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Kapitel1

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H ank H ansen

Das hässliche Gesicht

einer Ehe

- Schicksalsroman -

So theatralisch wie es auch klingen mag, aber mein Schicksal wurde mir bereits in die Wiege gelegt und eine Katastrophe nach der anderen sollte meinen zukünftigen Lebensweg bis hin zum 52. Lebensjahr begleiten. Mein Dasein hatte ich sowieso nur einem Zufall und dem Liebhaber meiner Mutter zu verdanken, der auf keinen Fall eine Abtreibung wollte. Warum er meine Mutter dann aber trotzdem noch vor meiner Geburt verließ, auf diese Frage habe ich nie eine Antwort erhalten und weiß es leider bis heute nicht.

Ich wurde im Spätsommer 1946 in Braunschweig als ein sogenanntes Besatzungskind unehelich geboren, und zwar zu einem Zeitpunkt, als halb Deutschland noch in Schutt und Asche lag.

Auch die Stadt Braunschweig war im Oktober 1944 durch einen verheerenden Bombenangriff der britischen Air Force völlig zerstört, und der gesamte mittelalterliche Stadtkern brannte vollständig aus. Es war gerade das erste Jahr nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, und ich konnte natürlich nicht ahnen, dass mein Leben ähnlich zerstörerisch verlaufen sollte, wie das meiner Geburtsstadt. Es sollte ein zerrissenes Leben beginnen, das man gleich von Anfang an nicht wirklich als glücklich bezeichnen durfte. Viele schlimme Details aus dieser Kindheit wurden mir erst sehr viel später von anderen Menschen zugetragen.

Allein aus diesem Grund kann ich überhaupt heute darüber schreiben.

Ich wurde also in diese zerbombte Welt hineingeboren und hatte niemanden, der sich um mich kümmerte, am allerwenigsten meine biologische Mutter, wie ich viel später vom Jugendamt erfuhr. Sie verabredete sich lieber in zwielichtigen Kneipen mit Männern zum Tan- zen, vorzugsweise mit englischen Soldaten, die hier damals im Nachkriegsdeutschland von 1946 als Besatzer stationiert waren. Auch mein Erzeuger soll angeblich ein Engländer gewesen sein.

Meine Mutter ließ mich an den vielen für sie sicherlich vergnüglichen Abenden einfach ohne Aufsicht allein zu Hause im Bettchen liegen. Ich hatte sonst niemanden und außer einer Nachbarin, die ab und an mal nach mir sah, war keiner in meiner Nähe. Ich lag in meinem Gitterbettchen und schrie vor Hunger und Durst und meine Windeln wurden nicht gewechselt. Jeder kann sich vorstellen, wie sehr ich als hilfloses Baby litt. Wundgescheuert an vielen Stellen meines Körpers und an meiner Seele schrie ich förmlich nach Liebe und Aufmerksamkeit, doch niemand hörte mein Wehklagen. Die besagte Nachbarin informierte aufgrund dieser haltlosen Situation irgendwann das Jugendamt, was für mich Lebensrettung in letzter Minute bedeutete. Ohne diese fremde Hilfe, da bin ich mir heute sicher, hätte ich diesen unsagbaren Zustand kaum überlebt.

Erst an meinem 17. Geburtstag sollte ich von diesen tragischen Ereignissen aus meiner frühesten Kindheit erfahren. Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nichts von meiner leiblichen Mutter und meinem Vater. Bis dahin befand ich mich, vermittelt durch das Jugendamt, in Obhut und Fürsorge bei einem älteren

Ehepaar, das sich wahnsinnig gerne Kinder

gewünscht hatte.

Die Beiden konnten altersentsprechend aber genauso gut bereits meine Großeltern sein.

Angeblich durch das eigene Verschulden konnte meine Adoptivmutter Auguste keine eigenen Kinder bekommen. Als ich Älter war, erzählte sie mir, dass sie dreimal nacheinander ihre Schwangerschaften abgetrieben hatte, obwohl sie eigentlich gerne eigene Kinder wollte. Ihre Gründe zu diesem Handeln blieben mir damals noch unverständlich.

1947, ich war jetzt ein Jahr alt, wurde ich bei meinen Adoptiveltern auf einem Bauernhof in Niedersachsen aufgenommen. Es war ein kleines beschauliches, 500 Einwohner zählendes Seelendorf nahe Helmstedt.

Hier lebten und arbeiteten auch meine Großeltern mütterlicherseits. Alle waren sehr liebevoll und fürsorglich zu mir. Ich konnte mich nicht beklagen, denn es war alles vorhanden, was ein Kinderherz sich nur wünschte, sogar in diesen schlechten Zeiten. Meine Eltern, von denen ich natürlich dachte es seien meine leiblichen Eltern, und meine Großeltern sorgten gut für mich.

