Читать книгу Allerlei Kurzgeschichten - Hajo Heider - Страница 4
Die Umkehrung des Spiegels
ОглавлениеDiese Geschichte des Grauens wurde 2009 in der Anthologie „Von einigen die auszogen das Gruseln zu lehren“ des PERSIMPLEX-Verlags veröffentlicht..
„Tagebuch des Grauens“ schreibe ich auf den Umschlag. Meine Schrift ist schwach und zittrig. Vor allem die ersten Seiten meines Tagebuchs spiegeln das Grauen. Ich schaue jetzt zwar zurück, aber mein Blick reicht nicht weit genug. Vor allem vermag ich noch nicht nach vorn zu schauen. Manche Sätze muss ich regelrecht entziffern, damit ich sie lesen kann. Verstehen kann ich das Geschriebene nicht mehr. Sein Sinn ist meiner Vernunft entglitten.
Erster Mai.
War es der erste Mai? Da ich erst Tage später, auf Anraten meines Psychiaters, dieses Tagebuch führe, bin ich nicht sicher, ob das Grauen mit dem ersten Mai begonnen hat. Ich bleibe einfach dabei. Wie jeder weiß, ist die Nacht zum ersten Mai die Hexennacht. Welcher Tag könnte sich also besser anbieten.
Jeden Morgen stehe ich vor dem großen Spiegel im Bad. Die Rasur ist nach dem Bad besser. Die Bartstoppeln sind durch Seife und warmes Wasser aufgeweicht, dass die Klinge die Wangen kaum berührt und trotzdem Glätte zurücklässt. Dieses herrliche Gefühl ist die Entschädigung dafür, dass ich früh aufstehen muss.
Dieser Tag könnte jeder Tag sein, doch die zwei Schritte zum beschlagenen Spiegel lassen mich in meiner Einschätzung zögern. Aus der Duschkabine folgen mir Dampfschwaden, die sich sofort des gesamten Raums bemächtigen. Ich muss mich orientieren. Dampf engt den Raum, engt meine Brust, engt meine Sicht. Augen starren durch nebligen Schleier. Dunst hat sich über den Spiegel gelegt. Durch den Dunst schauen diese Augen. Sind es überhaupt Augen, die beiden frostigen Flecke? Ich starre zurück, bis mich Tränen fast blind machen. Es ist ein Augenpaar. Aber nicht meine Augen sind es, die mich betrachten. Kälte fixiert mich. So kalt kann ich nicht schauen. Ich verharre wie gelähmt, von den Augen gefesselt, die um ihren Mittelpunkt pendeln. Bevor ich den Sinn der schwankenden Bewegung begreife, beginnen die Augen eine gemächliche Rotation.
Das Bad ist dunstig. Aromen von Südsee und verderbter Gärung wabern aus der Duschkabine. Es ist das neue Duschmittel, „Tropenfrüchte“, das mich halluzinieren lässt, ist mein erlösender Gedanke. Mit aller Kraft der Logik, die mir zu Gebot steht, suche ich eine Erklärung für meine Wahrnehmung.
Mit Toilettenpapier stelle ich mich dem Grauen. Es ist nicht leicht, den Blick von den Augen hinter dem Dunst, hinter dem Spiegel, wegzureißen. Ein Verhängnis kündendes Auge ist bereits verwischt. Das Papier saugt sich mit Unheil voll, quietscht, schreit, will sich mir verweigern. Auf der rechten Seite starrt mich ein blaues Auge an und links das rotierende. Wieso fixiert mich mein Auge so schrecklich, frage ich mich und starre zurück. Meine Hand hängt erschlafft am Spiegel, sinkt langsam herab. Ich sammle Kraft. Mit dem Papier tupfe ich meine Augen, die vom Starren tränen.
Als ich die Augen wieder öffne, ist mein blaues Auge verschwunden. Das eisige Augenpaar rotiert hinter dem Dunst der Spiegelung.
„Hör auf!“, schreie ich den Spiegel an.
Schritte eilen durch den Gang, nähern sich. Eine Hand pocht gegen die Badtür, stößt sie auf.
„Was ist?“, ruft meine Frau erschreckt.
Sie stürzt ins Bad. Vollkommen erledigt vermag ich kaum auf den Spiegel zu zeigen. Entsetzen schnürt meine Kehle. Meine Frau erkennt das Grauen. Unbeeindruckt von der eisigen Iris beherrscht sie das Grauen. Mit drei Schritten ist sie am Fenster, öffnet es, reißt Blätter von der Rolle und wischt den Spiegel ab. Beherzt raubt sie dem Grauen sein Gesicht.
