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Keine große Sache

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Der Leutnant Franz Xaver Kappus hat schon seit einiger Zeit Kummer, unter anderem, weil er lieber ein Dichter wäre. Seit 1902 steht er deshalb in Kontakt mit dem zu diesem Zeitpunkt schon für seine gefühlvolle Dichtung berühmten Rainer Maria Rilke, dem er sein Herz ausschüttet: »Ich habe oft diese stillen Stunden, die ungerufen kommen und sich nach der Sonne sehnen, die ihnen so fern ist. Und dann, nach solchen Nächten stehe ich müd und hoffnungslos vor der letzten Consequenz meines Denkens: Wer bin ich? Woher? Wohin? Und dann entstehen Worte, halb unfreiwillig, wie Erlösungen. Ist das Notwendigkeit?«1

Zu Beginn des Briefwechsels ist Kappus knapp zwanzig Jahre alt, unglücklich verliebt ist er auch. Außerdem schämt er sich, weil er sich als »Knabe mit den unsinnigsten Träumen, Sehnsüchten und Regungen, […] mit der ganzen Kraft meiner 13 Jahre dem gleichaltrigen Freunde hinwarf und ihn liebte und küßte, wie kaum nachher ein Mädchen«.2 Neuerdings quält ihn sein unerfülltes Begehren nach einer Opernsängerin: »Sie spuckt in meinen Träumen und beengt mich wie ein zu enges Kleid. Sie steigt mir des Abends in die Schläfen und färbt alle Dinge blutig rot.«3 Vor allem aber möchte er dichten, vielleicht sogar über sein Begehren, und so schickt er Rilke mit der Bitte um Beurteilung auch eigene Verse. Dass diese Briefe sein Hauptwerk sein könnten, glaubt er zu dieser Zeit nicht.

»Do you know what that is, sweat pea? To be humble?« Cheryl Strayed richtet knapp hundert Jahre später eine rhetorische Frage an die junge Autorin Elissa Bassist, die ebenfalls schon seit einiger Zeit Kummer hat, weil sie es nicht schafft, das Buch zu schreiben, das sie ihrer Meinung nach schreiben sollte. Genau genommen schafft sie es überhaupt nicht, ein Buch zu schreiben. Sie schämt und quält sich, sie ist gekränkt von ihren Hemmungen. »The word [humble] comes from the Latin words humilis and humus. To be down low. To be of the earth. To be on the ground. That’s where I went when I wrote the last word of my first book. Straight onto the cool tile floor to weep.«4 Cheryl Strayed hat zu diesem Zeitpunkt nicht nur schon Bücher geschrieben, sondern diese auch veröffentlicht. Aber nicht primär als erfolgreiche Autorin antwortet sie Bassist, sondern als Wärterin des Kummerkastens der Webseite The Rumpus, auf der sie lange Zeit nur als »Sugar« und Autorin der Ratgeberkolumne »Dear Sugar« bekannt war.

Rilke zeigt sich gerührt von den Nöten des jungen Mannes und antwortet ihm mit mehr oder weniger langen Abständen, aber meist ausführlich von dem Ort aus, an dem er sich gerade befindet, Viareggio, Rom, Paris. Kappus sitzt derweil in unterschiedlichen Kasernen der k.-u.-k.-Monarchie. Am 4. November 1904 schreibt ihm Rilke aus Jonsered/Schweden. Immer wieder rät er Kappus zu mehr Gelassenheit, dazu, die Dinge geschehen zu lassen, sich nicht so aufzuregen: »Glauben Sie mir: das Leben hat recht, auf alle Fälle.« Er schreibt weiterhin noch etwas über den Zweifel, den man sich als dienliche, und nicht zermarternde Eigenschaft anerziehen solle, und schließt den Brief mit einem Hinweis auf den beigefügten Sonderdruck einer seiner eigenen Dichtungen, »die jetzt in der Prager ›Deutschen Arbeit‹ erschienen ist. Dort rede ich weiter zu Ihnen vom Leben und vom Tode und davon, daß beides groß und herrlich ist.«5 Die Struktur des Austauschs zwischen Kappus und Rilke besteht in der immer wieder wiederholten Antwort auf eine immer wieder wiederholte Frage: Wie soll man leben, um ein guter Autor zu werden? Die Antwort lautet: lesen, schreiben, weiterschreiben. Rilkes Übersendung eines Textes aus eigener Hand ist eine recht freigiebige Geste. Zuvor hatte er in einem Brief vom 23. April 1903 aus Viareggio noch betont, sehr arm zu sein, sodass er Kappus keine seiner eigenen Bücher schicken könne. Er empfahl ihm aber, sie zu lesen, wie auch und insbesondere Niels Lyhne von Jens Peter Jacobsen.

Strayed empfiehlt Bassist keine Bücher, sie empfiehlt ihr nicht einmal zu lesen. Sie zitiert an einer Stelle Emily Dickinson (»if your Nerve deny you – / go above your Nerve«), um zu akzentuieren, worum es ihr in ihrer Antwort an eine junge Autorin in erster Linie geht: Durch Quengelei ist noch kein Text fertig geworden. Der demutsfördernde Boden, der irgendwo in dem englischen Wort »humble« noch angedeutet ist, ist vor allem jener, auf den Bassist aus den Höhen ihrer Selbstgeißelung zurückkehren soll, um endlich an die Arbeit zu gehen. »Writing is hard for every last one of us – straight white men included. Coal mining is harder. Do you think miners stand around all day talking about how hard it is to mine for coal? They do not. They simply dig.«6 Es braucht keine Erfahrung im Bergbau, um dieses Bild zu begreifen, es reicht zu wissen, dass es Bergbau und Bergleute gibt, und vielleicht reicht es auch, ein Foto von den Ketten gesehen zu haben, an denen sie ihre Straßenkleidung aufhängen und unter die Decke ihrer Umkleide ziehen, kurz bevor sie in den Stollen einfahren. All das reicht, um ein Denkbild zu formulieren, das gut genug ist, um über zwei Dinge zu sinnieren: Tiefe und Arbeit. Damit ist ein Raum geschaffen, den sich Strayed und Bassist für eine Weile teilen können. Die Verräumlichung von Texten und Lektüren ist gut eingeübt, close und distant reading sind nur die bekanntesten Namen von Umgangsweisen mit Text, die darin bestehen, ganz und gar in die Literatur einzufahren oder sie sich aus größtmöglicher Ferne genauer anzuschauen.

Meine erste Ausgabe von Rilkes Briefe an einen jungen Dichter ist 7,5 mal 11,5 Zentimeter groß, und sie enthält nur die Briefe von Rilke.7 Das Buch ist so klein, dass man es ab einer bestimmten Körpergröße nur schlecht in den Händen halten kann. Nimmt man es in nur eine Hand, muss man überlegen, wie man die Seiten des kleinen Taschenbuchs aufspannen möchte.

Der Diogenes Verlag meldete 1997 zu Rilkes 70. Todestag und mit dem Erlöschen des Urheberrechts an Briefe an einen jungen Dichter für diese Miniaturausgabe das Copyright an. Produziert wurde das Buch in einer Größe und zu einem Preis, die es zur idealen Quengelware an den Kassen von Buchhandlungen machte: Haribo Roulette für Menschen, die nur offiziell nicht Leseratten genannt werden möchten. Vielleicht hat sich aber auch jemand aus der Lizenzabteilung daran erinnert, dass ein anderes Buch Rilkes, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, im Ersten Weltkrieg ein gern gelesenes Buch unter deutschen Soldaten war. Der Vorteil auch dieser, bereits 1906 zuerst veröffentlichten Erzählung war es, recht kurz zu sein, ein zu Herzen gehender Text zum Mitnehmen.a Vor allem aber konnte sich der Diogenes Verlag darauf verlassen, einen sehr gut verkäuflichen Titel ins Repertoire aufzunehmen: Die Briefe an einen jungen Dichter erschienen als Nr. 406 in der »Insel-Bücherei«, die 1912 mit Rilkes Cornet eröffnet worden war, und verkauften sich danach dauerhaft, und zwar auch und besonders in der englischen Übersetzung.8

Bis 2019 fehlten in all den Ausgaben, die danach folgten, Kappus’ Briefe. Die Neuveröffentlichung erfüllt also sowohl einen philologischen Zweck als auch eine historische Funktion. Sie macht endlich sichtbar, durch welche Anregungen Rilkes Schreiben in Gang gesetzt wurde, und benennt damit die Rolle des Autors Franz Xaver Kappus in der Literaturgeschichte. Kappus ist schließlich (vielleicht unter anderem durch den Briefwechsel mit Rilke weniger unglücklich) ein ganz erfolgreicher Autor und Journalist geworden. Er konnte seinen Traum vom Leben als Autor verwirklichen, setzte dabei jedoch offensiv auf das Unterhaltungsgenre und produzierte zahlreiche in Folgen erscheinende Romane für den Ullstein Verlag. Einen späten Erfolg erzielte er 1967 mit 83 Jahren, als das von ihm geschriebene und von Oskar Schima vertonte Lied »Mamatschi, schenk’ mir ein Pferdchen« in der Interpretation des kindlichen Herzensbrechers Heintje ein großer Erfolg wurde. Die Verse des Liedes eröffnen vielfach mit »und« – einem Stilelement, das insbesondere Rilke (zuvor allerdings auch schon der von Rilke selbst wiederum nicht hoch geschätzte Richard Dehmel) popularisiert hatte. Nachdem ein kleiner Junge auf seinen sehnlichsten Wunsch hin ein Marzipanpferdchen anstelle des erhofften Rosses von »Mamatschi« erhalten hat, heißt es bei Kappus: »Und viele Jahre sind vergangen / Und aus dem Jungen wurd’ ein Mann / Da hielt, die Fenster dicht verhangen, / Vorm Haus ein prächtiges Gespann / Vor einer Prunkkarosse steh’n / Vier Pferde reich geschmückt und schön / Die trugen ihm sein armes Mütterlein / Da fiel ihm seine Jugend ein.«b

Keines seiner Werke aus der Zeit nach dem Briefwechsel mit Rilke ist jedoch zu einem Vademekum und Handorakel geworden. Abgesehen von »Mamatschi« sind seine erfolgreichsten Texte solche, die lange nicht publiziert wurden, und solche, in denen er nur implizit und ohne scharfe Konturen erkennbar ist, als Empfänger einer Poetik, die eher zufällig auf ihn als Empfänger zu treffen scheint. Wie liest man so was eigentlich, wie liest man Handorakel?c Liest man es überhaupt, oder schleppt man es eher mit sich herum wie einen Glücksbringer?

