer zurück und schloss meine Tür. Ich setzte mich hin und starrte die Kartons an. Ich würde mich nicht herablassen und jetzt so spießig Umzugskartons auspacken, die gerade mal ein paar Stunden hier rumstanden.
Kurz darauf klopfte es und meine Mutter rief: »Packst du deine Sachen schon aus?«
»Nein, Mama, ich glaube, ich werde krank. Ich ruhe mich noch etwas aus.«
»Na schön.«
Dann war sie verschwunden.
Ich schlief noch etwa eine Stunde, dann waren die Kopfschmerzen fast weg. Ich setzte mich auf meiner immer noch nicht aufgepumpten Luftmatratze aufrecht hin und guckte mir erst einmal in Ruhe mein Zimmer an. Die Tapete hatte ja ein ganz hässliches Muster, grün mit einem goldenen Schlickelschlackel drin. Wer hatte sich so was ausgesucht? Meine Mutter hatte recht, es war ganz klar, dass hier eine von diesen modernen Raufasertapeten ran musste. Und weiß sollte sie sein. Oder sogar schwarz. Dann stand ich auf und öffnete den Karton, in dem ich meine Stereoanlage vermutete. Die hatte ich einst zur Konfirmation bekommen. Jeder hatte die Konfirmation nur gemacht, um eine Stereoanlage zu kriegen. Tatsächlich hat jeder ohne Ausnahme sich von dem Konfigeld eine gekauft. Ich hatte auch echt Glück, dass ich nicht durch die Konfirmandenprüfung gefallen bin, ich hatte am Prüfungstag eine leichte Antistimmung gegen die Kirche und deshalb die Prüfungsfragen ein wenig blöde beantwortet. Auf die Frage, wofür Jesus Christus denn stehe, hatte ich geschrieben: »Friede, Freude, Eierkuchen« Das fand der Pastor nicht lustig, er hatte mich aber trotzdem konfirmiert, weil ich alle Gottesdienste besucht hatte. Und außerdem, weil man im christlichen Glauben ja verzeiht. Und das hatte er ganz offenbar getan.
Ich baute die Stereoanlage von »Schneider« auf einem der Kartons auf und suchte aus einem anderen meine Schallplatten raus. Ich legte dann »The Scream« von »Siouxsie And The Banshees« auf und hörte das, allerdings in gedämpfter Lautstärke, da ich immer noch sehr lärmempfindlich war. Irgendwie musste ich die Zeit bis zum Abendessen totschlagen, danach wollte ich wieder Richtung »Fabrik« geben, um möglichst diesen Typen von gestern zu treffen. Ich hoffte, ich würde ihn wiedererkennen. Vielleicht würde er mir noch ein paar interessante Plätze hier in Hamburg zeigen.
Meine Eltern ließen mich jetzt wenigstens in Ruhe, niemand klopfte mehr an die Tür.
Tatsächlich hatte meine Mutter um Punkt 19 Uhr das Essen fertig. Allerdings keine ausgewogene Mahlzeit, vielmehr eine Ravioli-Dose, doch es schmeckte.
»Hast du schon angefangen, deine Sachen auszupacken?«, fragte meine Mutter abermals.
»Nein, noch nicht. Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich die Möbel hinstelle«, log ich. »Ich muss da noch ein wenig drüber nachdenken.«
»Da gibt es doch gar nicht so viele Möglichkeiten«, meinte mein Vater und schnitt ein Ravioli klein.
»Das sagst du«, begann ich zu klugscheißern, »vielleicht gibt es im herkömmlichen Sinne nur wenige Möglichkeiten, diese gewöhnlichen Möbel sinnvoll anzuordnen, mir schwebt da aber was Interessanteres vor.«
»Was denn?«, fragte er.
»Ich weiß es noch nicht. Ich muss da erst in aller Ruhe drüber nachdenken.«
»Na gut, Tim«, er stach mit der Gabel ins kleingeschnittene Ravioli und aß weiter.
Wir führten unsere Mahlzeit fort, niemand sprach ein Wort.
»Was arbeitest du eigentlich genau, Papa?«, fragte ich dann irgendwann, als es zu ruhig wurde. Und immerhin musste ich doch wissen, wofür wir von Berlin nach Hamburg gezogen waren. Ich hoffte auf eine interessante Information.
»Weißt du doch, wieso fragst du?«; sagte er mit vollem Mund und spülte den Happen mit einem Bier runter. Aha, mein Vater war also schon gleich losgezogen heute Morgen, um Bier zu kaufen. Da erkannte ich, dass mir meine Vorliebe für dieses Getränk in die Wiege gelegt wurde. Biergene.
»Ich gehe übrigens gleich noch einmal weg«, begann ich vorsichtig.
»Ja, ist okay«, meinte mein Vater gönnerhaft, »heute ist ja Samstag. Morgen allerdings bist du zeitig im Bett, du musst am Montag ja zur Schule.«
»Ja, denk dran, das ist deine neue Klasse«, ergänzte meine Mutter, »da musst du einen guten Eindruck machen, immerhin wirst du hier nächstes Jahr dein Abitur machen.«
»Ja ja, Mama«, irgendwie deprimierte sie mich.
Nach dem ansonsten sehr wortlos vonstattengehenden Abendessen verschwand ich sofort. Mir war klar, dass ich viel zu früh war, doch ich musste raus aus der Wohnung und die frische Luft hatte ich auch dringend nötig. Langsam ging ich zur »Fabrik«, holte mir unterwegs Zigaretten und rauchte eine. Es schmeckte wie immer widerlich, ich wusste gar nicht, warum ich ständig rauchen musste, eigentlich war das gar nicht nötig, machte einen doch nur krank, jedenfalls hörte man das ja immer wieder. Aber egal, es musste jetzt einfach sein. Ein junger Mann meines Standes musste so etwas auch tun, das gehörte sich einfach so. Aus einer Snackbar holte ich mir ein Sechserpack Bier, dann setzte ich mich vor der »Fabrik« auf den kleinen Platz und machte es mir erst einmal gemütlich. Ich war froh, dass ich mich einigermaßen warm angezogen hatte, denn es wurde arschkalt. Und das Bier wärmte auch nicht gerade. Liebend gerne hätte ich einen wärmenden Kaffee getrunken, aber ich hatte nun mal Bier gekauft. Mir war klar, dass das Warten womöglich sehr lange dauern könnte, mit etwas Pech hätte der Typ eh glatt vergessen, dass wir uns hier treffen wollten. Oder er erkannte mich gar nicht. Oder wir erkannten uns nicht. Es gab so viele Möglichkeiten, dass wir uns verpassten. Man weiß ja nie, was so alles passieren kann.