Wolken entschweben durchs offene Fenster. Kühle Morgenluft drückt herein und vertreibt Dampf und gärenden Dunst. Ich bin erlöst. Ich ziehe meine Frau an mich und küsse sie. Sie betrachtet mich verlegen. Wir sprechen nicht über den Spiegel. Auch ihr fehlen die Worte.
Erleichtert rasiere ich mich. Die Frische meiner Haut lässt mich die Morgenqual vergessen. Mit einem Schwall Rasierwasser festige ich das Wohlgefühl. Beim Frühstück hat das Grauen seine Bedeutung verloren.
Am zweiten Mai entsteige ich kämpferisch der Dusche. Das Grauen kann besiegt werden. Nein, so leicht, wie ich alles darstellen möchte, ist die Angelegenheit nicht. Etwas Ungutes hat sich im Bad eingenistet. Die Augen, die so kalt aus dem Spiegel starrten, wollten mir eine Botschaft bringen. Weshalb wollen mich Augen so unerbittlich durch den diesigen Spiegel durchbohren? Sie wollen mich erkennen, wollen Verbindung aufnehmen. Tatsachen lassen sich nicht durch schwache Wünsche entwerten.
Mein Tritt aus der Dusche besitzt nicht die Leichtigkeit wie vor zwei Tagen. Unsicherheit und die Schwäche meiner Beine sind Folge der verborgenen Botschaft. Ich zweifle, ob ich mich durch Öffnen des Fensters dem Grauen widersetzen kann, ob ich dies überhaupt darf, ohne einen kosmischen Ratschluss zu stören. Mein Blick zum Spiegel hätte mein Entsetzen gespiegelt, aber der Spiegel hängt stumpf. Die rotierenden Augen stieren gräulich. Ich starre zurück. Ich will endlich die Botschaft erfahren. Eisiges Schweigen.
„Was willst du?“, frage ich das Grauen.
Meine Stimme ist fordernd, doch ich bin bereit zu flehen. Dort, wo der grauenvolle Mund sein muss, erkenne ich Bewegung. Schatten wabern unter dem Spiegeldunst. Es sind bewegte Lippen. Nur spricht dieser Mund nicht verständlich. Ich entschlüssle die Botschaft nicht. Die Bewegung ist undeutlich, dass das Rätsel rätselhaft bleibt. Wütend und hilflos schreie ich.
„Was willst du von mir?“
Ich konzentriere mich auf die Lippen. Mit meinen Lippen versuche ich, die weichen Bewegungen nachzuformen. Mir gefriert das Blut in den Adern. Es gibt keinen Zweifel. Die Lippen artikulieren das Wort „Mörder“.
Letztlich gelingt es mir, mich gegen das Grauen aufzubäumen. Ich reiße das Fenster auf, reiße eine Hand voll Blätter von der Rolle und tilge das Grauen. Immer wieder versucht es, sich gegen mich zu erheben. Neue schlierige Stellen entstehen, die ich weg reibe, bevor das Grauen sich festigt. Mit heißem Wasser bleibe ich für diesen Tag Sieger. Ich bade den Spiegel. Wasser tropft ab. Zum Schluss reibe ich ihn streifenfrei blank.
Ich rasiere mich. Der Seifenschaum schmeichelt meiner Haut. Es ist ein Glück, dass ich mein Gesicht nicht sehen muss. Langsam ziehe ich den Rasierapparat über meine Wangen. Ich nenne es gründlich, diese bedächtige Rasur, mit der ich den Anblick meiner eingegrabenen Angst verzögern möchte.
„Wieso nennt mich das Grauen einen Mörder?“, frage ich mein Spiegelbild, das sich hinter Rasierschaum versteckt.
Alles ist unter Kontrolle. Der Morgenblick in den Spiegel ist wie früher. Das Grauen ist verschwunden. Dass dennoch Entsetzten in meiner Seele nistet, ist verständlich. Ich akzeptiere, dass mich der Spiegel mit Misstrauen beobachtet, aber wir kommen wieder miteinander aus. Manchmal versucht er, mich anzulächeln. Nichts ist vom Grauen übrig, wenn ich aus der Dusche steige.
Seit einer Woche dusche ich bei offenem Fenster, sodass die huschenden Schatten das Bad verlassen müssen. Zwar merke ich ihren Unwillen, sich nicht über den Spiegel hängen zu können, aber sie werden mir nicht widerstehen.
