Читать книгу Frikadellen für Marrakesch - Hanna Jakobi - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
Sigi lenkte den blauen Mini auf einen freien Parkplatz neben der Disko. Beim Aussteigen hörten sie bereits die dumpfen Bässe aus dem Fishavi wummern. Susan liebte den Club.
Sigi hatte eine der raren Lücken am voll geparkten Straßenrand ergattert. Sein Mini brauchte wenig Platz. Kaum war sie aus dem Auto, wanderten Susans Blicke in alle Richtungen. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Es war eine bescheuerte Idee, hierher zu kommen.
Susan nahm die anderen Wägen surreal wahr. Sie kam sich beobachtet vor. Es schien ihr, als wäre hinter jedem, säße in jedem Auto einer, der sie anstarrte. Jede ihrer Bewegungen wurde registriert, als ob die Fahrzeuge selbst sie mit ihren Scheinwerferaugen hämisch begaffen. Brigid bemerkte Susans Anspannung und hakte sich bei ihr ein.
»Traumzeithimmel!«, raunte sie ihr lasziv ins Ohr und legte den Kopf in den Nacken.
Stimmt. Keine Wolke. Die Nacht lag über ihnen wie die Glaskuppel einer Schneekugel. So eine die man in der Hand schütteln konnte, damit es in ihr Plastikflocken schneite. In Marrakesch gab es natürlich keinen Schnee, nur Sand. Und in diesem Viertel hätte es Dreck, eine Menge Dreck, geschneit, hätte man es in eine Glaskugel gepackt.
Der Club lag einige Kilometer außerhalb. Weder Abgase, noch der Rauch aus den Kohlefeuern der Straßenstände störten hier die Sicht auf die Sterne.
Susan folgte Brigids Blick nach oben.
Es war eine außergewöhnliche Nacht. Vielleicht empfand sie das so, weil sie trotz ihrer klammernden Angst stolz auf sich war. Sie hatte sich aus ihrem Riad getraut. Nach Sonnenuntergang.
Die Sterne blinkten und der Wind rauschte in den Blättern der ungepflegten Palmengruppe am Straßenrand. Es klang, als raunten sie ihr Glückwünsche für ihren Mut zu.
Solche Nächte drängten einen regelrecht, zu erkennen, wie klein, wie unbedeutend, man war. Als Mensch mit seinen ganzen Menschenproblemen – mitten in diesem unendlichen Universum. In solchen Nächten war kein Platz zum Hadern. In solchen Nächten wurden Helden gezeugt.
Susan lächelte Brigid zu und legte ihren Kopf an ihre Schulter. Sie war dankbar, dass ihre Freundin so starrköpfig auf ihr Mitkommen beharrt hatte.
Während sie den Eingang des Clubs ansteuerten, hielt sich auch Ralf dicht an ihrer Seite. Bei jedem Schritt stießen ihre Arme ein wenig aneinander. Ralf spielte den edlen Ritter. Ganz unauffällig. Aber er spielte es mies. Sie konnte sich vorstellen, worum sich die Gespräche drehten, wenn sie nicht dabei war. Was in den letzten Wochen die Regel war.
Der Türsteher schaute wie immer äußerst grimmig. Reagieren würde er deutlich gemäßigter, hätte jemand Stress gemacht. Sie ließ er wortlos ein. Man kannte sich. Sie waren nicht zum ersten Mal hier. Ein freundliches Lächeln hatte sein Diensteifer aber auch für sie nicht.
Die Freunde hielten auf ihren Stammplatz an der kurzen Seite der Tanzfläche zu. Niemand wäre auf die Idee gekommen, in eine andere Richtung zu laufen. Die Clique saß immer dort.
Sigi kannte im Fishavi Gott und die Welt und brauchte eine Weile, bis er sich durch alle Hände geschüttelt und alle Rücken geklopft hatte. Ralf ging unterdessen mit den beiden Frauen zu ihrem Platz.
Ein befreundetes Pärchen und ein einzelner Kerl saßen in ihrer Nische. Susan kannte das Pärchen flüchtig. Den Mann hatte sie vorher noch nicht gesehen. Brigid umarmte und küsste in sämtliche Richtungen. Ralf gab brav die Hand. Susan nickte den dreien zu, verzog sich lieber auf die Bank hinter dem langen Holztisch. Sie hielt den üblichen Anstandsabstand, den man zu denen, die man nicht näher kannte, hielt. In diesem Fall war der Unbekannte der Singlekerl. Das nahm sie jedenfalls an. Er saß ohne Begleitung am Tisch.
Von ihrem Platz aus hatte sie die komplette Tanzfläche im Blick. Die Kissen auf der Bank, die lieber gleich ein Sofa geworden wäre, waren enorm und hatten – zu Susans Freude entgegen dem sonstigen Einrichtungstrend des Clubs – Troddeln an jeder Ecke. Man versank so schön darin.
Sigi hatte ausreichend Hände geschüttelt, kam zu ihnen herüber und packte Brigid an den Hüften. Er schleppte sie auf die Tanzfläche, ohne sich auch nur ein einziges Mal hingesetzt zu haben.
Dem DJ war nach Techno.
Pang – Pang – Pang.
Erstmal alle Herzen in Gleichklang schalten.
Pang – Pang – Pang.