Wir kannten keine Not, und es gab immer ge- nügend zu Essen, sogar Fleisch und Wurst aus eigener Schlachtung kam öfter auf den Tisch. Brot und Kuchen backte meine Oma selbst. Im ganzen Haus roch es dann wie in einer Backstube, und ich liebte diesen Duft. Oma und Opa schlossen mich sofort in ihr Herz. Ich spürte, dass sie glücklich waren, dass ich da war, und ich fühlte mich natürlich genauso glücklich bei ihnen. Großvater nahm mich stets in Schutz, wenn meine Mutter mit mir schimpfte. An Opa kann ich mich noch sehr gut erinnern.

Oft hörte ich von meinen Eltern, dass ich meiner Großmutter sehr ähnlich sah.

Du hast dieselben dunklen Augen wie deine Oma hieß es, was eigentlich unmöglich sein konnte, aber dadurch kam nie der Gedanke in mir auf, dass sie gar nicht meine leibhaftigen Eltern waren. Erst viele Jahre später sollte ich auf eine sehr unschöne Art hinter das Geheimnis kommen.

Des Öfteren sagte mein Vater zu mir

"Ich glaube, die Zigeuner haben dich vertauscht." Dieser Satz war zwar scherzhaft gemeint, ich empfand diese Redensart von ihm aber schon ein wenig seltsam.

Ich liebte diese Geborgenheit, die mich umgab und bemerkte nicht, was um mich herum wirklich geschah.

Während des Krieges verloren meine Eltern ihr gesamtes Hab und Gut und standen wie viele andere Familien vor dem Nichts. Notgedrungen zogen wir eines Tages vom idyllischen Bauernhof zurück in meine Geburtsstadt Braunschweig. In dieser zerstörten Stadt versuchten meine Eltern, sich eine neue Existenz aufzubauen. Mein Vater machte sich mit einem Geschäft für Telefonanlagenbau selbständig, und schnell besaßen wir ein eigenes kleines Auto. Hierbei handelte es sich nach heutigem Stand um nichts besonders, aber immerhin waren wir mobil und konnten einiges gemeinsames unternehmen. Mein Vater kaufte für sich noch ein Motorrad, so erreichte er morgens schneller seine Firma.

Trotz der vielen Arbeit meines Vaters fuhren wir jedes Wochenende aufs Land und besuchten meine Großetern, da meine Oma mittlerweile immer pflegebedürftiger und bettlägerig wurde und Opa die Arbeit allein auf dem Bauernhof kaum noch bewältigen konnte.

Während der langen Fahrt dorthin schlief ich jedes Mal auf der Rückbank im Auto ein.

Im Alter von 70 Jahren verstarb meine Oma dann leider an den Folgen ihrer schweren Krankheit.

Dass die Ehe meiner Eltern Auguste und Walter nicht so glücklich verlief wie es nach außen hin den Anschein hatte, ahnte ich nicht.

Erst viele Jahre später erzählte mir meine Mutter darüber. Sie war eine hübsche Frau und legte viel Wert auf ihr Äußeres Er- scheinungsbild. Als gelernte Schneiderin schneiderte sie die schönsten Kleider für sich und für mich. Sie sah aus, als sei sie von der Titelseite eines Modejournals entsprungen. Gerne zeigte sie in der Öffentlichkeit, wer sie war und was sie darstellte. Auch Vater legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres, war aber um einiges bescheidener und mächtig stolz auf seine gutaussehende Frau.

Das Geschäft lief gut, wir konnten uns vieles leisten, wovon andere Familien in der Zeit nur träumten. Ich litt ein wenig unter dieser ständigen Angeberei, so empfand ich das jedenfalls als Kind. Alles drehte sich Tag für Tag immer nur um das Geschäft. Lieber hätte ich etwas mehr Zuneigung und Verständnis von den beiden erhalten, doch trotz allem war ich bis dahin ein unkompliziertes, glückliches und fröhliches Mädchen.

Je Älter ich wurde, desto mehr spürte ich, dass ich in einem Glashaus sitze. Immer musste ich das tun, was von mir verlangt wurde. Meine eigene Meinung wurde nicht akzeptiert, und ich fühlte mich durch die Liebe meiner Eltern total eingeengt. Aus diesem Grund wurde ich immer ruhiger, zurückhaltender und schüchterner,ich traute mir kaum noch etwas zu.

"Mach dich bloß nicht schmutzig, sitz gerade, steh nicht so krumm."