Die Frage meines Chefs: „Ist wieder alles in Ordnung?“, zeigt mir, dass auch ihm meine schmerzliche Situation aufgefallen ist.
Meine Frau betrachtet mich kritisch, wenn sie mir eine Tasse Kaffee einschenkt. Zu ihrer Beruhigung demonstriere ich Ausgeglichenheit. Beim morgendlichen Abschiedskuss lächelt sie entspannt. Ich habe es geschafft, das Grauen würgt nicht mehr meine Kehle. Innerlich jubiliere ich.
„Chef, es ist alles in Ordnung. Es könnte nicht besser sein.“
Ich bin der große Sieger und zeige dem Spiegel mein stolzes Lächeln. Er lächelt verhalten zurück, was mir zu denken gibt. Zwar ist meine Empfindung nicht Zweifel, aber immerhin Vorsicht.
Am neunten Mai erwache ich mit starken Kopfschmerzen. Die Nacht war ein nicht endender Traum, - einer von der schrecklichsten Sorte.
„Mörder!“
Immer wieder dieses schreckliche Wort.
„Weshalb nennst du mich Mörder?“
Das Grauen erhält nachts körperliche Gestalt. Gibt es eine hilflosere Situation als den Schlaf? Atmen fällt mir schwer, weil mein Brustkorb vom Druck des Grauens verbogen ist. Im Schlaf muss ich erdulden, kann kein Fenster öffnen, oder mit Klopapier das Grauen entfernen. Schweißnass stehe ich auf, zertrümmert liegen meine Knochen in der körperlichen Hülle. Ich bin ein mit Knochen gefüllter Müllsack. Nächtliches Eis hat meine Gelenke eingefroren.
Meine Frau studiert mein Gesicht, lauscht auf mein Ächzen, mit dem ich mich aus dem Bett quäle. Ihre Hand gießt wohltuende Wärme in meine Schulter. Sie will sprechen und schweigt. Schnell schaut sie weg. Tränen füllen ihre Augen. Tränenbahnen rinnen über ihre Wangen. An diesem Morgen sollte ich mich dem Spiegel nicht zeigen.
Unrasiert will ich nicht zur Arbeit gehen, weil dann meine Hölle jedem ins Auge springt. Ich sollte mich nicht rasieren! Weshalb höre ich nicht auf meine Stimme? Der Traum fällt mich aus dem Spiegel an. Das Bild ist nicht farblos und unbestimmt. Augen des Grauens liegen in schwarzen Höhlen, dunkel, bodenlos tief, dass die Pupillen aus dem Unendlichen stieren. Der Versuch, das Grauen mit Rasierschaum zu entstellen, entstellt nur meine Furcht. Fiebriger Blick durchdringt ein Schneefeld. Unter einer dicken Schicht Neuschnee liegen schwarze Höhlen, aus denen Pupillen … Ich bin erschöpft.
„Weshalb verfolgst du mich?“, frage ich.
Ich erhalte keine Antwort. Vorwurfsvolle Wut starrt mich an. Nichts bewegt sich im Gesicht des Grauens. Mit entsetzlichem Frost starrt es mich an.
Träume wiederholen sich unerbittlich Nacht für Nacht und die Morgen wiederholen sich Morgen für Morgen. Ich suche nach einem Weg, wie ich mir selbst helfen kann. Es gibt nichts - noch nicht. Meine Idee, mich an einen Psychiater zu wenden, kann nicht der richtige Weg sein. Es könnte ein Versuch sein, mehr nicht. Ich bin nicht verrückt. Wer kann meine Seelenlast verstehen, wenn ich selbst mich nicht verstehe?
Während ich in den Gelben Seiten nach einem Schuhmacher suche, lese ich: Dr. Braun, Facharzt für Psychiatrie. Am elften Mai sitze ich in seinem Vorzimmer. Die Sekretärin notiert meine persönlichen Daten. Die Atmosphäre beruhigt. In der Stille dieses Raums könnte sich der deutsche Wald erholen. Ich lächle über diesen albernen Gedanken. Wer sich solche Sprüche ausdenkt, braucht keinen Psychiater. Ich weiß das. Die junge Frau hat ein Lächeln, das meine Wangen massiert. Es ist wahrscheinlich gut, dass ich hier sitze.
