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Die Insel

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Die Küste des Landes, dessen Namen er nicht kennt, erstreckt sich kilometerweit unterhalb eines azurblauen Firmaments. Der Sand an dieser Küste ist ungewöhnlich. In dem gleißenden Licht der Sonne sieht man deutlich, dass der Sand an diesem außergewöhnlichen Ort hell reflektiert. Er wirkt steril und kalt wie Schnee. Das Meerwasser, das von leichten Wellen auf die kleinen Steine getragen wird, ist von unglaublicher Klarheit.

Grell leuchtendes Sonnenlicht direkt über dem Strand, weißer Boden unter den Füßen und ein klares Meer vor Augen. Dieser paradiesische Anblick brennt sich wohlwollend in das Gedächtnis des Mannes, der die Insel gerade erreicht hat.

Die Geräusche aufschäumender Wellen und vorbei flatternder Möwen liegt ihm wohlwollend im Ohr und der Geruch von Salzwasser kribbelt angenehm in seiner Nase. Er dreht sich um. Hinter ihm verliert sich der weiße Sandboden in einem gesättigten Waldidyll, das ein surrealer Mix aus exotischen Laubbäumen und Palmen ist. Sie zeichnen ein Bild der Natur, es der Mann noch an keinem anderen Ort gesehen hat. Da stutzt er. Er muss sich unwillkürlich fragen: ist dieser Ort real?

Noch ehe er die leere Whisky-Flasche in seiner Hand fallen lassen kann, um genüsslich die Hände in die Luft zu strecken und den leisen Wind auf seiner Haut zu spüren, wird er sich dieser Frage bewusst.

Ist er nicht eben noch ganz woanders gewesen?

Bei diesen Gedanken zerbröckelt das Paradies vor seinen Augen. Die Realität beginnt, ihn von Minute zu Minute mehr und mehr einzuholen. Minuten, in denen er nur dasteht, sich nicht rühren kann und die Möwen über ihm vorüber ziehen. Minuten in denen der blaue Himmel einem Spiegel gleich in tausende von Scherben zersplittert, die über seinem Kopf zusammen krachen. Die Erinnerungen kommen zurück.

Der Mann taumelte betrunken durch die nächtlichen Straßen der Stadt. Die Neonbeleuchtung eines Pubs im Nacken und die noch halb gefüllte Whisky-Flasche in Händen, war er auf der Suche nach einem Ausweg.

Die bunten Farben der Beleuchtungsschilder streiften ihn, während er sich mühselig und scheinbar orientierungslos seinen Weg über die Straßenkreuzungen bahnte, vorbei an Schaufenstern geschlossener Boutiquen, einer Tankstelle und menschenleeren Gassen.

Überströmt von den Tropfen eines überraschenden Platzregens, kämpfte er sich weiter durch eine Stadt ohne Gesichter. Die Menschen, die ihm entgegen kamen, suchten Zuflucht vor den kleinen Wasserdompteuren, versteckten sich unter ihren langen Regenschirmen und zogen beim Vorbeigehen ihre monoton wirkenden Mäntel zu.

Jeder gleich. Einer wie der Andere.

Die Straßen wurden vom Regen geflutet, die Gullys verspeisten das Wasser wie ausgehungerte Wölfe und führten es gierig in die Unterwelt. Sogar die Ratten zogen sich hastig in ihre Löcher zurück, um nicht von den Massen erwischt zu werden. Hier, in dieser Stadt, blieb alles in Bewegung, das Neonlicht, die Scheinwerfer, diese gesichtslosen Gestalten, die man Menschen nannte und der nie enden wollende Regen.

Sein langer Trenchcoat war abgetragen und hing schlaff an seinem abgemagerten Körper herab. Er schaffte es irgendwie in den Untergrund zu einer U-Bahn Station. Die billigen Sparlampen, die mit großer Mühe die beigefarbenen Wände beleuchteten, flackerten vage. Am Gleis befanden sich nur wenige Menschen: ein paar Jugendliche, Partygänger und moderne Vagabunden. Der Mann kam sich vor wie einer von ihnen. Mit ihnen zusammen wartete er, bis keine zwei Minuten später eine Bahn einfuhr. Nachdem das Crescendo quietschender Bremsen nachgelassen hatte, stieg er in einen fast leeren Wagon ein.

Wohin er wollte, wusste er nicht. Nur weg.

