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Kapitel 1

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Der Versuch, mich an meine frühen Kinderjahre zu erinnern, kommt mir vor, als müsste ich zunächst wie bei Frau Holle in einen tiefen Brunnen springen. Nach diesem Sprung in den Schacht des Vergessens ist es, als stünde ich vor einem Baum mit reifen Früchten, der geschüttelt werden will. Doch da geht es mir wie dem Mädchen im Märchen, das zögert, ob es dem Ruf des Baumes folgen und seine Früchte pflücken soll. Ich weiß nicht, ob sie schmackhaft oder auch bitter sind. Um dies zu wissen, muss ich sie erst einmal ernten. Ein inneres Gefühl sagt mir, dass es wohl eine Mischung von beidem ist, Gold und Pech.

Dass meine frühesten Erinnerungen kaum bildhaft sind, muss mich nicht verwundern, da ich als schwachsichtiges Kind viel mehr akustische Eindrücke, Geruchswahrnehmungen und haptische Empfindungen gespeichert habe.

Da ist ein Raum, in dem es vielerlei Geräusche gibt, aber ich spüre auch Wärme auf der Haut, die, wenn man immer dichter an sie herangeht, auch schmerzhaft sein kann.

Und dann die guten Gerüche! Hier in der Küche gibt es das, was man in den Mund steckt und was auch schmecken kann, im Unterschied zu so manchen Dingen, die ich mir in den Mund stecke, um auszuprobieren, ob sie weich oder hart sind. Ein großer Mensch, meist Mama oder Papa, entwendet die Gegenstände entweder noch vor dem Mund oder, was mir unangenehmer ist, zieht sie aus dem Mund heraus.

Viel aufregender ist für mich die Welt draußen im Freien. Dort sind die vielfältigen Gerüche, die mit all den Pflanzen im Garten zusammenhängen, wie erst später aus den Geruchserinnerungen deutlich wird, die mich bis heute so stark überfallen können, wie sie es nur in früher Kindheit tun konnten, wo sie als erste Erfahrungen auf ein noch wenig beschriebenes Erinnerungsfeld gefallen sind.

Neben den Gerüchen und Geräuschen in und um das Haus gibt es immer mehr und vielfältigere Eindrücke, je weiter mich die kleinen Füße tragen, manchmal an der Hand der mich umgebenden Erwachsenen. Nach und nach aber auch ganz alleine auf meinen Erkundungswegen, die in einer Kleinstadt, umgeben von Nachbarn, denen ich bekannt bin und die ein wachsames Auge auf mich werfen, ungefährlich sind. Ihre Stimmen sind mir bald auch vertraut und so wage ich mich, angezogen von dem warmen, nach Milch duftenden Geruch, in den Kuhstall nebenan und höre zu, wie munter die Milch in den Melkkübel rinnt.

So bekommen nach und nach diffuse Geräusche ihre sinnliche Zuordnung und aus der Muh wird eine Kuh und von ihr stammt die Milch, die ich morgens und abends so gerne trinke, weil sie immer mit dem Geruch des Kuhstalls verbunden ist und der atmet etwas von Wärme und Geborgenheit, Empfindungen, die vermutlich die frühesten Eindrücke jedes Kindes sind.

Waren die ersten Worte noch verknüpft mit direkten sinnlichen Eindrücken von dem, was sie bezeichneten, so tauchten nun Worte auf, für die es keine erlebbaren Gegenbilder gab. Sicher war es nicht das erste abstrakte Wort, das ich hörte, aber es war das erste, das mir als solches nachdrücklich in Erinnerung blieb, da es mich zum Nachdenken angeregt hat und ich vielleicht da zum ersten Mal bewusst wahrnahm, dass ich etwas wissen und ergründen wollte. Ich bin es, die neugierig ist und „warum“ fragt.

Dieses entscheidende Wort war „Krieg, kriegen und du kriegst ein Geschwisterchen“.

Das Wort „Krieg“ geisterte als Laut immer wieder durch die Luft, ohne dass ich anschaulich etwas damit verbinden konnte. Doch in den Stimmen der Erwachsenen, sprachen sie es aus, schwang Anspannung, Aufgeregtheit und Düsternis mit. Nie war Lachen dabei, wenn dieses Wort fiel.

Geheimnisvoller, ja freudiger waren die Töne, wenn vom „Kriegen“ eines Geschwisterchens die Rede war. Das klang nach einem Versprechen, und eines Tages war es so weit: Ich ging an der Hand von Bertha, unserem Kindermädchen, den Gartenweg entlang. Vom Haus her rief eine Stimme: „Es ist da, ein Mädchen, eine Margarete.“

Neben mir in der Blumenrabatte standen die letzten Herbstblumen. Heute würde ich sagen, es waren Astern, denn es war Mitte Oktober. Für mich aber waren es damals und noch lange Zeit danach Margaretenblumen.

Beim Hineingehen hörte ich ein Schreien, das nicht so klang wie das meines kleinen Bruders, der gut ein Jahr jünger war als ich, dieses Schreien war neu, es gehörte zu dem „gekriegten“ Schwesterchen. Wo aber kam das her, und würde es jetzt immer da bleiben?

Das Geheimnis blieb, aber in die Überraschungsfreude mischte sich langsam auch Ärger, denn die Mutter war ständig mit diesem neuen, kleinen Wesen, das entweder schlief oder schrie, beschäftigt. Dazu kam, dass es auch viel Arbeit machte, da es viele Windeln brauchte, ohne die ich inzwischen auskam und recht stolz darüber war. Denn ich war nun die große Schwester.

Aus dem „Kriegen“ war nun ein Bekommen geworden, doch das Wort „Krieg“ blieb und auch der besorgte, ängstliche Unterton.

Und dann bekamen wir noch etwas, das hatte nichts mit einem kleinen Kind, sondern mit großen Männern mit tiefen Stimmen und hohen, schwarzen Stiefeln zu tun. Sie schliefen in Zimmern unseres Hauses, die sonst für Gäste benutzt wurden. Tagsüber waren sie weg, doch wenn es dunkel und kalt wurde, da saßen sie um unseren großen Tisch im Wohnzimmer, schwatzten und lachten miteinander und der eine oder andere hob mich auf den Schoß oder gar auf die Schultern und lief mit mir durchs Zimmer. Mir war das unheimlich, wie diese fremden jungen Männer sich breit machten und einen Geruch von nassen, lehmigen und verschwitzten Lederstiefeln verbreiteten. Diese reihten sich zum Trocknen rund um den großen, gusseisernen Ofen auf. Über dem Ofen hing eine Wäschespinne, auf der die weißen Windeln der kleinen Schwester zum Trocknen hingen, und unten standen diese schwarzen Stiefel, dunkle Röhren, fast so groß oder gar größer als ich. Waren die Soldaten in ihrer Müdigkeit gar zu albern, dann stellten sie meine kleine Gestalt in eine solch schwarze Röhre, die so eng war, dass ich mich nicht darin bewegen konnte. Die jungen Männer hatten es sicher als Spaß für mich gemeint, ich aber erlebte diesen Zugriff als gewaltsam und furchterregend, unfähig mich dagegen wehren zu können. Für mich gehörte das zu dem Wort „Krieg“. Zumal ich aus den Erklärungen der Großen soviel mitbekam, dass das, was von ihnen als „Einquartierung“ bezeichnet wurde, etwas mit „Manöver“ zu tun hatte. Dies alles musste wohl zu dem Wort „Krieg“ gehören und bedeutete Gewalt, Wehrlosigkeit und Angst.

Kinderjahre im Schatten des Dritten Reichs

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