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Mord an Birte Schoemaker

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Bei Kapitalverbrechen wie Mord wurde die Kreispolizeibehörde in Wesel eingeschaltet, die Männer von der KTU (kriminaltechnische Untersuchung) kamen aber von der Polzeiinspektion in Moers, die als Erste am Ort des Verbrechens sein sollten, damit nicht eventuelle Spuren von anderen verwischt werden könnten. KHK Leber und KOK Meissner nahmen sich einen Dienstwagen und fuhren nach Meerbeck raus, das war nicht weit von der Polizeiinspektion entfernt, sie fuhren zum Bahnhof, durch die Unterführung, ein Stück die Homberger Straße entlang und bogen nach links in die Ernst-Holla-Straße ein, die in ihrer Verlängerung in die Moselstraße überging. Nach einer Weile erreichten sie den Klever Platz, der ein Stück unbebaute Fläche zwischen Annabergstraße, Beuthener Straße und Moselstraße war, sie trafen dort eine völlig fassungslose Frau an, die weinend am Straßenrand stand und ihren Dackel an der Leine hielt, das Tier war verstört und sah an seinem Frauchen hoch. Die Frau hatte den Hund Gassi geführt und war so auf die Leiche gestoßen, als sie den Hund rief und der nicht kam. Die Beamten kümmerten sich zunächst um die Frau und redeten beruhigend auf sie ein, es standen auch noch andere Personen herum, vermutlich Nachbarn der Frau, die gleich zu den Polizisten kamen und auf die Stelle mit der Leiche zeigten, die unter einem großen Busch mitten auf dem Klever Platz lag. Ob sie denn alle schon dorthin gelaufen wären, fragten die Beamten die Umstehenden, aber sie wiesen das von sich, lediglich einer von ihnen wäre dorthin gegangen und ein Mann trat vor.

„Ich bin aber nur bis an den Buschrand gelaufen“, sagte dieser.

„Und als ich ein Bein der Leiche gewahr wurde, habe ich es mit der Angst bekommen und bin schnell wieder zu den anderen zurück gelaufen.“ Die Beamten merkten an, dass es wichtig wäre, dass niemand zu dem Tatort liefe, damit nicht unnötig Spuren verwischt würden, die für die KTU von großer Bedeutung wären. Kurze Zeit später hielt neben ihnen am Straßenrand ein Wagen und vier Männer stiegen aus, einen kannten KHK Leber und KOK Meissner aus grauer Vorzeit an der Polizeischule, das war KHK Drexler, der bei der KTU gelandet war. Sie begrüßten sich freudig, so freudig wie es der grausige Anlass ihres Wiedersehens es zuließ, KHK Drexler stellte seine Kollegen vor und ließ sich den Fundort der Leiche zeigen. Daraufhin wies er seine jüngeren Kollegen an, den Ort großräumig abzusperren und sich an die Arbeit zu machen. Inzwischen war auch der Polizeiarzt eingetroffen, er wurde von KHK Leber und KOK Meissner zur Leiche geführt und zum ersten Mal konnten sie einen Blick auf sie werfen. Die beiden erfahrenen Polizisten hatten während ihrer Dienstzeit schon viele schreckliche Sachen gesehen, aber der Anblick einer Leiche, noch dazu einer so entstellten Leiche, nahm ihnen jedes Mal beinahe die Fassung. Das Mädchen lag in völlig verrenkter Haltung unter dem Busch, die Beine angezogen, die Arme ganz merkwürdig von sich gestreckt, ein Arm schien gebrochen zu sein und den Kopf unwirklich zur Seite geneigt, der Mörder hatte ihr die Kehle bis auf die Wirbelsäule durchgeschnitten. Das Mädchen trug eine Jeans, die halb heruntergelassen war, auch ihr Slip war heruntergelassen, der Mörder hatte sich wohl an ihr vergangen.

Der Arzt stellte schnell den Tod des Mädchens fest und nahm als Forensiker eine erste Sichtung des Leichnames vor, bevor er ihn der KTU überließ, die ihn nach Papieren absuchte. Sie fand einen Personalausweis, der das Mädchen als Birte Schoemaker auswies, sie wurde von der Mutter am Morgen als vermisst gemeldet, als diese in das Zimmer ihrer Tochter ging, um sie zur Schule zu wecken und sie nicht vorfand. Sie wohnte in Moers-Vinn in der Reichweinstraße und stammte aus relativ begüterten Verhältnissen, ihr Vater leitete die Filiale der Deutschen Bank in Duisburg-.Homberg. Birte besuchte das Gymnasium In den Filder Benden und war Schülerin der Jahrgangsstufe 12. Diese Dinge hatte die Polizei erfahren, als die Mutter in der Asberger Straße anrief, um ihre Tochter als vermisst zu melden. Ihr Leichnam wurde, als die Männer von der KTU mit ihrer Spurenaufnahme fertig waren, nach Wesel zur Forensik gebracht, dorthin würden KHK Leber und KOK Meissner am nächsten Tag fahren. Als Nächstes stand ihnen der Besuch in Vinn bevor, wo sie Birtes Mutter vom Tod ihrer Tochter unterrichten mussten. Vor diesem Angang hatten die beiden Polizisten große Manschetten, denn so etwas reichte immer bis an die Grenzen des menschlichen Fassungsvermögens. Sie fuhren zuerst noch einmal zu ihrer Dienststelle und sprachen kurz mit ihrer Chefin über den Mord an der Schülerin, die Chefin war bestürzt, sie erteilte ihren Kommissaren gleich den Auftrag:

„Suchen Sie die Mutter auf und berichten Ihr vom Mord an ihrer Tochter!“ Beide Beamte nahmen einen Schluck Kaffee, bevor sie sich in den Dienstwagen setzten und nach Vinn rausfuhren, sie merkten gleich an den Häusern, dass sie sich in einer Gegend des gehobenen Lebensstandards befanden. Die Reichweinstraße hatte auf der einen Seite Reihenhäuser, die eng aneinander standen und auf der anderen Seite freistehende Einfamilienhäuser mit großzügigen Grundstücken und großen Garagen, Birte hatte in einem der freistehenden Häuser gelebt. Die beiden Polizisten parkten ihren Wagen vor Birtes Haus, keiner von ihnen sagte ein Wort, sie gingen zur Haustür und KHK Leber drückte auf den Klingelknopf. Nachdem die Haustür von Birtes Mutter geöffnet worden war, sagten sie, wer sie wären und konnten gleich sehen, wie sich das Gesicht der Frau verwandelte und versteinerte Züge annahm, mit sehr leiser Stimme bat sie die Beamten ins Haus und bot ihnen im Wohnzimmer einen Platz an. Doch den Polizisten war nicht nach Sitzen zumute, es war KHK Lebers Aufgabe, der Frau zu sagen, was mit ihrer Tochter geschehen war, da hielt sich KOK Meissner zurück und war in diesem Moment froh, dass er der Untergebene war. Sie hatten solche Situationen schon einige Male bewältigen müssen und es kostete sie jedes Mal große Überwindung, die schreckliche Nachricht überbringen zu müssen. KHK Leber sah der Frau, die ihn erwartungsvoll anblickte, ins Gesicht und sagte mit gleichmäßigem Tonfall:

„Ihre Tochter ist tot, man hat sie am Morgen in Meerbeck gefunden und wir haben sie zur forensischen Medizin nach Wesel bringen lassen.“

Die Frau durchzuckte ein Schauer, Tränen standen ihr in den Augen, KHK Leber stand direkt vor ihr und stützte sie, KOK Meissner half ihm, sie in einen Sessel zu setzen. Dort saß sie lange und stierte vor sich hin, sie war unfähig zu sprechen und weinte schließlich. Als sie begriffen hatte, was geschehen war, ließ sie ihren Tränen freien Lauf und KOK Meissner holte Papiertücher aus der Küche, mit denen sie sich ihre Tränen abwischen konnte. KHK Leber besorgte einen Cognac aus dem Wohnzimmerschrank und bestand darauf, dass Frau Schoemaker ihn trank, aber sie sah sich dazu nicht in der Lage. KOK Meissner suchte beim Telefon nach der Nummer von Herrn Schoemaker, rief ihn an und bat ihn, umgehend nach Hause zu kommen. Eine halbe Stunde später trat er ins Wohnzimmer, wo er seine Frau weinend im Sessel vorfand. KHK Leber teilte ihm in kurzen und knappen Worten mit:

„Ihre Tochter ist ermordet worden!“. Herr Schoemakers setzte sich neben seine Frau und rang nach Fassung. KHK Leber bot auch Herrn Schoemaker einen Cognac an und der trank das Schnapsglas in einem Zug leer. Der Hauptkommissar fragte die Schoemakers, ob er einen Polizeipsychologen hinzuziehen sollte, aber der Bankier lehnte ab.

„Wir kommen am nächsten Morgen wieder vorbei und werden gemeinsam nach Wesel fahren, wo sie Ihre Tochter in der Forensik identifizieren sollen“, sagte KHK Leber, „ich weiß, dass das für Sie schwer wird und will alles tun, um es ihnen leicht zu machen, aber die Identifizierung muss nun einmal sein.“ Daraufhin verließen die beiden Polizisten die Schoemakers wieder und fuhren zur Dienststelle zurück. Frau Fahrenholz kam in ihr Dienstzimmer und ließ sich berichten, wie es bei den Schoemakers gelaufen wäre. Die beiden Kommissare erzählten:

„Die Mutter hat sich sehr schwer getan und ist kaum ansprechbar gewesen, während der Vater relativ gelassen und gefasst gewesen ist, aber der Eindruck kann natürlich auch täuschen, wenn er erst einmal begriffen hat, was wirklich geschehen ist, können in ihm die Trauergefühle auch noch losbrechen.“ Die Chefin sagte:

„Ich habe mich mit Dr. Domrose, der Schulleiterin des Gymnasiums in den Filder Benden in Verbindung gesetzt und am Nachmittag mit ihr einen Gesprächstermin vereinbart, ich würde gern um 14.30 h mit meinen Beamten zum Gymnasium fahren“, und sie bat die beiden:

„Machen Sie sich einen Plan für die weitere Vorgehensweise!“, danach verschwand sie wieder. KHK Leber und KOK Meissner dachten, dass die Tatsache, dass Birte vergewaltigt worden wäre, eine weibliche Täterschaft schon einmal ausschloss. Wenn sich am nächsten Tag das erste Entsetzen gelegt hätte, müssten sie sich mit den Eltern unterhalten und herauszukriegen versuchen, wer alles zum Freundeskreis von Birte gehört und wo und mit wem sie ihre Freizeit, besonders die Abende, in der Regel verbracht hatte. Danach würden sie viele Gespräche mit Freundinnen und Freunden führen und so versuchen, sich eine Vorstellung von den möglichen Tätern zu verschaffen, mehr konnten sie im Moment nicht tun. Sie hatten noch eine halbe Stunde für die Kantine und eilten schnell dorthin, um ihr Mittagessen einzunehmen, es gab einen Eintopf, aber das war den Beamten egal, sie waren, was das Essen anbelangte, nicht sehr wählerisch und nahmen jeder einen Teller Wirsing mit Mettwurst. In der Kantine trafen sie auf viele bekannte Gesichter und wurden angesprochen, warum sie auf den letzten Drücker kamen, sie erzählten in aller Kürze, was sich am Morgen alles zugetragen hatte. Um 13.00 h schloss die Kantine und sie konnten gerade noch ihren Cappuccino trinken, bevor sie aufgefordert wurden, ihr Geschirr wegzuräumen und die Kantine zu verlassen. Sie gingen in ihr Dienstzimmer zurück und besprachen, wie sie weitermachen würden, KHK Leber schaltete den PC ein und googelte im Internet nach dem Gymnasium in den Filder Benden. Er brachte einiges zur Schulgeschichte in Erfahrung und erfuhr, dass die Schule 1971 aus einer Abspaltung vom Gymnasium Adolfinum hervorgegangen war. Das Gymnasium lag direkt am Moerser Stadtpark und war schon von daher etwas Besonderes, die Schule hatte mehr als tausendeinhundertfünfzig Schüler und knapp neunzig Lehrer.

Die Kommissare dachten an ihre eigene Schulzeit zurück, die von KHK Leber fand in Krefeld statt und die von KOK Meissner in Duisburg, beide hatten sie vor fünfundzwanzig Jahren ihr Abitur abgelegt und sich danach bei der Polizei beworben, wo sie mit Kusshand angenommen worden waren. Um 14.30 h kam Frau Fahrenholz und holte die beiden ab, sie nahmen einen Dienstwagen und fuhren in die Zahnstraße. Sie parkten auf dem Lehrerparklatz vor dem Gymnasium, es war nicht viel los dort, es gab zwar Nachmittagsunterricht, aber längst nicht für alle Schüler. Sie liefen auf das Schulgelände und waren von der Sauberkeit des Schulhofes überrascht, auch die Gemälde an der Turnhallenseite gefielen ihnen. Sie betraten das Schulgebäude und liefen gleich auf das Direktorinnenzimmer zu, die Sekretärin meldete die Besucher bei Dr. Domrose an, und die bat sie in ihr Zimmer. Es gab in dem Raum eigentlich kaum etwas, das man hätte gemütlich nennen können, alle Einrichtungsgegenstände genügten minimalen Zweckmäßigkeitsanforderungen, es gab aber gepolsterte Stühle und einen Tisch, um den sie sich setzten. Frau Dr. Domrose ließ von der Sekretärin Kaffee kochen und Plätzchen bringen, bevor sie ihrer tiefen Bestürzung wegen des Todes von Birte Ausdruck verlieh. Sie fragte gleich:

„Wie weit ist denn die Polizei schon in ihren Ermittlungen fortgeschritten?“, aber dazu konnten KHK Leber und KOK Meissner wirklich kaum etwas sagen, schließlich war die Leiche von Birte Schoemakers erst am Morgen gefunden worden. Frau Dr. Domrose zog plötzlich eine Liste hervor, auf der sie Personen notiert hatte, die zum engen oder lockeren Freundeskreis von Birte gehört hatten, sie hatte fünf Namen unterstrichen, die zu Schülern gehörten, mit denen die Polizisten unbedingt reden müssten. Es handelte sich dabei um drei Mädchen und zwei Jungen, die Birte während ihrer gesamten Gymnasialzeit begleitet, und die sie deshalb besonders gut gekannt hatten. Die Polizisten baten Dr. Domrose:

„Erzählen Sie doch etwas von Birte, was sie für ein Mensch gewesen, und wie sie in der Jahrgangsstufe zurechtgekommen ist!“ Die Schulleiterin entgegnete:

„Ich habe mich mit der Jahrgangsstufenleiterin kurzgeschlossen und von ihr einige Auskünfte eingeholt. Demnach ist Birte eine überaus erfolgreiche Schülerin gewesen, sie ist von allen gern gesehen worden und obwohl sie so gute Leistungen gebracht hat, hat sie nicht als Streberin gegolten. Birte hat sehr gut ausgesehen und so mancher Junge hat sich schon an sie herangemacht, sie hat die Jungen aber alle abblitzen lassen, weil sie sich so früh noch nicht hat binden wollen. Es hat einmal eine ganz kurze Liaison mit einem Mitschüler gegeben und alle, die Birte gekannt und das mitbekommen haben, haben darüber gestaunt. Nach zweiwöchiger Dauer ist die Beziehung aber von Birte beendet worden, und sie hat dem Jungen zu verstehen gegeben, dass feste Beziehungen nichts für sie gewesen sind.

Sie hat sich eingeengt und in ihrem Freiheitsdrang behindert gefühlt, das hat der Junge selbst erzählt. Birte hat einen rundum glücklichen und zufriedenen Eindruck gemacht.

„Sie hat eine Vorbildfunktion für die anderen Schüler gehabt und schon allein deshalb macht mich ihr Tod so betroffen“, sagte Dr. Domrose und merkte zum Abschluss an:

„Ich hoffe, dass die Polizei das Schwein bald schnappt und es hinter Schloss und Riegel bringt!“ Die Beamten weiteten das Gespräch danach zum Schein etwas aus, um so auf Umwegen vielleicht mehr über Birte zu erfahren, sie sprachen über Klassen- und Stufenfahrten und wollten wissen wie sich Birte bei solchen Gelegenheiten verhalten hätte.

Dr. Domrose antwortete:

„Ich kann auch in diesem Zusammenhang nur Positives berichten, die Klassen- bzw. Stufenleiterinnen hat nur Gutes von Birte erzählt.“ Nach einer Stunde bedankten sich die Polizisten bei Dr. Domrose für ihre Auskünfte und ließen sich die Liste mit den Namen geben, zum Glück waren Adressen und Telefonnummern gleich mit vermerkt. Dr. Domrose geleitete ihren Besuch noch bis zum Ausgang, sie gaben sich alle die Hand und die Polizisten fuhren zu ihrer Dienststelle zurück. KHK Leber und KOK Meissner saßen in ihrem Büro zusammen und redeten über das Gespräch mit Dr. Domrose, sie wollten sich am nächsten Tag gleich mit den Mädchen und Jungen von der Liste verabreden. Um 17.00 h machten sie wie üblich Feierabend und fuhren mit bedrückten Mienen nach Hause.