So saß der Mann also geduldig wartend in der Bahn, die einem Maulwurf gleich unter der Erde entlang rauschte. Der Stoff der Sitze war abgetragen und roch nach allen möglichen Dingen, darunter Schweiß fremder Menschen und Alkohol. Der Mann war bereits eine halbe Stunde gefahren als… er blinzelte.

Und nun? Wo bin ich nun?

Vor ihm liegt ein sommerlicher Ort, mitten im Bermudadreieck einer undefinierbaren Welt. Alles an diesem seltsamen Ort verflüchtigt sich, versucht man es zu erfassen. Die im Wind wehenden Äste und Blätter wirken wie aus einem Malkasten dahingetupft und die Schönheit des Strandes ist nicht von dieser Welt.

Nichts scheint real. Kein Geräusch, kein Geruch und nichts von dem, was er sieht. War er schon tot? Zugrunde gegangen am Alkohol?

Er atmet tief ein. Als sein Verstand wieder zum Vorschein kommt, greift er in seine wie durch Zauberhand getrocknete Manteltasche- und erstarrt. Sein Portemonnaie ist nicht mehr da!

Vielleicht ist es ihm unbemerkt heraus gefallen oder jemand hat es ihm an der U-Bahn Station geklaut. Jedenfalls ist er ohne Geld oder Identität an einem Ort gelandet, den er nicht kennt.

Er beginnt unangenehm zu schwitzen. Wo soll ich hin? Was soll ich tun?

Als wolle es seine Frage beantworten, vernimmt er ein ungewöhnliches Geräusch. Es ist ein leises Klappern. Er dreht sich in die Richtung, aus der das Geräusch kommt und sieht an der Grenze zwischen Wald und Strand einen weißen Koloss. Erst traut er seinen verblendeten Augen nicht, denn als seine Sicht klarer wird, stellt er fest, dass dieser vermeintliche Koloss in Wirklichkeit ein riesiges Haus ist. Eine weitläufige Terrasse, bestellt mit weißen Tischen und Stühlen, lädt ihn ein dort zu verweilen.

Mit dem Näherkommen stellt der Mann fest, dass dieses Anwesen komplett aus geweißeltem Bauholz besteht. Die einzige Ausnahme bilden zwei weiße Säulen, die an den Ecken der Terrasse aufgestellt sind aus gut gepflegtem Gips bestehen.

Ansonsten ist das Gebäude, ebenso wie das Inventar recht einfach gehalten. Die offenstehende Haustür und die geöffneten Fenster gewähren ihm einen Einblick in ein großes Wohnzimmer, in dem einige Kommoden, ein Sofa und andere Dinge stehen.

Der Mann denkt zunächst, dass es sich um ein Ferienhaus von reichen Leuten handelt. Ja genau, mit großer Wahrscheinlichkeit wartet hinter diesem einen Haus noch ein weiteres! Und dahinter wieder eines. Als wäre all das hier nur ein Feriendorf für Leute, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Das muss es sein!

Doch woher kommt nun das Klappern? Anscheinend kommt es nicht aus dem Inneren des Gebäudes. Nach eingehendem Lauschen, beschließt der Mann, dass es von nebenan kommt. Er verlässt die Terrasse und lugt um die Säule. Dort ist eine Öffnung in das Haus eingelassen, vor der etwas Großes aufgestellt ist.

Was die Sonne dort bestrahlt, ist die in Mitleidenschaft gezogene Karosserie eines alten Zweimann-Flugzeuges. Eine giftgrüne Farbe ziert das unfertige Stück Metall. Die Flügel dieses gefallenen Vogels hängen wie ausgelaugte Palmenblätter schräg an den Seiten herunter. Auf und um das Flugzeug liegen Werkzeuge wild verstreut.

Die Maschine erinnert an die ersten Eindecker-Flugzeuge aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Es sieht genauso aus, wie das Flugzeug, welches er vor langer Zeit auf einem Foto seines Großvaters gesehen hat.

Nach einem weiteren Klappergeräusch erklingt eine sich beschwerende und schnaufende Stimme.

„Huff!“, macht sie,

„Der Motor fordert mehr Feingefühl als ich zu träumen gedacht habe.“

Ein junger Mann kommt hinter dem Flieger hervor. Seine Augen kleben an der Maschine. Als wolle er sie inspizieren, läuft er darum herum. Dann bleibt er stehen. Er scheint die Anwesenheit des Mannes zu spüren und sieht ihn mit einem zurückhaltenden Lächeln an. Der Besuch überrascht ihn offenbar nicht.