Die Ecken meiner stark beanspruchten Ausgabe der Briefe an einen jungen Dichter sind vom Rumpeln in der Tasche rundgestoßen, die Seiten vergilbt. Das Problem ist bekannt: »Jedes solcher Bücher hat […] seine Geschichte. Doch die werden älter und nutzen sich ab, je fleißiger sie gebraucht werden. Die Bücher an sich sind, obgleich das Papier in alter Zeit dazu derb und gut war, vergänglich. So geschieht es, daß sie fortgethan und vernichtet werden.«9 Bei mir nicht: Der Buchrücken ist offenbar schon einmal abgefallen, sodass ich ihn mit Tesafilm wieder ankleben musste. Das Buch enthält keine Anstreichungen, keine Klebestreifen zur Markierung wichtiger Stellen. Es ist das Äquivalent zu Texten, in denen die nicht unterstrichenen Sätze auffallender sind als die unterstrichenen. Alles war wichtig.

Die Kleinheit des Buches ist kein Zufall. »Charakteristisch auch das kleine Format der Taschenbüchlein bei ihrer relativ großen Drucktype, die nicht nur Leseschwäche (der älteren Leser) ausgleicht, sondern auch Lektüre abseits des Schreibpultes bzw. der sitzenden Lesehaltung ermöglicht – Lesen zwischendurch, Lesen, wo es sich gerade ergibt, okkasionelle Erbauung während des Tagesablaufs.«10 Ich weiß nicht, an welche Orte ich das Buch überallhin mitschleppte, verschwommen ist die Erinnerung an eine lange Wartezeit auf einem Flughafen, während derer ich in dem kleinen Band las. Sein jetziger Zustand erzählt keine Leseszenen, die ich schon längst vergessen habe, er weist nur allgemein heftigen Gebrauch durch seine Schrabbeligkeit nach.

Schon länger trägt man sowohl das Bedürfnis nach Erbauung als auch die Literatur, die Erbauung verspricht und sich selbst sogar Erbauungsliteratur nennt,d stets mit sich herum. Einerseits hat man sie dann immer schnell zur Hand, andererseits kann man sie auch gut vor missbilligenden Blicken verstecken. Trostsuchendes Lesen hat eine lange Geschichte, die vor allem davon handelt, dass man es trotzdem tut. »Wer sind die ›Alten Tröster‹? Der Ausdruck wird gebraucht für die Gebet- und Erbauungsbücher der gläubigen Väter unserer evangelisch-lutherischen Kirche, die noch heute die Gläubigen trösten; für die Erbauungsschriften, daraus nicht bloß der Schriftsteller und seine Zeitgenossen Trost gesucht und gefunden haben, sondern die solchen Wert haben, daß viele Geschlechter bis heute durch sie erbaut worden sind und noch erbaut werden. Alte Tröster hießen sie ursprünglich vielfach spottweise […].«11 Schon 1900 muss auf Seite eins klargestellt werden, dass man sich der potenziellen Peinlichkeit bewusst ist, die es bedeutet, nicht nur eine trostbedürftige Person zu sein, sondern vor allem, sich als solche ausgerechnet an ein Büchlein zu wenden, dessen ästhetischer Wert weit hinter seiner Funktionalität für seelische Belange zurückbleibt. Es sei aber, so wird weiter ausgeführt, kein Wunder, dass Die Alten Tröster von Leserinnen und Lesern angesteuert würden, denen der ästhetische Wert eines Textes, worin auch immer er bestehen möge, ziemlich egal war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätten die Kirchen erbauungssuchenden Personen »Steine statt Brot« angeboten.12 Aus Steinen kann man zwar eine Kirche erbauen, nicht aber die trostbedürftigen Gläubigen bei der Stange halten. Sie wollen einen Text. Das gilt auch zu Zeiten, in denen Gläubige schon solche sind, die allein mit einem spirituellen Restbedürfnis durchs Leben gehen und sich um den Glauben (an sich) vorerst keine größeren Gedanken machen, sondern andere Probleme haben.

Meine kleine Ausgabe von Rilkes Briefen an Kappus stammt aus dem Jahr 1997, ich glaube aber, dass ich sie mir erst deutlich später gekauft habe. Meine Erinnerung behauptet, dass ich sie seit 2004 mit mir herumgetragen habe, weil ich mich an die Anschaffung einer Umhängetasche erinnere, die ein Spezialfach hatte, in dem ich das Buch versenken konnte. Und so ist es wahrscheinlich auch gedacht: dass man diese Ratschläge Rilkes, seine Versuche, einem ihm unbekannten Mann Trost zu spenden, in die Tasche stecken kann. Zu wissen, dass dieses Buch überall hinpasst und immer mitkommen kann, ist vielleicht schon selbst Trost genug. Mit dem Buch in der Tasche war ich immer schon zwei. Vielleicht war genau das Effekt einer gelungenen verlegerischen Suggestion, die darin besteht, Leserinnen und Leser glauben zu lassen, dass es ein Kunstwerk gibt, das für sie jeweils ganz allein da ist. Der Preis dafür war die Ausblendung des eventuell doch einfach zu schmuddeligen Kappus’. Durchgezogen wurde vor allem der Triumph des Deutschunterrichts: Unsere Großen, immer dabei – spürt ihr es nicht auch?

Ursprünglich sollte meine Ausgabe fünf D-Mark kosten, wie man über dem ziemlich abgeschabten Barcode noch erkennen kann. Was ich tatsächlich bezahlt habe, weiß ich nicht. Die Rückseite enthält keine Hinweise zum Inhalt der Briefe oder zum Empfänger, dafür aber ein Zitat von Paul Valéry, den Rilke seinerseits in Deutsche übersetzt hat. »Teurer Rilke! … Ich liebte in ihm den zartesten und geisterfülltesten Menschen dieser Welt, den Menschen, der am meisten heimgesucht war von all den wunderbaren Ängsten und all den Geheimnissen des Geistes. Paul Valéry«.

Es hat bis 2017 gedauert, bis ich einmal etwas anderes von Paul Valéry als diesen Blurb gelesen habe. Ängste kannte ich nur als Ängste, also waren sie schrecklich, nicht wunderbar. In einem Aufsatz von Carlos Spoerhase fand ich einen Verweis auf Die beiden Tugenden des Buches,13 der mir gerade recht kam, direkt daneben ging es noch besser weiter, hier also noch mal Paul Valéry: »Der Geist des Schriftstellers betrachtet sich in dem Spiegel, den die Druckerpresse ihm liefert. Wenn Papier und Druckfarbe zueinander passen, wenn die Letter angenehm für das Auge, wenn der Satz sorgfältig, die Justierung ohne Makel, der Druck vorzüglich ist, so empfängt der Autor einen frischen Eindruck von seiner Sprache und seinem Stil. Beschämung und Stolz streiten in ihm. Er sieht sich mit Ehren bekleidet, die ihm vielleicht nicht zustehen. Ihm ist, er vernehme eine sehr viel entschiedenere und festere Stimme als die seine, höre eine unerbittlich reine Stimme seine Worte aussprechen, jedes einzelne seiner Wörter mit drohender Deutlichkeit. Alles, was er je Schwaches, Nachgiebiges, Willkürliches, Unelegantes niedergeschrieben hat, spricht nun allzu klar und vernehmlich. Ein schreckliches Urteil, und ein höchst kostbares zugleich, wird da über einen gefällt, wo man sich prächtig gedruckt sieht.«14

Meine Ausgabe der Briefe spottet selbstredend diesem Anspruch. Sie ist nicht prächtig, sondern so gerade eben nicht kaputt, in keiner besonderen Type gesetzt und auf billigem Papier gedruckt. Es kann sein, dass die Briefe in einer anderen Ausgabe auf eine jüngere Version meiner selbst noch größeren Eindruck gemacht hätten, ich glaube aber vor allem, dass die Rilke-Briefe deshalb lange Zeit mit mir wanderten, weil sie sich hier so bescheiden ausgaben. Nur ein paar Briefe an einen jungen Dichter, von Schreiber zu Schreiber. Keine große Sache. Die »drohende Deutlichkeit« einer festen und entschiedenen Stimme vernahm ich sehr wohl. Aber aus einem anderen Buch sprechend hätte ich sie wohl eher nicht hören wollen. Schwach, nachgiebig, willkürlich, unelegant: So darf man nicht schreiben, so steht es in Rilkes Briefen an Kappus. Ohne die wenig beeindruckende, aber eben auch wenig einschüchternde Materialqualität der billigen Diogenes-Ausgabe wäre diese Ansage eher nicht zu mir durchgedrungen.

Das armselige Äußere des zerliebten kleinen Bandes, der in überhaupt keiner besonderen Weise gesetzt ist, sondern nur so, dass er eben auf den geringen Platz der 121 Textseiten passt, schmiegt sich dafür aber an die Erfahrung dessen an, der hier eine Leerstelle bleibt. Franz Xaver Kappus, der in dieser Ausgabe nicht zu hören ist, braucht einen Text, den er achten und an den er sich immer wieder wenden kann: ganz so, als wäre der Absender dieses Textes bei ihm. In einem der letzten vollständig erhaltenen Briefee an Kappus gesteht Rilke am Ende: »Glauben Sie nicht, daß der, welcher Sie zu trösten versucht, mühelos unter den einfachen und stillen Worten lebt, die Ihnen manchmal wohltun. Sein Leben hat viel Mühsal und Traurigkeit und bleibt weit hinter Ihnen zurück. Wäre es aber anders, so hätte er jene Worte nie finden können.«15

Unter den vielen – sie sagt: Tausenden – Briefen, die Cheryl Strayed erreicht haben, fällt einer auf, dessen anonyme Absenderin oder anonymer Absender nur eine Frage hat: »WTF? I’m asking this question as it applies to everything everyday.«16 Mehr Informationen enthält dieser Brief nicht. Der Einfachheit halber wird die Absenderin oder der Absender von Strayed WTF genannt. Ihre Antwort auf diese Frage enthält zwei Geschichten, die aufeinander aufbauen. Mit der ersten steigt sie in ihre Antwort ein, sie handelt davon, wie sie als kleines Kind ihrem Großvater einen runterholen musste: »My father’s father made me jack him off when I was three and four and five«, lautet der erste Satz ihrer Antwort. »That particular fuck would not be shook. Asking what the fuck only brought it around.« Strayed geht nicht weiter ins Detail. Warum ihre Mutter oder ihr Vater nicht dabei helfen konnten, ihr Schweigen zu brechen und davon zu erzählen, was ihr widerfahren war, bleibt offen. Es bleibt auch offen, WAS ZUM TEUFEL UND WARUM ihr dieser Missbrauch geschehen ist, der nicht Missbrauch genannt wird. Manche Dinge, so Strayed, seien so falsch und traurig, dass jede Frage an sie unbeantwortbar bleibt: Diese Erlebnisse steckten wie ein Speer im Schlamm. Ein Speer, der geworfen wird, vibriert vielleicht noch eine Weile nach, wenn er im Schlamm steht. Wenn der Schlamm trockener wird und der Speer tief eingedrungen ist, ist er vermutlich nur mit sehr großer Kraftanwendung aus dem Schlamm herauszuziehen. Strayed hat ihren Speer in den Nebel geworfen, der die Frage »WTF« umgibt, irgendeine fremde Person will sie nichts anderes wissen lassen, als dass sie sehr wütend ist, die Wut bezieht sich auf alles, dementsprechend auf nichts Bestimmtes.