Während ich so umherguckte, ging ich im Geiste alle Verstecke hier auf dem Platz durch. Das machte ich immer automatisch, denn man musste immer bereit sein, wenn die Bombe fällt, dass man sich irgendwo hinter verstecken musste, um nicht durch den Lichtblitz blind zu werden. Und es würde dann ja auch einen riesigen Hitzewelle kommen, die einen ansonsten auf der Stelle verbrennen würde. Ich beschloss, dass es am besten wäre, wenn ich mich einfach nach hinten fallen lassen würde, wenn es soweit war, die kleine Mauer würde halbwegs Schutz bieten.
Da wir März hatten, war es inzwischen auch stockdunkel, und bitterkalt war es zudem. Ich dachte über Berit nach, die mich angeblich über alles liebte. Warum aber hatte sie dann heute nicht angerufen? Interessierte es sie womöglich überhaupt nicht, was hier los war, wie es ihrem ach so tollen Schatz erging? Hatte sie vielleicht schon einen Neuen? So schnell? So sind die Frauen halt. Mir sollte es aber nur recht sein, ich war immer noch der Meinung, dass so eine Fernbeziehung keinerlei Chance hätte, und vielleicht hatte ich Glück und sie meldet sich einfach nicht mehr, sodass ich nunmehr frei wäre. Doch trotzdem ärgerte es mich, dass sie sich nicht meldete.
Ich trank bereits mein drittes Bier. Es war so gegen 22 Uhr, als der Kerl endlich kam.
»Hi, du«, sagte ich so beiläufig wie möglich.
»Hallo«, antwortete er und guckte mich mit gerunzelter Stirn an.
Ich erkannte ihn. Er mich erst nicht, aber dann fügte er sich in sein Schicksal und tat zumindest so, als würde er mich kennen. Trotzdem fragte er: »Wie war noch dein Name?«
»Tim. Gestern, weißt du noch?«
»Was war gestern?«
»Na, hier.«
»Ich bin oft hier.«
»Gut! Bier?«
»Hab selbst welches«, meinte er. »Aber gib mir ruhig eins.«
Ich gab ihm eines, er machte es auf, trank einen großen Schluck und rülpste herzerfrischend.
»Was jetzt?«, fragte ich. Da dämmerte es ihm offensichtlich, man merkte förmlich, wie ein paar Zahnräder in seinem Hirn ineinandergriffen.
»Hatte dich ganz vergessen«, sagte er grinsend und rülpste erneut, »hatte ganz vergessen, dass wir uns ja treffen wollten. Bin nur zufällig hier, aber da sehe ich dich da sitzen. Gut gut.«
»Ja, hab schon zwei Stunden gewartet.«
»Ach ja? Gut gut.«
»Was machen wir?«
»Weiß nicht, was du machst«, sagte er und trank noch einen Schluck, »ich habe Bandprobe. Bin grad auf dem Weg. Hier um die Ecke. Geht um 21 Uhr los.«
»Ist schon 22 Uhr«, meinte ich.
»Ja, vielleicht.«
»Prima. Kann ich mit?«, fragte ich ihn. Was sollte ich sonst tun?
»Ja, ist hier um die Ecke.«
Wir gingen los, den gleichen Weg, den ich auch gekommen war. Doch kurz vor der S-Bahn-Brücke bogen wir in die Gaußstraße ab, gingen da noch ein paar Meter hinein, dann auf einen Hinterhof und runter in einen Keller. Es war irgendwie schmuddelig, meinen Lebensabend hätte ich hier nicht verbringen wollen, feucht und modrig, doch den abgenutzten Vergleich mit einem Grab bringe ich hier jetzt nicht. Trotzdem, ein frustrierend lässiger Ort, den offenbar nicht mal die Ratten gut fanden und sich deshalb fernhielten. In einem der Kellerräume war der Proberaum, hier warteten bereits drei andere Typen und ein Mädel.
»Hi, hier ist einer, der will heute mal zuhören«, stellte der Typ mich vor.
»Ja, ist okay«, meinte einer mit kurzem aber igeligem Haarschnitt. »Dann sind ja alle da.«
Ohne irgendwas zu reden, begaben sie sich an ihre Instrumente und spielten los. Ein infernalischer Lärm brach über mich ein. Der Typ von gestern spielte eine Gitarre, der mit dem Igelhaarschnitt stand an einem Multimoog, cooles Teil, wenn auch leider nur monophon, aber wahnsinniger Klang. Ein anderer Typ, der erschreckenderweise lange Haare und einen Schnauzbart trug, bediente den Bass, ein punkig wirkender Kerl saß an einem kleinen Schlagzeug und das Mädel stand am Mikro und brüllte mit heller und kreischender aber sehr piepsiger Stimme fast unverständliche deutsche Texte hinein. Es war wirklich super, wenn auch irgendwie scheiße.
Als der Song zu Ende war, fragte ich: »Leute, das war echt gut. Total laut, echt hart. Wie heißt ihr?«
»›Kassenschläger‹. Guter Name, was?«, sagte der Igelhaarschnitt gut gelaunt und trank ein Schluck Holsten, das er auf seinem Moog platziert hatte.