Später starre ich zur Decke hoch. Die schwarze Ledercouch ist bequem aber nicht die Situation. Der Psychiater macht Notizen. Ich höre das Kratzen seines Füllfederhalters. Habe ich bereits gesprochen? Was schreibt er auf, wenn ich nichts sage? Ich versuche, alles zu erzählen. Seine Fragen zeigen mir, dass er mich nicht verstehen kann. Was soll ich hier? Vorsichtig wende ich den Kopf.
„Halten Sie sich selbst für einen Mörder? Halten Sie sich zu einem solchen Verbrechen fähig?“, will er wissen.
Kann es einen Zweifel geben? Geht es darum, was ich gerne machen würde. Zu einem Mord fähig?
„Oft hilft es, wenn man sich alles aufschreibt. So eine Art Tagebuch. Man schreibt sich die Qualen von der Seele und begreift manches besser.“
„Kann ein Tagebuch helfen?“
Seine Stimme ist sanft. Sie ist so väterlich, wie ich mir die Stimme meines Vaters gewünscht hätte. Er ist ehrlich, dass ich ihm vertrauen möchte.
„Es wäre ein Versuch. Wir könnten ihre Einträge durchsprechen.“
„Ich werde ein Tagebuch führen.“
Als ich bereits die Tür geöffnet habe, sagt er mit seiner sanften Stimme: „Sie wirken abgespannt. Machen Sie zwei Wochen Urlaub. Richtig entspannenden Urlaub. Gönnen Sie auch ihrer Frau Urlaub.“
Ich habe ihm gesagt, dass ich meine Frau über alles liebe, dass wir uns gut verstehen.
Zwei Wochen Urlaub. Soll ich das Tagebuch überhaupt schreiben? Für Regentage nehme ich mir diese Arbeit vor, denn ich muss von vorn anfangen. Leere Seiten wirken so harmlos.
Ich erlebe noch einmal die Schritte aus der Dusche, das Grauen und verstehe es. Nur sträube ich mich, ein Mörder zu sein. Meine Schrift verrät Seelenpein. Meine Hand weigert sich, das Grauen zu dokumentieren. Wort für Wort kämpfe ich durch neblige Erinnerung, will sie mit meiner Schrift verwischen. Der erste Satz meiner Folter bedeckt die Seite. Satz um Satz kämpft sich meine zittrige Hand vorwärts.
Soll der väterliche Psychiater dieses Wortgestümmel entwirren? Ich entschließe mich, ein Vorwort zu schreiben, sobald sich meine Hand gefestigt hat.
Der Urlaub ist herrlich entspannend. Morgens trete ich rasiert aus der Dusche, betrachte den Spiegel mit einem Gefühl von Wiedergeburt, parfümiere mich, fühle mich rundum wohl. Am Strand liege ich eingekuschelt, zwischen den wärmenden Armen meiner Frau und der Sonne. Nach der ersten Woche ist das Grauen fast vergessen. Meine Frau lebt mit mir auf. Ob sie alles begreift, weiß ich nicht. Wir haben nicht darüber gesprochen. Mit ihr will ich nicht darüber sprechen. Nur wer das Grauen kennt, kann von ihm beherrscht werden.
In der zweiten Urlaubswoche durchschaue ich den Wahn. Nichts kann mich mehr erschüttern. Wie ein Fels in der Brandung werde ich heimkehren. Wenn das Grauen wiederkommt, werde ich es verhöhnen. Mit beißendem Sarkasmus werde ich es zur Strecke bringen.
Am sechsundzwanzigsten Mai kehren wir heim. Alles ist hervorragend. Für den übernächsten Tag, für Montag, hat sich die Mutter meiner Frau angekündigt. Ich verehre meine Schwiegermutter, weil sie so unbeschwert und spritzig sein kann. Sie sieht verdammt sexy aus. Sie kleidet sich wie eine junge Frau, was gut zu ihr passt.
Im Urlaub habe ich mich vor dem Duschen rasiert. Das hat mich sicher gemacht. Meine Schwiegermutter will mir die Wangen streicheln, fordert einen Kuss auf die Wangen, dreimal hin und her. Sie ist jedoch keine Französin.
Ich dusche rasiert und spüre dabei dieses eklige Prickeln zwischen den Schulterblättern. Es verschwindet nicht, wenn ich mit der Stielbürste den Rücken schrubbe. Weshalb gerade jetzt, frage ich mich. Die Duschkabine verdichtet sich zur wohligen Atmosphäre einer Dampfturbine. Ich liebe den heißen Strahl, der alle Hautbakterien vernichtet. Diesmal verzichte ich auf „Tropenfrüchte“ und nehme syrische Olivenseife, die mir meine Schwiegermutter empfohlen hat.