Die zweite Geschichte, die Strayeds Antwort enthält, handelt von einem Vogeljungen mit gebrochenem Hals, das Strayed an einem Tag findet, an dem ihr nicht nur die Erinnerung an ihr fünfjähriges Selbst wie ein Sack Blei auf der Seele liegt, es ist auch sonst nichts gut. Sie versucht den Vogel zu beruhigen, aber er wird nur ängstlicher, als sie ihn in die Hände nimmt, wissend, dass er nicht mehr lange überleben kann. Der Vogel wird immer panischer und Strayed sieht ein, dass er nun entweder noch über längere Zeit qualvoll sterben wird oder dass sie nun zur Abkürzung des Leidens seinen Tod herbeiführen kann. Das tut sie, indem sie ihn in einer Papiertüte erdrückt: »Nothing that has died in my life has ever died easily, and this bird was no exception. This bird did not go down without a fight.« Sie spürt den Puls des Vogels noch eine ganze Weile gegen ihre Hände schlagen, »flaccid and ferocious beneath its translucent sheen of skin, precisely as my grandfather’s cock had been«.17

Beide Geschichten reagieren auf das Trauma, das Strayed niemals verlassen hat. Der Körper des Vogels mag in ihren Händen und ihrem Willen nach sterben, die Erinnerung bleibt. So auch das Trauma. Diese Einsicht befreit sie schließlich von der schwersten Last, die darin besteht, über das Ausbleiben der Antwort auf die immer wieder gestellte Frage »What the fuck?« nicht hinwegzukommen. WTF solle sich angewöhnen, bessere Fragen zu stellen, schreibt Strayed. Vielleicht ist WTF schlicht ein Troll, der die ausführlichen Darlegungen haarsträubenden und gewöhnlichen Kummers verspotten möchte, die Strayed für gewöhnlich beantwortet. Ihre Reaktion darauf ist sowohl in Länge und Direktheit selbst dazu geeignet, den zu narren, der sich vielleicht nur über sie lustig machen wollte. Nach all dem, dem Missbrauch und dem Tod des Vogels in der Papiertüte, war ja gar nicht gefragt worden. Das Übermaß an Information über das Leben Strayeds, das dieser Brief enthält, ist nicht nur deshalb unangenehm zu lesen, weil es einen so wunden Punkt ihrer Kindheit enthält, sondern auch, weil es alle möglichen Formen des alltäglichen »What the fuck?«-Sagens und -Denkens zurechtschrumpft.

Rilke spricht von sich in der dritten Person, um bei Kappus zu hinterlegen, dass auch das, was er ihm schreibt, durch »viel Mühsal und Traurigkeit« gedeckt ist. Heutzutage ist leicht nachzulesen, was damit gemeint sein könnte. Rilkes Sonderbegabung lag wie bei Kappus nicht allein im Feld der Dichtung, sondern auch im Betreiben von allzu intensiven Beziehungen (die daran Beteiligten haben allerdings sein Leben als Dichter zum Teil auch finanziell abgesichert). Auch er hätte vielleicht einen Briefkontakt so weich und süß wie Zuckerwatte gebraucht. Die Erwähnung seines eigenen Gefühlshaushaltes ist jedoch einer der ganz wenigen Momente in seinen Briefen an Kappus, in denen Rilke als Person mit einem eigenen Innenleben auftritt. Dabei bleibt er immer noch auf Abstand: Er hält Kappus, dem er in großen Zeitabständen von vielen Monaten antwortet, am ausgestreckten Arm. Natürlich siezt er ihn weiterhin, aber das allein ist nicht auffällig, allgemeines Durchduzen beginnt historisch betrachtet erst später.

Vor allem aber drückt Rilke Kappus mit der ganzen Kraft seiner poetischen Reflexion an die Wand: »Die Stille muß immens sein, in der solche Geräusche und Bewegungen Raum haben, und wenn man denkt, daß zu allem noch des entfernten Meeres Gegenwart hinzukommt und mittönt, vielleicht als der innerste Ton in dieser vorhistorischen Harmonie, so kann man Ihnen nur wünschen, daß Sie vertrauensvoll und geduldig die großartige Einsamkeit an sich arbeiten lassen, die nicht mehr aus Ihrem Leben wird zu streichen sein; die in allem, was Ihnen zu erleben und zu tun bevorsteht, als ein anonymer Einfluß fortgesetzt und leise entscheidend wirken wird […].«18

Es ist eigentlich eine Drohung: Ab jetzt ist jeder Tag das Erbe von tiefster innerer Einsamkeit, aus einem Brunnen ohne Boden sollst Du schöpfen. Beispiel dafür ist Rilke selbst, seine Dichtung wird unmissverständlich als Belegstelle zur Umsetzung dieses Programms an Kappus mitgeschickt, der seinerseits Sonette verfasst hat, Reimschema: Klage/Tage, Weh/Schnee, Frage/wage usw., die Rilke dezent beschweigt oder umschifft. Rilke hat keinen Rat zu Versen, er hat nur einen Rat zur inneren Einstellung zum Verfassen von Versen. »Sie sehen nach außen und das vor allem dürften Sie jetzt nicht tun. Niemand kann Ihnen raten und helfen, niemand. Es gibt nur ein einziges Mittel. Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt wäre zu schreiben.«19 Das einsame Herz als Forschungsfeld für Selbsterkenntnis hat sich Rilke weder selbst ausgedacht, noch hat er es behauptet. Es war ja auch um 1900 schon lange und gut bekannt, ganz ohne weiteres Quellenstudium. Es ist auch der Zeitpunkt, als das Herz gewissermaßen ins Hirn wandert und als Teil der Psyche Gegenstand einer eigenen Wissenschaft von den Leidenschaften, Trieben usw. wird. Doch egal von welcher Seite man auch schaut: Nie hat jemand behauptet, dass es nicht ein gehöriges Stück Arbeit sei, dahin zu gelangen, wo die Sonne nicht scheint, die Selbsterkenntnis aber blüht: »Vom selbst-Erkäntnüs. Seltsam und doch nötig. Schwer und doch nützlich. […] Der Grund ist tief / niemand will sich hinein wagen: mancher schäwt sich und schämt sich hinein zu gehen / daß ihm der Greuel der Verwüstung nicht vor Augen komme: mancher hat mit andern so viel zu thun / daß er sein selbst vergißt. Ich will auf meine eigene Brust schlagen / und nicht auf andere den Finger strecken.«20

Strayed schreibt Bassist, dass sie mit der gleichen Attitüde schreiben solle wie die Bergleute, die einfach graben. »That you’re so bound up about writing tells me that writing is what you’re here to do. And when people are here to do that, they almost always tell us something we need to hear. I want to know what you have inside you. I want to see the contours of your second beating heart. So write, Elissa Bassist. Not like a girl. Not like a boy. Write like a motherfucker.«21

Knapp 120 Jahre später möchte ich Rilke ein paar Anführungszeichen reichen, die er nach Belieben in seinen Sätzen verteilen könnte, um etwas Gewicht der bleischweren Vokabeln abzufangen, mit denen er Kappus zur Prüfung seiner dichterischen Ambitionen aufruft. Anfangen könnte man vielleicht mit »sterben«. Mir erscheint der Anspruch, die eigene schreiberische Motivation solle entweder existenziell oder wertlos sein, in seinem Pathos mittlerweile leicht bedrohlich. Was ist mit denen, die zwar darauf brennen, zu schreiben (und vielleicht vor allem darauf, dann auch gelesen zu werden), aber auch dann gern leben wollen, wenn die Umstände genau das nicht erlauben?

Lange Zeit wollte ich die Möglichkeit haben, das Pathos immer dann wieder neu anzufachen, wenn seine Flamme vielleicht allzu klein brannte. So trug ich das Buch mit mir herum, um mir im Zweifelsfall Rilkes Worte leihen zu können, als Ersatz für all die, die mir selbst nicht einfielen. Ich konnte so stumm bleiben wie der Leutnant Kappus in meiner Ausgabe und war doch bei großer Dichtung dabei, ich schien kurz davor, selbst welche zu produzieren. Rilke war als »zartester, geisterfülltester Mensch der Welt« mit »all den wunderbaren Ängsten und allen Geheimnissen des Geistes« (Valéry) das Idol, dem sich anzuverwandeln nicht unmöglich sein sollte, bei all den Ängsten und Geheimnissen des Geistes, die ich an mir selbst bemerkte und in zarte und geisterfüllte Texte hineinzuschreiben gedachte.

Aus dieser Hoffnung heraus hat auch Kappus an Rilke geschrieben. Kappus identifizierte sich mit Rilke unter anderem aus dem Grund, dass auch Rilke zunächst eine Militärlaufbahn angestrebt, dann jedoch zugunsten eines Lebens als Dichter aufgegeben hatte. So wollte Kappus es ebenfalls machen. Nach einem Vortragsabend in der Wiener Buchhandlung Heller am 8. November 1907 folgte Kappus Rilke in ein Restaurant: »In dem Lokal ließ er Rilke seine Visitenkarte überreichen, und der Dichter kam auch sofort an seinen Tisch, um sich lange und eingehend zu unterhalten.«22 Kurze Zeit später sandte Kappus seine Verse an den Insel-Verlag, bei dem Rilke publizierte. »Innerhalb einer Woche kam die Absage mit einem Standardschreiben, das auf den Verlagslektor Adolf Hünich zurückgehen dürfte. Dies dürfte auch die Kontakte mit Rilke gedämpft haben.«23

All das wusste ich nicht, als ich wieder und wieder mein Büchlein aufschlug und las: »Das Mädchen und die Frau, in ihrer neuen, eigenen Entfaltung, werden nur vorübergehend Nachahmer männlicher Unart und Art und Wiederholer männlicher Berufe sein. Nach der Unsicherheit solcher Übergänge wird sich zeigen, daß die Frauen durch die Fülle und den Wechsel jener (oft lächerlichen) Verkleidungen nur gegangen sind, um ihr eigenstes Wesen von den entstellenden Einflüssen des anderen Geschlechts zu reinigen. Die Frauen, in denen unmittelbarer, fruchtbarer und vertrauensvoller das Leben verweilt und wohnt, müssen ja im Grunde reifere Menschen geworden sein, menschlichere Menschen als der leichte, durch die Schwere keiner leiblichen Frucht unter die Oberfläche des Lebens herabgezogene Mann […].«f

Ich hatte lange keine Sprache und vielleicht auch von daher kein Bedürfnis, diese Einschätzung anzuzweifeln, ich wünschte mir, meine Sprache so benutzen zu können wie der, der so über Frauen schrieb.