»Ja, ist okay«, sagte ich, doch ich dachte: »Na ja.«
Die Probe dauerte noch bestimmt anderthalb Stunden. Sie spielten einfach nur, sie übten nicht. Selbst wenn sie einen Song zweimal hintereinander spielten, konnte ich fast nicht erkennen, dass es die gleichen Stücke waren, jedes Mal klang es anders. Es notierte sich auch niemand irgendwas. Nur das Mädel, das mir übrigens immer besser gefiel, machte sich hin und wieder Textnotizen. Auf diese Art hatten wir nicht geübt mit meiner Band in Berlin. Das lief gesitteter ab, alles wurde aufgeschrieben, obwohl niemand Noten konnte. Aber diese Methode hier gefiel mir auch gut. Musikstücke, die einmalig sind, die man immer wieder spielte und die immer wieder anders klangen, perfekt.
Es war kurz vor 0 Uhr, da packten dann alle ihre Instrumente wieder in die Ecke.
»Wollen wir noch was trinken gehen?«, fragte der Igelhaarschnitt vom Moog.
»Nee, man, ich muss morgen früh raus«, meinte der Kerl mit dem Schnauzer, »Arbeit«, ergänzte er noch. Schnell ging er auch aus dem Proberaum hinaus.
»Sonntag is’ morgen«, rief der Igelhaarschnitt hinterher und zuckte mit den Achseln, als keine Antwort kam.
»Ich komm mit«, meinte das Mädel.
»Ich auch«, der Schlagzeuger.
»Ich auch. Kommst du auch mit?«, fragte mich der Typ von gestern.
»Ja, klar. Prima«, freute ich mich.
Wir gingen hinaus, der Schlagzeuger schloss den Raum ab und dann marschierten wir los. Wenn ich mich richtig orientiert hatte, entfernten wir uns von meinem Zuhause. Unterwegs trafen wir den Typen mit dem Schnauzer wieder.
»Muss doch nicht arbeiten morgen, morgen ist Sonntag, hätte ja auch mal einer sagen können. Ich komm noch auf ein Bierchen mit«, meinte er. Komischer Typ. Leuten mit Bart darf man nicht trauen.
»Wo gehen wir hin?«, fragte ich meinen Freund.
»In die ›Bierstube‹, das ist beim Spritzenplatz.«
»Okay.«
Alle gingen schnellen Schrittes, denn es hatte leicht zu nieseln angefangen. Es war echt eklig draußen, vor allem kalt. Nach ungefähr 15 Minuten kamen wir dann in der »Bierstube« an. Blöder Name, aber der Laden war okay. Tatsächlich konnten wir einen Tisch ergattern und setzten uns drum herum. Tisch, wie spießig, aber egal. Der Igelhaarschnitt holte uns Bier vom Tresen.
»Hier ist immer was los«, erklärte mir der Typ von gestern, »hier kann man herkommen, wann immer man will, hier sind immer Leute da, die man kennt.«
»Ach«, meinte ich. Ich kannte niemanden.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte mich die Sängerin.
»Tim.«
»Tim? Das ist schlimm«, reimte sie und lachte krächzend. Ich verzog meinen Mund und hoffte, dass es aussah wie ein leichtes Lachen.
»Wie heißt du denn?«, fragte ich zurück.
»Betty«, sagte sie und guckte mir direkt in die Augen. Es wurde mir etwas heiß. Aber ich musste erstmal die Umgebung prüfen, bevor ich mich an sie ranmachte.
»Betty. Das ist gut. Leider fällt mir darauf so schnell kein Reim ein«, antwortete ich blöde.
»Er kommt aus Berlin«, meinte der Typ von gestern.
»Berlin?«, das war der Langhaarige.
Wow, das ist knorke«, rief der punkige Schlagzeuger, »so sagt man doch da, oder? In Berlin, meine ich. Knorke.«
»Ich sag das nicht so oft«, meinte ich, ich fand das Wort total beknackt.
»Ich hab gehört, da soll alles voller Ruinen sein«, sagte der Keyboarder.
»Was meinst du?«, fragte ich.
»In Berlin«, erklärte er, »alles kaputt. Häuser, Straßen. Da sollen noch Einschusslöcher in den Wänden sein vom Zweiten Weltkrieg.«
»Quatsch. Nicht bei uns.«
»Doch!«, widersprach er.
»Vielleicht in Ostberlin«, fiel mir ein.
»Ach so. Wo kommst du denn her?«, frage er. Das hatte ihm wohl etwas den Wind aus den Segeln genommen.
Ich sagte etwas entrüstet: »Westberlin natürlich.«
»Ist das so viel anders?«, kam da plötzlich links von mir von meinem neuen Freund.
»Natürlich! Spinnst du?«, das konnte ja wohl nicht wahr sein. »Du warst noch nie in Berlin, oder?«
»Nein«, antwortet der Typ nach kurzem Überlegen.
Dann sagte der Schlagzeuger: »Hast du keine Angst davor, dass die Russen da eine Atombombe raufwerfen?«
»Wieso denken alle, dass die Atombomben auf Berlin werfen?«, fing ich an. »Das ist total unlogisch, die schaden sich doch selbst damit. Überlegt doch mal: Die Radioaktivität zieht doch auch nach Ostberlin, also in den Russischen Sektor, und dann fallen da den Leuten die Haare aus, du glaubst doch wohl nicht, dass die das machen würden.«
»Da fallen nicht nur die Haare aus«, mischte sich Betty ein, »wenn man verstrahlt ist, ist das richtig Kacke. Guck doch mal Hiroshima.«
»Ja, genau, Hiroshima?«, rief der Schlagzeuger.
»Ja, Hiroshima, da haben die Amerikaner vor einiger Zeit eine Atombombe raufgeworfen«, ereifert sich Betty, »und das hat da voll gebrannt. Eine Feuerwalze hat sich durch die Stadt gefressen. Und die Schatten der Toten waren in die Wände gebrannt. Und dann waren die Leute, die noch lebten, richtiggehend verstrahlt. Sind total krank geworden. Das ist echt große Scheiße. Ich möchte das hier nicht erleben.«
»Ich auch nicht«, sagte der Typ von gestern und rülpste. »Aber das klingt nach Hippiescheiße.«
»So krank, dass man die nicht mehr heilen kann«, erklärte Betty weiter, »ich habe das mal gelesen neulich. Die hatten alle jede Menge Eiter und waren voller Brandverletzungen und so weiter. Wenn die das hier auf Berlin raufwerfen, dann aber gute Nacht. Das schadet uns allen, das spürt man selbst bis nach München.«
»Na, um die wäre das ja nun wirklich nicht schade«, meinte der Keyboarder mit dem Igelhaarschnitt und grinste breit. Eine Bayern-Aversion, diagnostizierte ich. Aber die hatten Berliner auch.