Von morgens bis abends wurde ich gemaßregelt. In dieser Zeit fiel mir auf, dass meine El- tern sich häufig stritten. Manchmal war es für mich die Hölle, denn mein Vater konnte sehr jähzornig werden und stets wurde ich in ihre Streitigkeiten mit hineingezogen. Zum Teil gerieten die beiden so aneinander, dass es nicht nur bei persönlichen Beleidigungen blieb, sondern massiv handgreiflich wurde. In seiner krankhaften Eifersucht zertrümmerte mein Vater an solchen Tagen nicht nur greifbare Möbelstücke, sondern auch das von Oma geerbte Tafelgeschirr, das gerade in Reichweite im Wohnzimmerbuffet stand. Seine Wutausbrüche waren so heftig, dass Mutter und ich vor ihm die Flucht ergreifen mussten. Diese üble Stimmungslage wurde immer schlimmer und es gab immer häufiger Unstimmigkeiten und Streitereien, die dann so wie geschildert ausarteten. Tatsächlich war wohl meine Mutter nicht die allertreuste Ehefrau, wie mein Vater immer wieder behauptete.

Mit 4 Jahren sollte ich den nahegelegen privaten Kindergarten besuchen. Eigentlich fand ich das bunt angemalte Haus recht schön, fühlte mich dort aber irgendwie von zu Hause abgeschoben. Ich wusste, dass meine Mutter nicht arbeiten musste und zu Hause saß. Sie hätte sich durchaus um mich kümmern können, aber sie war ja ständig mit sich selbst be-

schäftigt.

Meine Probleme mit der Anpassung im Kindergarten schienen allen gleichgültig zu sein. Ich hatte das Gefühl, niemand nimmt mich ernst und zeigt auch nur einen Hauch von Verständnis für mich. Mit den anderen Kindern im Kindergarten hatte ich kaum Kontakt, so sollte verhindert werden, dass ich etwas von meiner Adoption erfahre. Zum Glück war ich meistens mittags zum Essen wieder zu Hause, was wiederum für mich aber leider sehr langweilig war, denn ganz selten spielten Mutter und Vater mit mir.

Seit seiner Kindheit war mein Vater durch einen Unfall mit einem Pferdefuhrwagen gehbehindert und zu großen körperlichen Anstrengungen nicht mehr in der Lage. Aus diesem Grund musste er auch nicht an die Kriegsfront. Mutter hatte mit Sport sowieso noch nie viel am Hut, nur das Tanzen war ihre große Leidenschaft, was aber für meinen Vater durch seine Behinderung leider auch kein Vergnügen war.

Das Einzige, was ich Mutter und Vater zu verdanken habe, ist die Tatsache, dass ich mit 5 Jahren schwimmen lernte, obwohl beide Elternteile es je selbst nie erlernt hatten.

Die Zeit verging, mittlerweile hatte ich mich im Kindergarten etwas eingewöhnt, und trotzdem wurde ich meine permanente Schüchternheit und die Angst vor fremden Menschen nicht los. Ich war voller Hemmungen und hatte die Hoffnung in mir, dass es doch irgendjemandem auffallen musste, dass ich wahrscheinlich sogar hochgradig depressive Phasen durchlebte, aber niemand vernahm meine stummen Hilfeschreie. Jeder hielt mein Verhalten für völlig normal. Für meine Eltern war ich das liebe kleine Mädchen, das immer folgsam war und stets das tat, was sie wollten. Widerspruch wurde nicht geduldet,ich kam mir vor wie ein Vorzeigekind, stets perfekt, immer schön lieb, sauber und brav. So mochte man mich.

Bald hatte ich überhaupt kein Selbstwertgefühl mehr und war dieser Rolle auf Dauer nicht gewachsen. Ich fühlte mich überfordert, und in meinem Unterbewusstsein brodelte es permanent, da half auch kein positives Denken.

Nachdem die Tortur Kindergarten endlich beendet war, wurde ich mit 6 Jahren eingeschult. Ich freute mich auf meinen ersten Schultag, auf einen neuen Lebensabschnitt, denn bisher wuchs ich ziemlich isoliert auf.