»The truth: I am sick with panic that I cannot – will not – override my limitations, insecurities, jealousies, and ineptitude, to write well, with intelligence and heart and lengthiness. And I fear that even if I do manage to write, that the stories I write – about my vagina, etc. – will be disregarded and mocked. How do I reach the page when I can’t lift my face off the bed?«24 Als Bassist Strayed im August 2010 schrieb, gab es sowohl die Ratgeberkolumne als auch die Webseite, auf der sie zu finden ist, noch nicht sehr lang. The Rumpus war 2009 die Idee eines Autors namens Stephen Elliott, der seinen Autorinnen- und Autorenfreunden, die genauso arm wie er waren, Gelegenheit geben wollte, Teil eines literarischen Zirkels zu sein. Zunächst übernahm sein Freund Steve Almond die Ratgeberkolumne, und weil er von Elliott »Sugar Butt« (Zuckerarsch) genannt wurde, setzte sich der Name Dear Sugar für den Kummerkasten der Webseite durch.

Almond selbst setzte sich als Ratgeber nicht durch: Er sei kläglich gescheitert an dem Versuch, sich in diejenigen hineinzuversetzen, die irgendwie den Weg auf die Webseite gefunden und sich dann auch noch entschlossen hatten, einer ihnen unbekannten Person namens »Sugar« ebenda ihre Sorgen zu gestehen. Wo sein Herz scheiterte, habe er versucht, mit Witz darauf zu reagieren.25

An seiner statt fragte Elliott die ihm unbekannte Autorin eines Romans namens Torch an, den er sehr schätzte. Er nahm nicht an, dass sie Zeit haben würde: Almond erwähnt, dass er über Strayed wusste, dass sie ein loses Mundwerk, viele Schulden aus dem Studium, kein regelmäßiges Einkommen als Dozentin an einem Literaturinstitut und zwei kleine Kinder habe, mehr nicht. Doch sie sagte zu. All das ist die Story von »Sugar«, wie sie später in der Einleitung zu der Sammlung ihrer Briefe an Fremde erzählt werden wird, die ihr ihre intimsten, teilweise aber auch alltäglichsten Sorgen schilderten. Mit der Publikation ihrer Kolumnen unter ihrem eigenen Namen stellte Strayed klar, dass nicht »Sugar«, sondern eigentlich Rilke die Kolumnen geschrieben hat: Aus der Einleitung zum Buch und den Interviews mit seiner Autorin geht hervor, dass Cheryl Strayed nicht nur der Name einer Autorin von Ratschlägen, sondern auch der einer Romanschriftstellerin ist.g Als solche spricht sie dieser Tage für die New York Times im Podcast Sugar Calling mit anderen berühmten Autorinnen und Autoren darüber, was sie in Zeiten emotionaler Not tun. Die meisten zitieren wiederum andere Schriftstellerinnen, an deren Texte sie sich wenden. Ein Netz, gewebt aus Zuckerwatte, das sich immer weiter ausdehnt.

Eine Kultgefolgschaft besitze »Sugar«, so Almond, und zwar, weil sie etwas anbiete, was in der amerikanischen Gesellschaft, die derzeit an Einsamkeit krepiere, dringend fehle. Diese Fehlanzeige läuft bei ihm unter »radikale Empathie«, die Strayed in ihren Briefen anbiete. Diese Empathie besteht nicht allein in einem mitfühlenden Tonfall und der Anrede »sweet pea«, mit der die auch Strayed unbekannten Briefautorinnen und -autoren belegt werden. Sie besteht vor allem immer wieder in einem Arbeitsauftrag. »Nicht nur die sprachlichen Mittel tragen dazu bei. Betrachtet man den Text inhaltlich, so fällt eine Forderung ins Auge, die genauso deutlich wie die in der Erbauungsliteratur übliche nach Passivität und Unterwerfung zutage tritt – die Forderung, Sorge um sich selbst zu tragen.«26 Wenn du dich nicht von Gott beim eigenen Namen rufen lassen kannst, weil du nicht oder nicht mehr glauben kannst, dann reicht es vielleicht aus, wenn dich wenigstens eine anonyme Autorin bei einem Kosenamen ruft.

Als Elissa Bassist an Strayed schreibt, läuft die Kolumne schon eine ganze Weile, niemand weiß, wer »Sugar« ist. Bassist fängt ihren Brief damit an, dass sie sagt, sie schreibe wie ein Mädchen. Sie wolle aber nicht wie ein Mädchen schreiben, sondern lieber wie David Foster Wallace, und dies nicht nur deshalb, weil sie glaube, dass ihre Themen (unerwiderte Liebe, ihre Vagina, ungefilterte Emotionen) vielleicht nicht so gut ankämen, sondern auch, weil sie damit ja eine Frauenschriftstellerin würde. Und Frauenschriftstellerinnen endeten meist schlimm, das wisse man, das sei bekannt; dass es mit Wallace auch ein schlimmes Ende genommen habe, das sei weniger relevant angesichts seines Genies. Was genau an seinem Schreiben das Geniale für sie ausmacht, steht leider nicht in dem Brief. Er geht noch eine Weile weiter und enthüllt »Sugar« auch die Depressionen der Absenderin, gegen die sie verschreibungspflichtige Medikamente nimmt. Getrieben wird ihr Brief aber von dem einen verzehrenden Wunsch: Bassist möchte so gern ein Buch schreiben. Dieses Buch, so ist dem Brief zu entnehmen, ist nichts weniger als eine Art Zaubermittel, denn es soll ihr erlauben, anders zu werden: »it’s not that I want to die so much as have an entirely different life«27. Dieses andere Leben ist das einer Autorin.

Meine Ausgabe von Tiny Beautiful Things habe ich mir nicht gekauft, sondern von meinem ehemaligen Kollegen Peter Praschl als .mobi-Datei erhalten. In seinem Blog Vague hatte Praschl am 20. März 2013 einen Text über das Buch veröffentlicht, der im Stil aller seiner Blogtexte geschrieben ist. Vermutlich hat sein atemloser Duktus damit zu tun, dass er zumindest damals Kette rauchte. Ich stelle mir vor, dass die treibenden Sätze und Absätze so zustande kommen, dass sie immer dann enden, wenn er abaschen muss. In seinem Büro, in dem ich ihn 2008 als meinen neuen Ressortleiter kennenlernte, war seine Tastatur immer von Zigarettenasche bestäubt. Dahinter saß er auf seinem Schreibtischstuhl und schnaufte. Über das Verfahren von Strayed schrieb Praschl: »Ihre Antworten sind eher Erzählungen aus ihrem eigenen Leben und manchmal schlimmer als die Erzählungen, auf die sie reagiert. Manchmal ist es, als würde man zu einem Therapeuten gehen, und der Therapeut erzählt einem, wieviel kaum erträglicher Schmerz in seinem eigenen Leben schon vorgekommen ist. Merkwürdig, dachte ich immer wieder beim Lesen, aber ein paar Sätze weiter: es wirkt. Es ist kein Auftrumpfen, kein Übertrumpfen, kein Ablenken, kein Kleinerreden. Es ist etwas anderes, Schmerzensbekämpfung durch das Erzählen von Gleichnissen […]. So müsste es sein, das Schreiben, Reden, Erzählen, dachte ich, dann wäre es weniger dunkel und bleiern.«28

Tiny Beautiful Things kam also als Dateianhang einer E-Mail zu mir und ich lud es auf meinen E-Book-Reader. Ich habe meine Ausgabe nicht bezahlt, das Buch aber seitdem mindestens drei Mal in gedruckter Form verschenkt: an Leute mit Kummer und solche, denen ich Dank für ihre Hilfe mit meinen eigenen Nöten schuldete. Für Praschl hatte ich kein Geschenk, um mich zu bedanken. Die Selbstsorge kann ein sehr einsames Geschäft sein. Und manchmal ist sie auch eine unsoziale Angelegenheit.h

Meine Ausgabe hat im Moment siebzehn Seitenlesezeichen und erheblich viel mehr Markierungen. In meiner Erinnerung liege ich immer im Bett, wenn ich diese Markierungen ansteuere, manchmal in zu Verlassenheitsgefühlen besonders einladenden Hotelbetten, denn Plagegeister kommen zu schlaftechnisch Minderbegabten (und auch anderen, wie man mir sagt) am liebsten in der Nacht. Das Buch ist mit mir überall dahin gewandert, wo mein E-Book-Reader war, die Orte aufzuzählen, wäre ebenso peinlich wie nutzlos, es sind zu viele, und oft markieren sie bloß die Endpunkte der immer gleichen Strecken, die ich gefahren und gegangen bin. Der E-Book-Reader ist darüber auch älter geworden, aber seine Plastikverschalung hat ohnehin schon abgerundete Ecken und ist auf ein rumpeliges Leben in einer Tasche ausgerichtet.

Anders als meine Ausgabe von Rilkes Briefe an einen jungen Dichter erzählt der Reader also – wenn überhaupt – nur eine sehr diskrete Geschichte meiner Lektüre. Es fällt auf, dass ich nur die Teile markiert habe, in denen Strayed als »Sugar« spricht. In den Briefen, die sie erhält, habe ich nichts markiert, dabei liegt hier doch vielleicht das Identifikationspotenzial. Nicht angestrichen habe ich die Sorgen der jungen Autorin, die glaubt, dass ihre Gefühle, auch die bezüglich ihrer Vagina, auch die, die sie nicht filtert, vielleicht keinen Anklang finden. Ich habe nicht die Teile in dem Brief der Frau markiert, in dem sie beschreibt, wie sie immer wieder versucht, Liebe aus demjenigen rauszulieben, dem sie mehr oder weniger egal ist, oder Teile des Briefs, in dem ein Mann von dem Versuch schreibt, seine Tablettensucht vor seiner Familie zu verheimlichen. Nichts davon. Ich habe mir nicht einmal angeschaut, was die anderen meistmarkierten Stellen im Buch sind, was über die Funktionen des E-Books leicht möglich wäre.