»Das stimmt«, meinte der Typ von gestern, »da kann von mir aus ruhig mal eine Atombombe raufgeworfen werden. Das müssten nicht mal die Russen sein, ich schätze mal, die Länder würden sich drum kloppen, da eine abzulassen.«
»Ich finde das gar nicht lustig«, meinte Betty und guckte ihn strafend an.
»Es war auch gar nicht lustig gemeint«, meinte der Typ von gestern beleidigt und trank leicht verlegen einen Schluck von seinem Hopfengetränk.
»Witzbold«, stieß Betty dann noch hervor und er antwortete kleinlaut: »Eben nicht!«
»Anderes Thema«, meinte ich, »habt ihr Lust auf einen zweiten Keyboarder? Ich habe einen MS-20 von Korg, neues Teil, supergut.«
Ich guckte erwartungsvoll in die Runde. Der Keyboarder guckte mich an. Ich konnte den Blick nicht deuten, wollte er mich damit womöglich töten? Die Augenbrauen hatten sich zusammengezogen. Die Lippen pressten sich so komisch aufeinander. Aber ich wollte doch gar nicht seinen Platz streitig machen! Dachte er das etwa? Das war nicht meine Absicht. Ich wollte noch schnell etwas derartiges sagen, da kam schon die Antwort von ihm: »Nee, denke nicht.«
»Nein, noch ein Keyboarder ist unnötig«, meinte der Typ von gestern, »einer reicht echt.«
»Was heißt hier ›einer recht echt‹?, brauste der Keyboarder auf.
»Ja, weißt du«, fing der Typ von gestern an, »mehr als einen Synthesizer sollte man in der Band nicht haben. Hey, wir spielen Punk und keinen Scheiß-Avantgarde!«
»Avantgarde! Hey, das ist Synthiepunk, was ich spiele«, hier schien Streit aufzukommen.
»Ja, ist ja auch gut. Aber ein Keyboard reicht echt«, sagte der langhaarige Schnauzbartträger, der den Bass bediente, wie aus heiterem Himmel. Der hatte die ganze Zeit nichts gesagt, ich hatte den schon völlig vergessen, er saß auch etwas ab von uns. Der Igelhaarschnitt wurde rot im Gesicht. Hey, das wollte ich nicht, ich wollte keinen Streit provozieren. Allerdings fände ich es auch nicht schlecht, wenn der Igelhaarschnitt sich derart daneben benehmen würde, dann könnte ich den Job vielleicht haben.
»Ja, finde ich auch«, griff Betty beschwichtigend ein, »ich finde auch, dass ein Keyboard reicht.«
Der Keyboarder hielt die Klappe, zündete sich eine Zigarette an und guckte beleidigt zur Seite. Was für ein kindisches Verhalten, die gekränkte Diva zu spielen und zu rauchen, das machen doch nur Dreijährige. Ich hielt aber auch lieber den Rand, war aber ein wenig enttäuscht. Das wäre wirklich toll gewesen, in einer Band zu spielen. Und die »Kassenschläger« fand ich sogar noch ganz gut. Bis auf den Bandnamen natürlich.
»Kennt ihr denn eine Band, die eventuell einen Keyboarder sucht?«, fragte ich nach einiger Zeit in die Runde. Alle machten betretene Gesichter.
Dann fiel meinem Kumpel was ein: »Ja, bei mir an der Schule hat sich grade eine Band zusammengefunden, wie ich gehört habe. Ein Schlagzeug, zwei Gitarren, ein Bass. Ich glaube, da fehlt noch ein Synthesizer. Die nennen sich die ‘Gebrüder Wright’. Wenn ich morgen in der Schule bin, frage ich die mal nach einer Telefonnummer.«
»Du gehst zur Schule?«, fragte ich ihn, »welche denn?«
»Das Gymnasium Rispenweg in Lurup.«
»Hey, prima«, freute ich mich, »weißt du, da werde ich ab morgen auch hingehen. Welche Klassenstufe?«
»Ich mache nächstes Jahr Abi, wieso? Und du?«
»Wow, ich auch«, freute ich mich weiter. »Dann sind wir ja in einem Jahrgang. Das ist ja dufte. Oder knorke, wie ihr Hamburger so gerne denkt, dass wir Berliner das ständig sagen.«
»Ja, echt super! Welche Leistungsfächer hast du denn?«
»Englisch und Physik«, meinte ich.
»Physik? Was ist das denn? Spinnst du?«
»Ich weiß auch nicht. Ich hatte zufällig in der 11. Klasse eine einigermaßen gute Zensur in Physik bekommen und dachte, ich könnte das deshalb als Leistungsfach nehmen, war aber eine absolute Fehlentscheidung.«
»Das glaube ich. Und was machen wir jetzt?«, fragte er abschließend.
Dann war plötzlich wieder Ruhe. Minutenlang. Offenbar wurde alles gesagt. So viel, dass das erst einmal verdaut werden musste. Alle tranken an ihren Bieren, ich zündete mir eine Zigarette an, eine ungesunde. Ich freute mich, dass ich schon jemanden kennen würde an der neuen Schule. Vielleicht gingen die anderen ja auch auf das gleiche Gymnasium?
»Hey, Betty, was machst du?«, fragte ich sie. Mist, so in ein Schweigen reinzuquatschen ist blöd, da gucken alle gleich, denn wenn man ein so intensives Schweigen unterbricht, dann muss es schon was sehr gewichtiges sein.
Sie guckte mich an. Sagte aber nichts. Im Hintergrund lief »Pretty Vacant« von den »Sex Pistols«.
Hatte ich ihr was getan? Warum guckte sie so komisch? Was hatte ich denn gesagt? Worüber hatten wir eigentlich grad noch gesprochen? Atombombe, Bayern, Band. Nichts Verwerfliches eigentlich. Puh, da war ich aber froh. Doch offenbar schien ihr meine Frage nicht zu gefallen. Wieso? Hatte ich da in ein Wespennest gestochen?