Der Mann hingegen ist sehr überrascht. Denn sein Gegenüber ist blass. So blass, dass der Mann sich kurz fragt, wie es ihm überhaupt möglich ist, hier draußen zu arbeiten ohne gleich mit einem Sonnenbrand weinend in dieses riesige Haus zurück zu rennen. Die Arme und Beine des jungen Mannes schauen aus einem hellgrünen Overall heraus, wie die Beine eines Käfers aus einem Panzer, dünn und geschmeidig. Aus den vielen Taschen des Overalls schauen eine Tube Öl, kleine Kabel und Schraubenzieher heraus. Er trägt weiße Arzthandschuhe, die von Öl und Dreck fast vollständig verfärbt sind. Auf seinem Kopf thront ein übergroßer, gelber Bauarbeiterhelm.

Der Junge nimmt den Helm ab, verbeugt sich und stellt sich vor:

„Limbu ist mein Name.“

Alles in allem wirkt er schmächtig und schwach.

Da ergreift der Mann seine Chance auf eine Erklärung und fragt:

„Bin ich tot? Ist das die Vorhölle?“

„Aber nein.“, antwortet der Junge, der sich den Helm nun wieder aufsetzt.

„Dann ist das hier ein Ferienort? Aber es ist … anders.“

„Ja, das ist tatsächlich ein Ferienort“, bestätigt Limbu und widmet sich wieder dem Flugzeug.

„Es ist ein besonderer Ort und es ist in der Tat etwas 'anders'. Was glaubst du, macht ihn 'anders'?“

Ohne groß nachzudenken, sagt der Mann einfach, was ihm spontan einfällt:

„Ich sehe hier kaum eine Menschenseele. Keine Looky-Looky-Männer, die am Strand Sachen verkaufen, keine Souvenirläden, kein…“

„Schon gut“, wird er unterbrochen. „Das meinte ich nicht.“

„Was dann?“

Doch die Antwort kommt nicht. Limbu sagt nichts mehr, beantwortet keine Fragen mehr. Irgendwann beschließt der Mann, nicht weiter auf Limbu einzugehen. Stattdessen sieht er sich weiter um.

Die Sonne nähert sich inzwischen dem Horizont und ein schwach leuchtender Halbmond geht in entgegengesetzter Richtung auf. Einen großen Sonnenuntergang gibt es nicht. Die Sonne verschwindet hinter der Wand aus Bäumen und wird vom Mond abgelöst, während sich der Farbton des Himmels ein wenig verschiebt.

„Warum bin ich hier?“

Es ist bereits der dritte Tag. Genächtigt hat der Mann in dem großen Anwesen und gegessen und getrunken hat er, was er in diesem Anwesen fand. Es war ein seltsames Gefühl, in diesem Haus zu schlafen. Neben dem Bett liegt eine Schüssel mit Früchten, von denen er sich stets welche nimmt. Aber jedes Mal wenn er aufwacht, ist die Schüssel wieder voll und wirkt, als hätte man sie nie angerührt. Der Mann nimmt an, dass Limbu sie auffüllt, wenn er schläft, doch die Genauigkeit, mit der die Schüssel jeden Tag in ihren Ursprungszustand zurückversetzt wurde, ist dem Mann unheimlich.

Tagsüber beobachtet er Limbu, wie er an seinem Flugzeug schraubt. Er zählt die Mondaufgänge nur beiläufig, die Zeit fließt durch ihn hindurch, als wäre er das Nichts. Doch als er beschließt, dass genug Zeit vergangen ist, nimmt er sich vor, die Küste entlang zu gehen. Dass Limbu der einzige Mensch in dieser Gegend ist, kann er nur schwer glauben. Also läuft er los. Es dauert etwa drei Stunden, bis er wieder an dem weißen Haus ankommt. Jetzt ist er verwirrt.

Ist er etwa auf einer Insel? Doch er hat nicht das Gefühl gehabt, als sei er im Kreis gelaufen. Sicher, die Küste hat ab und zu runde Konturen angenommen, aber sie ist bestimmt nicht gänzlich rund.