Sie erzählten ihren Ehefrauen von dem Mord an Birte Schoemaker und die waren entsetzt, Birte wäre nur unwesentlich jünger als Rebecca gewesen, sagte Frau Meissner. Die Kommissare berichteten von ihrem Besuch in Birtes Elternhaus und sagten:

„Solche Besuche sind immer sehr bedrückend“, was ihre Frauen gut verstehen konnten. Sie saßen noch eine Zeit lang bei Meissners und aßen gemeinsam zu Abend, nichts Großes, nur ein paar Brote, die Männer hatten sich jeder eine Flasche Bier geöffnet. Sie machten an dem Abend nicht mehr allzu lange und gingen gegen 22.30 h ins Bett, hundemüde, der Tag war anstrengend gewesen, aber auch solche Tage gab es eben im Leben eines Kriminalbeamten. Am nächsten Morgen stellten sie ihren Wagen in der Asberger Straße ab und nahmen sich einen Dienstwagen, mit dem sie nach Vinn zu Familie Schoemaker fuhren. Auf ihr Klingeln hin öffnete Herr Schoemaker sofort die Haustür, die Beamten wünschten einen guten Morgen und wussten doch gleich, dass es erst einmal für lange Zeit keinen guten Morgen im Hause der Schoemaker geben würde. Die Beamten baten das Ehepaar:

„Ziehen Sie sich etwas über und steigen Sie in unseren Wagen, damit wir gemeinsam nach Wesel fahren können!“ KHK Leber half Frau Schoemaker beim Einsteigen, sie trug Schwarz und ihre Gesichtszüge waren steinern, ihre Augen waren verweint, vermutlich hatte sie die ganze Nacht über kein Auge zugemacht. Sie fuhren auf der A 57 bis nach Alpen und von dort über Büderich und die neue Rheinbrücke nach Wesel. In der Forensik leitete ein alter Bekannter die Abteilung für die Sezierung der Leichen, Dr. Schulz arbeitete schon seit fünfundzwanzig Jahren in Wesel und kannte KHK Leber und KOK Meissner gut. In seinem Untersuchungsraum lag Birte unter einem Tuch, es war an Frau Schoemaker, an die Bahre zu treten und ihrer Tochter ein letztes Mal ins Gesicht zu sehen. KHK Leber stützte sie und als Dr. Schulz das Tuch ein Stück von Birtes Gesicht zog, nur so viel, dass man sie erkennen konnte, verlor Frau Schoemaker das Bewusstsein und KHK Leber fing sie auf und setzte sie auf einen freien Stuhl. Dr. Schulz kam gleich mit Riechsalz, hielt Frau Schoemaker etwas davon unter die Nase und erlöste sie damit aus ihrer Ohnmacht. Zwischenzeitlich hatte Birtes Vater die Identifizierung vorgenommen, wortlos, mit erstarrtem Gesicht. Dr. Schulz bedeckte Birtes Gesicht gleich wieder und bat Frau Schoemaker und ihren Mann nach draußen zum Kaffeeautomaten, wo für alle Stühle standen, dort setzten sie sich hin. Frau Schoemaker weinte, sie konnte die schreckliche Tat immer noch nicht begreifen, sie war noch nicht ansprechbar und völlig fassungslos. Nach einer Weile ging KHK Leber noch einmal zu Dr. Schulz und besprach dessen Untersuchungsergebnisse mit ihm unter vier Augen. Dr. Schulz sprach von dem schrecklichen Zustand, in dem sich die Leiche befände:

„So etwas habe ich in meiner langjährigen Dienstzeit in der Forensik nur selten gesehen. Birte ist vergewaltigt worden, der Täter hat aber ein Kondom benutzt, sodass es keine Spermaspuren gibt. Ich habe auch nach Kratzspuren unter Birtes Fingernägeln gesucht, dort aber nichts Entscheidendes entdecken können. Auffällig ist neben der tief durchschnittenen Kehle der gebrochene rechte Arm, der obendrein noch ausgekugelt ist. Der Arm zeigt unterhalb des Ellenbogens ein großes Hämatom, für dessen Herkunft ich keine Erklärung habe, die Untersuchung des Körperinneren hat nichts Auffälliges ergeben. Alles Weitere könnt Ihr dem Untersuchungsbericht entnehmen, den ich Dir mitgebe!“ KHK Leber bedankte sich bei Dr. Schulz und verließ, den Untersuchungsraum wieder, er ging zurück zum Kaffeeautomaten und sagte den anderen, dass sie wieder nach Moers fahren sollten, Birtes Leichnam würde in den nächsten Tagen überstellt, sodass ihre Eltern ihre Tochter beerdigen könnten. Als die Polizisten die Schoemakers vor deren Haus in Vinn absetzten, gingen die beiden schweigend hinein, die Beamten sahen, dass sie sie unmöglich befragen konnten und sagten ihnen, dass sie sich wieder melden würden. Sie fuhren zur Polizeiinspektion und stellten fest, dass ihre Mittagspause leider schon vorüber war, weshalb sie bis nach Feierabend Hunger schieben müssten.

Sie saßen in ihrem Dienstzimmer und gingen die Liste durch, die ihnen Dr. Domrose gegeben hatte und riefen bei Svenja Kollartz an, die in Kapellen wohnte und eigentlich zu Hause sein müsste. Nach kurzem Klingeln ging Svenjas Mutter ans Telefon, bat um einen Moment Geduld und holte ihre Tochter. Svenja meldete sich mit dünner Stimme, sie war gleich im Bilde, als sich die Polizei bei ihr meldete. KHK Leber stellte sich als der leitende Untersuchungsbeamte vor und bat Svenja:

„Schlage mir doch einen Ort und einen Termin vor, damit wir uns einmal zusammensetzen können!“ Svenja überlegte kurz und schlug das Extrablatt in der Stadt vor, sie könnte allerdings erst in drei Tagen, weil sie am nächsten und übernächsten Nachmittag Unterricht hätte, sie schlug deshalb 15.30 h vor und KHK Leber willigte ein, er sagte:

„Du wirst die beiden älteren Herren schon erkennen!“ Die Nächste auf der Liste war Maria Kleinkemkes, sie wohnte laut Liste in Hülsdonk und ging gleich ans Telefon, und als sich KHK Leber vorgestellt hatte, tat sie, als hätte sie schon mit dem Anruf gerechnet. Der Hauptkommissar bat sie, genau wie Svenja, einen Treffpunkt und Trefftermin vorzuschlagen, damit sie sich einmal ungestört unterhalten könnten. Er sagte ihr:

„Mein Kollege und ich werden uns in drei Tagen mit Svenja im Extrablatt treffen, ich fände es aber nicht gut, wenn wir uns alle auf einmal träfen, sondern ich ziehe es vor, mit jedem getrennt zu reden.“ Maria hatte wie Svenja auch am nächsten und übernächsten Nachmittag Schule und könnte deshalb auch erst in drei Tagen, sie schlug den Hülsdonker Bahnhof als Treffpunkt vor und nannte 17.00 h als Treffzeit. KHK Leber notierte Marias Vorschlag und sagte ihr:

„Du wirst meinen Kollegen und mich wohl unschwer erkennen können!“

Anna Lieberecht war die Dritte auf der Liste, sie wohnte in in der Stadtmitte in der Bankstraße und war auch zu Hause, als sie sie anriefen. Sie ging selbst ans Telefon und tat sehr verschüchtert, als die Polizei sich bei ihr meldete. KHK Leber nahm ihr sofort die Scheu und sagte ihr:

„Du brauchst keine Angst zu haben, Du weißt doch sicher, warum ich anrufe!“ und Anna sagte, dass ihr das klar wäre. Er fragte Anna, wann und wo sie sich einmal zusammensetzen könnten, die Polizei hätte einige Fragen zu Birte an sie. Anna überlegte kurz und sagte:

„Wir können uns in zwei Tagen in der Röhre treffen, ich kann um 16.00 h, ist Ihnen das recht?“ und KHK Leber war einverstanden, sie müssten übermorgen eben später Feierabend machen. Später erklärte Anna den Polizisten, warum sie nicht auf das in ihrer Nachbarschaft befindliche Grafschafter Gymnasium ging, sie kam dort nicht mit den Lehrern klar, sie hatte dort ein Jahr wiederholt und war anschließend zum Gymnasium in den Filder Benden gewechselt.

Es blieben auf der Liste noch die beiden Jungen Marc Schreiber und Jens Schuster, Marc machte am Telefon einen sehr aufgeschlossenen Eindruck. Er wusste gleich, worum es ging und KHK Leber bat auch ihn, ihm einen Trefftermin und Treffpunkt zu nennen. Marc wohnte auf der Humboldstraße und schlug vor:

„Ich kann dem Fahrrad zur Eisdiele am Beginn der Steinstraße kommen, wenn es nach mir geht, können wir uns noch an diesem Nachmittag um 15.30 h treffen!“, und KHK Leber war einverstanden.

„Wenn Sie Jens Schuster auch noch anrufen wollen, den kann ich mitbringen, er wohnt in meiner Nachbarschaft und ich werde ihn verständigen.“ Obwohl der Hauptkommissar die Schüler eigentlich einzeln befragen wollte, willigte er ein und verabschiedete sich bis um 15.30 h. Ein Blick auf die Uhr zeigte 14.45 h, also war es Zeit, sich langsam zur Eisdiele aufzumachen und dort auf die Jungen zu warten. Es gab in der Polizeiinspektion neue Dienstfahrräder, modern ausgestattet, mit Kettenschaltung und Alu-Rahmen, die schnappten sich die beiden Polizisten und fuhren die Homberger Straße bis zum Ende entlang. Sie überquerten die Ampelkreuzung an der Uerdinger Straße und waren gleich an der Eisdiele angelangt, stellten die Fahrräder ab und setzten sich. Es saßen dort zwei Familien mit ihren Kindern, sodass sie als einzelne ältere Herren eigentlich nicht zu übersehen waren. Als der Kellner kam, bestellten sie sich jeder einen Cappuccino und sie warteten, es war erst 15.20 h, sie hatten also noch etwas Zeit und KHK Leber fragte seinen Kollegen:

„Brennt Dir eine Frage besonders auf den Nägeln?“ Aber KOK Meissner zuckte nur mit den Schultern, sie hatten für solche Fälle natürlich ihr Fragerepertoire, und das würde sicher auch ausreichen, um ihnen einen Eindruck zu vermitteln. Pünktlich um 15.30 h wurden sie von zwei jungen Männern angesprochen und es war klar, das waren Marc und Jens, die Polizisten baten die beiden, sich an ihren Tisch zu setzen. Da die Beamten nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollten, fragte KHK Leber die beiden, ob sie schon Schulaufgaben gemacht hätten. Die schauten ihn daraufhin an, als wüssten sie nicht, was er von ihnen wollte und der Hauptkommissar entspannte die Atmosphäre sogleich wieder, indem er sich für seine blöde Frage entschuldigte, ihm wäre einfach nichts Besseres zur Gesprächseröffnung eingefallen. KOK Meissner sagte:

„Wir waren am Vortag in Eurer Schule und haben mit der Schulleiterin über Birte Schoemaker gesprochen, mein Kollege und ich haben Dr. Domrose sehr nett gefunden und uns in Eurem Gymnasium wohl gefühlt.“ Marc pflichtete dem Oberkommissar bei und sagte:

„Dr. Domrose wird eigentlich von jedem gemocht, sie ist auch im Unterricht sehr nett und versteht etwas von ihrem Fach, sie unterrichtet Chemie.“

„Wisst Ihr, ob Dr. Domrose Birte Schoemaker unterrichtet hat?“, fragte KHK Leber und Jens antwortete:

„Das war in der Sekundarstufe I gewesen, als ich mit Birte zusammen in der 9. und 10. Klasse gewesen bin, da haben wir beide Chemie bei der Schulleiterin gehabt. Ich bin damals völlig auf Birte abgefahren und sogar in sie verliebt gewesen, sie hat aber von mir nichts wissen wollen, weshalb ich wochenlang traurig gewesen bin. Birte ist schon zu jener Zeit Klassenbeste gewesen und hat sich mit jedem gut verstanden, sie ist immer der Typ gewesen, der alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat ohne dabei arrogant zu werden.“ Marc sagte:

„Ich bin erst in der 7. Klasse zum Gymnasium in den Filder Benden gekommen, habe seitdem aber immer mit Birte zusammen Unterricht gehabt. Auch ich bin von Anfang an fasziniert von Birte gewesen, sie hat aber nie jemanden an sich herangelassen, weshalb auch ich meine Hoffnungen schnell begraben musste.“ Die Polizisten stellten eine Standardfrage, nämlich, ob sich die Jungen jemanden vorstellen könnten, der als Täter in Betracht käme, aber beide schüttelten sofort ihre Köpfe.

„Wir kennen niemanden, der einen Groll gegen Birte gehabt hat, wir sind beide völlig fassungslos gewesen, als wir von Birtes Tod gehört haben.“

„Könnt Ihr denn sagen, wo und wie Birte ihre Freizeit verbracht hat?“ und Marc antwortete, dass er wüsste, dass Birte zweimal pro Woche Tennis in Asberg gespielt hätte, ansonsten hätte sie sich auch schon ein paar Mal zur Happy Hour donnerstags im Extrablatt blicken lassen.

„Wer geht denn sonst noch alles dahin?“, fragte KHK Leber nach und Marc antwortete:

„Dort sind immer viele Oberstufenschüler anzutreffen, wir haben einmal sogar unseren Mathematiklehrer dort gesehen, der ist noch sehr jung und hat keine Familie, auch der Hausmeister ist schon einmal dort gewesen. Man bekommt im Extrablatt in der Happy Hour einen Cocktail für 3.90 Euro, für den man sonst um die 7.00 Euro bezahlen muss.“ Was wollt Ihr denn einmal werden?“, fragte KHK Leber die beiden plötzlich und Jens sagte, dass er Wirtschhaftsingenieurwesen studieren und in die Autoindustrie gehen wollte, Marc antwortete, dass er an ein Lehramtsstudium dachte, ihm lägen die Fächer Sport und Mathematik, aber er hätte sich noch nicht festgelegt. Marc und Jens hatten sich jeder ein Spagettieis bestellt, das ihnen KHK Leber selbstverständlich ausgab, er sagte:

„Wir sind mit unserer Befragung fertig, wenn wir noch weitere Fragen haben, melden wir uns noch einmal bei Euch.“ Die Jungen verabschiedeten sich per Handschlag und fuhren auf ihren Rädern nach Hause, KOK Meissner meinte, dass die beiden doch zwei ausgesprochen nette Vertreter der jungen Generation gewesen waren. Sie zahlten, schwangen sich auf ihre Diensträder und fuhren zur Polizeiinspektion zurück, stellten die Räder dort ab und machten Feierabend.

Sie nahmen sich auf der Fahrt ins Wochenende vor, am Montag noch einmal zu Schoemakers zu fahren und dem Ehepaar ein paar Fragen zu stellen. Zu Hause trieb sie beide eine Unruhe, die ihre Ehefrauen immer an ihnen beobachteten, wenn sie an einem Fall saßen, so wie in diesem Moment. KHK Leber saß mit KOK Meissner bei einer Flasche Bier auf seiner Terrasse, sie überlegten hin und her und wussten im Moment noch nicht weiter, aber beiden war klar, sie würden den Täter erwischen und ihn vor Gericht bringen. Sie machten nicht viele Worte und ließen es in sich arbeiten, wenn sie so da saßen, wollten sie nicht gestört werden, das wussten ihre Frauen aus langjähriger Erfahrung, und sie ließen sie in Ruhe. Das ganze Wochenende war mit den beiden nicht viel anzufangen, sie grillten nicht und machten keine Radtour. Am Montagmorgen fuhren sie, nachdem sie bei Schoemakers angerufen und ihren Besuch angekündigt hatten, nach Vinn. Birtes Eltern sahen schlecht aus, ihr Vater hatte eine Woche Urlaub genommen, um bei seiner Frau sein zu können, beide waren sie in tiefer Trauer, der Vater hatte seine Tochter vergöttert, und auch die Mutter hatte ihr Kind geliebt KHK Leber fragte:

„Ist es möglich, dass wir uns unterhielten?“, und Herr Schoemaker bat die beiden Polizisten hinein und bot ihnen eine Tasse Kaffee an, er hatte ein ernstes, noch nicht gefasstes Gesicht. Seine Frau sah noch immer verweint aus und wischte sich die Tränen, sie war aber ansprechbar.

„Was können Sie uns über Birtes Freizeitverhalten sagen?“, fragte KHK Leber sie beide und Frau Schoemakers antwortete mit gebrochener Stimme:

„Birte hat in Asberg Tennis gespielt, zweimal die Woche, zu anderen Dingen hat sie keine Zeit gehabt.“

„Ist Birte denn nicht auch einmal in die Stadt gegangen, zum Cafe Extrablatt zum Beispiel?“, hakte der Hauptkommissar nach und Frau Schoemakers entgegnete:

„Unsere Tochter ist höchstens einmal dort gewesen, sie hat aber dort keinen Alkohol getrunken und ist nie mehr im Extrablatt gewesen.“

„Was wissen Sie denn über Freundschaften Ihrer Tochter, Birte ist schließlich siebzehn Jahre alt gewesen und hat sehr gut ausgesehen?“ Sofort erwiderte Frau Schoemakers, ihre Stimme war jetzt fest geworden:

„Unsere Tochter hat sich nichts aus Jungen gemacht, dazu hat sie keine Zeit gehabt.“

„Und was ist mit Mädchen gewesen?“, fragte KHK Leber nach und gleich antwortete Birtes Mutter:

„Es hat da die Clique gegeben, zu der Svenja Kollartz, Anna Lieberecht und Maria Kleinkemkes gehört haben, die vier haben schon mal etwas unternommen, sind Fahrradgefahren oder schwimmen gegangen, abends sind sie nur selten aus gewesen.“

Auch den Eltern stellten die Polizisten ihre Standardfrage, ob sie sich jemanden als Täter vorstellen könnten, aber da mussten die Eltern passen, sie konnten sich niemanden vorstellen, der Birte böse gewesen wäre. Die Beamten ließen sich Birtes Zimmer zeigen und fanden dort alles in einem aufgeräumten und sauberen Zustand vor, „so ist Birte eben gewesen“, sagte die Mutter, „sie hat Unordnung und Schmutz gehasst.“ Auf ihrem Schreibtisch lagen Fotos, die Birte mit ihren Freundinnen zeigten, KOK Meissner setzte sich auf den Schreibtischstuhl und öffnete eine Schublade, er fand dort Birtes Tagebuch, in dem sich für vergangenen Dienstag die letzte Eintragung fand. Er zeigte das Tagebuch seinem Kollegen und die Polizisten steckten es mit Erlaubnis der Mutter ein.