»Ich verdiene Geld«, meinte sie dann nur kühl, »ich jobbe.«
»Du gehst nicht mehr zur Schule?« Ich war etwas verwundert, muss ich sagen.
»Nee, bin ich blöd?«, giftete sie mich an. »Schule hab ich schon lange hinter mir.«
»So alt bist du doch aber noch gar nicht«, stellte ich etwas naiv fest.
Sie guckte mich eisig an. Ich blickte zurück, doch dann wurde mir klar, dass sie entweder nur einen Hauptschulabschluss hatte und sich schämte, dass sie die Penne vorzeitig abgebrochen hatte oder von der Schule geworfen wurde. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich wollte sie ja auch nicht beleidigen oder so.
»Hast du denn einen Abschluss?«, fragte ich sie dann.
Da riss sie die Augen auf und ich hatte das Gefühl, sie wollte mir das Bier ins Gesicht klatschen.
»Wen interessiert denn das?«, schimpfte sie mich an, »spinnst du? Ist das in irgendeiner Form wichtig?«
Sie schnaubte wie ein Pferd, unglaublich. Mir war das peinlich, wieso konnte ich auch nur so einen Scheiß fragen? Ich wollte doch nur wissen, weswegen sie nicht mehr in der Schule war. Der Start mit ihr war also komplett in die Hose gegangen, ich konnte mir nicht vorstellen, bei ihr jemals wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. Ich war verwirrt und beschloss, später darüber nachzudenken, nicht jetzt. Sie schüttelte den Kopf, trank einen Schluck von ihrem Bier und guckte mit zugekniffenen Lippen in eine andere Richtung. Die anderen waren auch irgendwie in bisschen betreten und ich dachte nach, wie ich die Situation retten könnte. Mir musste irgendein anderes Thema einfallen.
»Hatte einer von euch schon Musterung?«, fragte ich.
Nun guckten mich alle an. Ihre Blicken schienen zu sagen: »Was bist du denn für einer?« Militarist? Eine, der gerne mit Waffen hantiert?
»Ich weiß, doofe Frage«, begann ich mich zu rechtfertigen. »Ich finde Waffen doof, ich will nicht zum Bund, ich will niemals eine Waffe in die Hand nehmen. Das könnte ich überhaupt nicht.«
»Vorhin wolltest du noch eine Atombombe auf Bayern werfen«, meinte der Keyboarder etwas aggressiv.
»Ja, das stimmt. Ist aber nicht ganz ernst gemeint«, fügte ich widerwillig ein.
»Und was ist, wenn ein Russe deine Freundin vergewaltigt«, fing der Igelhaarschnitt immer noch pissig hinzu, »und ihr an den Haaren zerrt und du hast zufällig eine Waffe in der Hand, was würdest du tun? Oder wenn ein Bayer deine Freundin vergewaltigt?«,
»Die typischen Verweigerungsfragen. Witzbold. Da kann man natürlich nur drauf antworten: Es würde gar nicht so weit kommen, denn ich würde niemals rein zufällig eine Waffe in der Hand haben.«
»Aber wenn da eine liegt?«
»Wo sollte eine liegen?«
»Auf einem Tisch zum Beispiel.«
»Quatsch. Ich würde niemals irgendwo sein, wo rein zufällig eine Waffe auf einem Tisch liegen würde, weil ich mich gar nicht mit Leuten abgeben würde, die Waffen haben. Ich würde niemals eine Waffe nehmen und einen Menschen, ein lebendiges Wesen töten«, rief ich triumphierend, gegen ein solches Argument würde niemand ankommen.
»Dann würden sie deine Freundin töten«, sagte der Igelhaarschnitt sachlich.
»Das wäre ärgerlich, doch ich würde nicht schießen«, teilte ich abermals mit.
»Du würdest also deine Freundin schutzlos einem Kommunisten überlassen?«, fing nun Betty auch noch an.
»Ach Leute«, ich atmete erstmal tief durch, »was wollt ihr eigentlich? Wollt ihr mich überzeugen zum Bund zu gehen?«
»Ich will nur wissen, ob du es ernst meinst mit der Verweigerung, oder ob du doch tief im Inneren das Herz eines Soldaten hast«, erklärte Betty.
»Ich habe nie gesagt, dass ich verweigern würde, »sagte ich verwundert. »Wieso geht ihr automatisch davon aus, dass ich nicht zum Bund will?«
Nun guckten mich alle erst recht verachtend an. Und ich musste schnell richtig stellen: »Klar will ich nicht zum Bund, ich frage nur, wieso ihr davon ausgeht?«
»Weil ein normaler Mensch da nicht hingeht«, giftete Betty erneut. »Und ich frage mich die ganze Zeit, was für ein Typ du eigentlich bist. Du bist undurchsichtig.«
»Ist doch gut, dass ich nicht durchschaubar bin«, freute ich mich. »Also, wie alt seid ihr?
Der Keyboarder war 17, der Schlagzeuger 18 und der Typ von gestern ebenfalls 17. Betty sagte gar nichts, der Langhaarige ebenfalls nicht. Ich war mir auch nicht ganz klar, ob er überhaupt zuhörte. Der hatte bestimmt Drogen genommen. Hippies nehmen ständig Drogen, schrecklich.
»Ich frage mich nur«, erklärte ich, »ob die mich vielleicht vergessen mit der Musterung. Ich musste hierher ziehen, weil mein Vater einen neuen Job hier hat. In Berlin muss man nämlich nicht zum Bund, wenn man da wohnt. Ich wohne aber auf dem Papier noch in Berlin, sodass die mich nicht kriegen werden.«
»Im Zweifelsfall verpetzte ich dich«, sagte Betty abfällig. Die anderen sagten gar nichts.
»Und was ist?«, fragte ich noch einmal«, war schon jemand bei der Musterung?«
Der Schlagzeuger bejahte, der Rest schüttelte mit dem Kopf.
»Wie war das?«, bohrte ich weiter.