Nach einer Weile fruchtlosen Grübelns setzt er sich wieder auf die Terrasse und studiert die sanften Bewegungen, mit denen Limbu an dem Flugzeug werkelt und wie seine verpackten kleinen Hände mit dem Pinsel über die Karosserie streichen. Seit zwei Tagen hat der Junge kein Wort gesagt.

„Du solltest weniger Streichen und dich besser um die Manifestierung der Flügel kümmern! Wenn sie weiter so hängen, verkrümmen sie. Dann fliegt das Flugzeug nicht“, meint der Mann beiläufig, während er an einem Glas Wasser nippt. Limbu erwidert ruhig und ohne ihn anzusehen:

„Der Motor ist bereits repariert. Ich bin also fertig mit meiner Arbeit. Streichen tue ich nur, weil es mir Freude bereitet.“

Da sieht ihn der Mann verwundert an.

„Nein, das stimmt nicht“, widerspricht er.

„Deine Arbeit ist nicht fertig. Dieses Flugzeug wird nie fliegen, wenn du die Flügel nicht reparierst.“

Er streicht sich übers Kinn, an dem sich ein starker Bartwuchs bemerkbar macht. An diesem reinen Ort verspürt er mehr denn je das Bedürfnis, sich zu rasieren.

„Stimmt. Aber das kann ich nicht. Mein Auftrag war es, alles bis auf die Flügel wieder herzustellen. Also ist meine Auftrag nun beendet.“

„Dein Auftrag?“, wiederholt der Mann ein wenig irritiert.

„Und jetzt? Was für einen Sinn hat dieser Auftrag, wenn das Flugzeug letzten Endes doch nicht fliegt?“

„Ob es fliegt oder nicht, ist dir überlassen. Dieses Flugzeug wurde gemacht, um dich zurück nach Hause zu bringen. Deshalb ist es deine Aufgabe, die Flügel zu restaurieren. Oder dachtest du, du wärst nur zur Erholung hier?“

Nun wird der Mann hellhörig. Sein Dasein an diesem Ort hat also einen Sinn? Es ist kein Zufall, dass er dort ist?

„Ich bin hier, um sie zu reparieren? Das hast du mir nicht gesagt. Warum ich?“

Limbu stellt den Pinsel zurück in den kleinen Farbeimer zu seinen Füßen. Zum ersten Mal seit drei Tagen zieht er die weißen Arzthandschuhe aus und nimmt den Bauarbeiterhelm ab.

„Erkennst du es nicht? Dieses Flugmonster vor deinen Augen, erkennst du es nicht?“

Der Mann überlegt angestrengt und sieht das „Flugmonster“ dabei eindringlich an. Natürlich hat es Ähnlichkeit mit dem Flieger seines Großvaters, aber das kann er unmöglich sagen. Es bleibt bei einem Kopfschütteln.

„Nein, ich habe es noch nie gesehen.“

Limbu wirkt enttäuscht darüber.

„Es war der Flieger deines Vorfahren“, bestätigt er den ursprünglichen Gedanken des Mannes und sieht wie sich dessen Augen weiten.

„Es gab eine Zeit, in der die Menschen vom Fliegen geträumt haben.“, erklärt Limbu.

„Sie bauten und tüftelten, um ihre Träume wahr werden zu lassen, bis es ihnen tatsächlich gelang, Maschinen zu bauen, mit denen sie in die Lüfte abheben konnten. Dein Großvater war einer dieser Träumer. Er hat all sein Geld dafür gespart und sich diese Maschine gekauft. Er ist damit durch das Land geflogen und hat Kunststücke mit ihr vorgeführt. Doch dann gab es einen großen Krieg. Die Maschinen änderten sich und wurden flinker und schneller. In diesem Krieg ging es einzig und allein darum, Menschen zu töten und die Vorherrschaft über Gebiete zu sichern. Der “Erste Weltkrieg”- so nannten sie ihn.“

Der Mann hört schweigend zu, weiß aber bereits, was Limbu als nächstes sagen wird.