Aber jemand anderes hat sich zumindest angeschaut, welche Sätze von »Sugar« im Allgemeinen am beliebtesten sind. Es gibt ein Spin-off von Tiny Beautiful Things, das allein einzelne Sätze aus einzelnen Briefen enthält. Es trägt den Titel Brave Enough. Man solle mutig genug sein, sein eigenes Herz zu brechen, hatte »Sugar« in der Antwort auf eine Mail geschrieben, in der sie darum gebeten wurde, ihrem jüngeren Selbst Ratschläge zu geben.i Brave Enough bietet einen Vorrat an Sinnsprüchen, die noch besser auf beliebige Situationen anwendbar sind als im ursprünglichen Zusammenhang, da sie nun befreit sind von den jeweiligen Lebensgeschichten derjenigen, die sich an »Sugar« wandten.

Ich könnte mir selbst so eine Version zusammenstellen. Es fände sich darin etwa der zur Sentenz geronnene Satz: »But compassion isn’t about solutions. It’s about giving all the love that you’ve got.« Bei einem neuerlichen Durchgang durch meine markierten Stellen bin ich darauf gestoßen, ohne genau zu wissen, auf wen oder was hier geantwortet wird. Aber die Stelle leuchtet mir noch immer ein. Sie handelt von der Phrasendrescherei, die im Kondolieren vorherrscht, von den schwachen Sätzen, die man im Angebot hat gegenüber Leuten, die große Katastrophen oder nur die übliche Scheiße erleben und davon erschöpft und traurig oder sogar verzweifelt sind. Man muss dann das Übliche trotzdem sagen: Es tut mir (so) leid.

Ich lese noch einmal nach. Der Brief, auf den Strayed hier antwortet, stammt von einem 38-jährigen Mann, dessen 35-jährige Verlobte schon vor einigen Jahren ihre Mutter an Krebs verloren hat. Diese Frau wird nicht fertig mit der Trauer über diesen Verlust. Und dann weint sie und der Mann weiß nicht, was er sagen soll, außer eben das Übliche, und das scheint nicht gut genug zu sein. Aber das sei so eben nicht zutreffend, denn »compassion isn’t about solutions. It’s about giving all the love that you’ve got.«

Brave Enough dost alle diese Sätze in Konserven ein, an denen man sich bedienen kann, wenn es hart auf hart kommt. Was bis dahin noch Erbauungsliteratur gewesen ist, indem diese Sentenzen in eine Erzählung, eine Analyse und einen Beratungsteil eingebettet gewesen sind, ist nun auf das Erbauliche verkürzt worden: »Da ist der Text als Vorrat, aus dem sich der Leser bedienen könne, eine Vorstellung, die mit den Metaphern der Schatzkammer oder des Gartens übereinstimmt, denn der Text ist unerschöpflich und nicht zu Ende zu lesen. Er ist portioniert, was einerseits der Gedächtniseinprägung entgegenkommt, andererseits Verfügbarkeit gewährleistet. Erbauung […] stellt sich ja nicht selten am Detail ein und bedarf nicht der Absolvierung eines ganzen Textes oder Buches.«29

Und so habe ich es dann im Notfall auch gemacht: das Buch als Selbstbedienungsladen. Ich nahm, was ich brauchte, tippte auf der Oberfläche des E-Book-Readers herum und marschierte direkt durch zu den schönen Stellen, verweigerte das Nachvollziehen der Textstruktur, immer auf der Suche nach dem Trost im Unglück der anderen, nicht auf der Suche nach dem Verstehen eines großen Ganzen. Wer braucht schon Kontext? Manchmal reicht ein schneller Schuss.j Die Eindeutigkeit und Entschiedenheit, mit der davon abgeraten wurde, in irgendwelche Verhältnisse einzutreten (oder länger, als es sich irgendwie vermeiden lässt, in ihnen auszuharren), in denen einem Schaden zugefügt wird, konnte ich offensichtlich nicht selbst produzieren.

In ihrer Schlichtheit und dem fehlenden Raffinement, in den spärlichen Referenzen auf etwas anderes als ihre eigene Erfahrung leuchteten sie mir ebenso ein, wie sie mich beschämten. Mein Ziel war doch immer gewesen, schlauer zu sein als ein gebrochenes Herz, und zwar vielleicht beginnend mit der Erkenntnis, was für ein abgelutschter Topos das gebrochene Herz ist. Mein Ziel war doch gewesen, nicht ansprechbar für das zu sein, was offenbar zu allen sprach. (Die mit 371 Textmarkern beliebteste Stelle in Brave Enough, der Digest-Version von Tiny Beautiful Things, lautet: »Maybe you have to know the darkness before you can appreciate the light« und befindet sich auf Seite 5 des Buches).

Bereits als Kind hatte ich gelernt, Trivialliteratur zu verachten, die in der Familie mit dem Satz »›Sie sind mir ein Halbgott, Graf Bodo‹, wogte ihr Busen« für immer abmoderiert wurde. Das vermutlich selbst ausgedachte Zitat diente als Beispiel für die typische Diktion von Büchern, die nicht gut genug und zugleich oder gerade deshalb lächerlich waren. Eine andere, gern als Familienfolklore vorgetragene Geschichte handelte von meiner Urgroßmutter, die in der Stadtbücherei mit dem Wunsch nach einer Buchempfehlung vorstellig wurde: »Haben Sie nicht vielleicht so was, wo jemand am Anfang nur ein Ei und am Ende eine Hühnerfarm hat?« Das war keine Kunst. Eine antrainierte Ablehnung dessen, was als Massengeschmack gilt, kann später durch einen neuen, informierten Zugriff auf diesen Massengeschmack, der durch diverse Ironiefilter gegossen wurde, abgemildert oder invertiert werden (Camp funktioniert so).

Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Scham, sich wirklich dem zu überlassen, was man sich als den Geschmack der anderen bislang vom Leibe gehalten hat. Der Musikjournalist Carl Wilson hat in seiner Monografie zu Céline Dions 1997er-Album Let’s Talk About Love darüber geschrieben, wie er es auch nach einer mehrmonatigen Auseinandersetzung mit diesem Album und dem sehr ernsthaften Versuch, sich zu einem Dion-Fan umzuerziehen, nicht schaffte, keine Scham mehr vor den Nachbarn zu empfinden, die mitanhören konnten, wie er sich einer Konfrontationstherapie mit My Heart Will Go On unterzog. »Scham kann einen ganz existenziell zurückwerfen, auf die unerträgliche Wahrheit, dass man identisch mit sich selbst ist, und dass man durch die eigenen Grenzen bestimmt wird. Das geht unmittelbar mit dem Gefühl einher, unvollständig, im Unrecht, unendlich mangelhaft zu sein. Es ist die genaue Umkehrung des aufbauenden Eindrucks, den man von sich selbst ansonsten durch die eigenen Vorlieben und Abneigungen gewinnt. Es ist demütigend.«30 Wilson schickt uns wieder auf den Boden, in den Clinch mit dem Verhältnis zum eigenen Geschmack und den Gefühlen, die damit verbunden sind. Sie sind nichts anderes als geronnene und verfestigte Erinnerungen daran, mit welchen Trainingsszenarien das Erlernen des Geschmacks zu tun hat. Ganze Soziologien handeln davon. Sie erreichen die Voraussetzungen der Geschmacksbildung in Klassen- und Milieuzugehörigkeit. Sie erreichen nicht die intimsten Momente des Konsums von Texten, Musik, Filmen, sie erreichen nicht die Person, die trotzdem kathartisch zu Céline Dion schluchzt.

Diese Person kenne ich gut. Ich war daran gewöhnt, mir schmalzige Musik heimlich anzuhören, auf meinem Walkman über Kopfhörer, dafür aber wieder und wieder. Parallel hatte ich gelernt, Vertrauen zum Opaken zu fassen, zu Musik, die mir wenig sagte und Texten, die ich nicht verstand. Nichts an ihnen würde versuchen, mich an leicht ersichtlichen emotionalen Schmerzpunkten zu berühren und zu manipulieren. Ich würde versuchen müssen, etwas zu verstehen und durchzudenken. Das tat ich, ich studierte und lernte und verstand, verstand insbesondere, was ich nicht verstand und noch lernen muss. Den Rest ironisierte ich.

Tiny Beautiful Things zu lesen, war wie eine Rückkehr zu den Stunden des ständigen Zurückspulens zum immer gleichen Lied. Das ständige Ansteuern der immer gleichen Sätze, Ermutigungen, die für andere, mir völlig unbekannte Personen in mir völlig unbekannten Lebenslagen gedacht waren. »Accept that sorrow and strife are part of even a joyful life.«31 Sicherlich. Fest steht auch: Keiner dieser Sätze ist ironisch gemeint. Diejenigen, an die sie gerichtet waren (die Empfängerin des eben zitierten Satzes ist voller Wut und Enttäuschung über eine Affäre ihres Mannes) suchen nicht nach Eigentlichkeit.

»Ich wollte Ihnen noch zwei Dinge sagen: Ironie: Lassen Sie sich nicht von ihr beherrschen, besonders nicht in unschöpferischen Momenten. In schöpferischen versuchen Sie es, sich ihrer zu bedienen, als eines Mittels mehr, das Leben zu fassen. Rein gebraucht ist sie auch rein und man muß sich ihrer nicht schämen; und fühlen Sie sich ihr zu vertraut, fürchten Sie die wachsende Vertraulichkeit mit ihr, dann wenden Sie sich an große und ernste Gegenstände, vor denen sie klein und hilflos wird. Suchen Sie die Tiefe der Dinge: dort steigt Ironie nie hinab […].«32 Rilke empfiehlt Kappus eine rhetorische Figur, deren Kraft nicht zuletzt (aber auch nur unter anderem) darin besteht, große Gefühle zurechtzuschrumpfen, einen Schutzwall aufzuziehen zwischen wirklicher und wörtlicher Bedeutung, er empfiehlt Kappus eine Figur, die alle Bälle im Spiel hält, die keine Bedeutungsschwere zulässt, weil sie dagegen antritt, Bedeutung überhaupt als fixiert zuzulassen.

Im Sommersemester 2009 hörte ich in einer Ringvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität einen Vortrag des Germanisten Ernst Osterkamp, der über den Dreifachpunkt als literarisches Stilmittel sprach. Im Zentrum des letzten Teils stand Rilkes Satzzeichengebrauch. Osterkamp erfreute sich daran, Rilke als Verfasser von »Pennäler- und Studentenpoesie« zu dekonstruieren, was sich insbesondere an der erbärmlichpathetischen Verwendung des Dreifachpunktes zeige.k Rilkes Gebrauch des Dreifachpunkts galt Osterkamp als »Medium der prätentiösen Bedeutungserschleichung«, als bloße Behauptung einer sentimentalen Tiefe, mit der eigentlich nur fehlende gedankliche Schärfe akzentuiert wird. Der Vortrag war eine große Beschämung. Einerseits des Dichters Rilke, der aus verständlichen Gründen nicht anwesend sein konnte, um sich zu rechtfertigen, und andererseits derjenigen, deren Vorliebe seinen Versen gilt. Mein 20-jähriges lyrisches Ich war noch ganz in der Nähe, die Briefe an einen jungen Dichter las ich noch immer gern.