„Vielleicht enthält das Tagebuch ja einen Hinweis auf den Mörder.“ Sie bedankten sich für den Kaffee und fragten:

„Wann findet denn Birtes Beerdigung statt?“, und die Mutter antwortete, dass sie ihre Tochter in zwei Tagen beerdigen wollten. Die Kommissare verließen die Schoemakers wieder und fuhren zur Polizeiinspektion zurück, setzten sich in ihr Dienstzimmer und ließen sich durch den Kopf gehen, was Frau Schoemaker gesagt hatte, es war ihnen klar geworden, dass sie nicht alles von Birte wusste. Man merkte ganz deutlich wie sie ihre Wunschvorstellungen in ihre Tochter projizierte, sie dachte an ein unbescholtenes und strebsames Mädchen, das Birte ja möglicherweise auch gewesen war, aber sicher wohl nicht für immer sein wollte. Birte war wahrscheinlich ein ganz normales Mädchen, das seine Fühler auch zum anderen Geschlecht ausstreckte, nur eben nicht so deutlich wie das andere taten. Sie nahmen sich das Tagebuch vor und jeder blätterte darin herum, es reichte knapp zwei Jahre zurück, Birte hatte immer die Tagestemperaturen und den Himmel beschrieben, sie hat akribisch festgehalten, mit wem sie sich wo getroffen hatte, aber die Beamten fanden beim ersten Durchblättern keine heiße Spur, sie hatte sich ausschließlich mit ihren Freundinnen getroffen. Birte war siebzehn Jahre alt, ein Alter, in dem man sich verlieben konnte aber nicht musste, siebzehn war die Grenze zwischen noch kindlicher Jugend und Erwachsensein, Birte mag älter ausgesehen haben als siebzehn, sie fühlte sich aber wahrscheinlich, als wäre sie jünger. Vielleicht mussten sie gar nicht nach jemandem suchen, der einen Groll gegen Birte gehegt hatte, sondern nach jemandem, den diese Zerrissenheit zwischen Jugend und Erwachsensein besonders ansprach, der diesen Zustand aufreizend fand. Man konnte im Nachhinein nicht sagen, ob Birte diesen Zustand ausgespielt und die Männer um ihren kleinen Finger gewickelt hatte, hatten sie es mit einem Lolitasyndrom zu tun? Das waren alles nur Mutmaßungen, die sich aus heutiger Sicht nur schwer belegen ließen, aber ausschließen konnte man sie auch nicht.

Träfe das Lolitasyndrom zu, würde sich der Kreis der in Frage kommenden Täter auf Männer mittleren Alters verengen, Mitschüler zum Beispiel schieden aus. Sie gingen um 12.00 h in die Mittagspause und trafen in der Kantine einen Kollegen von der Abteilung Sexualdelikte, setzten sich zu ihm an den Tisch und unterhielten sich mit ihm über ihre Vermutung zum Lolitasyndrom. KHK Jansen, ein alter Bekannter der beiden Kommissare, hörte sich an, welcher Vermutung die beiden nachgingen und sagte ihnen:

„Ihr dürft Euch nicht allzu früh auf das Lolitasyndrom einschießen“, er war ein erfahrener Kollege und wusste mit Sicherheit, wovon er sprach.

„Mir sind solche Lolitas in Moers gar nicht bekannt, ich habe einmal in Duisburg in so einem Fall ermittelt, aber das liegt Jahre zurück, Verbrechen im Lolitamilieu sind ausgesprochen selten.“ Die beiden Kommissare aßen lustlos ihre Rinderrouladen und nickten zu dem, was ihnen KHK Jansen erzählte, sie wussten, dass sie nicht allzu früh ihren Blickwinkel verkleinern durften, ließen aber die Möglichkeit des Lolitasydroms nicht außer Acht. Am Nachmittag fuhren sie nach Asberg zum Tennisclub, um dort bei einigen Teamkolleginnen von Birte Auskünfte über sie einzuholen und trafen gleich auf ihren Trainer. Er war ein braungebrannter Mitdreißiger, durchtrainiert und gutaussehend, er war sich seiner athletischen äußeren Erscheinung sehr wohl bewusst, das merkten die Beamten an der Art und Weise wie er ihnen gegenübertrat, mit körperbetonten Bewegungen, immer darauf bedacht, ein gutes Bild abzugeben.

Aber KHK Leber und KOK Meissner ließen sich dadurch nicht ablenken und stellten ihm gezielte Fragen zu Birte, zum Beispiel:

„Wie lange hat sie schon bei Ihnen trainiert, hat sie immer nur bei Ihnen trainiert und wie würden Sie Ihr Verhältnis zu ihr beschreiben?“ Der Trainer, dessen Name Gerd Hoberger war, sagte zunächst:

„Ich habe aus der WAZ vom Tode Birtes erfahren und bin tief berührt gewesen, Birte ist mir im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen und ich habe ein freundschaftliches Verhältnis zu ihr entwickelt, wir haben uns beide sehr gut miteinander verstanden und Birte hat in mir so etwas wie eine Vaterfigur gesehen, ihr eigener Vater ist wohl nur selten für sie da gewesen. Birte ist am Ende eine sehr gute Tennisspielerin gewesen, die regelmäßig für den TC Asberg bei Turnieren angetreten ist und viele Pokale gewonnen hat.“ Die Beamten fragten auch, ob sich Gerd Hoberger auch schon einmal nach dem Tennis mit Birte getroffen hätte und der Trainer merkte, worauf diese Frage abzielte. Er wies den Verdacht der Polizisten entrüstet von sich und die Beamten sagten, quasi zu ihrer Entschuldigung, dass sie in alle Richtungen ermitteln müssten, das sollte er verstehen. Sie ließen sich am Schluss ihrer Befragung ehemalige Tennispartnerinnen von Birte zeigen und unterzogen auch sie einer Befragung.

Auch sie wussten natürlich längst vom Tode Birtes und sagten durch die Bank, dass sie alle entsetzt gewesen wären, als sie von der Ermordung ihrer Tenniskollegin in der Zeitung gelesen hätten. Die Beamten fragten sie:

„Könnt Ihr Euch jemanden als Täter vorstellen?“, aber die Mädchen zuckten nur ihre Schultern. Die Polizisten fragten weiter nach dem Verhältnis des Trainers zu Birte, und die Mädchen witterten den Verdacht, der sich hinter dieser Frage verbarg, aber niemand von ihnen konnte sich vorstellen, dass da zwischen den beiden etwas gelaufen wäre, das hätten sie sofort mitbekommen, sagten sie. Die Kommissare bedankten sich für die Auskünfte und gingen auf die Außenanlage, sie sahen wie sich die Tennisschüler zum Teil abquälten, wie sie die Aufschläge versiebten und sich mit der Rückhand schwertaten. Bei manchen war man beinahe gewillt, ihnen vom Tennisspielen abzuraten, so wie sie sich anstrengten, wie sie schwitzten und völlig außer Atem dem Ball hinterherhetzten, weil sie zu viel Übergewicht hatten und sich schon allein deshalb nicht für diesen Sport eigneten. Die Tennisanlage war in einem ausgezeichneten Pflegezustand, dafür war der Platzwart zuständig, der nach jedem Spiel das Spielfeld abzog und die Linien nachfuhr. Die Beamten gingen zu ihm, stellten sich vor und fragten auch den Platzwart nach Birte Schoemakers. Der Platzwart war ungefähr fünfzig Jahre alt und sah für sein Alter recht passabel aus.

„Haben Sie Birte gekannt?“, fragten sie ihn und er antwortete:

„Ich habe Birte natürlich gut gekannt, schließlich ist sie seit Jahren zum Training gekommen. Als ich von ihrem Tod in der WAZ gelesen habe, ist mir ein abgrundtiefer Schreck durch die Glieder gefahren, ich habe Birte sehr gemocht, sie ist immer so freundlich gewesen und hat mich herzlich gegrüßt, wenn sie auf dem Platz gewesen ist.“

„Wie würden Sie ihr Verhältnis zu ihr beschreiben?“, fragten die Beamten ihn direkt und als er sie verständnislos anblickte, sagten sie ihm, sich entschuldigend:

„Wir müssen in alle Richtungen ermitteln, bitte verstehen Sie das!“ Es wäre ein Verhältnis zwischen einem Platzwart und einer Tennisschülerin gewesen, mehr nicht, sagte er knapp und sie sollten den Verdacht, den sie gegen ihn hegten, gleich wieder fallenlassen, brachte er leicht erbost hervor. Die Beamten bedankten sich bei ihm für die Auskünfte und liefen auf der Anlage weiter, sie konnten deutlich den Verkehr auf der B 60 hören, die direkt an der Tennisanlage vorbeilief, die Tennisspieler aber nicht weiter störte. Inzwischen war aus der B 60 die L 140 geworden, vermutlich wollte der Bund die Unterhaltskosten für die Bundesstraße auf das Land abwälzen, denn das Land NRW war vom Zeitpunkt der Umwidmung zur L 140 für die Straße zuständig.

Die Beamten stiegen wieder in ihren Wagen und fuhren zur Polizeiinspektion zurück, sie trafen dort Frau Fahrenholz an und berichteten ihr in ihrem Dienstzimmer vom Gang ihrer Ermittlungen, sie erzählten ihr von ihrem Gespräch mit Birtes Eltern und von ihrem Besuch beim Tennisclub Asberg, sie erwähnten auch, dass sie sich mit den Gedanken an ein Lolitasydrom getragen hätten. Die Kriminaldirektorin entgegnete aber, wie auch schon ihr Kollege KHK Jansen, dass solche Fälle extrem selten wären.

„Natürlich sollen Sie in diese Richtung ermitteln, wenn Sie Anhaltspunkte haben, versteifen Sie sich aber um Gottes Willen nicht darauf!“, daraufhin verließ sie ihre Kommissare wieder, KOK Meissner holte für seinen Kollegen und sich einen Kaffee und beide dachten sie über ihre Begegnungen mit den Leuten vom Tennisclub nach, sowohl der Trainer als auch der Platzwart passten beide in ihr Lolitaschema, aber sie waren vorsichtig mit allzu schnellen Vorverurteilungen.

„Warum ist denn der Vater von Birte am Vormittag wohl so schweigsam gewesen?“, fragte KOK Meissner und sein Kollege antwortete:

„Das verdeutlicht doch nur, dass er sich viel zu wenig um seine Tochter gekümmert hat, er hat einfach nichts zu sagen gewusst, weil er die Lebensumstände seiner Tochter nicht gekannt hat. Ihre Mutter hat zwar einiges über Birte zu berichten gewusst, ich bezweifle aber, dass ihr alles über sie bekannt ist, sie hat sich ein Bild von ihrem Kind zurechtgelegt und alles, was nicht dazu passte, ausgeklammert.“ Sie träfen sich am nächsten Tag erst einmal mit Anna in der Röhre, vielleicht brächte sie die Begegnung mit ihr weiter.

Die Röhre war eine uralte Szenekneipe in Moers, die die beiden Kommissare noch aus ihrer Jugendzeit kannten, denn gelegentlich fuhr KOK Meissner als Jugendlicher von Duisburg nach Moers, wenn sich in Duisburg keine rechte Kneipe für seine Vergnügungen fand. Das Angesagteste in Duisburg war damals das Old Daddy, die Discos Pulp oder Delta gab es noch nicht, es gab eigentlich noch nirgendwo solche Massendiscos, wie es auch das PM in Moers eine war. In der Röhre spielten von Anfang an Livebands im Keller, und das war genau das, was die meisten zu der Zeit haben wollten. KHK Leber ging es in seiner Jugendzeit genauso, auch er fuhr mit Freunden von Krefeld nach Moers, wenn sie in Krefeld keine Kneipe fanden, die ihnen gefiel. Es könnte sein, dass sich die beiden schon damals über den Weg gelaufen waren, sie kannten sich aber noch nicht. In der Röhre trank man unendlich viel Bier, stand herum und bewegte sich zur Musik, so machten es eigentlich alle Besucher dieser Kneipe. Wenn einem ein Mädchen gefiel, stellte man sich zu ihm und begann ein belangloses Gespräch, wenn es die Musik zuließ. Entweder wandte sich das Mädchen gelangweilt ab oder es bekundete Interesse und hörte sich an, was man zu sagen hatte.

Auf diese Weise hatten sie beide damals Mädchen kennen gelernt, die Bekanntschaften waren aber immer nur von kurzer Dauer. Man ging immer leicht angeheitert wieder nach Hause, wenn man vier bis fünf Halbe getrunken hatte und manchmal wurde auf der Straße randaliert, was die Anwohner regelmäßig auf die Palme brachte, und die die Polizei riefen. Die Polizei sah aber immer nur zu, dass die Leute friedlich blieben und in ihre Autos verschwanden, sie achtete besonders auf die Fahrer, dass diese nüchtern waren und sich nicht etwa besoffen hinter das Steuer setzten. Am nächsten Morgen fuhren KHK Leber und KOK Meissner nach Meerbeck, um einige Anwohner am Klever Platz zu befragen, vielleicht hatte ja doch einer von ihnen beobachtet, wie Birte Schoemakers von ihrem Mörder unter den Busch gezerrt worden war. Sie fuhren mit ihrem Dienstwagen die gleiche Strecke, die sie auch am Mittwoch, als sie zum Fundort von Birtes Leiche gefahren waren, genommen hatten, die Homberger Straße durch die Bahnunterführung und danach links bis zum Klever Platz. Sie stellten ihren Wagen an den Straßenrand und gingen zu der Platzseite, von der aus sie den besten Blick auf den Fundort hatten, man sah allerdings nur das ausladende Buschwerk, mehr nicht. Sie schellten einfach nach Belieben an einer Haustür und eine ältere Frau öffnete ihnen, sie fragte unwirsch, was die Beamten wollten. KHK Leber und KOK Meissner stellten sich vor und fragten:

„Können Sie sie sich nicht vielleicht erinnern, etwas gesehen zu haben, was mit dem Mord zu tun gehabt hat?“ Ohne groß zu überlegen fuhr sie den Beamten über den Mund sie bemerkte nur:

„Ich habe der Polizei alles gesagt, was ich weiß“ und schlug den Polizisten die Tür vor der Nase zu. Die Kommissare schauten sich verdutzt an, konnten aber nichts machen, es bestand schließlich keine Verpflichtung, Auskünfte zu erteilen. Sie standen vor einer Reihe renovierter Zechenhäuser, die schmuck aussahen und Gemütlichkeit ausstrahlten, sie hatten einen Vorgarten und waren eingeschossig. Sie boten nicht übermäßig viel Platz, gemessen am heutigen Platzbedarf für Familien jedenfalls, dennoch wurden auf engstem Raum viele Kinder großgezogen, man rückte zusammen und wusste sich mit den beengten Verhältnissen zu bescheiden. Es gab unten ein WC, den Kellerabgang, eine Küche und einen Wohnraum und oben lagen noch zwei Zimmerchen mit Schrägen, das reichte früher vielen Familien aus, es musste ausreichen. Hinter einem solchen Zechenhaus schlossen sich ein Hof und ein großer Garten an, auf dem Hof standen die Kaninchenställe mit den gepflegten Belgischen Riesen, sie gaben sonntags reichlich Fleisch für die Familie, wenn der Vater samstags ein Kaninchen geschlachtet hatte. Manche hielten sich in einem kleinen Koben ein Schwein und mästeten es bis zum Winter, wenn es geschlachtet wurde. Zum Schlachten holte man sich jemanden aus der Nachbarschaft, der sich mit dem Schlachten auskannte.

Es wurden die Schinken ausgelöst, die Hachsen zur Seite gelegt und die Koteletts geschnitten, aus dem Kopffleisch wurde Sülze gemacht. Die Hauptarbeit aber war das Wursten, das in erster Linie ein Kochen war, Blut- und Leberwurst kamen in Einweckgläser und wurden in den Keller gebracht, wo sie neben das Obst gestellt wurden, das im Sommer eingeweckt wurde. Im Garten hielten sich die Leute damals alles wichtige Gemüse, das zur deutschen Küche gehörte, und jeder verstand etwas von Gartenbau. Die Beamten schellten im Nachbarhaus, als sich aber schon die Tür auftat und ein junges Paar das Haus verließ und sich von der Hausbewohnerin, wahrscheinlich ihrer oder seiner Mutter, verabschiedete. Die Polizisten traten einen Schritt zur Seite, um dem Paar nicht im Weg zu stehen und stellten sich bei der Hausbewohnerin vor. und bevor diese sagen konnte, dass sie schon alles erzählt hatte, gaben sie vor, noch besondere Fragen zu haben und die Frau ließ die beiden herein. Sie gelangten in ein sehr ordentliches und sauberes kleines Wohnzimmer, das für den heutigen Geschmack etwas altbacken eingerichtet war. Die Frau räumte die Kaffeetassen, die noch auf dem Tisch gestanden hatten, in die Küche und fragte die Beamten, ob sie einen Kaffee wollten, es wäre noch frischer Kaffee in der Kanne. Die Kommissare nahmen gern einen Kaffee und die Frau bot ihnen sogar selbstgebackenen Apfelkuchen an, auch davon nahm jeder dankbar ein Stück.