„Dein Großvater starb in diesem Krieg als Späher für die Luftwaffe. Nicht lange danach, brach ein weiterer, großer Krieg aus. Ihm folgten wieder viele. Auch dem ersten gingen unzählige Blutbäder voraus. Doch dieser Erste Weltkrieg blieb mir besser in Erinnerung als alle anderen. Denn es war der erste große Krieg nach der Industriellen Revolution. Die Waffen wurden verheerender, aber das Wissen, wie man sie einsetzen sollte, war noch nicht da. Ohne Sinn und Verstand warfen sie Giftbomben in die Schützengräben. Es wurde vorgerückt, zurück gerückt, Stellung gehalten, es ging hin und her und kreuz und quer, vor und zurück. So ging es eine gefühlte Ewigkeit weiter. Viele Freunde deines Großvaters starben in diesen Gräben. Das Gift in der Luft verpestete alles und die Hygienestandards steckten damals noch in den Kinderschuhen. Die Natur, die Menschen, alle mussten leiden. Eine sehr enttäuschende Entwicklung der Dinge...“

Nachdem der Mann fasziniert Limbus Worten gelauscht hat, fragt er ihn, ob Limbu tatsächlich dabei gewesen ist.

„Hast du sie wirklich gesehen? Die beiden Weltkriege?“

Limbu nickt.

„Ich war überall, wo deine Vorfahren waren und ich bin überall, wo du bist. Das ist meine Berufung.“

Der Schutzengel meines Großvaters, der dabei versagte ihn bei einem Botenflug zu beschützen, war dazu degradiert worden, den Todesflieger von damals wiederzubeleben, um seine Fehler bereinigen.

„Als Beschützer deines Großvaters habe ich leider versagt. Er hätte diesen Krieg eigentlich überleben sollen, doch durch meine Unachtsamkeit habe ich großen Schaden an eurer gesamten Linie angerichtet. Deswegen bin ich hier.“

Der Mann fragt:

„Was passiert, wenn der Flieger fertig ist? Muss ich dann gehen?“

„Nein.“, antwortet Limbu plump. Er betrachtet die trocknende Farbe. So angenehm warm wie es ist und mit diesem ruhigen Wind und der weiß strahlenden Sonne über dem Himmel würde die Farbe nicht lange brauchen.

„Du musst so lange bleiben, bis das Flugzeug wieder fliegen kann. Wenn du das schaffst, darfst du gehen.“

„Ich darf. Das heißt, ich muss also nicht, wenn ich nicht will. Ehrlich gesagt, gefällt es mir hier.. Ich könnte mir durchaus vorstellen, hier zu bleiben.“

Da schüttelt Limbu den Kopf.

„Dieser Ort ist eine Möbiusschleife. Alles hier ist unendlich. Die Zeit ist da keine Ausnahme. Du hast für deine Aufgabe eine Ewigkeit zur Verfügung. Aber bedenke: in dieser Welt steht alles still, also wird nie etwas ein Ende nehmen, wenn du es nicht willst. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass du früher oder später gehen willst, denn niemand erträgt die Ewigkeit lange. Schon gar nicht alleine.“

„Aber du bist doch da.“, korrigiert der Mann.

„Ich bin nur so lange da, wie ich Funktionalität besitze. Meine Funktionalität besteht darin, anderen Anweisungen zu geben, um ihr Glück zu finden und heimlich darüber zu wachen. Aber an diesem Ort ist das unmöglich. Denn hier gibt es nichts.“

„Meinst du mein Glück?“

„Bist du glücklich?“, fragt Limbu.

Der Mann zögert, was der blasse Junge mit einem kaum merklichen Seufzen zur Kenntnis nimmt.

„Genau das ist der Grund, warum wir hier sind.“

Mit seinen großen, grünen Augen starrt Limbu den Mann arglos an. Sein Blick ist leer, was ihn sehr traurig anmuten lässt.

„Wenn du dich dafür entscheidest, hier in der Ewigkeit zu bleiben, in der sich nichts verändert, sich nichts verschlechtert aber auch nichts verbessert, so verschwinde ich. Dann kann ich nichts mehr für dich tun.“

Der Mann versucht, den Worten des Jungen zu folgen, doch die Bedeutung der Worte ist wie ein durchsichtiges Tuch, das er kaum zu fassen bekommt.

„Und wenn ich hier irgendwann aufwache und feststelle, dass ich unglücklich bin, kommst du dann zurück? Und wo gehst du überhaupt hin? Wie erreiche ich dich dann?“

„Ich gehe zurück zum Ursprung, ins Nichts. Ein Schutzpatron ohne eine zu schützende Person ist nutzlos. Wenn ich einmal im Nichts bin, kann ich nicht mehr zurück. Dann gibt es mich nicht mehr.“

Allmählich beginnt der Mann über seine und Limbus Lage zu sinnieren. Und er verflucht es. Er will nicht zurück in die Stadt. Er will dieses ruhige Idyll nicht verlassen. Gerade als er Limbu fragen will, was er tun soll, bemerkt er, dass Limbu verschwunden ist.