„Die Seife hat aseptische Wirkung“, hat sie erklärt.
Es kommt selten vor, dass ich beim Duschen Gefahr laufe, mir eine Blutvergiftung zuzuziehen, aber was für mein Blut gut ist, ist auch für meine Haut gut. Der Schaum ist cremig. Ich wasche mich, von oben bis unten, mit der braunen Seife. Der Schaum brennt in den Augen, brennt heftig, dass ich sie zusammenpetzen muss. Die Seife riecht herrlich neutral. Meine Gedanken sind auf den Augenschmerz fixiert. Blind tappe ich aus der Dusche. Ich wage nicht, die Lider zu heben. Seifenschaum hängt in den Wimpern und versucht unter die Augendeckel zu kriechen. Blind ertaste ich das Handtuch, drücke es aufs Gesicht. Plötzlich presst der harte Blick auf meine Stirn. Das Handtuch entgleitet meiner Hand. Ich will schreien. Kein Ton entweicht meiner getrockneten Kehle. Die rotierenden Augen starren durch hundert Lichtjahre. Nebel sinkt und steigt, der Fliesenboden badet in erstarrtem Dunst.
„Mörder“, sagen die nebelschwadigen Lippen.
Es ist keine Halluzination. Ich habe die neutrale Seife verwendet. So sehen keine Träume aus.
„Wieso?“, frage ich, oder will ich fragen.
Ob meine Stimme meinen Mund verlässt, höre ich nicht. Aber die Antwort auf meine gesagte oder ungesagte Frage ist „Mörder“.
Diesmal kann ich mich wehren. Innerlich bin ich gewappnet und auf das Gefecht vorbereitet. Ich will das Grauen auslachen, lache sogar, nein, krächze eine Art Lachen, das Angst ist. Trotzdem kann ich mich wehren. Das Fenster ist meine Rettung. Ich stürze zum Fenster, erreiche den Fenstergriff, rutsche über die glitschigen Fliesen. Der Kampf ist noch nicht der Sieg. Ich verliere das Gleichgewicht.
Das Grauen will mich bezwingen. Meine Knie schmerzen. Sie sind gegen den Heizkörper geschlagen. Ich stürze nicht. Meine rechte Hand hält den Fenstergriff. Mit der Linken ertaste ich das Fenstersims, stütze mich auf, arbeite mich hoch und stehe aufrecht.
„Du kannst mich nicht niederwerfen“, rufe ich triumphierend.
Mit letzter Kraft drehe ich den Fenstergriff. Ich drehe ihn einmal herum, drehe ihn zweimal, reiße daran und merke, dass die innere Mechanik zerstört ist. Schweiß presst aus allen Poren. Ich will mich ergeben. Nebel liegt fingerdick auf der gemaserten Scheibe. Ich blicke durch die Dunstwand in die Sonne, die nicht heller ist, als ein flackerndes Streichholz. Die Tür ist meine Rettung. Blind stürze ich darauf zu.
Die Stimme meiner Schwiegermutter lächelt vor dem Bad. Ich bin nackt! Was denkt sie, wenn ich nackt an ihr vorbeirenne, wenn wir uns so in die Arme rennen? Was wird meine Frau erahnen?
Das Grauen hat die Falle zugeschlagen. Ich schaue nicht zum Spiegel. Ich ignoriere das Grauen und weiß, dass ich ihm nicht entgehen kann, nicht solange ich in dieser Nebelhölle gefangen bin. Verzweifelt stürze ich zum Fenster zurück und zertrümmere die Scheibe mit der Hand. Wie ein Pistolenschuss kracht die Zerschlagung der Scheibe. Kühle Luft strömt über mein Gesicht. Seifenschaum brennt meine Augen. Ich schließe die Augen und genieße die Kühle, weiß, dass das Grauen hinter mir seine Existenz aushaucht. Meine Augen schmerzen. Die Lider pressen Tränen. Mit der rechten Hand reibe ich, bis der Schmerz gelindert ist. Langsam wird der Blick aus offenen Augen erträglich.
Ich rieche Angstschweiß. Aus allen Poren fließt der säuerliche Geruch, den Hunde auf hundert Meter riechen können und Frauen auf zehn Meter. So zu riechen ist mir peinlich. Meiner Schwiegermutter so unter die Nase zu treten wäre schrecklich.