An die Beschämung von damals hatte ich nicht gedacht, als ich einige Jahre später an der Universität Frankfurt ein Seminar zum Thema Ironie anbot, das unausgesprochen von der Annahme ausging, dass Ironie generell eine rhetorische Figur und auch eine Haltung sei, auf die man sich in erster Linie affirmativ bezieht. Mir war nicht entgangen, dass es Bewegungen neuer Innerlichkeit und selbstoffenbarender Aufrichtigkeit gibt, für die Ironie keineswegs ein wünschenswerter Modus zum Schreiben, Denken, Handeln ist. In einem anderen Seminar hatte ich in zwei Sitzungen und mit viel Mühe David Foster Wallaces Aufsatz E Unibus Pluram mit Studierenden gelesen, der Ironie als aus dem Fernsehen der 1990er-Jahre kommende Seuche behandelt, die das literarische Schreiben quasi irreparabel beschädigt habe. Ich war dennoch weiter der Auffassung, dass man auf Ironie nicht verzichten könne, als Schutzschild vor den Zumutungen einer Direktheit, die von Langeweile nur schwer zu unterscheiden ist.

Mit dieser Auffassung stand ich im Seminar, das von etlichen Studierenden besucht wurde, die später einmal als Grundschullehrerinnen und -lehrer arbeiten würden, eher allein da. Ironie sahen sie allein als Risiko für Verständnisschwierigkeiten in der notwendigerweise asymmetrischen Kommunikation mit ihren Schülerinnen und Schülern, andere betrachteten sie vor allem als ein Vehikel für Witze, deren Zusammenhang mit Humor nicht immer eindeutig war; eine weitere Gruppe von Studierenden hatte vor allem ethische Bedenken gegenüber einem Sprechen, bei dem es nicht stets und ständig gelingt, eine wörtliche und eine angenommene wirkliche Bedeutung zur Deckung zu bringen. Für die Auffassung, dass genau das fallweise wünschenswert sein könnte, konnte ich keine Zustimmung gewinnen. Meine fehlende Überzeugungskraft nahm ich als großes Versagen vor all meinen ironisch gestimmten Vorbildern (darunter auch David Foster Wallace) wahr.

Es ist relativ einfach, auf einem beinahe noch kindlichen Bedürfnis nach Ernsthaftigkeit herumzutrampeln. Die Ernsthaftigkeit von sehr jungen Leuten, und vielleicht vor allem von solchen, die sich überlegt haben, dass sie entweder beruflich dichten oder aber sterben möchten, ist allerdings zu gleichen Teilen anrührend und schwer auszuhalten. Wer weniger jung ist, wünscht sich vielleicht auch schlicht, seinem Dichterberuf unter weniger dramatischer Begleitmusik nachzugehen, es ist ja alles schon schwer genug. »Der österreichische Dramatiker Arthur Schnitzler, der Rilke auch persönlich kannte, hatte schon sehr früh die erste Auflage des Buchs in den Händen und notierte in sein Tagebuch am 14. Januar 1930: ›schön, tief; – und doch – man muss hier sagen ›irgendwie‹ – ein heilloses Geschwätz.‹ Den arrivierten Autor konnten Rilkes Ratschläge nicht mehr beeindrucken.«33

An Strayed alias »Sugar« haben sich keine Leserinnen und Leser gewandt, die weinend eine ästhetische Erfahrung bei der Entgegennahme eines Taschentuches machen wollten. Bei Lektüren wie der von Tiny Beautiful Things geht es nicht um den Neuheitswert dessen, was man nachliest, sondern um den Rückgewinn einer Sicherheit, die durch Angst und Kummer und Trauer prekär geworden ist. »Während literarisches Lesen überrascht und erschüttert, bestätigt und verfestigt erbauliche Lektüre, wobei sich im Freiraum zwischen den Polen der unendlichen Konkretisierungsmöglichkeiten und dem unbestrittenen Glaubensfundament die Individualität der Lektüre und die Subjektivität der Erbauung ergibt. Das bedeutet auch, daß ein und derselbe Text immer wieder neu erbaulich gelesen werden kann, weil ihn das Individuum neu mit subjektivem Sinn füllt, ohne dadurch, wie bei der ästhetischen Lektüre, seinen Wahrnehmungshorizont zu verschieben. Erbauliches Lesen verstört nicht, es versöhnt.«34

Geschrieben haben an Strayed solche, die auf der Suche nach Sätzen waren, die ihnen dabei helfen sollten, sich mit ihrem jeweiligen clusterfuckl zu versöhnen und aus dieser Versöhnung Schritte in eine ihnen noch unbekannte Richtung abzuleiten. Es gehört einiges dazu, in der Öffentlichkeit des Kummerkastens einer Literaturwebseite bei einer einem völlig unbekannten Person genau danach zu suchen. Ihr zu glauben fällt vielleicht nur deshalb leichter, weil ihr anders als Freundinnen und Freunden, die vielleicht als wohlmeinend, keinesfalls aber als neutral gelten können, keine Befangenheit unterstellt werden kann. Die Subjektivität der Erzählungen, die »Sugar« anbietet, richtet sich nicht nach Neutralitätsgeboten.

Strayed hat als Beraterin für Teenager aus schwierigen Verhältnissen gearbeitet, als Kellnerin und als Autorin. Sie spricht oft davon, wie sehr sie nach dem Tod ihrer Mutter getrauert hat. Manchmal schreibt sie über ihren eigenen Mann und die gemeinsamen Kinder. Reicht das als Qualifikation für ihre Ratschläge aus? Immerhin ist ein Leben als Mensch kein Ausbildungsberuf. Strayeds Kolumne wirft Fragen auf. »Are you a therapist or have you gone through extensive psychotherapy? – I’m not a therapist, and I’ve only seen a therapist a handful of times in my life. Which means, in technical terms, I’m totally unqualified for this gig.«35 Es fehlt weniger die Qualifikation als deren systematischer Erwerb. Biografie, zumal Autobiografie, wiegt schwerer.

Dabei handelt es sich allerdings nicht um einen antiakademischen Impuls gegen ausgebildete Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die Strayed oftmals empfiehlt. Es gehört vielmehr zu den am besten etablierten Topoi von Trostbriefen, dass die Autorin eingesteht, dass sie nicht in der Lage ist, ausreichend oder überhaupt Trost zu spenden.

In einem der wenigen derzeit gängigen Briefratgeber aus dem Dudenverlag ist der Trost marginalisiert, er findet sich lediglich im Kapitel über Kondolenzschreiben wieder, das allerdings zunächst mit dem Hinweis beginnt, dass die Verwendung von Papier mit schwarzem Rand den Angehörigen der verstorbenen Person vorbehalten ist. Als Trostangebot firmiert hier der Vorschlag eines unterstützenden Telefonats;36 ergänzend finden sich ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer und eines von Jean Paul unter Mustersätzen, die Anteilnahme ausdrücken sollen. Bonhoeffer und Jean Paul haben in Kontexten, über die im Duden nicht mehr zu erfahren ist, festgestellt, dass schöne Erinnerungen nicht verloren gehen und ein wichtiger Besitz sind. But compassion isn’t about solutions, it’s about giving all the love you’ve got.

Aber wie genau macht man das? Otto Rammler gibt Hinweise: »Die Trostgründe müssen das traurige Ereignis selbst, die Klugheit und die Kenntnis des Herzens dessen, an den man schreibt, an die Hand geben. Häufig spricht sich darin die Theilnahme so aus, daß man selbst des Trostes bedarf. Mit Erfolg zu trösten erfordert viele Geschicklichkeit; immer hängt dies hauptsächlich von unserer Stimmung und Theilnahme ab. Je inniger wir an dem Geschick des Freundes theilnehmen, desto lebendiger wird sich diese Theilnahme als Trost oder Mitgefühl aussprechen. Vermögen wir also auch nicht so zu trösten, daß wir den Freund vollkommen beruhigen, so wird doch schon unser ungeheucheltes Mitgefühl auf ihn wohlthätig einwirken. Man zeige den Trost-Bedürfenden, daß ihr Schmerz billig und gerecht sey, und ist es ein Unglück, von welchem man sagen kann, daß sie es nicht verdient haben, so lasse man dies nicht unerwähnt. Man muß mit Trauernden nicht lange über den Gegenstand reden, welcher sie in Leid versetzte, und daher bei Trostbriefen sich der möglichsten Kürze befleißigen.«37 Erbauung in Sentenzen ist der beste Trost: Ihren Schmerz kennen die Trauernden selbst schon gut genug.

Über Rammler, ein Pseudonym des Verlegers Otto Wigand, ist neben der Tatsache, dass er in seiner Druckerei die erste Auflage von Marx’ Das Kapital drucken ließ, vor allem bekannt, dass er ein ausgesprochen enzyklopädisches Temperament hatte. Abgesehen von seinem Universal-Briefsteller war er unter anderem auch an einem Fabelschatz und an einem Hausschatz beteiligt. Letzterer sollte als »Quelle des Reichthums und der Wohlfahrt für Jedermann« dienen, es geht dann auch direkt los mit einem Abschnitt über den »Himmel und seine Wunder«.38 Zu dem Begehren, volkspädagogisch tätig zu werden, gehörte eben auch ein Leitfaden, wie man überhaupt mit anderen Menschen schriftlich in Kontakt treten könne. Wigand wurde 1795 in Göttingen geboren und starb 1870 in Leipzig, wo er auch lebte. Als Briefratgeber trat er erstmals 1834 in Erscheinung; sein Werk erreichte bis 1907 ganze 73 Auflagen. Die letzte davon tritt mit einem sehr selbstbewussten Vorwort auf, das nahelegt, dass die alltägliche Briefkommunikation ohne den Universal-Briefsteller in diesem Zeitraum anders ausgesehen hätte: »Zum dreiundsiebzigsten Male zieht der ›Rammler‹ hinaus in die Welt; in alle Lande, wo Deutsche wohnen, hat er mit über 300 000 Exemplaren seinen Pilgerstab gesetzt und ist ein lieber Gast geworden in ebensoviel Häusern. Seine Wandertasche ist im Laufe der Jahrzehnte immer größer und umfänglicher geworden und nach dem alten guten Wort: ›Wer vieles bringt, wird Jedem etwas bringen‹, hofft er zu den alten Freunden neue zu gewinnen und, wo er einst den Voreltern und Vätern gedient hat, wird er nunmehr von Kindern und Enkeln willkommen geheißen werden.«39