Zum ersten Mal seit drei Tagen zieht sich Limbu in das Haus am Strand zurück und überlässt ihm das Feld. Ein wenig ratlos sitzt der Mann alleine unter der brennenden Sonne und betrachtet das Flugmonster des großen Krieges.

Reparieren? Oder nicht Reparieren?

Diese Frage beschäftigt ihn lange. Nach etwa sieben Stunden fängt er an. Er arbeitet hart, spannt erbärmlich und hilflos die Halterungsseile für die Flügel, schweißt unerbittlich und trotzdem merkbar wie ein Laie. Er hört nicht auf. Der Mond kommt und er verschwindet. Dann kommt er wieder und verschwindet erneut. Von dem kleinen Limbu gibt es keine Spur. Er hat sich seit Tagen nicht blicken lassen. Wenn der Mann Essen holt, hält er im Haus nach Limbu Ausschau- ohne Erfolg. Ob er überhaupt noch da ist?

Das Einzige, was dafür spricht ist die sich stets füllende Schüssel voller Früchte. Doch ob das wirklich sein Werk ist?

Am sechsten Tag klatscht der Mann munter in die Hände. Er ist etwas erschöpft, doch Euphorie belebt seinen Körper. Es ist geschafft! Und er ruft. Er ruft so laut er nur kann nach Limbu, in der Hoffnung, er würde schnell herbeieilen und das Flugmonster betrachten. Doch es sind wieder nur die gewöhnlichen Geräusche von Meer und Möwen wahrzunehmen.

Da ist er sich plötzlich sicher: er ist verlassen. Doch das macht nichts.

Denn jetzt wird er wieder nach Hause gehen, zurück in die Realität, von der er sich so oft gewünscht hat, sie vergessen zu können.

Beim Durchsuchen des Hauses, findet der Mann Limbus Bauarbeiterhelm. Er nimmt ihn und setzt ihn einem Glücksbringer gleich auf. Außerdem nimmt er sich eine Schutzbrille, die auf der Terrasse liegt. Danach schnappt er sich seinen Mantel, holt draußen noch einmal tief Luft, als wolle er sie komplett in sich aufsaugen und tankt eine Nase voll Meeresduft. Das alles will er auf keinen Fall vergessen. Er will eine Brise davon mit sich nehmen.

Endlich ist es soweit und er sitzt im Cockpit. Unsicher schnallt er sich den Gurt um, versucht erfolglos, es sich im Cockpit bequem zu machen und studiert das Armaturenbrett. Er muss feststellen, dass er keine Ahnung davon hat, was er tut, als er beginnt auf einige Knöpfe zu drücken. Im Fernsehen hat er so etwas schon einmal gesehen, aber das hier ist es etwas komplett anderes. Er sitzt in einem echten Flugzeug, das zuletzt vor hundert Jahren geflogen ist. Ein weiteres Problem ist die Startbahn. Sie besteht aus der endlos weißen Küste- kein guter Grund, um mit einem Flugzeug abzuheben.

Das uralte Getriebe des Flugzeuges startet grölend und erst beim dritten Versuch. Limbu hat gute Arbeit geleistet. Doch er weiß, das Schlimmste ist noch nicht geschafft.

Es muss etwa ein Jahr her sein, als er eine Reportage über alte Flugzeuge gesehen hat (offenbar weil nichts anderes im Fernsehen lief) und er erinnert sich schwach daran, dass der Moderator dieser Reportage über diese alten Flugzeuge erzählt hat, sie hätten eine Verwindungssteuerung, die das Flugzeug sehr empfindlich für jede Steuerbewegung macht. Ein Vorteil für den geübten Piloten, aber ein Nachteil für jene, die es nicht sind.