Zuerst will ich mich rasieren. Mein Blick ist gesenkt. Wie ein Bittsteller trete ich dem Spiegel entgegen. Früher war ich mir selbst begegnet, wenn ich in den Spiegel schaute, aber jetzt nicht mehr. Alter Ego könnte ich die Reflexion nennen, aber Grauen ist der richtige Name.
Das Gesicht im Spiegel, das so viel Ähnlichkeit mit meinem Gesicht hat, ist blutverschmiert. So habe ich mein Gesicht noch nie gesehen. Die blauen Augen weinen Blut. Der Anblick erschüttert mich. Dieses Bild ist unerträglich. Ich stürze in die Dusche zurück, seife mein Gesicht ein, wasche meine Augen aus, - ätze sie aus, müsste ich sagen. Meine Augen, meine rechte Hand und meine Knie, brennen wie Kohlenglut.
„Nimm kaltes Wasser“, rufe ich mir zu.
Fünf Minuten schlottere ich in der Dusche. Das Wasser war rot und ist jetzt klar. Das Grauen hat sich aufgelöst. Ich rasiere mich, parfümiere mich, ziehe mir die klamme Wäsche an und imitiere einen federnden Schritt, mit dem ich der lächelnden Frau begegnen will. Meine Frau und meine Schwiegermutter machen Einkäufe. Ein Zettel auf dem Küchentisch teilt mir das mit.
Vom dreißigsten Mai bis ersten Juni dusche ich nicht. Die Scheibe ist noch kaputt. Der Glaser hat die Reparatur für den kommenden Montag versprochen. Eine Folie verschließt das Fenster. Auf die Rasur darf ich allerdings nicht verzichten. Ich begegne dem Spiegelbild mit Beklemmung. Das blutige Gesicht war ein deutliches Zeichen. Dem Grauen kann man nicht mit billigen Tricks entgehen. Dennoch will ich mich beharrlich dagegenstemmen.
Die Augen funkeln durch den Rasierschaum. Sie wollen mich zwingen, ich erkenne den Blick. Wie soll ich ruhig bleiben, wenn mich diese Augen anstarren. Wie soll meine Hand ruhig bleiben unter diesem beobachtenden Blick. Wie soll die Klinge in meiner Hand ruhig bleiben, wenn meine Hand zittert, wenn meine Wangen unter dem Seifenschaum erschauern? Der Rasierschaum auf der rechten Spiegelseite färbt sich rot.
Am dritten Juni fällt es mir schwer, die Tür zum Bad zu öffnen. Schon vor dem Bad spüre ich die Macht, die mich in ihren Bann ziehen möchte, mich endgültig brechen will. Mein Schlaf war oft unterbrochen, weil mich das Geschrei einer düsteren Stimme Mörder nannte.
Der Psychiater fragt mich: „Wodurch werden Sie zum Mörder?“
Meine Träume verraten nicht so viel. Es ist eine Anklage, aber wessen ich angeklagt bin, weiß ich nicht. Reicht es nicht, wenn mich der Spiegel und meine Träume einen Mörder schimpfen?
„Sprechen Sie mit Ihrer Frau darüber“, rät er.
Ich kann nicht. Soll ich sie hineinziehen in den unentrinnbaren Strudel? Wie hoffnungslos wäre alles, wenn sie auch in die Fänge des Grauens geriete? Sie kann noch singen, kann lachen, kann tanzen. Sie wäre ohne ihre Fröhlichkeit ein halber Mensch und mir würde sich jeder Halt entziehen. Ich darf sie dem Grauen nicht näher bringen. Meine Existenz hängt an dem Faden, der uns beide zusammenbindet.
Meine Hand zittert, meine Wangen zittern. Die Klinge färbt meine Wangen rot.
Es gibt keine brutalere Botschaft als Blut. Blut schreibt die eindeutigen Zeichen des Lebens und des Todes. Der Seifenschaum wird durch Blut weggeschwemmt, die weißen Fliesen röten sich. Aus dem Spiegel betrachtet mich zynisches Grinsen.
Am Dienstag ist das Fenster repariert. Es ist ein Neubeginn. Ich mache mich stark und halte den Elektrorasierer fest in meiner rechten Hand. Mein Gesicht spiegelt siegreiche Stimmung. Wir hatten uns am Montag keines Blickes gewürdigt. Stoppeln stehen auf meinen Wangen. Der Verzicht auf Rasur hat sich gelohnt, denn ich bin selbstbewusst geworden. Die Idee, einen Elektrorasierer zu kaufen ist genial. Weshalb bin ich nicht schon viel früher darauf gekommen?
