Читать книгу Interkulturalität - Hamid Reza Yousefi - Страница 10
1.2.3. Differenzierungstheoretisches Kulturkonzept
ОглавлениеDifferenzorientierte Kulturtheorie
Das differenzierungstheoretische Kulturkonzept unterteilt die Bereiche, die vorher unter dem Sammelbegriff „Kultur“ vereint waren, und bezieht sich auf einzelne Aspekte. Im Vergleich zu den dargestellten Ansätzen geht es in eine offenere Richtung.
Definition: Ein differenzierungstheoretischer Kulturbegriff wird von seinem Bezug „auf ganze Lebensweisen“ bzw. die gesamten Erscheinungen des Lebens abgekoppelt und hauptsächlich auf „intellektuelle und künstlerische“ Aktivitäten bezogen. Er ist intellektualistisch in der Theorie beheimatet, kann aber praktisch unter normativen Aspekten gedeutet werden.
Der Schwerpunkt dieses Konzepts liegt auf Kunst, Bildung oder Wissenschaft.23 Dies bleibt eine „wertneutrale“ „Identifikation von Kultur mit jenem gesellschaftlichen Handlungsfeld, in dem die Produktion, Verteilung und Verwaltung von „Weltdeutungen“ intellektueller, künstlerischer, religiöser oder massenmedialer Art stattfindet“.24 Dementsprechend wird Kultur als ein „soziales Teilsystem“ betrachtet, das sich auf einem Umweg mit Weltdeutungen befasst.
Hierzu einige Beispiele:
Friedrich Tenbruck (1919–1994) und Niklas Luhmann (1927–1998) vertreten einen derartigen Kulturbegriff.
Tenbrucks Soziologie der Kultur
Tenbruck strebt eine Neubesinnung der Rolle der Sozialwissenschaften gegenüber dem Szientismus der 1970er-Jahre an, d.h. die Beantwortbarkeit aller menschlichen Fragen durch die Wissenschaft und den „gesellschaftlichen Machbarkeitswahn“, der der Wissenschaft alles erlaubt. Für ihn steht die Wissenschaft nach wie vor im Dienst der Aufklärung. Sein Streben gilt, die deutsche Kultursoziologie empirisch auszurichten.
Tenbruck steht unter dem Eindruck Georg Simmels (1858–1918) und Webers. Er unterscheidet zwischen Kultur als „Erbe von Fertigkeiten, Einrichtungen, Kenntnissen und Werten, das über Generationen hinweg entstanden ist und weitergegeben wird“, gewissermaßen einer „Basiskultur“ und einer „geistigen Kultur“, die sich in Religion, Mythos, Kunst, Literatur, Musik, Philosophie und Ideologie ausdrückt.25 Er verweist auf die Asymmetrie zwischen Kulturproduzenten und Kulturkonsumenten der Gegenwart und bezeichnet die „moderne Kultur“ als eine „repräsentative Kultur“, die die Kulturintelligenz kreiert und über die Massenmedien verbreitet. Tenbruck erkennt hellsichtig, dass deren Weltdeutung nicht das Produkt aller sozialen Gruppen gleichermaßen ist und dass in den Medien eine verzerrte Kultursicht vertreten wird.26 Tenbrucks Denken war darauf ausgerichtet, die Soziologie von der Verabsolutierung der Rollentheorie zu befreien. Mit der Ablehnung des in seiner Zeit geltenden Begriffs von Kultur gilt er als ein Modernisierer der Kultursoziologie.
Luhmanns geschlossene Systemtheorie
Luhmann geht noch weiter und distanziert sich sogar förmlich von dem vor seiner Zeit gebräuchlichen Kulturbegriff. Er bezeichnet diesen als „einen der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind […]. Die Erfindung von „Kultur“ am Ende des 18. Jahrhunderts, die Erfindung einer Form der Reflexion, die alles, was nicht Natur ist, als Kultur reflektiert […], diente historischen oder nationalen Kulturvergleichen – eine Veranstaltung des „gebildeten Europas“ […], bei aller vergleichenden Relativierung blieb Kultur ein Gegenstand für Seinsaussagen“.27
Dieses Unbehagen hängt damit zusammen, dass ein statischer Kulturbegriff zur Legitimierung kolonialistischer Expansion und Machtdemonstration führte. Vergleiche seien meist kulturspezifisch angelegt, „und je differenzierter der Vergleich ausfällt, um so deutlicher wird, dass die eigene Kultur nicht auf allen Dimensionen als überlegene gelten kann. Kultur motiviert kritische Selbstreflexion, nostalgische Rückblicke oder auch Artikulation von Problemen, die für eine künftige Lösung anstehen“.28
Sein eigenes Verständnis von Kultur knüpft an seiner gesellschaftlichen „Systemtheorie“ an. Für den Prozess der Entstehung von Systemen verwendet Luhmann den Begriff des „sozialen Gedächtnisses“, indem er die anhand neurophysiologischer Befunde entwickelte Gedächtnistheorie der allgemeinen Systemtheorie auf Sozialsysteme überträgt. Kultur bedeutet für ihn also das Gedächtnis sozialer Systeme bzw. Gesellschaftssysteme oder die „Sinnform der Rekursivität (Rückbezogenheit) sozialer Kommunikation“.29 Die Möglichkeit von Erinnern und Vergessen wird zur Reflexion der Gegenwart über Vergangenes.
Für Luhmann bringen sich Systeme selbst hervor und sind im Kontext der Gesellschaft real, weil sie mithilfe semantischer Unterscheidungen in unterschiedlichen Kontexten über ein Thema kommunizieren. Die Kultur sei in diesem Zusammenhang ein Nebenprodukt der kommunikativen Autopoiesis und verfüge über keinen spezifischen Operationsmodus, der sie zum real ausdifferenzierten System werden ließe.
Das Novum von Luhmanns Theorie liegt in der Abkehr von einem statischen, hierarchischen Kulturbegriff. Die allzu starke Bindung von Kulturen an Gesellschaften als Systeme lässt jedoch den Menschen in den Hintergrund treten und räumt ihm lediglich einen Platz als funktionierendes Element in einem System ein.
Zusammenfassung
Das differenzierungstheoretische Kulturkonzept verweist erstmals auf die mit Kulturtheorien verbundenen Machtverhältnisse. Im Unterschied zum normativen und totalitätsorientierten Kulturkonzept, die von zwei unterschiedlichen Imperativen ausgehen, entspricht es eher den Grundpositionen der Interkulturalität. Insgesamt ist aber auch dieses Kulturkonzept recht eng gehalten, es besteht die Gefahr, dem Menschen als Teil eines Systems ohne eigene Initiative zu wenig Raum zu geben.
Übungsaufgaben:
1 Diskutieren Sie den differenzierungstheoretischen Kulturbegriff und arbeiten Sie die zentralen Aussagen heraus.
2 Nehmen Sie Stellung zu der Aussage: „Kulturen sind geschlossene Systeme und Menschen sind funktionierende Teile dieses Systems“.
3 Analysieren Sie vergleichend die Kulturkonzepte von Tenbruck und Luhmann.
4 Beschreiben Sie mittelbare und unmittelbare Auswirkungen eines differenzierungstheoretischen Kulturkonzeptes auf die theoretische und praktische Gestaltung einer interkulturellen Kommunikation.