Sie aßen zunächst ihren Kuchen auf, bevor die Frau sie fragte, was denn das für besondere Fragen wären, die sie hätten und die Beamten rückten mit der zum x-ten Male gestellten Frage heraus:

„Haben Sie nicht etwas gesehen, was mit dem Mord in Verbindung gebracht werden kann?“ Die Frau reagierte nicht gerade erbost auf diese Frage, war aber auch nicht gerade erfreut, nun doch die alte Leier serviert zu bekommen. Die Polizisten verwiesen darauf, dass sie doch schließlich dem Fundort der Leiche genau gegenüber wohnte, also auch etwas gesehen haben könnte. Die Frau blieb ganz ruhig und merkte an:

„Ich habe diese Frage schon mindestens zehnmal beantwortet, ich kann doch nicht irgendetwas erfinden, was ich in Wirklichkeit gar nicht gesehen habe!“ Die Kommissare merkten der gelangweilten Stimmlage der Frau an, dass sie besser gingen, bevor sie am Ende noch hinausgeworfen würden, bedankten sich für Kaffee und Kuchen und verabschiedeten sich wieder. Sie kamen sich in diesem Moment vor wie Bettler, die um eine milde Gabe flehten, sie mochten bei solchen Gelegenheiten ihren Beruf nicht besonders, weil sie zu passiven Empfängern von Gnadenakten ihrer Gegenüber wurden. Sie gingen eine Haustür weiter und kamen an das Nachbarhaus, das exakt so gehalten war wie das Haus zuvor, es unterschied sich nur in der Haustür, die irgendwann einmal ausgetauscht und durch eine Kunststofftür ersetzt worden war.

Sie schellten und wieder öffnete ihnen eine alte Dame, vermutlich waren die Männer tot und die Frauen lebten ein zufriedenes Leben, solange es ihnen körperlich gut ging, finanziell waren sie durch die Witwenrente abgesichert, die zwar nicht besonders üppig ausfiel, sparsamen Menschen aber, die sie waren, zum Leben reichte, das Haus war ja in der Regel längst abbezahlt. Die Beamten stellten sich vor und wurden von der Frau, die vielleicht fünfundsiebzig Jahre alt war, hereingebeten. Sie sagten gleich, dass sie wüssten, dass der Frau die Frage, die sie ihr stellen wollten, schon mehrere Male vorlegt worden wäre. Trotzdem wollten sie von ihr wissen, ob sie nicht etwas bemerkt hätte, was den Mord an Birte Schoemaker betraf. Die Frau antwortete zum Erstaunen der Beamten:

„Mir hat in diesem Zusammenhang noch niemand eine Frage gestellt, ich kann mir das auch nicht erklären, aber bei mir hat noch nie jemand deswegen geschellt.“ KHK Leber starrte KOK Meissner an und er fragte die Frau direkt:

„Haben Sie etwas gesehen?“ Sie machte eine kleine Überlegenspause, bevor sie sagte:

„Ich habe durch Zufall aus dem Fenster im ersten Stock geschaut und in der Dämmerung kaum etwas wahrgenommen, dennoch habe ich jemandem bemerkt, der etwas Großes zum Busch auf dem Platz zerrte.“ Die Polizisten wurden sofort hellhörig und fragten nach, KOK Meissner begann, sich Notizen zu machen, er fragte die Frau:

„Können Sie nicht genauer sagen, was sie gesehen haben?“ Die Frau antwortete:

„Ich habe ja schon bemerkt, dass die Dämmerung stark eingesetzt hat und man kaum etwas hat erkennen können.“

„Hat es sich um einen Mann oder eine Frau gehandelt?“, fragte KOK Meissner nach und die Frau sagte mit absoluter Bestimmtheit:

„Es ist ein Mann gewesen, den ich gesehen habe, das habe ich an der Art erkannt wie er sich bewegt hat, außerdem hat doch eine Frau kaum das große Etwas zum Busch schleppen können!“

„Können Sie den Mann nicht beschreiben?“, insistierte der Beamte und die Frau überlegte lange, bevor sie antwortete:

„Ich glaube, dass der Mann einen grauen Kittel getragen hat, ich kann mich da aber auch täuschen!“

„Haben Sie ein Auto erkannt?“, fragten die Polizisten nach, aber da musste die Frau passen:

„Er ist sicher mit einem Wagen gekommen, den hat er aber für mich nicht sichtbar abgestellt. Er hat sein Bündel am Busch abgelegt und ist gleich wieder gegangen, heute weiß ich, dass es sich bei dem Bündel um das Mordopfer Birte Schoemaker gehandelt hat.“ Die Kommissare dankten der Frau über alle Maßen für ihre wichtige Aussage und baten sie:

„Fahren Sie doch mit uns zur Polizeiinspektion, damit wir dort Ihre Aussage protokollieren können.“ Da erhob die Frau aber schärfsten Protest:

„Ich will unbedingt noch zum Markt, und wenn ich mit Ihnen führe und gegen Mittag zurück wäre, würde der Markt gerade schließen. Kann ich nicht um 13.00 h kommen?“, fragte sie und KHK Leber sagte, dass er um 13.00 h bei ihr wäre und sie abholte. Die Beamten standen auf, und wenn ihnen die Frau nicht fremd gewesen wäre, hätten sie sie umarmt, so erfreut waren sie über deren Aussage. Sie bedankten sich noch einmal auf das Herzlichste und verließen das Haus ihrer wichtigen Zeugin wieder. Sie schellten noch bei zwei weiteren Anwohnern, bekamen aber dort keine brauchbaren Auskünfte. Am späten Vormittag fuhren sie zur Polizeiinspektion zurück und ließen sich dort noch einmal durch den Kopf gehen, was ihnen die alte Dame gesagt hatte. Dass es sich bei dem Mörder um einen Mann handeln musste, war ihnen im Grunde von Anfang an klar, dass er möglicherweise eine grauen Kittel trug, nicht. Sie mussten beide an den Platzwart denken, der vielleicht gelegentlich bei seiner Arbeit einen grauen Kittel trug, das müssten sie herausbekommen und fuhren umgehend nach Asberg raus, wo sie den Platzwart zur Rede stellten, aber der konnte glaubhaft versichern, nie eine grauen Kittel besessen zu haben. Die Beamten fuhren daraufhin wieder zurück und gingen in die Mittagspause, sie liefen gleich zur Kantine hoch.

Es gab an diesem Tag Schweinebraten mit Kartoffeln und Rotkohl, die Polizisten hatten mächtigen Hunger und nahmen jeder zweimal. Die Kantine war voll, vermutlich mundete das Tagesgericht vielen, das Essen war aber eigentlich durchgängig sehr akzeptabel. Um 12.45 h fuhr KHK Leber zum Klever Platz und schellte bei der Hauptzeugin, die ihm gleich öffnete und von ihrem Besuch auf dem Wochenmarkt erzählte. Sie redete gar nicht von ihren Einkäufen, sondern nur darüber, dass sie viele Bekannte getroffen und sich mit ihnen unterhalten hätte.

„Ich halte mich immer ungefähr eine Stunde lang auf dem Markt auf und rede mit meinen Bekannten über alles Mögliche, so erfahre ich immer das Allerneuste, insbesondere interessiert mich, wer von den alten Bekannten gestorben ist.“ Die alte Dame zog sich ihre Schuhe an und warf eine Jacke über, anschließend folgte sie KHK Leber nach draußen, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass auch ihre Schlüssel in ihrer Jackentasche waren. Auf der Polizeiinspektion hatte KOK Meissner alles vorbereitet, das hieß, dass er ein Aufnahmegerät postiert und für die Zeugin einen weiteren Stuhl an ihre Schreibtische gestellt hatte. Sie sagte:

„Ich muss im Anschluss ins St.-Josefs-Krankenhaus gehen und jemanden dort besuchen, der mit Leberkrebs eingeliefert worden ist und auf der Inneren liegt.“

„Möchten Sie eine Tasse Kaffee trinken?“, fragte KHK Leber seine Zeugin, aber sie lehnte dankend ab:

„Zuviel Kaffee ist für meine Pumpe nicht gut“, wie sie sich ausdrückte, sodass die Beamten gleich mit der Befragung begannen. KOK Meissner schaltete das Aufnahmegerät ein und KHK Leber stellte der Frau die gleichen Fragen wie am Vormittag bei ihr zu Hause. Wieder erzählte die Frau von ihrer Beobachtung, wieder sagte sie, dass sie glaubte, einen Mann im grauen Kittel gesehen zu haben, der ein großes Bündel unter den Busch auf dem Klever Platz gelegt hätte. Die Beamten dankten ihr noch einmal für ihre Hilfsbereitschaft und KHK Leber gab der Frau seine Karte, sie sollte ihn anrufen, wenn sie ihren Krankenbesuch beendet hätte, er führe sie dann wieder nach Hause. Als die alte Dame gegangen war, sagte er:

„Ihre Aussage hat uns einen großen Schritt weitergebracht!“ Auch wenn sie sich nicht auf den grauen Kittel festlegen konnte, ein grauer Kittel war in der Dämmerung auch sehr schwer auszumachen, sie hatten aber immerhin eine Zeugenaussage und die Bestätigung ihrer Annahme, dass es sich bei dem Mörder um einen Mann gehandelt hatte. Sie tranken beide eine Tasse Kaffee und fuhren danach mit den Dienstfahrrädern in die Stadt, sie fuhren zur Grafschafter Passage, stellten ihre Räder davor und schlossen sie gut ab. Sie hatten noch etwas Zeit, bis sie zur Röhre mussten und schauten sich bei Saturn Flachbildfernseher an, KHK Leber interessierte sich für einen, nachdem sein uraltes Röhrengerät kaputtgegangen war und eine Reparatur nicht mehr lohnte.

Sie verschafften sich aber nur einen Überblick, auch als ihnen ein Verkäufer helfen und sie beraten wollte, bedankten sie sich und sagten ihm, dass sie sich nur umschauen und noch nichts kaufen wollten. Sie hatten so viel Zeit auch nicht und mussten in einer halben Stunde in der Röhre sein, um Anna Lieberecht dort zu treffen. Sie nahmen also wieder ihre Räder und fuhren bei der Sparkasse am Königlichen Hof in die Bankstraße, in der sie dreihundert Meter weiter die Röhre erreichten. Sie fühlten sich gleich an früher erinnert, wie sie ihre Auto dort parkten, wo sie jetzt ihre Räder abstellten, die Erinnerung war ganz angenehm. Sie schauten sich um und erkannten in der Umgebung vieles von dem wieder, was es früher dort schon gegeben hatte. Während ihres Dienstes, den sie all die Jahre in der Polizeiinspektion verrichtet hatten, waren sie nie mehr in der Röhre gewesen. Sie sahen einfach, dass es einen Besucheraustausch gegeben hatte, wahrscheinlich war das schon der vierte oder fünfte, die Röhre war zwar keine reine Jugendkneipe, aber das Publikum war doch deutlich jünger als die beiden Kommissare, und das wussten sie auch. Das gehörte aber zum Prozess des Älterwerdens dazu, dass man bewusstseinsmäßig ganz andere Felder beackerte als früher, alles um einen herum war gealtert, die alten Bekannten, vor allem aber die eigene Wahrnehmung, die einen so etwas wie die Röhre mit ganz anderen Augen sehen ließ als früher.

Das innere Vibrieren gab es nicht mehr, man zerfloss nicht mehr vor Sehnsucht, wenn man ein schönes Mädchen sah, das war vorbei, aber man trauerte dem auch nicht nach, weil sich einem andere Sphären der Befriedigung erschlossen hatten. Wäre die Art der Aufnahme der Umgebung nicht mitgewachsen und hätte sie sich mit dem Altern nicht mit verändert, müsste man vermutlich verzweifeln, wenn man sich in dem Alter befände, in dem die Kommissare waren, der Blick war weiter, und er war vor allem anders geworden. Sie verspürten beide heute nicht mehr die Aufgewühltheit, wenn sie die Röhre betraten und sich den Blicken der anwesenden Gäste stellen mussten, sie gingen einfach hinein wie in jede andere Kneipe auch und setzten sich an einen freien Tisch. Das hatten sie früher nicht getan, sondern sie hatten praktisch die ganze Zeit über gestanden, aber dass sie so problemlos einen Sitzplatz bekommen hatten, lag sicher an der Tageszeit, am Nachmittag waren einfach noch nicht so viele Gäste da. Als die Kellnerin kam, bestellte sich jeder einen Cappuccino und sie sahen sich um, vermochten sich aber kaum zu erinnern, wahrscheinlich hatte man früher das Interieur gar nicht wahrgenommen und seine Augen nur bei den Mädchen gehabt. Kurze Zeit später setzte sich eine junge Dame an ihren Tisch, die sich als Anna Lieberecht vorstellte, und die beiden Polizisten gaben sich sofort zu erkennen. Anna war ein gutaussehendes attraktives Mädchen und sie kamen gleich ins Gespräch, die Kommissare entspannten die Atmosphäre sofort und nahmen Anna die Scheu, die sie am Telefon noch gezeigt hatte. KHK Leber fragte sie:

„Was möchtest Du trinken?“ und sie bestellte sich eine Cola light, er erzählte Anna:

„Mein Kollege und ich sind vor mehr als fünfundzanzig Jahren ab und zu in die Röhre gefahren und haben uns hier mit unseren Freunden vergnügt.“ Anna sah ihn groß an und lächelte, KHK Leber konnte nicht sagen, ob das Freundlichkeit oder Mitleid war, er kümmerte sich aber auch nicht darum. Er fragte Anna:

„Wie würdest Du Dein Verhältnis zu Birte Schoemakers beschreiben?“ und Anna antwortete gleich:

„Birte ist meine beste Freundin gewesen! Ich bin seit der achten Klasse im Gymnasium in den Filder Benden mit ihr zusammen gewesen, wir haben uns nach der Schule beinahe täglich getroffen und gemeinsam unsere Freizeit verbracht.“

„Was habt Ihr denn so unternommen?“, fragte KHK Leber nach und hoffte, so vielleicht eine Andeutung von einer Freizeitbeschäftigung zu bekommen, die sie noch nicht kannten. Anna berichtete von gemeinsamen Besuchen des Freibades Solimare, die sie immer besonders genossen hatte, weil sich die Augen aller Badbesucher im Beisein von Birte auf sie richteten.

„Birte ist ausnehmend schön gewesen, die Gespräche der Besucher sind beinahe verstummt, wenn Birte in ihrem Bikini durch das Bad gelaufen ist. Wir haben uns oft zudringlicher Jungen erwehren müssen, wenn wir auf der Liegewiese gelegen haben, Birte hat sie freundlich aber bestimmt immer verscheucht.“

„Sind denn die anderen Mädchen auch dabei gewesen, wenn Ihr im Freibad gewesen seid?“, fragte der Kommissar nach und Anna antwortete:

„Sehr oft sind Svenja und Maria dabei gewesen. Manchmal haben wir zum Schutz vor allzu forschen Verehrern Jungen aus der Jahrgangsstufe mitgenommen, die bei uns lagen und so signalisierten, dass man Birte und mich in Ruhe lassen musste.“

„Hat denn Birte eine Jungenbekanntschaft gehabt?“, wollte der Polizist wissen und Anna sagte:

„Es hat eine Beziehung gegeben, die ist aber nach zwei Wochen von Birte beendet worden, weil sie sich in ihrem Freiheitsstreben eingeschränkt gefühlt hat, sie hat auf einer Jahrgangsstufenfahrt nach Berlin mit jemandem angebändelt, aber das hat auch nur so lange gedauert, wie wir in Berlin gewesen sind, ansonsten ist mir von Jungenbekanntschaften Birtes nichts bekannt“, sagte Anna. Am Schluss stellte KHK Leber wieder die Standardfrage, ob Anna sich jemanden als Birtes Mörder vorstellen könnte. Anna überlegte kurz und schüttelte ihren Kopf:

„Ich kann mir beim besten Willen niemanden vorstellen, der Birte hätte umbringen sollen.“ Die Beamten bemerkten wie sich Annas Augen mit Tränen zu füllen begannen und KHK Leber gab ihr ein Tempotaschentuch:

„Es tut mir leid“, sagte er, „aber wir haben Dir die Frage stellen müssen.“

„Das verstehe ich ja auch, aber Birtes Ermordung ist mir so nahe gegangen, ich habe zwei Tage lang nur geweint“, sagte Anna, „ich weiß nicht, ob ich Birtes Beerdigung überhaupt durchstehen kann und nicht in einen Weinkrampf nach dem anderen verfalle.“

„Das können wir gut verstehen“, sagten die Polizisten zu ihr, „Du musst aber dennoch versuchen, tapfer zu sein und an der Beerdigung teilnehmen.“ Die Beerdigung fände am nächsten Morgen auf dem Hülsdonker Friedhof statt und Anna glaubte, dass die halbe Schule teilnähme. Birte hätte sich sehr großer Beliebtheit erfreut, auch bei den Kleineren, denen hätte sie in der Hausaufgaben-AG immer geholfen.

„Was willst Du denn einmal werden?“, fragte KHK Leber sie und Anna antwortete:

„Ich will versuchen, in ein Lehramtsstudium zu rutschen, Deutsch und Französisch sind meine Lieblingsfächer.“ Die beiden Beamten wünschten Anna viel Glück für ihre Schullaufbahn und entließen sie wieder. Sie wohnte nur hundertfünfzig Meter von der Röhre entfernt, ein Stück weiter Richtung Friedrich-Ebert-Platz, direkt neben dem Grafschafter Gymnasium. Die Kommissare zahlten und verließen die Röhre wieder, es ging auf 17.00 h zu und sie machten Feierabend.

Zu Hause fragte Frau Leber ihren Mann, was denn seine Suche nach einem Flachbildfernseher ergeben hätte, es würde Zeit, dass sie ein funktionierendes Gerät bekämen, sie hätten sich die ganze Zeit mit dem kleinen Gerät von Max beholfen, das wäre auf Dauer aber nichts.