»Die fassen dir da an die Eier. Wieso?«, fragte der Schlagzeuger.
»Ja, ich will das wissen. Ich will da auf keinen Fall hin. Ich hoffe, ich bin untauglich, falls doch, mach ich auf jeden Fall Zivildienst. Ist auch nur einen Monat länger als Kriegsdienst.«
»Echt«, sagte der Schlagzeuger, »ich mach auch Zivi, aber ich hab noch nicht verweigert.«
»Bund ist Schund, ist doch ganz klar«, meinte der Igelhaarschnitt.
»Ja, voll peinlich«, fügte der Typ von gestern dazu, »da darf man echt nicht hin, da geht man menschlich und charakterlich total zugrunde. Ich würde mit diesen waffengeilen Affen auch gar nicht zurechtkommen, ich muss mich echt schütteln, wenn ich dran denke. Bund ist totale scheiße, sollte sofort abgeschafft werden.«
»Und was ist, wenn die Russen angreifen?«, fragte der Schlagzeuger provokant, »dann bist du im Altersheim und wischt den alten Leuten den Hintern ab, bist aber total froh, dass andere ihre Ärsche für dich hinhalten.«
»Was? Was erzählst du denn da für ein Scheiß? Die alten Leute halten mir doch auch ihre Ärsche hin«, meinte der Keyboarder und lachte blöd über seinen dämlichen Witz.
»Spaßvogel, aber mal im Ernst. Wenn der Russe einmarschiert, dann bist du garantiert über jeden Soldaten froh, der deine Freiheit verteidigt«, rief der Schlagzeuger.
»Meine Freiheit? Das ich nicht lache. Scheißstaat hier, echt. Ich bin froh, wenn der Russe kommt und hier voll Kommunismus einkehrt.«
»Du weißt doch gar nicht, was das ist«, stellte Betty fest.
»Spinnst du? Das weiß doch jeder. Alles gehört allen, das ist doch super. So muss das sein. Dann geht es allen besser.«
Ich verfolgte die Unterhaltung etwas ratlos, meine Gedanken schweiften ab. Auch der Typ von gestern guckte etwas verwirrt in die Runde. Bei ihm war es aber wahrscheinlich auch ein bisschen Schwipps.
»Was meinst du denn?«, fragte ich ihn.
»Ich? Zu was?«
»Bund. Gehst du hin?«
»Bin doch nicht bescheuert. Ich habe gelesen, die Zeugen Jehovas müssen nicht zum Bund. Ich trete da ein, und wenn ich 32 bin und nicht mehr eingezogen werden kann, trete ich da wieder aus. Ist doch total einfach. Verstehe gar nicht, warum das nicht alle so machen.«
»Weil die Zeugen Jehovas trotzdem so was wie Zivildienst machen müssen«, sagte ich ihm. Ich hatte mal einen Brieffreund, der in Kempten lebte und sich so drücken wollte. »Überdies kann man da nicht so einfach ein- und wieder austreten.«
»Wieso denn das nicht? Ist das nicht das mit diesem L. Ron Hubbard, der auf dem Meer umherreist?«
»Auf dem Meer. Das ist Scientology. Fast, das ist ähnlich. Die Zeugen Jehovas, das ist eine Weltanschauung«, versuchte ich zu erklären, doch schon merkte ich deutliche Wissenslücken, mir fielen nur noch Stichworte ein, die ich schnell abspulte.
»Die feiern kein Weihnachten. Die mögen das einfach nicht, das ist denen zu kommerziell, zu weit ab vom Grundgedanken. Außerdem müssen die Zeitschriften verkaufen und machen selbst eine. ›Der Wachturm‹ heißt die. Bei uns stehen die überall rum in der Stadt und halten die hoch und warten darauf, dass man mit denen redet und betet. Die armen Leute, das ist echt traurig. Und dann wollen die kein Blut spenden. Weiß aber nicht, wieso.«
»Finde ich scheiße«, meinte mein Kumpel, »das ist doch asozial. Kein Blut spenden ist asozial.«
»Hast du schon mal Blut gespendet?«
»Nein«, meinte er und überlegte, »mein Blut ist doch total verseucht. Da ist ständig Alkohol drin und dann rauche ich doch auch. Das ist total krank, das kann ich niemandem zumuten. Das würde auch niemand freiwillig haben wollen.«
Schnell trank er einen Schluck Bier, wie als wenn er seine These damit zusätzlich unterstreichen müsste. Der Typ mit dem Igelhaarschnitt nickte kaum merklich und guckte sich im Raum um.
»Dann hört doch auf mit Rauchen«, sagte ich, »stell dir vor, du hast eine total seltene Blutgruppe und da ist einer, der stirbt, wenn der nicht sofort Blut kriegt. Und der hat genau diese seltene Blutgruppe. Eine, die sonst keiner hat, nur du und er. Was dann? Dann stirbt der, bloß weil du ein paar Zigaretten geraucht hast und nicht spenden kannst. Das ist doch auch asozial, oder etwa nicht?«
Huch, wurde ich etwa moralisch? Hab doch selbst noch nie Blut gespendet. Und diese dämlichen »Wenn nur ein Mensch dadurch am Leben bliebe…«-Phrase finde ich ganz fürchterlich. Dann könnte man alles verbieten. Fußball zum Beispiel. Wie viele Menschen sind schon durch Fußball zu Schaden gekommen, aktiv oder passiv? Oder Autos? Man würde mehr als ein Menschenleben retten, wenn man Autos verbieten würde. Andererseits würde man auch viele verlieren, denn dann würde es auch keine Krankenwagen geben. Es sei denn, die würde man nicht verbieten. Und Polizeiautos sollte man auch nicht verbieten. Wie sollten diese sonst Verbrechern nachjagen? Andererseits hätten die Verbrecher dann ja auch keine Autos zum Flüchten. Aber vielleicht Pferde. Und auch durch Pferde kann man zu Schaden kommen. Hm, das Problem müsste man mal bis zu Ende durchdenken, doch dazu ist grad keine Zeit, denn mein Freund bewegte die Lippen, offenbar wollte er was sagen.