Das war im Jahr 1907 das letzte Mal der Fall. Rammlers allgemeine Hinweise dazu, wie man nun trösten solle, fallen eher knapp aus. In dem oben genannten Zitat sind sie schon fast vollständig wiedergegeben. Wichtiger als der allgemeine Teil ist der beispielgebende. Dabei bezieht »der Rammler« seine Beispiele jedoch nicht aus der individuellen Biografie des Autors, sondern weicht auf vorbildliche Briefe aus, von denen einige nicht nur von vorbildlichen, sondern sogar berühmten Autoren sind: Schiller an Wilhelm von Wolzogen, Rudolstadt den 10. August 1788, Anlass ist der Tod von Wolzogens Mutter; Johann Heinrich Voß an »Schulz« am 20. Juni 1788: »Kommen Sie, sobald Sie können, in unsre Arme.«

Rammlers allgemeinen Hinweisen folgen eher die anonymen Briefe, die weniger aufgrund der Dignität der Verfasserinnen und Verfasser abgedruckt sind, sondern aufgrund ihrer Erfüllung der Rammler’schen Regeln und der Varietät ihrer Anlässe. Kondolenzschreiben dominieren, dabei wird auf verschiedene Fälle von Verlust Rücksicht genommen, Beispiele finden sich zu Schreiben, die den Tod der Gattin, des Gatten, der Kinder oder der Eltern betreffen. Es sind diese Briefe, die am stärksten den performativen Selbstwiderspruch aufweisen, den Strayed knapp hundert Jahre später wiederholte (vermutlich ohne dass sie davor »den Rammler« zu Rate gezogen hatte): Eigentlich kann ich das hier gar nicht.m Weniger stark ausgeprägt ist diese Konvention in anderen Trostschreiben. Bei Rammler findet sich auch ein Musterbrief zum Trost über Liebeskummern sowie einer, der die Enttäuschung über eine erfolglose Bewerbung mindern soll;o nicht zu vergessen das »Trostschreiben an einen Freund, der durch eine Feuersbrunst Haus und Hof verloren hat«: »Mit dem bereitwilligsten Herzen eile ich Ihnen mit meiner Hilfe entgegen. Sie bedürfen derselben sehr schnell.«40

Seinen letzten Brief an Rilke schreibt Franz Xaver Kappus am 5. Januar 1909 in Süddalmatien. Seit dem ersten Austausch 1903 ist Kappus’ Lage nicht viel besser geworden: »Eins quält mich vor allem: Ich schrieb und schreibe viel, das ich nicht schreiben muss. Das nicht in meinem Herzen geboren wird und überhaupt nicht hinabsteigt in die Region, aus der alles geboren werden soll. Es sind kleine, dumme Geschichten, humoristische oder satirische zumeist, an denen nur mein Verstand beteiligt ist.«41 Beigefügt sind einige Gedichte, die ähnlich wie der Brief selbst an vielen Stellen Rilkes Stil imitieren: … Kappus schreibt in beiden Genres darüber, wie einsam er ist, aber diese Einsamkeit scheint nicht der Lyrikkatalysator zu sein, auf den er hofft und den Rilke ihm empfohlen hat. Vielmehr wird er dadurch nur weiter an die von ihm begehrte Sängerin erinnert, die er nicht haben kann. Er bittet Rilke zum Schluss um weitere Literaturempfehlungen, er möchte einen französischen Dichter lesen (dieser Bitte wurde nicht stattgegeben). Der Brief schließt mit einem Dank und einer Entschuldigung für »das oder jenes, was in diesem Briefe zu viel gesagt war«, schuld sei auch hier wiederum die Einsamkeit.

Die Frage: »Muss ich schreiben?«, die Rilke Kappus ins Heft diktiert hatte, beantwortet Kappus mit einem Ja, das für ihn selbst noch nicht erkennbar scheint, weil er seine Briefe angeblich nicht als Schreiben von Literatur betrachtete, allein wichtig seien die Briefe Rilkes, schreibt er in seinem Vorwort zur ersten Edition im Jahr 1929. Erich Unglaub, der als Herausgeber Kappus’ Briefe überhaupt zum ersten Mal in einer Edition mit den Briefen Rilkes in einem Buch gemeinsam publizierte, vermutet, dass Kappus seine Briefe nicht dem Vergleich mit denen Rilkes aussetzen wollte. Das ist sehr schade. Kappus’ Kommunikation ist sehr bedürftig, sie ist vor allem aber nicht unbedingt ausschließlich an Rilke gerichtet. Kappus kannte zwar Rilke, aber wäre ihm ein anderer Autor, den er bewunderte, zur gleichen Zeit in die Hände gefallen, hätte er vielleicht diesem geschrieben. Dieser double bind in der Adressierung macht diese Briefe sehr haltbar und begünstigt diverse Anwendungsfelder. »Lady Gaga ließ sich 2009 eine Passage aus dem ersten Brief [Rilkes, H. E.] auf den linken Oberarm tätowieren mit der Begründung, sie sei eine Anhängerin seiner ›philosophy of solitude‹, nicht aber seiner Lyrik. Für bedeutsam hält sie den letzten Satz des tätowierten Zitats: ›Muss ich schreiben?‹ […] ›Schreiben müssen‹ ist darin zu einer Metapher für kreatives Kunstschaffen in allen Genres und über sie hinaus bis zum Überschreiten von traditionellen Grenzen und Normen geworden.«42

Unter der Überschrift »The Future Has an Ancient Heart« findet sich der Brief einer Collegedozentin, die mit ihren Studierenden ein paar Dear Sugar-Kolumnen gelesen hat, um sie zu ermutigen, nicht zu viel auf all diejenigen zu geben, die ihnen raten, mit einem Bachelor-Abschluss in Englisch nun noch sehr gut ein Jurastudium absolvieren zu können. Sie bittet »Sugar« um eine commencement address, also eine Rede, wie sie bei den Abschlussfeiern an amerikanischen Universitäten üblich ist. Strayed zitiert an deren Anfang die titelgebende Zeile, die einem Gedicht von Carlo Levi entstammt. Daraus entwickelt sie eine dem Anlass entsprechende Perspektive auf die zukünftige Verwirklichung eines grundsätzlich angelegten Potenzials; sie schreibt über die Jugend, die man selbst nicht wertschätzen könne, und über das Alter, von dem man nicht wisse, ob man es erreichen werde. Immerhin ist ihre eigene Mutter gestorben, noch bevor sie ein erst im Alter von vierzig Jahren begonnenes Studium beenden konnte. Die Dozentin, die ihr geschrieben hatte, bot ihr als Honorar für die commencement address unter anderem einen Kuchen an, Strayed wünscht sich zum Ende ihrer Antwort eine Bananencremetorte. Zuvor hatte sie einen sehr hohen Ton angeschlagen: »Let whatever mysterious starlight that guided you this far guide you into whatever crazy beauty awaits.« Das Genre commencement address scheint die Vortragenden häufiger in kosmische Dimensionen zu tragen.

Strayed kündigte in ihrem Newsletter vom 27. Oktober 2020 an, dass sie eine Neuauflage von Dear Sugar plane.43 In der folgenden Ausgabe vom 11. November 2020 thematisiert sie, dass die Kolumne vermutlich die bedeutungsvollste Arbeit gewesen sei, die sie als Autorin jemals geleistet habe.44 Es ist davon auszugehen, dass die Tatsache, dass sie sich nun nicht mehr hinter einer anonymen E-Mail-Adresse eines Online-Literaturmagazins verbirgt, die Art und Weise ändern wird, wie ihr Leute schreiben, die nicht nur ihre vorangegangenen Kolumnen, sondern auch ihre Romane, ihr Instagram-Profil, ihren Twitter-Account, ihr Substack, die Verfilmung von Wild und diverse Interviews mit ihr kennen. Die Projektionen und Hoffnungen, die nun diejenigen in ihre Briefe legen werden, die sich an Strayed wenden, gleichen nun vermutlich stärker denjenigen, die Kappus auf Rilke richtete. Um die eigentlich kosmische Dimension dieser Operationen zu ermessen, muss man keine Sternbilder bemühen. Sie besteht eigentlich allein in dem Gedanken, dass Trost in den Texten von Fremden liegt, und zwar in den Texten, die sie einem geben, aber mehr noch in denen, die man für sie schreibt.

a Das schien nicht nur für Kriegszeiten angemessen. Das große Buch™ hatte auch danach immer wieder einmal einen schweren Stand: »Das aber dürfte man heute wissen, dass so viele dickleibige Romane unserer Zeit den Leser, voran den vom Tagwerk ermüdeten, zur Oberflächlichkeit verleiten, während bei Anhören dieser knappen, echten Dichtung auch für den Angestrengtesten noch Zeit zur Sammlung bleibt. (Vielleicht also haben wir hier die eigentliche ›zeitgemässe‹ Dichtung.)« Felix Wittmer, »Rilkes Cornet«, in PMLA 3 (1929), S. 911–924, hier: S. 924.

b Geschrieben hatten Kappus/Schima das Lied schon 1936, s. Matthias Bardong u. a., Das Lexikon des deutschen Schlagers: Geschichte, Titel, Interpreten, Komponisten, Texter. 2., erw. überarb. Aufl. Mainz 1993. Christian Meurer hat in einem Beitrag für Titanic die Karriere von »Mamatschi« nachverfolgt. Sie findet in seinem Text ihren Höhepunkt in der Verwendung in Steven Spielbergs Film Schindlers Liste (der allerdings die Ersteinspielung des Songs durch die Sängerin Mimi Thoma verwendete): »Im Film wird die Platte von einem SS-Mann aufgelegt, um sie über sämtliche Lautsprecher durchs Krakauer KZ schallen zu lassen. Mütter und Kinder des Lagers werden auf einem Platz zusammengetrieben, um mit Lastwagen angeblich ›verlegt‹ zu werden. Zunächst marschieren die Kinder heran, die fröhlich ›Mamatschi‹ mitsingen und auf die Ladeflächen klettern. Die Mütter hält man im letzten Moment zurück. Als die Lastwagen anfahren, scheppert zur einsetzenden Massenpanik weiterhin ›Mamatschi‹ aus den Lautsprechern, auch als die Kamera eines der Kinder verfolgt, das verzweifelt ein Versteck sucht: Unter Krematoriumsöfen, Dachsparren und Barackendielen ist schon besetzt, so daß der Junge endlich in eine randvoll mit Fäkalien gefüllte Latrine springt. Wie hatte Kappus doch am 4. Februar 1910 seinem Regimentskameraden, dem Buchgraphiker Rudolf Heßhaimer, ins Stammbuch geschrieben: Dem Leben nachspüren, seine tiefen Zusammenhänge nicht deuten wollen, sondern sie gestalten, so gut er’s vermag: das ist Ziel und Schicksal des Künstlers.« Christian Meurer, »Gesetz der Tiefe, Sauerkohl. Aus dem Leben von Rilkes ›jungem Dichter‹«, in: Titanic, März 2005, S. 58–62, hier: S. 62.