„Wenn Du willst, kann ich am nächsten Tag ein Gerät mitbringen“, sagte ihr Mann, „Saturn hat gerade ganz gute Angebote.“ Am nächsten Morgen war um 10.00 h die Beerdigung angesetzt und als die Beamten sich mit einem Dienstwagen dem Friedhof näherten, trauten sie ihren Augen nicht. Nicht nur, dass die Geldernsche Straße mit Autos zugestellt war und sie nur mit Mühe bei Cafe Jedermann einen Parkplatz bekamen, Massen von Schülern versammelten sich vor dem Friedhofseingang, jeder hatte Blumen, Kerzen oder kleine Erinnerungsstücke in der Hand, die er am Grab ablegen wollte. Die Polizisten erkannten Dr. Domrose und einige Lehrer in ihrer Begleitung, der Schulbetrieb war für drei Unterrichtsstunden unterbrochen worden, und sie sahen Birtes Eltern und ihre Verwandtschaft. Herr Schoemaker stützte seine Frau auf dem Weg zur Friedhofskapelle, die für die Besuchermassen viel zu klein war, weshalb der Pfarrer den Gottesdienst nach draußen verlegte, das war noch nie da gewesen. Birtes Sarg stand vor der Kapelle und ihre Mutter saß neben ihm und weite. Nach dem Gottesdienst ging die gesamte Trauergemeinde langsamen Schrittes zum Grab, viele weinten, fast alle hatte Taschentücher in der Hand.

Direkt am Grab standen Birtes Eltern und ihre Verwandten, erschüttert, fast zu Tode getroffen, Frau Schoemaker ließ ihren Tränen freien Lauf, als der Sarg langsam in die Grube herabgelassen wurde, sie schluchzte laut und hätte sicher nicht aufhören können, wenn sie ihr Mann nicht gestützt und fortgeführt hätte. Alle Schüler kamen zum Grab und legten Kerzen, Stofftiere, Kerzen oder Briefe dort ab, sehr viele weinten. Und mit einem Mal trat eine Schülerin aus dem Pulk hervor und begann zu singen, alles wurde still, sie sang „I will always love you“ von Whitney Houston, ein Lied, das jedem naheging und sehr schwer zu singen war. Die Schülerin hatte eine unglaublich kraftvolle Stimme und bewältigte die schweren Gesangspassagen ohne Patzer. Während des Gesangs hörten alle andächtig zu und schluchzten in ihre Taschentücher, auch Dr. Domrose hielt sich nicht zurück und weinte. Nach dem Gesang trat sie ans Grab und hielt eine Grabrede, sie verstand es, Birtes fröhliche Art aufleben zu lassen und hob hervor, dass Birte ein großer Gewinn für die Schule gewesen wäre, sie war beinahe außer Stande, ihre Rede zu Ende zu führen, so ergriffen war sie. Als die Trauergemeinde sich wieder von der Grabstelle entfernt hatte, war das Grab über und über mit Erinnerungsstücken geschmückt. Die Beamten begleiteten sie alle bis zur Geldernschen Straße, wo sich die Trauergemeinde auflöste, sie gingen zu Birtes Eltern und sprachen ihnen ihr Beileid aus.

Anschließend setzten sie sich in ihren Wagen und fuhren zur Polizeiinspektion zurück, die Mittagspause hatte begonnen und sie liefen gleich zur Kantine hoch. Sie waren noch ganz bewegt von der anrührenden Trauerfeier und nahmen schweigend ihr Essen, setzten sich an einen freien Tisch und KHK Leber sagte, dass ihm die Trauerfeier sehr nahegegangen wäre, KOK Meissner pflichtete ihm bei, auch er wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, wie er sagte. Es war sogar jemand von der WAZ auf dem Friedhof, sicher könnte man am nächsten Tag Bilder in der Zeitung sehen. Sie gingen in ihr Dienstzimmer und KHK Leber rief in der Schule an, er ließ sich zu Dr. Domrose durchstellen und verabredete einen Gesprächstermin mit ihr. Es musste doch etwas geben, was im Zusammmenhang mit der Schule stand und was sie noch nicht wussten, davon war er überzeugt und hatte sich auch schon mit KOK Meissner darüber unterhalten, der das genauso sah, niemand von beidem wusste allerdings, was das sein sollte. Sie erhofften sich Hinweise darauf, wenn sie mit Dr. Domrose sprachen, sie wollten sich auch mit ihr über die Berlinfahrt unterhalten, von der Anna gesprochen hatte. Sie fuhren nach der Mittagspause mit KHK Lebers Wagen in die Kautzstraße und bekamen auf dem kleinen Parkplatz hinter Saturn noch einen Stellplatz. Sie gingen in den Laden und KHK Leber ließ sich den Panasonic mit 40 Zoll geben, den sie sich am Vortag angesehen hatten. In der Verpackung war das Gerät riesig und sie bekamen es in dem Einkaufswagen kaum zur Kasse bewegt, KHK Leber zahlte und sie gingen mit dem Fernseher zum Wagen, sie mussten den Beifahrersitz ein Stück nach vorn schieben, um das Gerät hinter den Sitzen überhaupt ins Auto zu bekommen. Sie fuhren anschließend mit dem Wagen wieder zur Dienststelle zurück und nahmen sich die Dienstfahrräder, um mit ihnen zum Extrablatt zu kommen, wo sie um 15.30 h mit Svenja verabredet waren. Es war erst 15.00 h als sie dorthin kamen, sie hatten demnach noch eine halbe Stunde Zeit und setzten sich vor das Jugendcafe in die warme Sonne. Man hatte Sonnenschirme aufgespannt und sie waren froh, Schatten zu haben, sie bestellten sich Cappuccino und beobachteten die Leute auf dem Altmarkt, das war ein wirklich schöner Platz in Moers. Die eine Seite des Platzes nahm das Cafe Extrablatt ein, das im ehemaligen Textilhaus Schulz untergekommen war, der Cafebetreiber hatte das Schulzhaus völlig entkernt und eine angenehme Cafeatmosphäre geschaffen, neben dem Extrablatt gab es das Scoozi, auch ein Cafe und den Juwelier Booz, auf der gegenüberliegenden Seite lag das Teehaus Gschwendner und an der Platzseite rechts vom Extrablatt lag die Adler-Apotheke. Der Altmarkt war ein kleiner sehr gemütlicher Platz, auf dem man sich wie im Süden vorkam, wenn die Sonne schien, es warm war und man sich draußen hinlümmeln konnte.

An der Außenfassade der Adler-Apotheke war eine große Wetterstation angebracht und man konnte von weitem den grünen Pfeil erkennen, der schönes Wetter anzeigte. Das Wetter war im Grunde die ganze letzte Zeit über schön gewesen, richtiges Sommerwetter eben. KHK Leber ging die Jahrgangsstufenfahrt nach Berlin nicht aus dem Kopf, sie müssten Svenja unbedingt danach fragen. Svenja erschien pünktlich um 15.30 h mit dem Schlag der Turmglocke von der Stadtkirche, sie steuerte zielgerichtet auf den Tisch der Polizisten zu. Sie stellte sich vor und die Beamten sagten, wer sie waren, Svenja setzte sich an ihren Tisch, sie war eine gutaussehende blonde junge Dame und die beiden Beamten wunderten sich langsam, dass Jungen bei den Mädchen offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle spielten. KHK Leber eröffnete das Gespräch und fragte Svenja zunächst:

„Was willst Du trinken?“, sie nahm ein Wasser. Danach bat er sie, ihr Verhältnis zu Birte Schoemaker zu beschreiben und Svenja sagte:

„Birte und ich haben viel gemeinsam unternommen, Birte ist eine sehr gute Freundin gewesen.“

„Was habt Ihr denn so gemeinsam getan?“, fragte der Polizist nach und Svenja antwortete:

„Wir haben oft Radtouren unternommen, Maria und Anna sind auch immer mitgefahren. Wir sind meistens in den Schlosspark gefahren und haben uns dort auf die Wiese gelegt oder wir sind zu Leonardo in den Biergarten gegangen und haben dort etwas getrunken.

„Weißt Du denn etwas darüber, ob Birte mit einem Jungen zusammen gewesen ist?“, fragte der Beamte und Svenja erzählte:

„Birte hatte eine Zweiwochenbeziehung und eine Berlinbekanntschaft.“

„Wer ist denn eigentlich der Junge gewesen, dem Birte nach zwei Wochen den Laufpass gegeben hat?“, wollte KHK Leber wissen.

„Das ist Marc Reimers gewesen, ein Mitschüler aus der Jahrgangsstufe“, antwortete Svenja und in Berlin ist das ein Daniel Kottke gewesen“, KOK Meissner notierte beide Namen. Svenja nannte die Namen wie beiläufig, beinahe abschätzig, sie maß den Bekanntschaften Birtes offensichtlich keinen großen Wert bei. Es war nicht so, dass die Mädchen lesbisch waren, sie wollten nur keine allzu frühe Bindung eingehen und an einem oberflächlichen Geplänkel waren sie schon gar nicht interessiert. Den Polizisten schien es wie ein Rückfall in die Zeiten konservativer Werte, die Mädchen schoben die Entscheidung für einen Jungen vor sich her, bis sie Kinder haben und eine Familie gründen wollten. Die Phase des sexuellen Abenteuers, des Sich-Orientierens, des Ausprobierens wurde offensichtlich übersprungen, das lag vielleicht an der AIDS-Gefahr, vor der sie sich hüten wollten. Svenja war mit ihrem Roller von Kapellen gekommen, sie sagte:

„Ich liebe das Rollerfahren, es gibt bei dem herrlichen Sommerwetter kaum etwas Schöneres, ich fahre morgens auch immer mit dem Roller zur Schule, nur in der kalten Jahreszeit nehme ich den Bus und bin deutlich länger unterwegs.“

„Kannst Du Dir jemanden vorstellen, der Birte ermordet hat?“, fragte KHK Leber sie und merkte wie Svenja schlucken musste, er hatte sie wieder auf das Thema gebracht, das eine Zeit lang verdrängt gewesen zu sein schien. Svenja stand kurz davor, in Tränen auszubrechen und holte eine Taschentuch hervor, sie sagte mit gebrochener Stimme:

„Ich kann mir niemanden vorstellen, der eine so abscheuliche Tat vollbracht haben kann. Der Tod Birtes ist für mich gewesen, als hätte man mir ein Stück meines eigenen Lebens genommen“, sie hatte dabei ein Wimmern in der Stimme, die Polizisten sahen sich an und wollten die Sache nicht weiter vertiefen.

„Was willst Du denn einmal werden?“, fragten sie sie zum Schluss, und sie antwortete mit wieder fester Stimme:

„Ich möchte gern Ärztin werden, ich muss aber noch an meinem Notendurchschnitt feilen, damit ich den Numerus Clausus von 1.4 auch schaffe.“ Die Polizisten wünschten Svenja alles Gute für ihre Schullaufbahn und sie verließ sie wieder. Die Kommissare waren um 17.00 h mit Maria am Hülsdonker Bahnhof verabredet und hatten noch etwas Zeit, sie bestellten sich jeder noch einen Cappuccino und ließen sich durch den Kopf gehen, was Svenja gesagt hatte.

Im Grunde fehlte in ihren Äußerungen das Quäntchen Information, das sie weiterbrachte, genau wie auch schon bei Anna. KHK Leber meinte, dass sie sich, wenn sie mit Maria gesprochen hätten, als nächsten Marc Reimers vorknöpfen müssten, vielleicht würde ein Gespräch mit ihm sie weiterbringen. Um 16.30 h zahlten sie und fuhren mit ihren Rädern am Kastell vorbei in den Schlosspark, um ihn an seinem Westausgang wieder zu verlassen, sie nahmen die Kranichstraße, fuhren in den Rüttgersweg und in den Bruckschenweg, hielten sich auf der Parsickstraße nach rechts und überquerten die Hülsdonker Straße, nach weiteren zweihundert Metern auf der Geldernschen Straße erreichten sie den Hülsdonker Bahnhof und stellten ihre Räder vor dem Bahnhof ab. Der Hülsdonker Bahnhof stammte noch aus einer Zeit, als man von Oermten mit dem Triebwagen nach Moers fahren konnte. Bahnhöfe seiner Güteklasse gab es noch in Rheurdt, Vluyn, Dicksche Heide und Neukirchen, sie waren alle verkauft worden, in Hülsdonk hatte eine Gaststätte den Betrieb eröffnet, die vornehmlich von jungen Leuten besucht wurde, aber auch Leute im Alter der Beamten gingen dorthin. Sie setzten sich draußen direkt neben den alten Gleisen an einen Tisch, in Zeiten, in denen die Zeche in Neukirchen noch in Betrieb war, fuhren schon mal Kohlenzüge an dem Bahnhof vorbei und machten mit ihren manchmal fünfzig Waggons ordentlich Krach. Die Zeiten waren aber seit der Zechenschließung am 31.12.2001 endgültig vorbei und würden auch nicht wiederkommen.

Die beiden Polizisten bestellten sich jeder ein alkoholfreies Weizen, das bei der Hitze besonders gut schmeckte. Es hatte aber auch mehr Kohlensäure als normales Bier und erzeugte beim Trinker regelmäßig einen Blubberbauch, weshalb die Beamten früher nie Weizenbier getrunken hatten, das gab es in ihrer aktiven Kneipenzeit auch kaum, niemand trank Weizenbier. Ganz allmählich fand Weizenbier Verbreitung und begann auch den alten Pilstrinkern zu schmecken. Besonders den Mädchen gefiel der feine Geschmack des Weizenbieres zuerst, heute finden sich viele Kneipen, die das Weizenbier sogar zapfen. Um 17.00 h kam Maria Kleinkemkes pünktlich, sie erkannte die Beamten gleich und kam an ihren Tisch, sie stellte sich vor und setzte sich. Auch die Beamten stellten sich vor und fragten Maria, was sie trinken wollte, sie nahm eine Apfelschorle. Sie sah wie schon ihre Freundinnen gut aus, hatte brünettes langes Haar und trug wie viele Mädchen in ihrem Alter Jeans und darüber ein T-Shirt. Sie schaute die beiden Polizisten mit wachen Augen an, als erwartete sie brennende Fragen, der KHK gab ihr aber gleich zu verstehen:

„Du brauchst Dich nicht zu fürchten, wir wollen nur ein paar ganz allgemeine Auskünfte von Dir haben.“ Als Maria bemerkte, dass sie zwei gewöhnliche Erwachsene vor sich hatte, entspannte sie und trank einen Schluck von ihrer Apfelschorle. KHK Leber bat sie zunächst wie auch die beiden anderen schon, ihr Verhältnis zu Birte zu beschreiben und Maria begann gleich zu berichten:

„Birte war ein außergewöhnliches und sehr attraktives Mädchen gewesen, sie ist meine beste Freundin gewesen und wir haben zu viert, Birte, Anna, Svenja und ich viel unternommen.“

„Seid Ihr denn auch schon mal zum Extrablatt gegangen?“, fragte der Kommissar und Maria sagte:

„Wir sind gelegentlich donnerstags zur Happy Hour gegangen und jeder von uns hat einen Cocktail getrunken. Es sind immer viele Bekannte dort gewesen, sehr viele Oberstufenschüler und sogar unser junger Mathematiklehrer, wir haben einmal sogar den Hausmeister unserer Schule dort gesehen.

Aber wir sind nicht so oft im Extrablatt gewesen, wir sind viel lieber mit unseren Rädern gefahren oder schwimmen gegangen.“

„Was weißt Du über Jungenbekanntschaften von Birte?“, fragte sie der Polizist und Maria antwortete, was auch die beiden anderen Mädchen schon erzählt hatten:

„Birte hat eine zweiwöchige Beziehung zu Marc Reimers unterhalten und sie wieder beendet und auf der Berlinfahrt mit einem Jungen namens Daniel Kottke angebändelt, mehr kann ich dazu nicht sagen und mehr ist da auch nicht gewesen.“

„Hast Du einen Verdacht, wer Birte umgebracht haben kann?“, wollte der Polizist wissen und plötzlich wurde Maria still und begann zu schluchzen wie auch den anderen beiden stiegen Anna die Tränen in die Augen und KHK Leber gab ihr ein Tempotaschentuch.

Ihre Stimme war leise geworden als sie sagte, dass sie sich niemanden vorstellen könnte.

„Birtes Tod ist ein Schlag gewesen, von dem ich mich immer noch erholen muss. Als ich am Morgen an Birtes Grab gestanden habe, habe ich mich von einem Teil meiner selbst verabschiedet, die Beerdigung ist mir so nahegegangen, dass ich zu Hause stundenlang geweint habe.“

„Das kann ich gut verstehen“, sagte KHK Leber, „wir sind beide auch da gewesen, und auch uns hat die Beerdigung sehr berührt, besonders das Lied Deiner Mitschülerin ist uns unter die Haut gegangen.“

„Was willst Du denn einmal werden?“, fragten die Polizisten sie und Maria war wieder ganz gefestigt, als sie antwortete:

„Ich will Elektroingenieurin werden, ich weiß, dass die Elektrotechnik eigentlich das Metier der Jungen ist, ich bin aber nach der Initiative „Mädchen und Technik“ im letzten Jahr auf den Geschmack gekommen. Ich habe auch schon einmal bei Siemens vorgefühlt und dort ist man sehr offen gewesen und hat mir das Arbeitsfeld eines Elektroingenieurs gezeigt.“ Die Beamten wünschten ihr, dass sich ihr Berufswunsch erfüllte, und sie ein gutes Abitur machte, Maria verabschiedete sich wieder, stieg auf ihr Fahrrad und fuhr nach Hause. Die Polizisten beeilten sich, zur Polizeiinspektion zurückzukommen, sie hätten ja eigentlich längst Feierabend. Sie stellten ihre Räder ab und brausten mit dem neuen Flachbildernseher nach Hause.