Dieser alte rote Backsteinbau mit seinem großen Schulhof imponierte mir schon gewaltig, doch die Vorfreude auf die Schule verblasste schnell, denn die tägliche Realität sah anders aus. Sie stellte sich für mich als bisher größte Herausforderung dar und machte mir mein Leben erst so richtig schwer. Ich war diesem Leistungsduck und den Anforderungen im Allgemeinen einfach nicht gewachsen und hatte Probleme beim Kommunizieren mit Klassenkameraden, da ich es durch die ewige Abschottung im Kindergarten nicht gewohnt war, mit anderen Kindern zu spielen oder zu reden. Unterlief mir auch nur der kleinste Fehler an der Tafel, oder gab ich eine falsche Antwort im Unterricht, begannen alle in der Klasse zu lachen. Ich schämte mich unendlich, statt über den Dingen zu stehen. Ich war nicht in der Lage, einfach mal selbst über meine gemachten Fehler zu lachen. Genau das Gegenteil war der Fall. Mit Tränen in den Augen und beleidigt zog ich mich in mein Schneckenhaus zurück und traute mich überhaupt nicht mehr,im Unterricht mitzuarbeiten. Ich zuckte schon zusammen, wenn mein Lehrer nur meinen Namen nannte und mich aufrief, um etwas vor der gesamten Klasse vorzulesen oder an die Tafel zu schreiben.

Es war nur schrecklich.

"Sabine, du bist so ein liebes und artiges Kind. Du bereitest uns keinen Kummer, und alle Bekannten und Verwandten mögen dich sehr." Diesen Satz hörte ich häufig von meinen Eltern. Sie wussten ja nicht, wie ich mich wirklich in der Schulgemeinschaft fühlte. Wie es in mir wirklich aussah, interessierte sowieso keinen Menschen. Wollte ich etwas sagen, was mir nicht gefiel, wurde mir trotz des Lobes zuvor sofort der Mund verboten. Dieses zwiespältige Gefühl in mir war schon seltsam, und es machte mich noch unsicherer; vor allem die barschen Sätze meiner Eltern: "Sabine, hab nicht immer das letzte Wort." Meine Eltern bekamen von meiner Situation nicht allzu viel mit, die Lehrer hingegen beurteilten mich als faul, nicht anpas- sungsfähig und lustlos. Dies hatte zur Folge, dass ich mich selbst für dumm hielt und an meinen durchaus vorhandenen Fähigkeiten zweifelte. Eigentlich war es kein Wunder, denn nicht nur meine Mathematikzensuren fielen schlecht aus, sondern meine schulischen Leistungen im Allgemeinen waren miserabel. Eigentlich war das Resultat nur eine Folge meiner vollkommenen Unsicherheit. Zu Hause bezog ich von meinem Vater für schlechte Zensuren obendrein noch eine ordentliche Tracht Prügel und wehe meine Mutter wollte mir zur Hilfe eilen, dann drohte er ihr ebenfalls gleich Schläge an.

Es war für jeden Außenstehenden offensichtlich dass sich meine Eltern immer schlechter verstanden und die Prügelattacken vonseiten meines Vaters, besonders meiner Mutter gegenüber, zunahmen. Es verging kein Wochenende ohne Streit, und die Nachbarn be- kamen nebenan in diesen hellhörigen Wohnungen jedes Wort mit. An eine schlimme Szene kann ich mich noch genau erinnern:

Ich war gerade mal 6 Jahre alt, als mein Vater wiederholt ausrastete. Er zerschlug in seiner ungezügelten Wut einige Möbelstücke, und Mutter musste mit mir auf dem Arm vor dem tobenden Kerl flüchten. Weinend und hilflos standen wir trotz regnerischen Wetters mitten auf der Straße. Dieses Erlebnis habe ich bis heute, selbst nach so vielen Jahren, immer noch vor Augen. Es war schrecklich, solch eine Situation als kleines Mädchen mitzuerleben. Sämtliche entsetzlichen Ereignisse dieser Art kann ich in diesem Buch gar nicht beschrei- ben, es gab einfach zu viele davon. Eine bestimmte Geschichte liegt mir aber doch noch besonders am Herzen.

Es war ein ganz normales Wochenende, und wir fuhren, so wie wir es häufig taten, mit unserem Auto ohne ein bestimmtes Ziel einfach so ins Grüne. Regen oder Sonnenschein war uns egal, Hauptsache wir unternahmen Spaziergänge an der frischen Luft. Meistens fuhren wir in die nahen Wälder des Harzes oder des Elms. Ging ich immer schön brav an der Hand meiner Mutter, war alles in Ordnung. Sobald ich begann, ein wenig zu laufen oder auf dem Waldweg zu hüpfen, hörte ich schon ihr Geschrei:

"Sabine, schlürf nicht so mit deinen Schuhen. Sabine, geh nicht so krumm. Sabine, trödele nicht so."