»Du meinst«, fing er an, »ich sollte aufhören, bloß weil es sein könnte, dass ausgerechnet der Typ, der meine Blutgruppe hat, einen Unfall hat und dringend ausgerechnet mein Blut braucht? Das ist doch total unwahrscheinlich, überleg doch mal. Stell dir vor, der hat tatsächlich einen Unfall, nur mal angenommen, also so hypophysisch, meine ich, dieser eine Mensch könnte irgendwo auf der Welt wohnen, ein Afghane zum Beispiel. Stell dir vor, der stolpert in Afghanistan und verliert so viel Blut, dass der dringend anderes Blut braucht, wie bitte schön soll der Typ so schnell an mein Blut rankommen?«
»Das gibt doch eine Blutkartei natürlich«, versuchte ich ihm zu erklären. Klar gibt es die. Aber weltweit? Egal, ich durfte jetzt nicht aufhören, wie stände ich denn sonst da? »Das geht so: Du spendest Blut, dann kommt das in eine Blutkartei, wo drin steht, was für ein Blut du hast. Dann gucken die in Afghanistan in diese Kartei und sehen, dass du das passende Blut hast und fliegen das schnell ein.«
»Und wie soll das gehen?«, triumphierte er nun. »Glaubst du, die schicken die Karteikarten weltweit überall hin? Ha ha!«
»Schon mal was von Computer gehört?«, sagte ich und zog herausfordernd die Augenbrauen in die Höhe. »Du lebst wohl ein bisschen hinter dem Mond, würde ich sagen. Das kann man alles per Computer abfragen.«
Ich trank noch einen Schluck Bier. Vielleicht sollte ich wirklich mal Blut spenden. Aber dann müsste ich auch aufhören mit dem Trinken und dem Rauchen. Gut, das Rauchen wäre nicht so schlimm, das wollte ich eh aufgeben. Morgen, genau genommen.
Ich musste irgendwie mal auf das Klo, das Bier hatte inzwischen den Weg bis fast ganz nach unten gefunden.
»Wie soll das denn gehen?«, fing er wieder da. »Der eine Computer steht hier, der andere in Afghanistan.«
»Echt, du hast keine Ahnung von Computern, wie ich sehe«, trumpfte ich erneut auf. »Das geht so: Du spendest hier in Hamburg Blut, dann tippen die deine Blutgruppe in den Computer ein in eine große Liste und speichern das auf eine Diskette. Also auf viele Disketten, natürlich. Und eine der Disketten schicken die dann zum Beispiel nach Afghanistan. Und wenn da einer Blut braucht, schieben die diese Diskette in ein Diskettenlaufwerk und gucken, ob irgendwo jemand das Blut hat, das die grade brauchen. So läuft das heute.«
»Wie soll das denn gehen?«, fragte er nun und guckte mich fast böse an, kratze sich dann am Hinterkopf. »Die schicken doch nicht nur eine Diskette nach Afghanistan. Das Land ist groß. Wenn in Afghanistan links einer Blut braucht und die Diskette grade rechts im Land ist, telefonieren die dann, oder was? Und stell dir vor, in Afrika braucht einer mein Blut, dann müsste doch auch in Afrika eine Diskette sein, wo das draufsteht. Also in ganz Afrika Dutzende. Die müssten ja Disketten in die ganze Welt schicken. Nach Amerika auch. Das sind ja Aberdutzende von Disketten, Trillionen.«
»Das sind Detailfragen, die dir nur ein Fachmann erklären kann«, meinte ich abwiegelnd. »Ich bin da leider auch kein Spezialist. Aber die machen das mit Computern, so viel ist sicher.«
»Das ist alles total unlogisch. Und unpraktisch. Mal ein Beispiel; Ich nehme mal an, dass der einzige Mensch, der auch meine Blutgruppe hat, tatsächlich in Afghanistan lebt, der fällt blöderweise auf ein Schwert oder einen Speer oder so was und verliert so viel Blut, dass der dringend anderes Blut braucht. Dann gucken die in ihren Computer, wo eine Diskette von Hamburg drinsteckt und sehen, dass ich das Blut habe.«
»Du hast natürlich schon gespendet«, fügte ich hinzu.
»Ja, klar«, sagte er kopfschüttelnd. »Das ist also hier in Hamburg im Kühlschrank. Muss ja sicherlich gekühlt werden, denke ich mal. Dann rufen die hier an und sagen, dass sie mein Blut haben wollen. Auf Afghanisch, nehme ich mal an.«
»Ich denke, die sprechen Englisch.«
»Okay, dann sprechen die Englisch. Auch hier in Hamburg. Ist okay, lernt man ja schon in der Schule. Dann holen die also meine Blutflasche aus dem Kühlschrank und fahren zum Flughafen und warten, bis da ein Flugzeug nach Afghanistan fliegt? Und das fliegt doch total lange, in der Zwischenzeit ist das Blut doch geronnen, oder etwa nicht? Und der Typ tot.«
»Das weiß ich auch nicht«, ich war langsam etwas gelangweilt. So detailliert wollte ich das Ganze gar nicht ausbreiten. »Das wird sicherlich auch während des Fluges gekühlt.«
»Wenn es kalt ist, gerinnt das Blut nicht?«
»Ich glaube nicht.«
»Und wenn einer am Nordpol blutet, dann muss der doch auslaufen, weil das Blut nicht gerinnt«, ereiferte er sich weiter. »Das glaube ich nicht. Und wo packen die das dann da hin im Flugzeug? Steckt eine Stewardess das in den Kühlschrank dort an Bord? Das ist doch eklig. Stell dir vor, die Passagiere sehen das.«
»Ich weiß das auch nicht. Die werden sich da schon was Sinnvolles ausgedacht haben«, meinte ich. Ich war nun wirklich etwas genervt, meine Geduld erschöpfte sich so langsam. So einen Quatsch so lange zu diskutieren, war selbst für mich zu viel.
»Ja, das denke ich auch«, meinte er relativ befriedigt. »Sonst würden die das ja nicht machen, wenn das Blut ständig gerinnt, wenn man es zu den Leuten schickt. Das ist schon ganz klug gemacht alles.«
»Gut, dass wir uns da keine Gedanken drum machen müssen, wie das alles funktioniert«, meinte der punkige Schlagzeuger und wollte das Thema offenbar endgültig abschließen. Danke.