Frau Leber war glücklich, endlich einen neuen Fernseher zu bekommen, er machte sich auch sehr gut an seinem Platz im Wohnzimmer und sie brachte den kleinen Apparat wieder zurück auf das Zimmer von Max. Lebers und Meissners verabredeten sich für den nächsten Samstag, zum Grillen und teilten die Vorbereitungsaufgaben untereinander auf, Meissners würden für die Getränke sorgen, alles andere übernähmen Lebers. Der KHK überprüfte gleich seinen Bestand an Holzkohle, es war noch ausreichend vorhanden, er müsste aber den Grill noch reinigen, auch Kleinholz zum Anmachen müsste er noch hacken, aber das würde er alles am Samstag erledigen. Das Fleisch holten sie auf dem Wochenmarkt, das würden die Frauen besorgen, sie brächten auch gutes Baguette und Salat mit. Den Abend über schaute KHK Leber mit seiner Frau „Wer wird Millionär“ auf dem neuen Panasonic, sie freuten sich beide über das gestochen scharfe Bild. Am nächsten Morgen waren sie mit Dr. Domrose zu einem Gespräch im Gymnasium Filder Benden verabredet und fuhren mit ihren Dienstfahrrädern dorthin, die Räder waren für sie beinahe zum wichtigsten Fortbewegungsmittel geworden. Als sie an der Schule ankamen, wurden sie von den Schülern begafft, die gerade große Pause hatten und vor dem Gebäude herumlungerten, was denn die Opas auf den Rädern dort wollten, fragten einige. Die Beamten schlossen die Räder ab und liefen über den Schulhof zum Gebäude, in dem sie Dr. Domrose treffen würden, sie gingen zum Sekretariat und die Sekretärin leitete sie gleich zur Direktorin weiter, die die beiden Polizisten begrüßte.

KHK Leber entschuldigte sich dafür, dass sie nach so kurzer Zeit schon wieder bei ihr erschienen wären, „aber es brennen uns verschiedene Fragen auf den Nägeln, die betreffen zum einen Marc Reimers und zum anderen die Berlinfahrt, die Birte mit der Jahrgangsstufe unternommen hat“, sagten die Kommissare. Dr. Domrose sagte:

„Ich kenne Marc Reimers und weiß, dass Birte für kurze Zeit mit ihm zusammen gewesen ist“, die Beamten sollten das Ende der Pause abwarten, sie würde Marc danach gleich holen lassen.

„Zu der Berlinfahrt fragen sie besser gleich die Jahrgangsstufenleiterin, die kann Ihnen am besten Auskunft darüber erteilen.“ Gegen Ende der Pause ging Dr. Domrose ins Foyer und bat einen von den zu den Kursräumen strömenden Schülern Marc Reimers zu ihr zu schicken, gleichzeitig bat sie die Sekretärin, nachzusehen, wo Frau Schröder, die Jahrgangsstufenleiterin jetzt Unterricht hätte, sie sollte sie doch kurz vor Ende der Stunde zu ihr bringen. Kurze Zeit später klopfte es an die Tür zum Sekretariat und Marc Reimers trat ein, die Sekretärin brachte ihn gleich zur Direktorin und die stellte Marc den Polizisten vor, sie verließ ihr Dienstzimmer, um die Beamten ungestört ihre Fragen stellen zu lassen. KHK Leber sagte Marc zuerst:

„Du brauchst keine Furcht zu haben, wir wissen, dass Du mit Birte Schoemakers zusammen gewesen bist und wollen dazu einiges von Dir in Erfahrung bringen.“ Marc sagte gleich:

„Das sind doch nur zwei Wochen gewesen und Birte hat wieder Schluss gemacht.“

„Das ist uns alles bekannt“, sagte der Beamte, „wir wollen aber von Dir wissen, wie Du Birte einschätzt, was sie in Deinen Augen für ein Mensch gewesen ist!“

Marc überlegte einen Moment und antwortete:

„Birte ist ein tolles Mädchen gewesen und wir haben uns anfangs sehr gut verstanden. Ich bin auch bei ihr zu Hause gewesen, und ihre Mutter hat mich auch gemocht, ich bin mächtig stolz gewesen, mit einem Mädchen wie Birte gehen zu dürfen. Alle haben mich um Birte beneidet, ich bin sogar aufgezogen worden, wann wir denn heiraten würden usw., aber ich habe so etwas nicht an mich herangelassen, ich bin viel zu sehr in der Beziehung zu Birte aufgegangen. Meine Mutter hat sich schon Sorgen um mich gemacht, weil ich mit einem Mal kaum noch ansprechbar gewesen bin, ich habe nur noch meine Birte im Kopf gehabt. Nach eineinhalb Wochen hat es die ersten Krisenerscheinungen gegeben, Birte ist plötzlich anders zu mir gewesen, sie hat eine Distanz zu mir aufgebaut und hat nach zwei Wochen Schluss gemacht. Da ist für mich eine Welt zusammengebrochen, ich habe sehr lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Birte ist am Ende kalt und unnahbar gewesen, ich kann bis heute nicht verstehen, warum sich bei ihr ein solcher Wandel vollzogen hat. Sie hat mir gesagt, dass sie die Beziehung zu sehr einengt, und sie sie deshalb lieber beenden will, sie hat mir damit vor den Kopf gestoßen. Ich habe nach meiner Beziehung ein lockeres Verhältnis zu Birte gehabt, wir haben uns in der Schule gegrüßt und auch unterhalten.“

„Bist Du nicht wahnsinnig sauer auf Birte gewesen?“, fragte KHK Leber und Marc sagte:

„Ich habe schon am Anfang Wut empfunden, aber um wirklich wütend auf Birte zu sein, dazu habe ich sie zu sehr geliebt.“

„Hast Du vielleicht jemanden in Verdacht, der Birte ermordet haben könnte?“, fragte der Polizist und Marc sah ihn mit großen Augen an, er antwortete:

„Niemand kann sich ausmalen, wie sehr mich der Tod meiner ehemaligen Freundin getroffen hat. Ich habe zuerst gar nicht glauben wollen, dass Birte ermordet worden ist, immer und immer wieder habe ich mich gefragt, wer ein Interesse an Birtes Tod gehabt haben kann, ich bin aber zu keinem Ergebnis gekommen.“

„Bist Du mit auf der Berlinfahrt gewesen?“, fragte KHK Leber Marc und er sagte:

„Ich habe lange überlegt, überhaupt mitzufahren, habe es schließlich aber gemacht. Als Birte vor aller Augen mit diesem Daniel Kottke angebändelt hat, bin ich beinahe im Boden versunken, so sehr habe ich mich darüber geärgert, ich habe tagelang danach kein Wort mit Birte gewechselt. Ich weiß nicht, ob Birte damit etwas signalisieren gewollt hat, ob sie allen zeigen wollte, wie leicht sie sich Jungen gefügig machen könnte. Aber dazu ist Birte eigentlich nicht schäbig genug gewesen, dazu hat ihr die nötige Abgebrühtheit gefehlt. Wahrscheinlich ist sie einfach den Annäherungsversuchen Daniels erlegen und während der Berlinfahrt mit ihm gegangen, genauso wie mit mir hat sie mit Daniel am Ende der Fahrt Schluss gemacht, sang- und klanglos.“

„Was willst Du denn einmal werden?“, fragte der Polizist den Schüler zum Schluss und Marc sagte:

„Ich will vielleicht Tierarzt werden, der Numerus Clausus für Veterinärmedizin liegt aber so hoch, dass ich mich noch sehr anstrengen muss, um den Notendurchschnitt zu schaffen.“ Beide Polizisten wünschten Marc viel Glück, und dass sein Berufswunsch in Erfüllung ginge, sie entließen Marc in den Unterricht, gingen zur Sekretärin und baten um einen Kaffee. Die Sekretärin gab jedem von ihnen eine Tasse Kaffee und wies darauf hin, dass in Kürze Frau Schröder erschiene. Dr. Domrose fragte die Polizisten:

„Haben Sie etwas aus Marc Reimers herausbekommen und KHK Leber antwortete:

„Er hat nichts wirklich Neues erzählt. Allerdings hat er uns von einer Seite Birtes berichtet, von der wir vorher noch nie gehört haben, sie hat auch kalt und abweisend sein können.“

In diesem Moment klopfte Frau Schröder an die Tür zum Sekretariat, Dr. Domrose stellte ihr die beiden Beamten vor und sie gingen gemeinsam in ihr Dienstzimmer. Die Kommissare sagten:

„Wir sind daran interessiert, zu erfahren wie Sie Birte Schoemaker auf der Berlinfahrt erlebt haben“, und Frau Schröder berichtete vom Ablauf der Fahrt. „Wir haben tagsüber Besichtigungen unternommen, und abends sind die Schüler losgezogen, Birte hat dabei Daniel Kottke kennen gelernt und ist bis zum Ende der Berlinfahrt mit ihm zusammen geblieben.“

„Wie tief ist Ihrer Einschätzung nach die Beziehung zwischen den beiden gewesen?“, fragte KHK Leber, glauben Sie, dass es zwischen Birte und Daniel zu sexuellen Handlungen gekommen ist?“

„Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen“, sagte Frau Schröder, „in unserem Jugendgästehaus in der Kluckstraße haben sie keine Gelegenheit dazu gehabt. Ich weiß natürlich nicht, wo sie sich am Abend herumgetrieben haben, theoretisch haben sie irgendwo miteinander schlafen können, wenn aber Birtes Freundinnen immer mit ihr zusammen gewesen sind, ist das wohl auch nicht möglich gewesen.“

„Wie ist ihr Eindruck gewesen, ist es Birte ernst mit der Beziehung gewesen wäre oder hat sie sich nur einen Spaß daraus gemacht?“, fragte der Polizist.

„So wie ich als Außenstehende das beurteilen kann“, fuhr Frau Schröder fort, „ist das für Birte nur eine Spielerei gewesen und Daniel Kottke hat mir sogar leid getan und sich teilweise sogar dem Gespött der Schüler ausgeliefert, Birte hat ihre Überheblichheit nicht gerade ausgekostet, aber auch nichts zur Ehrenrettung Daniels unternommen.“ Frau Schröder überlegte eine Weile, bevor sie sagte:

„Birte ist der absolute Souverän unter den Mädchen gewesen. Während der Besichtigungen sind die Mädchen um sie herum scharwenzelt und haben alles mit ihr zusammen unternommen.

„Ich will um Gottes Willen kein schlechtes Licht auf Birte werfen“, sagte Frau Schröder, „nur meine ich, dass Birte auch einmal von einer anderen Seite gesehen werden muss, sie ist nämlich nicht immer nur die Tugendhafte und Liebe gewesen.“

„Können Sie sich jemanden vorstellen, der Birte umgebracht hat?“, fragte KHK Leber und Frau Schröder musste lange überlegen, bevor sie antwortete:

„Ich kann mich natürlich nicht in die Motivationslage eines Mörders hineinversetzen, wenn aber ein Emotionsstau und langsam aufkeimender Hass die Ursache gewesen sind, dann vermute ich so etwas am ehesten bei Daniel Kottke, wenngleich ich ihn nicht für den Mörder halte.“

„Warum kannte Daniel nicht Birtes Mörder sein?“, fragte der Polizist nach und Frau Schröder meinte:

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand die weite Reise von Berlin unternimmt, um die, in die er vorher unsterblich verliebt war, umzubringen.“

„Da kann ich Ihnen aber aus meiner Erfahrung noch ganz andere Dinge erzählen“, konterte der KHK und bedankte sich bei Frau Schröder, die wieder in ihren Unterricht musste.

Die beiden Kommissare saßen noch eine Zeit lang mit Dr. Domrose zusammen und überlegten hin und her, jetzt hätten sie doch einige Betroffene befragt, aber von niemandem einen brauchbaren Hinweis erhalten. KHK Leber sagte, dass er keine andere Möglichkeit sähe, als nach Berlin zu fahren und Daniel Kottke aufzusuchen, sie müssten sich informieren, wo er wohnte und wo er sich gewöhnlich abends aufhielt, sie wollten die entsprechenden Seiten in Birtes Tagebuch durchlesen. Sie bedankten sich bei Dr. Domrose für die freundliche Unterstützung, standen auf, verabschiedeten sich und verließen das Schulgelände wieder, sie gingen zu ihren Rädern und fuhren zur Polizeiinspektion zurück. Dort setzten sie sich in ihr Dienstzimmer und durchforsteten Birtes Tagebuch nach Erläuterungen zur Berlinfahrt, sie blätterten und blätterten, bis sie auf die Berlinfahrt trafen. Es gab nur drei Seiten zur Fahrt, Birte hatte sich wie auch im gesamten Tagebuch sehr kurz gefasst und nur das Nötigste erwähnt. Sie stießen auf einen ganz knappen Eintrag zu Daniel Kottke, den sie kennen gelernt und süß gefunden hätte, hinter seinen Namen hatte sie ein Sternchen gemalt, das auf das Seitenende verwies, dort wurde der Adressenteil erwähnt. Die Beamten schlugen das Tagebuch ganz hinten auf und fanden den Adressenteil, Birte hatte dort die Adressen aller Verwandten und Bekannten aufgeschrieben, auch die von Daniel Kottke, er wohnte in der Belziger Straße in Berlin-Schöneberg.

Die beiden Polizisten sahen sich die Adresse bei Google-Map auf dem PC an und stellten fest, dass Daniel in unmittelbarer Nähe zum Stadtbad Schöneberg wohnte. Birte hatte auch seine Telefonnummer notiert und die Beamten nahmen sich vor, ihn anzurufen und ihr Kommen anzukündigen. Sie überflogen Birtes Eintragungen zu Berlin und fanden lauter nichtssagende Floskeln wie öde, Wahnsinn, irre, geil. Es wurde klar, dass Birte die Abende am meisten mochte, wenn sie mit den Mädchen ausging und sich mit Daniel traf. Die Mädchen waren offensichtlich immer dabei, nie fand sich eine Eintragung, die ein Zusammensein mit Daniel allein beschrieb. Immer erwähnte sie Maria, Anna und Svenja, der Name Marc fiel in keiner einzigen Zeile ihrer Aufzeichnungen zu Berlin. Die Beamten lasen ihre Eintragungen zu der Beziehung mit Marc und fanden auch dort nichts Gehaltvolles. Sie wollten nach der Mittagspause Frau Fahrenholz aufsuchen und ihr vom Fortgang ihrer Ermittlungen berichten, sie würden erwähnen, dass sie nach Berlin wollten, um dort mit Daniel Kottke zu sprechen, einem ehemaligen Freund von Birte Schoemaker. Sie gingen zur Kantine hoch und trafen dort auf KHK Jansen, setzten sich zu ihm und er fragte sie:

„Wie weit seid Ihr im Mordfall Birte Schoemaker gekommen?“ KHK Leber und KOK Meisnner mussten sagen, dass sie nur schleppend vorankämen und in der nächsten Woche nach Berlin wollten, wo ein ehemaliger Freund von Birte lebte. KHK Jansen nickte nur mit dem Kopf:

„Das ist schlimm, wenn man mit seinen Ermittlungen nicht sofort klarkommt“, sagte er, „ich kenne das aus eigener Erfahrung, weiß aber auch, dass man irgendwann an einen Punkt kommt, an dem sich alles öffnet und der Fall wie von selbst einer Lösung zustrebt.“

„Einen solchen Punkt sehen wir im Moment aber noch nicht“, sagte KHK Leber, aber er bestätigte das, was Kollege Jansen gesagt hatte, ebenfalls aus eigener Erfahrung, man müsste nur immer am Ball bleiben, ergänzte er. Er ging mit seinem Kollegen zur Essensausgabe und sie ließen sich Wiener Schnitzel mit Kartoffeln und Salat geben, ein Essen, das es früher höchstens an Sonntagen gab, das heute aber nichts Besonderes mehr war. Kollege Jansen war mit seinem Essen schon fertig und leistete den beiden noch Gesellschaft, sie unterhielten sich über alles Mögliche, er sagte:

„Ich habe am bevorstehenden Wochenende in meinem Garten eine Menge Arbeit.“ KHK Leber und KOK Meissner entgegneten:

„Uns steht am Samstag ein Grillabend bevor, auf den wir uns schon riesig freuen.“ Sie tranken zum Abschluss der Mittagspause alle drei noch einen Cappuccino und gingen danach wieder in ihre Abteilungen. KHK Leber nahm das Telefon und rief seine Chefin an, er fragte sie:

„Können mein Kollege KOK Meissner und ich einmal bei Ihnen vorbeikommen, wir wollen etwas Dringendes mit Ihnen besprechen?“ Frau Fahrenholz sagte:

„Sie können jederzeit kommen, ich werde auf meine beiden Mitarbeiter in meinem Dienstzimmer warten!“ Sie hatte sich seit Beginn ihrer Dienstzeit in Moers als offene und charakterstarke Frau gezeigt, die für jeden ein Ohr hatte und sich für ihre Mitarbeiter einzusetzen bereit war, sie wurde im Grunde von allen gemocht. Die beiden Kommissare liefen ein Stockwerk höher, wo das Dienstzimmer ihrer Chefin lag und klopften, sie hörten ein beherztes Herein und traten ein. Frau Fahrenholz hatte ihr Zimmer geschmackvoll eingerichtet, vor allem stachen die vielen Pflanzen ins Auge, die sie liebte und zu pflegen wusste, sie gaben dem ansonsten recht tristen Amtsraum eine gemütliche Note. Die Chefin begrüßte KHK Leber und KOK Meissner mit Handschlag und bot ihnen Kaffee an, bevor sie fragte:

„Womit sind Sie denn zu mir gekommen?“ KHK Leber fing an zu erzählen:

„Wir haben inzwischen viele Personen zum Fall Schoemaker befragt, die direkt oder indirekt involviert gewesen sind und sind eigentlich noch keinen Schritt weitergekommen, alles, was wir inzwischen wissen, ist, dass es sich bei dem Täter um einen Mann handelt, der möglicherweise einen grauen Kittel getragen hat. Das hat eine am Klever Platz wohnende ältere Zeugin beobachtet, die ihre Beobachtung allerdings bei der einsetzenden Dämmerung gemacht hat, weshalb sie mit Vorsicht zu genießen ist.