Vor dem Duschen rasieren. Kein Seifenschaum. Das gehässige Grinsen kann sich nicht mehr unter Schaum verstecken. Endlich habe ich das Grauen abgeschüttelt. Wir haben uns nichts mehr zu sagen, wobei die Dialoge ohnehin einseitig waren.
Überlegen lächle ich in den Spiegel. Das Blitzen der Augen ignoriere ich. Ich stecke den Rasierer in die Steckdose. Als hätte ich mich noch nie anders rasiert, fliegen die Stoppeln aus meinem Gesicht. Wie ein frisch gemähter Rasen zeigen meine Wangen die glatte Spur. Das Wunder der Elektrizität und die Schärfe der rotierenden Scherköpfe schenken meinem Leben festen Griff.
Dankbar lächelnd betrachte ich die Scherköpfe, die mich gerettet haben. Drei Scherköpfe. Ich genieße das Geräusch, beobachte die mechanische Präzision. Der Rasierapparat will mir aus der Hand fallen. Ein messerscharfer Schock zerschneidet mein Herz. Die oberen beiden Scherköpfe rotieren wie die Augen des Grauens. Ich halte die Augen des Grauens in meiner Hand. Der dritte Scherkopf zeigt sich als der dunkle Mund. Das Brummgeräusch ist das Schnurren eines Motors, eines Automobils. Es ist mein Wagen, der so brummt, der so gleichmäßig schnurrt. Jetzt weiß ich, wie ich zum Mörder werde.
„Fahr du“, sage ich meiner Frau.
Wir bringen meine Schwiegermutter zu Bahnhof. Sie betrachtet mich mit großen Augen.
„Mir ist nicht gut“, erkläre ich.
Sie fährt künftig immer, wenn wir zu zweit sind. Wir gewöhnen uns daran. Der Wagen ist nicht das Mordwerkzeug meiner Frau, sondern mein Mordwerkzeug. Sie soll nicht mit hineingezogen werden. Es ist ein Kampf zwischen Ihm und mir. Mittlerweile weiß ich, wie ungleich der Kampf ist.
Am neunten Juni muss ich nach München fahren. Nachts werde ich fahren. Nachts sind kaum noch Menschen auf den Straßen. Kurz nach Mitternacht wage ich eine Nassrasur. Eine kleine blutende Wunde ist erkennbar. Sie will nicht heilen. Vielleicht mache ich mit meiner rechten Wange zu viele Faxen.
Die Schrift ist eine andere. Sie ist fest und geradlinig, die Tinte schwarzblau. Die Änderung fällt auf und soll auffallen. Der Nachtrag ist ein endgültiger Abschluss.
Die Sicht liegt weit vor der Motorhaube. Die Scheinwerfer durchdringen klare Nacht. Ich fahre entspannt, fahre fast schläfrig. Damit ich nicht einschlafe, sprudelt meine Lieblings-CD Berglieder aus sechs Lautsprechern. Plötzlich juckt meine rechte Wange. Ich fürchte, der kleine Schnitt hat sich geöffnet, sodass Blut über meine Wange rinnt und mein Hemd und die Anzugjacke verblutet. Die Kurve ist lang gezogen, der Lichtstrahl streicht über tiefer liegende Wiesen. In dieser Kurve beuge ich mich zum Innenspiegel und betrachte meine Wange. Das Jucken ist eine Reaktion des Heilungsprozesses.
Ich bin geblendet, zwei Lichter schießen mir entgegen und ich vergesse mich selbst. Wie Roboterglieder wirbeln meine Arme und Hände nach einem alten Programm, das nicht in die Situation passen will. Grauen schreit aus dem Spiegel. Mörder!, hallt unter meiner Schädeldecke. Die Kurve, der Innenspiegel, ich selbst - vergessen. Die Lichter!, schreie ich mir zu. Es ist so, wie es war, wie es ist und sein wird. Ich muss ausweichen. Ich will kein Mörder sein.
„Weshalb bremse ich nicht?“, frage ich mich.
Meine Hände lassen das Lenkrad nicht los. Die Lichter sind verschwunden. Ich atme auf. Der Motor jagt hoch, jault gequält. Meine Augen suchen die Straße. Unter den Rädern ist keine Straße. Mein Lenkversuch greift ins Leere. Wie eine große Eule stürze ich auf meine Beute. In den Scheinwerfern wächst der Baum, wird riesig. - Leere.