Mein Spaßfaktor bei diesen Spaziergängen lag gänzlich bei null, denn ich wurde bei der kleinsten Kleinigkeit sofort gemaßregelt. Dieses zweifelhafte Vergnügen nahm meistens ca. zwei Stunden in Anspruch, bevor es vor Einbruch der Dunkelheit zurück nach Hause ging. Auf der Rückfahrt begannen meine Eltern sich lautstark über irgendetwas zu streiten, und es kam zu schlimmen Wortgefechten, die für die Ohren eines Kindes wohl eher nicht bestimmt sein konnten. Solche Worte hatte ich noch nie gehört und konnte mit deren Sinn auch nichts anfangen. Mein Herz klopfte mir vor lauter Angst bis zum Hals. Ich begann auf dem Rücksitz zu weinen, zitterte am ganzen Körper, und mir wurde übel. Plötzlich bremste mein Vater während der Fahrt den Wagen voll ab, so dass ich von der Rückbank fiel und fast mit dem Kopf an den Vordersitz knallte. Wutentbrannt schmiss er mich und meine Mutter mitten auf einer einsamen Landstraße einfach so aus dem Auto und brauste mit quietschen- den Reifen davon. Den Rest der Strecke mussten Mutter und ich zu Fuß gehen, bis wir irgendwann eine Bushaltestelle fanden. Mit Tränen in den Augen warteten wir dann noch etwa eine Stunde auf den nächsten Bus, mit dem wir endlich nach Hause fahren konnten.

In solchen Situationen spielten sich eigenartige Gedanken in meinem Kinderkopf ab, und ich überlegte ernsthaft, ob ich immer an allem schuld war.

Ängste verschiedenster Art begleiteten auch mein weiteres Leben. Ständig war ich der Ansicht, ich und zwar nur ich allein, zog solche furchtbaren Geschehnisse wie ein Magnet an, aber ich war doch erst 6 Jahre alt und noch viel zu klein.

Es war nicht gerade schön mitzuerleben, wenn meine Mutter weinte und nach einem Streit sprachen meine Eltern anschließend tagelang nicht miteinander. Wenn ich in meiner kindlichen Neugier Fragen über das Warum und Wieso stellte, hieß es immer nur:

"Lass die Fragerei, davon versteht du noch nichts."

Als ich älter wurde, wusste ich genau, um was es ging. Es drehte sich um Eifersucht, und auch ich sollte so ein ähnliches Schicksal wie das meiner Mutter noch am eigenen Leib erfahren.

Alles begann mit meiner Pubertät. Ich kannte diesen Begriff eigentlich gar nicht und die Bedeutung dieses Wortes erst recht nicht. Mit 13 Jahren bekam ich meine erste Menstruation und mir wurde nicht erklärt wieso und weshalb dies so ist. Ich konnte weder meine Mutter noch meinen Vater fragen, was gerade in meinem Körper ablief. Aufklärung stellte ein unange- nehmes Thema in unserer Familie dar. Über so etwas sprach man nicht. Ich weiß noch genau, wie ich ängstlich und zitternd zu meiner Mutter lief:

"Mutti, ich glaube, ich habe mich verletzt!"

Ihre Antwort darauf war kurz und knapp: "Das bekommst

du jetzt alle 4 Wochen. Du wirst jetzt langsam eine Frau."

Mit diesen Sätzen war die Menstruation erklärt und alles gesagt.

Zudem fiel mir auf, dass mein Vater mich seit geraumer Zeit anders anschaute als früher, aber ich dachte mir nichts weiter dabei. Nach wie vor lief ich morgens natürlich wie gewohnt halb nackt in der Wohnung umher. Ich konnte doch zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass dieser Mann gar nicht mein leiblicher Vater war. Für mich war es mein Vater, der sich liebevoll und rührend um mich kümmerte, wenn ich krank war. Es gab in diesen Situationen keine Anzeichen von Jähzorn und Wut bei ihm, und wenn er von der Arbeit nach Hause kam, brachte er häufig eine Kleinigkeit für mich mit. Abends kam er an mein Bett, nahm mich in seine Arme und tröstete mich, wenn ich traurig war. Um es gleich vorwegzunehmen, mein Vater hat mich niemals unsittlich berührt, auch später nicht als ich erwachsen war. Trotz allem blieb er unberechenbar, und seine krankhafte Eifersucht richtete sich nicht nur gegen meine Mutter, sondern fortan auch gegen mich.