Es bleibt eine Person, die mit Birte Schoemakers befreundet gewesen ist, Daniel Kottke und der lebt in Berlin, weshalb mein Kollege und ich in der nächsten Woche nach Berlin fahren und uns mit Daniel Kottke treffen wollen.“ Frau Fahrenholz überlegte nicht lange und gab sofort ihre Zustimmung zu der Berlinfahrt, sie fragte die beiden:

„Wie lange brauchen Sie denn wohl in Berlin und KHK Leber meinte:

„Wir kommen mit drei Tagen hin, zwei halbe Tage gehen ja schon für An- und Abreise drauf.“

„Sehen Sie zu, dass sie sich am Nachmittag zwei Tickets aus dem Internet und über HRS ein Hotel buchen, das allerdings nicht mehr als drei Sterne haben darf!“, sagte Frau Fahrenholz. KHK Leber kam danach auf persönliche Dinge zu sprechen und fragte seine Chefin, ob sie sich denn inzwischen auf der Polizeiinspektion eingelebt hätte, sie wirkte jedenfalls auf alle sehr positiv. So hatte vermutlich noch nie jemand mit ihr gesprochen, die Polizeidirektorin freute sich über die Worte ihres Hauptkommissars und sagte, dass sie sich in Moers sehr wohl fühlte, ihr wären die Menschen und die Arbeit richtig ans Herz gewachsen. Die beiden Kommissare bedankten sich für den Kaffee und gingen zu ihrem Dienstzimmer zurück, sie schalteten den PC ein und hofften, an diesem Freitagnachmittag bei der Deutschen Bahn etwas ausrichten zu können.

Sie gingen gleich auf die entsprechende Seite und schauten sich die Verbindungen nach Berlin an, KHK Leber gab als Abfahrtstermin Montag 8.00 h an und als Rückreisetermin Mittwoch 10.00 h und er erhielt eine Verbindung zu einem sehr hohen Preis, die Deutsche Bahn war schon immer, auch als sie noch Deutsche Bundesbahn hieß, ein sehr teures Verkehrsmittel, sie mussten aber die Tickets ja nicht selbst bezahlen. Er gab zwei Personen ein und druckte die Tickets aus, nachdem er die Bankdaten der Kreditkarte der Polizeiinspektion eingegeben hatte. Anschließend suchte er über HRS ein Hotel für sie und fand ein riesiges Angebot vor, er suchte aber gar nicht groß herum, denn sie brauchten ja nur zwei Nächte. Er entschied sich für das „Hotel Savigny“ in der Brandenburgischen Str. 21 in Wilmersdorf, das Hotel lag fünfhundert Meter vom Kudamm entfernt, auch wohnte Daniel Kottke nicht weit weg, KHK Leber machte für seinen Kollegen und sich ein Doppelzimmer von Montag bis Mittwoch klar, der Zimmerpreis lag bei fünfzig Euro inklusive Frühstück, das war für Berlin eher billig! Der Hauptkommissar griff zum Telefon und rief bei Daniel Kottke an, er erwischte Daniel zu Hause und hörte eine sehr freundliche und aufgeweckte Stimme. Er sagte, wer er wäre und dass Daniel keine Angst zu haben brauchte, anschließend weihte er Daniel in die näheren Umstände seines Anrufes ein und erzählte von der Ermordung Birtes.

Er hörte zunächst nichts, bis Daniel ungläubig nachfragte:

„Ist Birte wirklich ermordet worden?“ Seine Stimme war brüchig geworden und KHK Leber glaubte, ein Schluchzen zu hören. Er sagte Daniel, dass sein Kollege und er ihn gerne in Berlin treffen würden:

„Wir kommen am Montagmittag mit dem Zug am Hauptbahnhof an und werden uns bei Dir melden, wenn wir soweit sind. Wann ist denn für Dich eine akzeptable Zeit und wo können wir uns treffen?“, fragte KHK Leber nach. Daniel hatte sich wieder ein bisschen gefangen und sagte:

„Ich muss am Montag arbeiten, ich kann aber um 17.00 h im Cafe Einstein sein, Sie müssen auf ihre Karte sehen, wo das Cafe Einstein liegt!“, und KHK Leber entgegnete, dass das kein Problem wäre. Daniel sollte sich die Sache nicht so sehr ans Herz gehen lassen, und er wünschte ihm ein schönes Wochenende. Die beiden Kommissare machten freitags immer schon um 15.00 h Feierabend und verbrachten die verbleibende Zeit damit zu überlegen, wie sie Daniel gegenübertreten sollten. KHK Leber hatte ihm am Telefon gar nicht gesagt, wie er sie erkennen könnte, aber sie würden Daniel schon ansehen, wer er war und umgekehrt würde Daniel auch unschwer die beiden mittelalten Herren erkennen.

Es war dem Hauptkommissar am Telefon aufgefallen, dass Daniel die Sache mit Birte noch nicht abgeschlossen hatte, sie würden also unter Berücksichtigung dieser Tatsache mit ihm reden müssen. Allerdings würden sie schon von Daniel erfahren wollen, wie er Birte einschätzte, was für ein Mensch sie für ihn gewesen war, alles Weitere würde sich am Montag finden, wenn sie sich im Cafe Einstein mit ihm träfen. Die beiden Beamten machten Feierabend und fuhren ins Wochenende, es gelang ihnen auf der Fahrt nicht ganz, abzuschalten, zu viele Dinge schwirrten ihnen im Kopf herum, sie hatten aber genügend Abstand zu ihrer Arbeit gewonnen, als sie zu Hause ankamen und setzten sich zu Lebers auf die Terrasse, um ein Bier zu trinken. Er müsste den Grill noch saubermachen, sagte Frau Leber zu ihrem Mann und der antwortete, dass er zuerst in Ruhe sein Bier trinken wollte, später würde er sich dem Grill widmen.

„Am Montag, Dienstag und Mittwoch bin ich mit meinem Nachbarn in Berlin, ich will das nur schon einmal rechtzeitig ankündigen!“, sagte KHK Leber.

„Was wollt Ihr denn in Berlin ?“, fragte Frau Leber überrascht und Frau Meissner, die inzwischen zu ihnen gestoßen war, war auch ganz perplex. KOK Meissner klärte die Frauen auf und sagte, dass sie in Berlin einen wichtigen Zeugen im Mordfall Birte Schoemaker vernehmen wollten. Als sie alle gemeinsam auf der Terrasse saßen, kam ihnen die Idee, das Grillen auf den Freitagabend vorzuverlegen, die Geschäfte hätten noch lange geöffnet und sie würden das Fleisch beim Metzger statt auf den Wochenmarkt kaufen.

Alle waren einverstanden, die Vorbereitungsaufgaben wurden neu verteilt, die Frauen kümmerten sich um Fleisch, Salat und Baguette, die Männer um die Getränke, das Holz würden sie auch noch hacken. Es war erst Spätnachmittag und die Geschäfte hätten bis 20.00 h geöffnet, manche sogar bis 22.00 h, die Frauen verschwanden ins Ortszentrum von Mersdonk, wo sie am Markt den Metzger aufsuchten, die Männer holten sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Als sie das getrunken hatten, machte sich KHK Leber an das Saubermachen des Grills, während KOK Meissner zum Getränkemarkt fuhr und Bier und Schnaps holte. KHK Leber holte den Grill aus seinem Gartenschuppen und nahm die Reinigungsbürste, mit der er die Grillreste vom letzten Mal entfernte. Er ging dazu in den hintersten Gartenteil, wo seine Frau und er einen Kompost angelegt hatten, danach entnahm er dem Grill die Asche und gab sie in den Mülleimer. Er holte ein Beil aus dem Schuppen und stellte den Hackklotz auf, er kackte Kleinholz, gerade so viel, dass er damit ein Feuer zum Grillanzünden entfachen konnte. Aber damit würde er noch warten, bis die Frauen zurück wären und sein Kollege die Getränke herbeigeschafft hätte. Es versprach vom Wetter her eine sehr schöner Grillabend zu werden, und KHK Leber freute sich schon auf die Fleischstücke.

Er ging in die Küche, nahm seine Kräutermischung und übergoss einen Teil davon mit Olivenöl, das wäre die Marinade, in die er das Fleisch mindestens eine Stunde lang einlegen wollte. Als KOK Meissner zurückgekommen war, legten sie gemeinsam den Schnaps und viele Bierflaschen in den Kühlschrank, Weißwein für die Frauen stand noch drinnen. KHK Leber machte aus Essig, Öl, Salz, Pfeffer und Senf eine Salatsoße und stellte sie zur Seite. Nachdem die Frauen zurück waren, legte er zunächst das Fleisch in die Marinade und deckte die Schüssel mit einem Küchentuch ab. KOK Meissner war schon dabei, Salat zu schneiden und die Frauen deckten auf der Terrasse den Tisch. KHK Leber half seinem Kollegen dabei, den Salat zu zerkleinern, er schnitt eine große Gemüsezwiebel in feine Ringe, die großen Gemüsezwiebeln waren nicht so intensiv wie die kleinen und erzeugten beim Schneiden deshalb auch keine Tränen. Sie hatten Eisbergsalat, Gurke, Tomaten und gelbe Paprika und als alles zerschnitten war, gaben sie den Salat in eine große Schüssel und übergossen ihn mit der vorbereiteten Salatsoße. Anschließend ging KHK Leber nach draußen, knüllte altes Zeitungspapier zusammen, das er in die Mitte der Grillfeuerstelle legte, darum stellte er das gehackte Holz wie bei einem kleinen Indianerfeuer. Er steckte das Papier an, und im Nu war ein Feuer entfacht, dessen Flammen schnell um sich griffen und das Holz entzündeten. Er nahm den Sack mit der Holzkohle und schüttete erst ein wenig daraus auf die Flammen, um sie nicht gleich wieder zu ersticken.

Als die Holzkohle glühte, schüttete er aus dem Sack nach und ließ die Kohle durchglühen, ab und zu nahm er einen Blasebalg und fügte der Kohlenglut Sauerstoff zu.

Währenddessen saßen alle am Tisch und hatten ein Getränk vor sich, sie musste nur noch warten, bis die Holzkohle weißglühend war, dann legten sie Fleisch auf, das ganz schnell durchgegrillt war. Frau Leber schnitt das Baguette in Stücke und legte sie in einen Korb, jeder nahm sich Salat, sie hatten Ketchup, Senf und eine selbstgemachte Ajoli als Soßen auf dem Tisch, den Senf nähmen sie für die Würstchen. Die Frauen hatten Lamm- und Schweinefleisch gekauft, weil beide Fleischsorten einen gewissen Fettanteil enthielten, der beim Grillen unerlässlich war, Rindfleisch würde wegen seines sehr geringen Fettanteils auf dem Grill hart werden. Das Fleisch war sehr gut, auch dank der Marinade, in die es KHK Leber vorher gelegt hatte. Sie aßen in aller Gemütsruhe und hörten erst auf, als sie knüppelsatt waren und das dauerte seine Zeit. Es dämmerte inzwischen, die Abendruhe hatte sich eingestellt und für die Lebers und Meissners begann einer der wenigen Abende, an denen sie ganz lange draußen saßen, wenig sagten und nur auf die Geräusche achteten, die von der Natur stammten. Die Männer tranken viel, KOK Meissner hatte eine Flasche Obstler mitgebracht, von dem auch die Frauen jede zwei getrunken hatten, als aber die Flasche zu zwei Dritteln leer war und die Männer sich immer noch Obstler einschütteten, geboten sie Einhalt.

KHK Leber und KOK Meisner hatten ordentlich getankt und merkten gegen Mitternacht eine leichte Bettschwere, der Hauptkommissar sagte mit einem Mal, dass er schlafen gehen wollte, aufräumen könnten sie am nächsten Tag noch. Seine Frau wusste Bescheid, ihr Mann war betrunken und würde die ganze Nacht schnarchen. Sie führte ihn ins Haus und legte ihn auf die Wohnzimmercouch, deckte ihn mit einer Decke zu und ging wieder nach draußen, um sich von Meissners zu verabschieden. Frau Meissner stütze ihren Mann und hatte das gleiche Problem wie Frau Leber, die sagte, dass sie ihren Gatten ins Wohnzimmer gelegt hätte, weil sie sein Geschnarche nicht ertragen könnte. Das wäre eine gute Idee, sagte Frau Meissner, das wollte sie mit ihrem Mann auch machen und ging mit ihm nach Hause, was zum Glück gleich um die Ecke lag, weil KOK Meissner kaum noch laufen konnte. Zu Hause legte ihn seine Frau auf das Wohnzimmersofa, wo er sofort einschlief und prompt anfing zu schnarchen, sie deckte ihn mit einer Decke zu und verschwand selbst ins Schlafzimmer. Am Samstag schliefen sie alle lange, Max und Paul kämen am Nachmittag aus Dortmund, was längst nicht mehr sooft geschah wie am Anfang ihrer Studienzeit, so alle vier bis acht Wochen ließen sie sich aber blicken. Rebecca war erst vor zwei Wochen zu Hause und käme erst einmal nicht, sie fühlte sich in Münster sehr wohl und gut aufgehoben, ihr Studium machte ihr Spaß.

Frau Leber traf sich mit Frau Meissner am späten Vormittag, um mit ihr in Mersdonk auf den Wochenmarkt zu gehen, sie wollte für ihre Jungen etwas gutes kochen, so wie sie es früher immer getan hatte und heute wieder tun würde. Sie fuhren mit Meissners Wagen in die Stadt und parkten in einer Seitenstraße am Markt, denn auf dem Marktplatz war natürlich an Parken nicht zu denken. Gleich am Eingang zum Markt trafen sie eine Bekannte aus der Nachbarschaft, mit der sie sofort ins Gespräch kamen und eine Weile standen. Es gesellten sich noch weitere Bekannte zu ihnen, bis sie schließlich zu sechst waren. Als sie sich nichts mehr zu erzählen hatten, löste sich die Gruppe auf und jeder ging zu den Marktständen, an denen er ihre benötigten Sachen einkaufte. Frau Leber ging zum Fleischstand, man kannte sie dort schon seit Jahren, Frau Leber sagte, dass am Nachmittag ihre Jungen zu Besuch kämen und sie deshalb ein gutes Stück Fleisch brauchte, auch Wurst wollte sie haben, damit ihre Jungen etwas zum Frühstück hätten. Die Frau vom Fleischstand gab Frau Leber immer ein Extra, heute war es eine kleine Fleischwurst. Frau Leber hatte zwei Stücke Rindfleisch gekauft, von dem einen ließ sie sich gleich bei der Fleischersfrau Rouladen schneiden, es waren große und magere Fleischbatzen und Frau Leber wollte die Rouladen auf ihre traditionelle Art zubereiten. Von dem anderen würde sie am Sonntag für ihre Jungen einen Rinderbraten machen, den sie schon früher immer so gerne bei ihr gegessen hatten.

Sie hatte noch Frischwurstaufschnitt und ein Schälchen Fleischsalat gekauft, womit sie ihren Jungen sicher eine Freude machte, aber sie wusste, dass die beiden auch in Dortmund ganz gut versorgt würden. Sie kaufte noch Kartoffeln und grünen Salat und als sie alles hatte, traf sie sich wieder mit Frau Meissner und sie fuhren beide nach Hause. KHK Leber hatte mittlerweile alle Spuren des Grillens vom Vorabend beseitigt und aufgeräumt, die Grillsachen hatte er wieder in den Schuppen gestellt.

Frau Leber ging gleich in ihre Küche und kümmerte sich um ihre Rouladen, die zwei Stunden brauchen würden, bis sie fertig wären. Sie legte die großen Fleischlappen auf die Küchenarbeitsplatte und strich sie dick mit Senf ein. Anschließend schnitt sie eine große Zwiebel in kleine Stücke und gab davon auf jede Roulade eine Portion. Sie viertelte zwei Gewürzgurken längs und legte je ein Viertel auf jede Roulade, danach würfelte sie durchwachsenen Speck und gab von den Würfeln auch auf jede Roulade eine kleine Portion davon. Am Schluss rollte sie jeden Fleischlappen vorsichtig auf und stach durch jede Rolle zwei hölzerne Zahnstocher, damit die Roulade in ihrer Form erhalten blieb. Früher hatte sie die Rouladen mit Zwirn umwickelt, danach aber immer beim Essen bemerkt, dass das eine ziemliche Sauerei war, wenn man den Faden wieder abwickeln wollte, die Roulade in die Soße fiel und die Soße spritzte.

Am Ende hatte sie sechs Rouladen, sie nahm ihre größte Bratpfanne und erhitzte Schweineschmalz, in dem sie das Fleisch sehr kräftig anbriet, bis die Rouladen von allen Seiten eine dunkelbraune Kruste hatten. Sie drehte anschließend die Platte des E-Herdes auf eins und ließ das Fleisch mit etwas Wasser eineinhalb Stunden schmoren. Dabei war es wichtig, darauf zu achten, dass die Rouladen nicht in zu viel Wasser schwammen und am Ende kochten. Der Rest des Essens war schnell gemacht, Frau Leber wusch den Salat und trocknete ihn danach, zerkleinerte ihn und legte ihn in eine Salatschüssel, sie würde ihn unmittelbar vor dem Essen mit der vorbereiteten Salatsoße übergießen. Sie schälte Kartoffeln, setzte sie aber noch nicht auf, sie würde sie anstellen, wenn die Jungen kämen und zwanzig Minuten später würden sie alle essen. Ihr Mann lag auf dem Sofa und hatte Kopfschmerzen, dazu fiel Frau Leber nur zu sagen ein:

„Lass in Zukunft das Saufen!“, die Antwort war ein undefinierbares Knurren. Gegen 15.00 h erschienen Max und Paul und alle freuten sich, sich wiederzusehen. Frau Leber bemerkte, dass jeder der beiden eine dicke Tasche bei sich trug, in der schmutzige Wäsche war und sie verschwand gleich damit im Keller und setzte eine Waschmaschine auf. Sie setzten sich draußen an den Terrassentisch und tranken Kaffee, die beiden Alten waren gespannt, was ihnen ihre Söhne aus Dortmund zu berichten hatten.