Die rund siebeneinhalb Meter Spannweite umfassende Maschine rollt erst langsam, dann schneller den Strand entlang. Sand wirbelt auf, doch der Boden bleibt überraschend standhaft. Bei ausreichender Geschwindigkeit legt der Mann stückweise den Knüppel zurück. Sein Blickfeld flackert währenddessen wie ein alter Film, der zu lange im Keller geruht hat. Der Rückstoß der Beschleunigung lässt ihn langsam in seinen Sitz zurückfallen. Die Räder rollen und rollen, als würde es kein Ende geben und der Mann bemerkt nicht einmal, wie sie sich nach einer Weile langsam vom Boden lösen. Erst als die Maschine etwas stabiler wird, beginnt er sein Blickfeld richtig wahrzunehmen.

Außerhalb des Flugzeuges ist alles blau. Er ist sich erst nicht sicher, ob er es versuchen soll, doch dann dreht der Mann ab. Er bewegt den Steuerknüppel.

Was er in der Schräglage sehen des Flugzeugs kann, ist der weiße Sand, der sich nun an die fünfzig Meter unter ihm befindet.

Es ist großartig. Zu fliegen ist ein unbeschreibliches Gefühl und er beschließt, noch eine Runde über das weiße Haus zu drehen. Erst zieht er in Erwägung, über das Haus hinweg zu fliegen und die Insel zu erkunden, doch er ruft sich schnell zur Besinnung. Er muss weg.

Also dreht er die Maschine wieder um 180° und hält auf einen unbekannten Horizont zu. Womöglich ist es Selbstmord ohne genügend Sprit für einen Rückflug einfach auf das Meer zu zuhalten, doch was hat er zu verlieren? Das laute Motorengeräusch erfüllt den gesamten Raum.

Nur kurz sieht der Mann aus den Augenwinkeln das sich verflüchtigende Festland hinter ihm. Wird er es vermissen? Wahrscheinlich.

Doch im Austausch dafür bekommt er etwas zurück. Das Flugzeug ist ein Zweisitzer. Demnach wundert es ihn nicht sonderlich, als wie aus dem Nichts ein blasshäutiger junger Mann hinter ihm erscheint. Es geschieht im gleichen Atemzug, mit dem das Paradies hinter ihm schlagartig verschwindet. Limbu lächelt.

„Es scheint dir gut zu gehen.“

„Jetzt, wo mein Schutzengel wieder da ist, ja. Jetzt ist es deine Aufgabe, mich zu beschützen, nicht wahr?“

Limbu nickt.

„Aber vergiss nicht: ich bin nur jemand, der dich auf dem rechten Weg unterstützt. Du alleine musst den rechten Weg wählen. Das ist unsere letzte Chance.“

Langsam öffnet der Mann seine schweren Augen. Was er allmählich erkennen kann, sind unklare Umrisse von fehlbaren Gestalten. Mit seinem nach Alkohol riechenden Trenchcoat liegt er an einer beigefarbenen Säule, irgendwo im Untergrund einer Stadt, die er nur zu gut kennt. Gerade ist eine U-Bahn eingefahren, die jetzt ihre Türen schließt. Benommen fasst sich der Mann an die Stirn. Hat er geträumt?

Da bemerkt er etwas. Auf seinem Kopf befindet sich etwas Schweres. Zumindest kommt es ihm schwer vor, da er nicht zuordnen kann, was es ist. Als er es abnimmt und betrachtet, wird ihm plötzlich anders. Es ist ein gelber Bauarbeiterhelm.

Auf der Innenseite des Helms ist ein Stoffschild angebracht, auf dem der Name seines Vaters steht. Er fragt sich, ob es sich dabei tatsächlich um den Helm seines Vaters handelt. Doch das ist merkwürdig, denn der Helm war seit dem Tag verschwunden, an dem sein Vater von einem Stahlträger erschlagen wurde. Seine Mutter ist bereits gestorben, als er noch ein Kind war, sein Onkel, der ewig ledige Arzt, ist bereits vor einem Jahr während eines Autounfalls ums Leben gekommen und alle anderen Verwandten hat er nicht einmal kennenlernen können, so früh sind sie verschieden.

Das also meinte Limbu, als er sagte, dass es auch für ihn die letzte Chance bin.

Die U-Bahn verlässt die Station unter einer Geräuschkulisse, wie man sie im Paradies nie hören konnte. Der Mann richtet sich langsam auf und setzt sich den Helm wieder auf den Kopf. Er verlässt den Untergrund und schaut sich den dunklen Himmel an.

Schritt für Schritt, denkt er.

SCHRITT FÜR SCHRITT VERSUCHE ICH ES NOCH MAL.

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