Gegenüber unserer Eigentumswohnung, direkt auf der anderen Straßenseite, befand sich ein bekannter Jugendtreff. An diesem Ort traf ich mich heimlich nach der Schule mit Freundinnen oder Klassenkameraden. Wir spielten Karten, Tischtennis oder klickerten umsonst am Fußballautomaten, spielten Billard und machten zwischendurch manchmal sogar gemeinsam Hausaufgaben. Stundenlang konnten wir uns hier ungestört über Gott und die Welt unterhalten. Es waren lustige und fröhliche Nachmittage, ich war glücklich und unbeschwert, fühlte mich wohl in dieser gleichaltrigen Gruppe. Ein Jugendleiter mittleren Alters sorgte für Ruhe und Ordnung in dem Jugendtreff, und wir konnten jederzeit mit persönlichen Problemen zu ihm kommen. Selbst Flaschen mit Sinalco oder Coca Cola spendierte er manches Mal aus seiner eigenen Tasche, da viele aus der Clique kaum Geld zur Verfügung hatten. Meine Eltern sahen es nicht gerne, dass ich mich nachmittags dort mit Freunden wie sie es nannten herumdrückte und verboten mir den Besuch im Jugendtreff strengstens. Mir ist bis heute noch nicht bewusst, welche Vorstellungen sie dazu veranlassten, jedenfalls saß mir bei jedem Besuch die Angst im Nacken, dass sie mich erwischten.

Aus unserem Küchenfenster heraus konnte man über die ganze Straße blicken, und als Vater sah, dass ich mich mit einem Nachbarsjungen vor dem Jugendtreff unterhielt, fing er mich vor der Haustür ab und verprügelte mich auf der harten Steintreppe im Treppenhaus, bis wir oben vor unsere Wohnungstür ankamen. Meine Mutter nahm mich zwar vor weiteren Schlägen in Schutz, konnte sich aber ihm gegenüber nie ernsthaft durchsetzen. Er war vom Sternzeichen Stier und genauso benahm er sich auch, wie ein wütender Stier.

Selbst der Jugendleiter konnte mich vor meinem brutalen Vater nicht schützen.

Als er mitbekam, dass ich mich an einem anderen Tag wieder unerlaubt im Jugendtreff aufhielt, kam er wie von einer Tarantel ge- stochen über die Straße gelaufen, um mich nach Hause zu holen. Vor lauter Angst schloss ich mich auf der Mädchentoilette ein, die Jugendlichen und der Leiter des Jugendtreffs versperrten ihm den Weg. Für diesen Augenblick war dieses Vorgehen zwar wirkungsvoll, aber irgendwann am frühen Abend musste ich ja nach Hause gehen. Vater empfing mich bereits an der Korridortür und verprügelte mich gnadenlos an Ort und Stelle. Meine Mutter wollte mir zur Hilfe kommen und bekam dafür selbst etliche Schläge von diesem tollwütigen Menschen ab. Der nachfolgende Hausarrest über mehrere Tage war nur halb so schlimm wie meine seelischen Schmerzen. Dabei gab es nichts Harmloseres als dieses "Haus der Jugend".

Zu dieser Zeit dachte ich tatsächlich, es wäre wohl für alle besser gewesen, überhaupt nicht in diese Welt hineingeboren worden zu sein. Heute sehe ich das Gott sei Dank mit anderen Augen. Es war zwar keine einfache Jugend für mich, aber wäre ich nicht geboren worden, was hätte ich trotz all der negativen Erfahrungen für wunderschöne Erlebnisse verpasst, denn diese gab es nämlich auch.

Einige oberflächliche Freundschaften entstanden trotz dieser desaströsen häuslichen Umstände, doch ich fühlte mich nicht in der Lage, mit anderen Gleichaltrigen über meine Probleme zu sprechen und mich Freunden anzuvertrauen. Ich spürte eine innerliche Kraft in mir und wusste, dass es mir eines Tages bestimmt besser gehen würde. Dies konnte nicht das Ende der Welt bedeuten, daran habe ich immer geglaubt und heute weiß ich, dass es richtig war so zu denken.

Um mich von den täglichen Streitereien meiner Eltern abzulenken, konzentrierte ich mich auf Fähigkeiten, die zweifelsohne in mir steckten. Dinge, die mir Freude bereiteten, wie Sport, Malen, Gesang und Musikunterricht.

Zu meiner größten Leidenschaft zählte die Aquarellmalerei, mit der ich meine Kreativität und meine Ideen mit bunten, schrillen oder auch pastelligen Farben Ausdruck verlieh, und niemand machte mir dabei Vorschriften. Das Zeichnen und Malen verhalf mir über viele Probleme und meine Traurigkeit hinweg. Ein leeres Blatt Papier vor mir auf dem Schreibtisch füllte sich innerhalb kürzester Zeit mit den wildesten Phantasien, Sorgen und Ängsten, und die karge Wand über meinem Bett ähnelte bald einer kleinen Kunstgalerie. Meine Kreativität und die Maltechnik entwickelten sich so gut, dass ich ernsthaft darüber nachdachte, dieses angeborene Talent später vielleicht sogar als Beruf auszuüben.