c In Auszügen. Immer nur in einzelnen, heftig unterstrichenen Passagen. »Nehmen wir allein Sätze wie diese«, schreibt Helmut Lethen im Kapitel »Vom Finden und dem Verlust des Handorakels«, das seine erste längere Auseinandersetzung mit Baltasar Graciáns Handorakel und Kunst der Weltklugheit beschreibt, »Nr. 129 ›Nie sich beklagen. Das Klagen schadet stets unserem Ansehn. Es dient leichter, der Leidenschaftlichkeit anderer ein Beispiel der Verwegenheit an die Hand zu geben, als uns den Trost des Mitleids zu verschaffen …‹« (Helmut Lethen, Auf der Suche nach dem Handorakel, Göttingen 2012, S. 114 f.). Im Folgenden geht es darum, wie Graciáns Verhaltenslehre aus dem Jahr 1647 durch die Schriften Carl Schmitts wanderte und so schon Widerhall in Lethens Nachdenken über eine Kultur des kalten Denkens in den 1920er-Jahren fand, bevor er überhaupt auf die Idee kam, sich mit Gracián auseinanderzusetzen. Trostbedürftigkeit soll kein Handlungsmotiv sein, und zwar offenbar schon seit über 370 Jahren nicht.

d »Wenn ›Erbauungsliteratur‹ Texte umfasst, ›die dem Christen zur Bekräftigung im Glauben, zur Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und zur Anleitung in christlicher Lebensführung dienen‹ wollen, wird bereits aus dieser knappen Definition klar, dass die Kernbestimmung von ›Erbauung‹ auf ein sowohl intellektuelles, imaginatives wie moralisches Instruieren und Affizieren hinausläuft – und schon wird es kompliziert.« Susanne Köbele, »aedificatio. Erbauungssemantiken und Erbauungsästhetiken im Mittelalter. Versuch einer historischen Modellbildung«, in: dies., Claudio Notz (Hg.), Die Versuchung der schönen Form. Spannungen in ›Erbauungs‹-Konzepten des Mittelalters, Göttingen 2019, S. 9–37, hier: S. 15.

e Dieser Brief wurde 12. August 1904 aus Flädie in Schweden abgeschickt. Am 30. August 1908 übermittelte Rilke Kappus aus Paris mit einem Begleitschreiben noch einmal einige seiner eigenen Gedichte. Dieses Schreiben ist nicht zugänglich, aus einem Auktionskatalog wird nur folgender Satz übermittelt: »Merken Sie an, daß ich bis vor kurzem fast immerzu auf Reisen, nicht immer wohl und schließlich in unerbittlicher Arbeit war.«

f Rilke, Briefe an einen jungen Dichter, S. 59 f. Rilke schrieb diese Zeilen im Mai 1904 in Rom. Nur ein Jahr vorher war das misogyne Werk Geschlecht und Charakter von Otto Weininger erschienen, das sich zum Ziel gesetzt hatte, die grundsätzliche Minderwertigkeit von Frauen ein für alle Mal nachzuweisen; das Buch war zumindest literarisch ein großer Erfolg. Von Weininger hörte ich zum ersten Mal ungefähr zu der Zeit, als ich mir die Tasche mit dem Rilke-Spezialfach kaufte – in einer Vorlesung. Nichts erfuhr ich in dieser Vorlesung jedoch darüber, wie Frauen zwischen 1903 und 1904, eingepfercht zwischen Rilke und Weininger, geschrieben haben.

g 2016 erschien im Münchner Kailash Verlag die von Maria Zettner besorgte deutsche Übersetzung von Tiny Beautiful Things unter dem Titel Der große Trip zu dir selbst. Ungeschminkter Rat für die Liebe, das Leben und andere Katastrophen. Für diese Ausgabe schrieb Strayed ein eigenes Vorwort, das über nichts informiert, was nicht bereits durch die Vor- und Nachworte der englischen Version bekannt ist. Nicht erwähnt wird, dass die Kolumne im Original »Dear Sugar« hieß, in dieser Ausgabe steht vielmehr, sie habe »Hallo, Cheryl« geheißen. Mal ganz abgesehen von der empörenden Interpunktion dieses Titels ist das schlicht unzutreffend. Falsch klingt auch der Ton der Briefe und der Antworten, die Übertragung der Worte hat funktioniert, die Übertragung der Stimme der Autorin ist gescheitert. Sie klingt nun genau wie jene Sorte Selbsthilfeliteratur, die sie doch, wie sie auch in der Einleitung zu selbst dieser Ausgabe schreibt, niemals lesen würde.

h Das weiß man, das ist bekannt seit 1669: »Von der recht-geordneten Liebe sein selbst und des Nächsten. Das Hembd ist dir näher als der Rock. Mancher erbarmt sich andrer / und erbarmt sich sein selbst nicht. Ich hab mit Verwunderung gesehen / wie viel seyn / die andere speisen und träncken / ihre eigene Seele aber verschmachten lassen: andere kleiden sie / ihre eigene Seele lassen sie nackt; andere heylen sie / und selbst liegen sie kranck an mancher Seuchen; andere straffen sie / ihnen selbst liebkosen und heucheln sie: gleich den Rinnen / die andern Wasser geben / und selbst keines behalten. […] Was gehestu weit / du hast dich selbst vor dir […].« Müller, Geistliche Erquickstunden, zit. nach Serkova, Spielräume der Subjektivität, S. 108.

i Was geschieht, wenn man sich diesen Rat zu Herzen nimmt, ist Gegenstand von Cheryl Strayeds Memoir Wild, das davon handelt, wie sie in der Zeit nach dem Tod ihrer Mutter eine nach außen hin ganz glückliche Ehe beendet und in einer Art Pilgerreise zu einer getrösteten Version ihrer selbst den Pacific Crest Trail abwandert.

j »Seeking Wisdom« wird die Person genannt, deren Brief der letzte ist, der in Tiny Beautiful Things publiziert ist. Sie fragt, was »Sugar« ihrem jüngeren Selbst raten würde. »One hot afternoon during the era in which you’ve gotten yourself ridiculously tangled up with heroin, you will be riding the bus and thinking what a worthless piece of crap you are when a little girl will get on the bus holding the strings of two purple balloons. She’ll offer you one of the balloons but you won’t take it because you believe you no longer have a right to such tiny beautiful things. You’re wrong. You do.« (Strayed, Tiny Beautiful Things, Pos. 4201.) Die Winzigkeit der Geste und die Kleinheit des Mädchens, das diese Geste ausführt, sind nicht so einfach auszuhalten. Sie machten sich auch gut als Teil eines Werbespots. Sie wären auch dann noch immer anrührend. Ich spreche für mich. Ich habe keine Firewall dagegen. Merci, dass es dich gibt.

k »Dass man die drei Auslassungspunkte in massiven Ballungen in Rilkes Frühwerk von Larenopfer bis zu Mir zur Feier findet, wird niemand wundern, denn diese erschütternd unreifen Gedichte sind tatsächlich Schmock, und es würde mich nicht wundern, wenn Adorno bei seinem Verdikt über die drei Punkte, ›mit denen man in der Zeit des zur Stimmung kommerzialisierten Impressionismus Sätze bedeutungsvoll offen zu lassen liebte‹, an den frühen Rilke gedacht hätte.« (Ernst Osterkamp, »Drei Punkte. Capriccio über ein Ärgernis«, in: Alexander Nebrig, Carlos Spoerhase (Hg.), Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion, Bern 2012, S. 239–258, hier: S. 255). Osterkamp rühmt gleich zu Beginn des Vortrags Adornos Gnadenlosigkeit, die »genussvolle Vollstreckung des Todesurteils« über die drei Punkte, um sich dieser Scharfrichterhaltung sogleich anzuverwandeln. Zugleich gibt er in einer Anmerkung auf der ersten Textseite zu verstehen, nur zu improvisieren. Am Ende steht man vor dem geschlachteten Dichter und keiner ist es gewesen.

l Was Strayed in der kurzen Zeit hörte, als sie als Beraterin für junge Mädchen aus schwierigen sozialen Verhältnissen arbeitete: »Endless stories of abuse and betrayal and abscence and devastation and the sort of sorrow that spirals so tightly into an impossible clusterfuck of eternal despair that it doesn’t even look like a spiral anymore.« Strayed, Tiny Beautiful Things, Pos. 353.

m Hier eine Auswahl von Trost durch Betonung der eigenen Inkompetenz und Verweis an eine höhere Instanz: »Kann Dich diese meine innige Theilnahme trösten, so wird Dir dieser Brief allerdings einigen Trost gewähren, aber bessere Trösterinnen sind die Religion und die Zeit und auf ihren Balsam will ich Dich darum mit Deinen Schmerzen verweisen.« (S. 245); »Der Tod Ihres Gatten und Ihre traurige Lage geht mir sehr zu Herzen. Es wird mir sehr schwer, Sie zu trösten, da ich selbst Trost bedarf, weil ich in Ihrem trefflichen Gatten meinen besten Freund verloren habe. Unbegreifliches Verhängnis!« (S. 246); »ich bin unfähig, Sie über diesen Tod zu trösten, denn ich empfinde ihn selbst viel zu schmerzlich mit Ihnen.« (S. 246); »Ich muss bekennen, daß die Größe Ihres Verlustes, den Sie durch den Tod Ihrer Frau Mutter erlitten haben, mich zweifeln macht, ob ich darüber trösten kann.« (S. 247); »Der Verlust Deiner Tochter, die Du durch die unglückseligen Blattern eingebüßt hast, ist auch für mich sehr schmerzhaft. Ich nahm mir vor, Dich in Deinen Leiden nach Möglichkeit zu trösten, allein ich habe mich getäuscht, und bin unfähig, dir Trost zu geben […].« (S. 248).

n »Dein unschuldiges Herz hatte den Gegenstand seiner ersten Liebe mit einer Schwärmerei erfaßt, welche die Grenzen der Möglichkeit überschritt. Du liebtest nicht einen schwachen Sterblichen, nur ein hohes geistiges Wesen; erhaben über alle Schwächen, war er Deinem Herzen ein Gott. Diese Täuschung konnte nicht ewig bestehen […].« Rammler, Universal-Briefsteller, S. 251.

o »Meine Hoffnung, Ihnen die bewußte Stelle zu verschaffen, ist fehlgeschlagen, und die Stelle ist Ihrem Mitbewerber zu Theil geworden. Es thut mir leid, dieß melden zu müssen, denn ich nehme so herzlichen Antheil an Ihnen, daß ich Ihre Hoffnung zu der meinigen gemacht hatte.« Rammler, Universal-Briefsteller, S. 249.

Trost

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