„Was ist passiert?“, frage ich den Polizisten, der mich besorgt betrachtet.
„Sie hatten einen Unfall“, sagt er.
Dann sehe ich blaue Lichter, die wie Leuchtreklame blinken. Ich will mich im Innenspiegel betrachten und kann mich nicht bewegen. Das Lenkrad drückt schmerzend gegen meinen Brustkorb. Langsam erinnere ich mich.
„Konnte ich dem Wagen ausweichen?“
Er betrachte mich mit steigender Sorge. Sein Blick verursacht unendlichen Schmerz. Ich bin zum Mörder geworden, ist eine furchtbare Erkenntnis.
„Sie waren allein auf der Straße. Mit hundert Metern Abstand ist Ihnen ein Wagen gefolgt. Der Fahrer hat uns angerufen.“
Ich sträube mich, daran zu glauben. So war das Grauen nicht geplant. Mein Schicksal war anders vorbestimmt. Ich erkläre dem Polizisten die Situation.
„Ich habe mich zum Innenspiegel gebeugt, um den Schnitt in meiner Wange zu betrachten. Die Wunde war gut verheilt. Dann plötzlich die beiden Scheinwerfer, in einer Linie mit mir.“
Der Polizist öffnet den Mund. Er will etwas Wichtiges sagen, ich spüre, dass es wichtig ist. Ich schweige. Es ist unschwer zu erkennen, dass er seinen Entschluss ändert.
„Sie sind eingeklemmt. Wir müssen auf die Feuerwehr warten.“
„Das Grauen hat mich wieder angestarrt. Grauenhafter als sonst. Ich wusste schon lange, dass ich zum Mörder werde. Sie brauchen mich nicht zu schonen.“
Der Polizist begreift endlich. Sein Gesicht ist aschfahle Erschütterung. Mit der nicht eingeklemmten Hand zeige ich zum Handschuhfach, wo mein Tagebuch liegt.
„Geben Sie es bitte meiner Frau.“
„Ihr Abschiedsbrief?“, fragt er.
„Es sollte keinen Abschied geben – nicht so.“
„Tagebuch des Grauens“, liest er laut.
„Sie werden verstehen. Sie werden das Grauen begreifen.“
Der Polizist blättert flüchtig durch die Seiten, verharrt an einigen Stellen. Ich erkenne die Gänsehaut, die sich auf seinen Schultern niederlässt. Wird er verstehen, frage ich mich.
Seine Stimme ist gefasst: „Haben Sie überlegt, dass Sie Lichter im Rückspiegel gesehen haben?“
Der Gedanke ist so neu, dass ich ihn nicht verstehen will. Diese Idee ist schockierend.
„Im Rückspiegel?“
„Etwas hat sie erschreckt und Sie haben falsch reagiert. Es gibt keine Bremsspuren, kein harter Lenkeinschlag ist auf dem Asphalt erkennbar. Sie sind in der Kurve geradeaus gefahren.“
Ich betrachte sein Gesicht und suche Tatsachen. Endlich begreife ich. „Der Spiegel hat mir eine Falle gestellt.“
Er betrachtet mich lang, bevor er sagt: „Sie werden den Unfall überleben. Die Feuerwehr kommt in wenigen Minuten.“
„Der Rückspiegel war die Falle“, schreie ich.
Er durchblättert die Seiten. Er spricht in die Seiten. Sagt zwischen den Seiten die Wahrheit, die ich nie erkannt habe.
„Der Spiegel bildet jede Information seitenverkehrt ab. Man muss umdenken, aber man gewöhnt sich so sehr daran, dass man diese Tatsache leicht vergisst.“
In der Ferne höre ich die näherkommende Feuerwehr. Er hat der Wahrheit einen Namen gegeben, der nicht Grauen heißt. Als tödliches Gift fließt Wahrheit in mein Gehirn. Es wird nur noch ein paar Worte geben, die ich sagen kann. Rasend schnell überlege ich, was dieser Situation Bedeutung gibt. Er versteht mich kaum noch.
„Sagen Sie bitte meiner Frau, dass es mir leid tut. Ich habe die Wahrheit verdreht, weil ich das spiegelverkehrte Bild für Wahrheit hielt. Ich musste mich selbst zur Strecke bringen.“
Ich, Marthe Schwertmann, habe am fünfzehnten Juni die letzten Sätze nach den Aufzeichnungen des Polizisten geschrieben, der mit meinem Mann bis zu seinem Ableben gesprochen hatte.