Zu Hause änderte sich sonst leider nicht viel. Für mein Leben gerne hätte ich gerade jetzt eine Musikschule besucht, Klavier- oder Geigenunterricht genommen, vielleicht sogar Konzertgitarre gespielt, aber weit gefehlt. Meine Eltern kauften mir stattdessen ein Schifferklavier. Die beiden waren sich einig, dass ein Akkordeon das richtige Instrument für mich war. Ich bekam Privatunterricht und musste ab sofort täglich auf der ungeliebten Quetsche üben. Dies tat ich sehr widerwillig, doch was sollte ich schon dagegen unter- nehmen, sämtliche Proteste nutzten nichts, denn Widerworte wurden nicht geduldet.

Von dieser Zeit an wurde ich allen Bekannten und Verwandten als musikalisches Talent vorgeführt. Ich fühlte mich wie ein Zirkuspferd und musste bei den verschiedensten Familienanlässen etwas auf diesem schrecklichen Instrument vorspielen. Meist saß ich total verschüchtert auf einem Stuhl in der Mitte des Wohnzimmers und spielte mühselig einige Seemannslieder aus einem Notenbuch. Ich fand mich total albern, und wenn ich aus Versehen mal nicht den richtigen Ton oder die richtige Taste traf oder einfach nur kurz aus dem Takt kam, straften mich vorwurfsvolle Blicke meiner Mutter. Des Öfteren wurde ich sogar am Ende einer Feier, wenn die Gäste gegangen waren, als Dankeschön auch noch beschimpft.

Ein weiteres und viel schlimmeres Erlebnis hatte ich mit 14 Jahren anlässlich meiner Konfirmation. Neben den üblichen Mädchengeschenken, wie Stofftaschentücher, Tisch- und Bettwäsche sowie Anlegebesteck und Sammeltassen bekam ich von Familie Eilers, einem befreundeten Ehepaar meiner Eltern, durchsichtige Nachtwäsche geschenkt. Dieses sogenannte Babydoll wurde in Deutschland durch einen amerikanischen Kinofilm bekannt und war zu der damaligen Zeit hochaktuell. Eigentlich eine ganz nette Geschenkidee dachte ich so bei mir, mal etwas anderes als die langweiligen Nachthemden, die ich sonst immer trug.

Der Nachmittag bei Kaffee und Kuchen verlief recht fröhlich bis der Abend anbrach und mein Vater zu mir sagte:

"Sabine, führe uns doch dein Babydoll mal vor. Familie Eilers will doch sicherlich auch sehen, ob es dir passt."

Meine gute Laune war mit einem Schlag dahin, ich war regelrecht schockiert und traute meinen Ohren nicht.

"Nun hab dich doch nicht so, da ist doch nichts dabei."

Mein Vater und Herr Eilers redeten un- aufhörlich auf mich ein. Die anwesenden Frauen hatten gegen diese seltsame Modenschau ebenfalls keine Einwände. Wiederwillig musste ich mich einmal mehr den Anweisungen meiner Eltern beugen. Mit hochrotem Kopf und kindlich unbeholfen stolperte ich in dem durchsichtigen neuen Babydoll durchs Wohnzimmer. Diese zur Schaustellung vor fremden Leuten war mir unglaublich peinlich, aber einmal mehr wurde keine Rücksicht auf meine Bedürfnisse genommen, und mein verletztes Schamgefühl interessierte niemanden.

Ich verbrachte den Rest des Abends in meinem Zimmer, vergrub mein Gesicht unter einem Kopfkissen und hörte die Gäste noch lange feiern. Was Tage später aus dieser skurrilen Modenschau noch entstehen sollte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen.

Die darauf folgende Woche begann ohne Vorkomm- nisse, und der Tag in der Schule verflog wie nichts. Schneller als sonst brach bereits die Dunkelheit herein und der Unterrichtsschluss in der Kunsthochschule, die ich mittlerweile besuchen durfte, wurde durch die schrille Schulklingel eingeläutet. Ich schlenderte über den Schulhof auf die Straße. Direkt am hohen Eisenportal des Ausgangs sah ich einen Mann unter der beleuchteten Laterne auf der anderen Straßenseite, der mit seinen Armen wild artikulierend zu mir herüber winkte. Schemenhaft erkannte ich Herrn Eilers, den Bekannten meiner Eltern, der dort freudestrahlend unter der Straßenbeleuchtung anscheinend auf mich zu warten schien.

"So ein Zufall Sabine, komm steig ein, ich fahre dich nach Hause, wenn ich schon mal hier bin."