»Mir ist das eh egal«, meinte Betty dazu.
»Also, spendest du was?«, fragte ich den Schlagzeuger. Ach Mist, ich wollte doch den Mund halten.
»Blut? Nee, wie denn? Ich rauche doch!«
»Aber da kriegt man doch Geld für, für das Spenden«, sagte der Schlagzeuger.
»Echt?«, nun horchte mein Freund auf.
»Und ich glaube nicht, dass das Rauchen so viel ausmacht. Ich glaube, die nehmen das trotzdem«, warf der Igelhaarschnitt ein.
»Und wie viel Geld kriegt man da?«, forschte mein Freund weiter nach..
»Ich weiß das nicht.«
»Und die Zeugen Jehovas spenden trotzdem kein Blut, obwohl das Geld gibt?«, ereiferte er sich weiter. »Die sind doch so hinter Geld hinterher, dachte ich. Müssen die nicht immer ihr Gehalt diesem Jehova überweisen? Dem Sektenführer?«
»Keine Ahnung. Ich weiß das echt nicht«, meinte ich, »ich will mit denen auch nichts zu tun haben, dazu ist mir mein Geld echt zu schade. Vor allem müssen die sich immer zuwinken und nett auf der Straße grüßen, wusstest du das schon?«
»Was meinst du jetzt damit?«
»Das ist doch total irre«, oh weh, muss das sein? »Wenn ein Zeuge Jehova einen anderen Zeugen Jehova sieht, müssen die sich zuwinken. Ob die sich kennen oder nicht, das ist absolut egal. Die müssen sich freundlich grüßen. Das ist doch total krank.«
»Das ist total bekloppt. In was für einer Zeit leben wir bloß?«, nun schüttelte mein Freund seinen Kopf, wir waren einer Meinung, hurra!
Im Hintergrund lief »Love Song« von den Damned. Wir saßen alle da und dachten nach. Hin und wieder schüttelte einer von uns gedankenverloren mit dem Kopf. Was für eine anstrengende Diskussion, viel zu viel gequatscht, das sollte für die nächsten Tage reichen.
Ich hatte irgendwie schon einen im Tee und guckte auf die Uhr. Vier Zeiger? Und dazu zwei Sekundenzeiger? Seltsam. Ich muss mir wohl doch mal eine Digitaluhr zulegen, die sind bloß so teuer. Meine innere Uhr sagte mir aber, dass der Sonntag bereits sehr deutlich angebrochen war und so meinte ich: »Es ist echt schon spät, ich gehe nach Hause. Sehen wir uns wieder?«
Ich blickte in die Runde, doch alle hoben fast innerhalb der gleichen Sekunde die Augenbrauen und dann meinte der Keyboarder: »Klar.«
Ich guckte zu meinem Kumpel von gestern: »Und wir sehen uns morgen sicherlich in der Schule, oder? Also Montag. Ist ja morgen.«
»Denke schon«, sagte er müde. »Aber nur, wenn ich hingehe. Bin noch nicht ganz sicher.«
»Du musst mir doch diese Band zeigen, die vielleicht einen Keyboarder haben will.«
»Okay okay, schauen wir mal. Wenn ich morgen fit bin, komme ich. Dann sehen wir uns in der Pause. Oder wir haben eventuell sogar einen Kurs zusammen, ich weiß das nicht.«
Ich erhob mich, nickte in die Runde und die anderen nickten zurück. In Berlin klopften wir immer auf den Tisch, wenn wir kamen oder gingen, aber ich wusste nicht, ob diese Tradition auch in Hamburg verständlich war. Ich wollte niemanden verwirren. Vielleicht sollte ich doch lieber in Zukunft »Knorke« sagen? Ich nickte noch einmal, ging an den Tresen und bezahlte fast 30 DM für all die Biere, die ich in der Zwischenzeit getrunken hatte. Ich war mir nicht sicher, ob der Typ hinter der Theke sich nicht verrechnet hatte, aber ich war auch zu müde, das nachzuprüfen. Schnellen Schrittes ging ich nach Hause, es nieselte immer noch etwas, aber es machte nichts aus. Die frische Luft tat ganz gut, insbesondere, da ich heute mal wieder viel zu viel geraucht hatte und ich etwas kurzatmig wurde. Vorsichtshalber steckte ich mir deshalb auf dem Rückweg noch eine an, nahm mir aber vor, am nächsten Tag tatsächlich mal aufzuhören. Rauchen macht Krebs und vor allem werden die Zähne davon gelb. Das ist doch bekloppt.
Da fiel mir ein, dass ich immer noch nicht wusste, wie mein Kumpel überhaupt hieß. Eigentlich kannte ich nur den Namen der Sängerin. Der war Betty und sie war eine echte Traumfrau. Nicht so eine Klette wie Berit, die mir ständig sagte, wie lieb sie mich hätte. Das ist doch echt furchtbar. Betty hatte einen eigenen Kopf, was allerdings auch anstrengend ist. Irgendwie war sie undurchsichtig, ließ niemanden so richtig an sich ran. Zumindest mich nicht, was ärgerlich war.
Den Sonntag hing ich bis gegen 16 Uhr faul auf meiner immer noch nicht aufgeblasenen Luftmatratze herum und las ein Buch von Franz Kafka. »Das Schloss«. Als mir alles wehtat, räumte ich mein Bett leer, denn da standen all meine Umzugskartons drauf, und legte mich darauf. Meine Eltern waren fast den ganzen Tag nicht da. Sie hatten schon am Samstag in einer übermenschlichen Aktion alle Kartons ausgeräumt und erkundeten heute Hamburg. Auch mein Vater musste morgen schon bei seiner neuen Arbeit antanzen. Ich wusste gar nicht, was das eigentlich genau war. Zwischendurch ging ich kurz raus und holte mir ein paar Flaschen Bier. Das »Holsten« hatte es mir angetan, ich trank ein bisschen zu viel davon.