Max erzählte, dass er in eineinhalb Jahren seinen Bachelor machen wollte und sehr gut zurechtkäme, er hätte alle Klausuren des laufenden Semesters gut gepackt. Auch Paul zeigte sich sehr zufrieden mit seinem Studium, was er aber noch mehr hervorhob, was das freie Leben in seinem Wohnheim, er lebte mit noch einem Jungen und zwei Mädchen zusammen und sie verstünden sich untereinander prima. Oft säßen sie abends im Gemeinschaftsbereich zusammen und unterhielten sich, es wäre interessant zu erfahren, wie sie ihre Schulzeit bewältigt, und wie sie zu Hause gelebt hätten, seine Kommilitonen wären auch nach Hause gefahren. Max berichtete von seiner Wohngemeinschaft Ähnliches:

„Es hat bei uns aber schon zweimal einen Wechsel gegeben, einmal, weil jemand sein Studium abgebrochen hat und ein anderes Mal, weil jemand fertig geworden ist.“ Frau Leber sagte:

„Das Essen ist soweit, wo wollen denn meine Jungen essen?“ und beide entschieden sich für die Terrasse, alle halfen sie mit, den Tisch zu decken und das Essen herauszutragen. Als die Jungen sahen, dass es Rouladen gab, bekamen sie gläserne Augen und lobten ihre Mutter für die Mühe, die sie sich für sie gemacht hatte:

„Das ist ja beinahe wie zu unserer Schulzeit!“, sagten sie. Frau Leber bedankte sich für das Lob und erwähnte, dass sie am Vormittag mit Frau Meissner auf dem Wochenmarkt gewesen wäre und für ihre Jungen eingekauft hätte. KHK Leber aß nur eine halbe Roulade, sodass seine Jungen ihn fragten:

„Was ist mit Dir los?“ und er antwortete:

„Ich habe nicht so viel Hunger, ich weiß auch nicht so genau, woran das liegt.“ Da schaltete sich seine Frau ein und sagte:

„Ich weiß sehr wohl, woran das liegt, Du hast am Vorabend mit Deinem Kollegen zu viel getrunken, da brauchst Du Dich nicht zu wundern, dass Du keinen Hunger hast!“ Die Jungen aßen jeder zwei Rouladen, als hätten sie seit Wochen nichts gegessen, sie hauten rein, und nach dem Essen ging Max an den Kühlschrank und holte Bier, ob sein Vater auch eine Flasche wollte, aber der winkte ab, das wäre ihm noch zu früh. Sie hatten den Tisch abgeräumt und saßen gemütlich beieinander, Max sagte:

„Ich will ein wenig herumtelefonieren, ich will mich mit alten Kumpels treffen“, Paul wollte auch telefonieren und sie wollten am Abend gemeinsam in den Ort zu Küppers gehen, wie sie das eigentlich immer taten, wenn sie zu Hause waren. Beide erreichten sie jeweils zwei Freunde und wollten sich um 19.00 h gemeinsam in der Kneipe treffen, bis dahin müssten sie zu Abend gegessen haben, sagte Max. Als er ins Wohnzimmer blickte, entdeckte er den neuen Fernseher und seine Mutter sagte, dass der alte nach fünfzehn Jahren seinen Geist aufgegeben und eine Reparatur nicht mehr gelohnt hätte. Es gäbe auch bei ihm im Wohnheim kaum noch Röhrengeräte, sie würden teilweise sogar verschenkt, die Kommilitonen hängten Zettel ans schwarze Brett, auf denen solche Schenkungsangebote stünden.

„Was ist denn am letzten Abend bei Euch los gewesen“, fragte Max, „dass mein Vater so in den Seilen hängt?“ und seine Mutter antwortete:

„Wir haben eigentlich nur mit Meissners gegrillt, die beiden Männer haben aber dermaßen tief ins Glas geschaut, dass sie heute nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht.“ Er sollte sich am Abend besser etwas zurückhalten, sagte Max seinem Vater, das wollte er in jedem Fall tun, entgegnete er. Um 18.00 h deckten sie den Abendbrottisch, richtig Hunger hatte eigentlich noch niemand, sie vollführten nur das Abendbrotritual wie es überall vollzogen wurde, unabhängig davon, ob man Hunger hatte, man aß einfach um 18.00 h zu Abend. Mehr als zwei Schnitten mit Fleischwurst aßen die Jungen nicht, ihr Vater hatte immer noch keinen Hunger und hielt sich ganz zurück. Nach dem Abendbrot wollten die Jungen los und Frau Leber brachte sie mit dem Wagen in die Stadt, zurück müssten sie ein Taxi nehmen, sie steckten jedem zwanzig Euro zu und wünschte ihnen viel Vergnügen bei Küppers. Sie fuhr wieder nach Hause und setzte sich mit ihrem Mann vor den neuen Fernseher, sie sahen um 20.00 h die Tagesschau und danach den Anfang von „Wetten das“, sie fanden aber die Sendung beide so öde, dass sie den Fernseher wieder abschalteten. Stattdessen gingen sie wieder auf die Terrasse, KHK Leber holte sich eine Flasche Bier und schenkte seiner Frau ein Glas Wein ein, das Bier begann wieder zu schmecken, den Schnaps ließ er aber ganz weg.

Er sprach mit seiner Frau über Berlin, und was er sich mit seinem Nachbarn dort ansehen wollte, schließlich hätten sie jede Menge Zeit, denn Daniel Kottke wäre beruftstätig.

„Vielleicht kann er aber auch für uns einen Tag frei machen, möglicherweise werde er bei seinem Betrieb vorsprechen und dafür sorgen.“

„Wann sind wir denn das letzte Mal in Berlin gewesen?“, fragte Frau Leber ihren Mann und der entgegnete:

„Das weiß ich schon gar nicht mehr, auf jeden Fall ist das vor der Wiedervereinigung gewesen, ich kann mich noch genau an die Grenzkontrollen erinnern, die ja zum Glück nun weggefallen sind.

„Wenn ich mit Max und Paul am Checkpoint Charly stehen würde, um ihnen etwas über die Berliner Mauer zu erzählen, käme mit Sicherheit nicht das herüber, was zur Zeit ihrer Existenz bei ihrem Anblick herübergekommen wäre, es gibt ja nur noch die Markierung auf der Straße, was aber der „antifaschistische Schutzwall“ wirklich bedeutet hat, das kann man kaum erzählen. An diesem Abend ging KHK Leber um 22.30 h schlafen, er fühlte sich zwar nicht mehr ganz so schlecht, spürte aber immer noch die Nachwirkungen des letzten Abends. Frau Leber ruhte sich noch kurz am Fernseher aus, ging danach aber auch ins Bett, die Jungen kämen sicher erst mitten in der Nacht, wenn ihr Mann und sie schon längst schliefen.

Am Sonntag war sehr schönes Wetter und die Lebers frühstückten draußen, die Jungen schliefen aus und stießen erst später zu ihnen, als sie schon beinahe mit dem Frühstück fertig waren. Sie mussten am Nachmittag nach Dortmund zurück, ihr Vater brächte sie nach Duisburg zum Hauptbahnhof, von wo sie eine Mitfahrgelegenheit in ihre neue Heimat hatten. Sie bekämen zu Hause noch ein anständiges Mittagessen, ihre Mutter hatte einen Rinderbraten im Ofen und würde Kartoffeln und Salat dazu machen, das Mittagessen gäbe es um 13.00 h. Bis dahin hatten sie noch zweieinhalb Stunden Zeit und ihr Vater schlug vor, einen kleinen Gang durch die Gemeinde zu machen, wie lange das wohl schon her war, dass er einen Spaziergang mit seinen Jungen unternahm, dachte er. Früher ging er an jedem Sonntag vor dem Mittagessen mit ihnen, als die Jungen aber vor ihrer Konfirmation jeden Sonntag in die Kirche mussten, schlief das ein, nach der Konfirmation gingen die Jungen nicht mehr in die Kirche, hatten aber auch keine Lust mehr auf einen Spaziergang mit ihrem Vater. Jetzt, wo die Jungen beide um die zwanzig waren, war das etwas ganz anderes, sie vermochten aber nicht zu sagen was, es befiel die beiden eine Erinnerung an früher, und doch war das Damals mit dem Heute nicht zu vergleichen, der Zwang war nicht mehr da, sie gingen heute freiwillig mit ihrem Vater durch die Nachbarschaft, und ihr Vater war älter geworden, genau wie sie auch.

Sie sahen die Nachbarschaft mit den Augen des Besuchers nicht mehr mit den Augen des Anwohners und das verschaffte ihnen einen übergeordneten Blick, mit dem sie sich heute freier fühlten als damals. Sie trafen vereinzelt Nachbarn vor ihren Häusern an, die sie seit Jahren nicht gesehen hatten und die sie nicht erkannten, als sie sie grüßten. Erst als ihr Vater die Nachbarn darüber aufklärte, mit wem er da durch die Gegend spazierte, dämmerte es ihnen und sie grüßten erfreut zurück. Sie kamen auf ihrem Spaziergang schließlich ins Ortszentrum von Mersdonk und ihr Vater schlug seinen Jungen vor:

„Lasst uns doch zu Küppers zu gehen und einen kleinen Frühschoppen nehmen! Wir rufen später Eure Mutter an, dass sie uns abholen kommt“, und die Jungen waren einverstanden. Bei Küppers saßen einige Alte, die vermutlich vorher in der Kirche gewesen und auf dem Nachhauseweg in der Kneipe hängen geblieben waren. Manche tranken an diesem Sonntagmorgen so viel, dass sie zu Hause sicher Schwierigkeiten mit ihren Frauen bekämen, die den ganzen Morgen in der Küche standen und sich um den Sonntagsbraten kümmerten. Vater Leber trank mit seinen Jungen ein Bier, danach war Schluss, er rief zu Hause an, dass seine Frau käme und sie abholte. Kurze Zeit später kam Frau Leber in die Kneipe und blickte zunächst leicht missmutig zu ihrem Mann und ihren Jungen, war aber sofort wieder guter Stimmung als sie sah, dass alle drei vollkommen nüchtern waren, KHK Leber zahlte, und sie fuhren nach Hause.

Es roch schon draußen sehr lecker nach dem Rinderbraten, den Frau Leber zubereitet hatte und sie fanden auch schon den Tisch gedeckt, sodass sie sich nur noch die Hände wuschen und sich zum Essen hinsetzten. Bei den Jungen kam eine Vorfreude auf das köstliche Essen auf, das sie so sehr an früher erinnerte und zu ihren Lieblingsspeisen zählte. Meistens hatte es sonntags auch immer eine Vorsuppe gegeben, Hühnersuppe, in der die Hühnerleber und der Hühnermagen schwammen oder Rindfleischsuppe mit Fleischeinlage, die Hühnersuppe war nicht jedermanns Sache, die Junge aßen sie aber sehr gern. Ihre Mutter hatte zum Nachtisch einen Schokoladenpudding angerührt, auch der gehörte zu den heiß begehrten Speisen der Jungen, sie gaben immer Vanillesoße darüber. Zum Abschluss des Essens tranken sie alle eine Tasse Kaffee und danach wurde es für die Jungen langsam Zeit, ihre Taschen zu packen und mit ihrem Vater nach Duisburg zu fahren. Ihre Mutter hatte ihre frisch gewaschenen Sachen schon zusammengelegt, sie mussten sie nur noch in ihren Taschen verstauen, und es kam der Moment des Abschieds. Sie nahmen ihre Mutter in den Arm und drückten sie, ihr standen die Tränen in den Augen, ihre Jungen bedankten sich für das gute Essen und stiegen in den Wagen. Ihr Vater kam, startete den Wagen, und sie fuhren Richtung Autobahnauffahrt Alpen, die Jungen winkten ihrer Mutter noch, bis sie um die Ecke verschwunden waren.

Sie erreichten nach ungefähr einer halben Stunde den Duisburger Hauptbahnhof, die Jungen würden ihren Fahrer am Bahnhof treffen. Ihr Vater setzte sie vor dem Bahnhof ab und verabschiedete sich von seinen Söhnen, er steckte jedem noch fünfzig Euro zu, und seine Jungen wünschten ihm viel Erfolg in Berlin, danach drückten sie ihn und er fuhr wieder nach Hause. Er trank mit seiner Frau noch einen Kaffee und kümmerte sich darum, dass sein Trolley gepackt war, den er mit nach Berlin nähme, aber es waren ja nicht so viele Sachen, die er für die drei Tage mitnehmen musste. Später gingen sie zu Meissners hinüber, um mit ihnen etwas zu trinken und zu besprechen, wann sie am nächsten Morgen losführen, eine der beiden Frauen würde sie nach Duisburg bringen und dort am Mittwoch auch wieder abholen. Die Meissners fragten:

„Wie hat es den Jungen zu Hause gefallen?“ und Lebers antworteten:

„Die Zeit viel zu kurz gewesen, in der man sich gesehen hat. Wir wissen noch nicht, wann unsere Jungen das nächste Mal kommen, werden aber dafür sorgen, dass sie länger blieben als bei diesem Mal!“

„Rebecca kommt erst in drei Wochen“, sagten die Meissners, „wir haben mit ihr telefoniert, Rebecca fühlt sich in Münster sehr wohl und kommt mit ihrem Studium gut klar.“ Herr Meissner hatte den Frauen ein Glas Wein eingeschenkt und für seinen Kollegen und sich Bier auf den Tisch gestellt.

Viel durften sie an diesem Sonntag nicht trinken, weil sie am Montag früh aufstehen mussten und zum Zug führen, aber das frühe Aufstehen hatten sie an normalen Werktagen genauso, das war also nichts Besonderes. Sie aßen alle zusammen zu Abend, es gab ein paar Wurst- und Käseschnitten, sonst nichts, es hatte aber auch niemand großen Hunger, sodass die Schnitten völlig ausreichten. Um 20.00 h gingen Lebers wieder zu sich, Frau Leber würde am nächsten Morgen den Fahrdienst übernehmen, am Mittwoch führe Frau Meissner nach Duisburg und holte die Männer wieder ab. Lebers und Meissners sahen am Abend noch ein wenig fern und gingen relativ früh ins Bett. Am Montagmorgen standen sie um 6.00 h auf, ihr ICE führe um 8.10 h, sodass sie um kurz vor 7.00 h losfuhren und noch einen Zeitpuffer hatten, man wüsste ja nie, ob sie nicht auf der Autobahn in einen Stau kämen. Um 7.40 h kamen sie am Hauptbahnhof an, Herr Leber gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange und sagte Tschüss bis Mittwoch, Herr Meissner drückte sie kurz. Frau Leber winkte flüchtig und fuhr wieder los, die beiden Kommissare mussten durch den gesamten Bahnhofsschlauch laufen, bis sie am Ende ihr Abfahrtsgleis elf erreichten. Da sie noch etwas Zeit hatten, stellten sie sich unten an die Kaffeebude und tranken einen Cappuccino, der zwar nicht so hervorragend schmeckte, den man aber durchaus trinken konnte. Um 7.55 h liefen sie zum Bahnsteig hoch und sahen auch schon ihren Zug auf der Anzeige.

Der Duisburger Bahnhof war sehr groß und man konnte alle Gleise überblicken, es war um diese Tageszeit eine Menge los und sie sahen viele ICEs, die alle möglichen Städte ansteuerten. Um 8.10 h lief pünktlich ihr ICE ein und hielt mit ihrem Waggon direkt vor ihnen, sie steigen ein und suchten ihre reservierten Plätze und als sie sie fanden, sahen sie sie besetzt. Nachdem sie den Leuten, die auf ihren Plätzen saßen, freundlich gesagt hatten:

„Die Plätze sind von uns reserviert worden, stehen Sie doch bitte auf!“, räumten sie die Sitze und machten den Kommissaren Platz. Sie legten beide ihre Trolleys über sich in das Kofferfach und hatten zwischen sich einen Tisch, was sie sehr angenehm fanden, konnte doch jeder seine Zeitung ausbreiten und in Ruhe lesen. Der Zug war voll, weil um 8.00 h die Zeit war, zu der die meisten Geschäftsreisenden fuhren und wenn man keinen Sitzplatz reserviert hatte, musste man im Regelfall stehen, die Kommissare sahen die Leute nicht mehr, die vorher auf ihren Plätzen gesessen hatten. Der Zug setzte sich in Bewegung und man spürte kaum die große Geschwindigkeit, mit der er sich vorwärtsbewegte, sie erreichten schnell Mülheim, Essen Bochum und Dortmund. Der Zug würde sie in vier Stunden nach Berlin bringen, das würde niemand mit dem Auto schaffen, weil die A 2, die Autobahn, die das Ruhrgebiet mit der Hauptstadt verband, immer hoffnungslos voll war und man deshalb nicht schnell genug auf ihr vorankam.

Der LKW-Transitverkehr auf der Ost-

West-Strecke war das Hauptproblem, von den drei Spuren der Autobahn nahmen die LKWs die rechte komplett für sich. Nachdem sie Hannover passiert hatten, näherten sie sich schnell dem Gebiet der ehemaligen DDR, und auf den dort neu verlegten Gleisen holte der ICE alles aus sich heraus, was er zu bieten hatte. Die Geschwindigkeit wurde auf einem Display im Abteil angezeigt, sie erreichte die 250-km/h-Marke, der Zug blieb dabei so leise, dass man von der unglaublichen Geschwindigkeit nichts mitbekam. Die beiden Kommissare hatten sich von dem mobilen Kellner, der mit einem Wagen voller Getränke und Süßigkeiten durch die Waggons fuhr, ein Bier geben lassen und genossen das kalte Getränk, sie beließen es aber bei einem Bier. Längst befanden sie sich in der ehemaligen DDR, sahen aus dem Fenster und konnten die verlassenen Käffer an sich vorbeifliegen sehen. Um 11.45 h erreichte der ICE Berliner Stadtgebiet und passierte Spandau, kurze Zeit später kamen sie zum Bahnhof Zoo, den man immer ansteuerte, bevor der Hauptbahnhof fertiggestellt war.

Morde und Leben - Leber und Meissner

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