Mit diesen Worten öffnete er ganz gentlemanlike die Fahrzeugtür, und ich stieg bedenkenlos in seinen Wagen ein. Ich war sehr dankbar, dass er mich mitnehmen wollte, denn ansonsten hätte ich noch 20 Minuten auf den Bus warten müssen. Was sollte schließlich schon geschehen, er war doch ein Freund meiner Eltern und hatte selbst eine Familie mit zwei Kindern. So naiv war meine Denkweise.

Zu spät bemerkte ich seine widerliche Alkoholfahne. Er fuhr los, und ich hatte keine Chance mehr auszusteigen. Als wir nicht den direkten Weg nach Hause fuhren, ahnte ich bereits, welches Unheil nun auf mich zukommen sollte. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, ich wurde panisch auf dem Beifahrer- sitz und musste mich zur Ruhe zwingen. Innerlich zerplatzte ich förmlich vor Nervosität.

"Bitte fahr mich nach Hause", bettelte ich ihn an, bekam aber keine Antwort. Er fuhr einfach weiter in den nahegelegenen Park, bog dort rechts ab und stoppte sein Auto in einer dunkler Sackgasse unter einem Baum. Lauter, fast schreiend, wiederholte ich meine Forderung mit zittriger Stimme:

"Bitte fahr mich nach Hause, meine Eltern machen sich sonst Sorgen, wenn ich zu spät komme."

Wieder erhielt ich keine Antwort. Stattdessen verriegelte er die Autotür, riss mich an sich und probierte, mich auf den Mund zu küssen. Nur durch schnelles und geschicktes Wegdrehen meines Kopfes konnte ich mich dieser ekligen Attacke entziehen. Seine feuchten Hände rutschten an meinem Körper immer tiefer. Ich spürte seinen unbändigen Willen und die ungeheure Kraft, die er bei seinem miesen Vorhaben entwickelte. Was hatte ich schon als junges Mädchen gegen die Brachialgewalt eines erwachsenen Mannes entgegenzusetzen?

Er hielt meine Arme fest und schaffte es, mein Kleid nach oben zu schieben. Dabei keuchte er wie ein Tier. Die Scheiben des Fahrzeugs beschlugen in wenigen Minuten. Ich schrie um mein Leben und wehrte mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln gegen seine gierigen Hände. Diesen stinkenden Geruch seines Atems werde ich nie vergessen. Beinahe hatte er es geschafft, mich zu vergewaltigen, aber im letzten Moment bogen zwei Spaziergänger um die Ecke, und er ließ von mir ab. Ich hatte Angst wie nie zuvor im Leben und stand völlig unter Schock. Selbst schreien konnte ich nicht mehr. Irgendwie muss der Kerl durch die kurze Unterbrechung zur Besinnung gekommen sein. Er startete seinen Wagen und fuhr mich schnurstracks nach Hause, wo er mich ohne ein Wort vor der Haustür absetzte, um anschließend mit Vollgas in der Dunkelheit zu verschwinden.

Ganz vorsichtig schloss ich die Haustür auf und wollte mich in mein Zimmer schleichen. Vater lag schon im Bett, hatte aber dennoch mitbekommen, dass ich eine volle Stunde zu spät nach Hause kam.

"Wo warst du so lange? Wo hast du dich wieder rumgetrieben?" seine jähzornige Stimme schallte durch das ganze Haus. Dann kam auch noch meine Mutter aus der Küche.

"Wo kommst du denn jetzt erst her, dein Vater macht mich schon wieder verrückt und gibt mir die Schuld, dass du so lange weg warst. Ich halte das nicht mehr aus."

Erst jetzt, in diesem Augenblick, fiel ihr mein desolater Zustand auf.

"Kind wie siehst du denn aus? Deine Haare sind ja völlig zerzaust und deine Sachen total verrutscht. Du zitterst ja am ganzen Leib. Was ist geschehen?"

Verstört und heulend erzählte ich ihr, was mir gerade mit Herrn Eilers geschehen war. Mutter zeigte nur geringen Anteil an meiner Geschichte, anders als von mir erwartet antwortete sie nur:

"Erzähl bloß Vater nichts davon, der bringt den Eilers sonst um."

Das war ihre einzige Reaktion und aus diesem Grund durfte ich diesen Kerl auch nicht anzeigen. Schließlich war ja eigentlich nichts vorgefallen, wie sie mir einreden wollte. Sie hatte nur Angst um diesen Vergewaltiger. Wieso auch immer. Sie ließ mich verwirrt allein in der Küche stehen und ging seelenruhig ins Bett als sei nichts geschehen.

Das hässliche Gesicht einer Ehe

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