Hoffentlich dauerte sein Anfall nicht lange, dachte Susan. Ihr Fall war dieser Musikstil ja nicht. Dafür war sie zu alt. Der Bass (mehr war es im Grunde ja nicht) erinnerte sie an das Trommeln afrikanischer Eingeborener auf einem dieser mystischen Dorffeste. Stampfende Baströckchen mit sonst nix ums Lagerfeuer herum. Klischee? Vielleicht. Live hatte sie einen original Afrodance nie erlebt.
Pang – Pang – Pang.
Schwoof – taa ta ta – taa ta ta
Ein geschickterer Übergang wäre denkbar gewesen.
Versöhnlichere Klänge für ihre Ohren.
Discofox.
ABBA – Dancing Queen.
Brigid und Sigi waren in ihrem Element.
Eins – zwei – tapp.
Und nochmal: Eins – zwei – tapp
Überall: Eins – zwei – tapp.
Schwedischer Pop unterm marokkanischen Sternenzelt.
»Susan – willst du?«
Ralf hielt ihr seine Hand hin.
Upps, sie hatte ihn bei dem ganzen Pang-Pang zuvor glatt vergessen. Er stand neben dem Tisch, hatte sich nicht gesetzt.
»Ach nö, lass mal, ich möchte erst was essen. Später? Ok?!?«
Ihr war klar, dass sie Ralf damit den Abend ein bisschen vermieste, hatte momentan aber keine Lust auf eins – zwei – tapp. Sie machte es sich zwischen den Kissen bequem. Gedankenverloren zog sie die bunten Quasten durch ihre Finger.
Ihr Kellner kam an den Tisch und stellte vor den Single- Mann einen Teller mit Pommes und etwas, das aussah wie der Versuch eines Schnitzels auf Deutschniveau. Susan starrte amüsiert auf den grandiosen Fleischfetzen.
Im Fishavi gab es ja fast alles. ›Alles‹ im Bezug auf die kulinarische Ausrichtung (und da gehörte für Abdul eigentümlicher Weise ›deutsches Schnitzel‹ ohne jegliche Kompromisse dazu), ›fast‹ im Bezug auf Schweinefleisch. Wienerschnitzel aus Kalb? Ja! Schwabenschnitzel aus Schwein? Nein! Da hörte selbst für ihn der Spaß auf. Couscous, Curry, Sushi, ein gediegenes Wasserpfeifchen, durchaus auch fragwürdigeren Inhalts, seinetwegen das ein oder andere leichte Mädel – sie und ihr Eigenmarketing wurden geduldet, solange der Umsatz stimmte. Auch mit Alkohol hatte der überzeugte Moslem kein Problem. Er musste ihn ja nicht selber trinken. Was wer im Fishavi tat oder zu sich nahm – Abdul hielt sich raus. Nur Schwein kam ihm nicht rein. Currywurst und Schweinshaxe fehlten auf seiner Karte. Und Kalb kannte er nicht. Die Turboscheibe Fleisch, die (ganz deutsch) links und rechts über den Teller hing, bestand aus Kuh, einer sichtbar betagten.
Susan bestellte Mangolassi und Gemüsecouscous. Für die scharfe Soße, die sie über die Nudelkrümel schütteten, hätte sie sterben können. Je nachdem, wer Dienst in der Küche schob, lag das durchaus im Bereich des Möglichen.
Über der Tanzfläche spie jetzt eine gewaltige Spiegelkugel passend zum ABBA-Song ihre tausend künstlichen Sterne an die Wände des Clubs. Susan blinzelte ins Lichtergewirr.
Weit, weit darüber funkelten ihre echten Brüder – durch das Blitzer-Glitzer der Lichtshow unseligerweise im Moment nicht auszumachen.
Das Fishavi konnte das komplette Dach einziehen, irgendwohin wegrollen, dass man in ihm im Grunde in einer ausladenden Freiluftanlage mit Indoor-Mobiliar saß. Der Nachtwind strich dann darüber und wirbelte einem ab ausreichend Beauforts die eigenen Gedanken und Sehnsüchte durcheinander. Das war der Hauptgrund, warum sie alle soweit aus der Stadt heraus hierher kamen.
Susan legte den Kopf auf die Sofabanklehne und versuchte, die Sterne hinter den Glitzerlichtern zu erkennen. Der Himmel war heute klar wie das frisch gefrorene Eis eines Bergsees.
Jetzt war sie hier, fast im Freien und das bei Nacht. Durch die Menschen um sie herum abgeschirmt, begann sie zu entspannen und den Abend zu genießen. Sie hoffte, dass das Dach heute geöffnet bliebe.
Manchmal drohte ein Sandsturm (was selten der Fall war) oder ein richtiger Sturm mit Gewitter und Regen (was im Grunde nie der Fall war). Dann drückte jemand auf einen Knopf und Fishavis Überdachung schwebte wie ein fliegender Teppich binnen Minuten zurück an seinen Platz. Darunter verwandelte sich die Luft aber schnell in einen kaum atembaren Mief, dass man an solchen Abend besser die Location wechselte. In dieser Nacht war damit nicht zu rechnen.
Sie war hier.
Susan wippte und summte aus ihrem Kissenberg heraus zur Musik mit. Die Stücke der schwedischen Band, die der DJ jetzt rauf und runter jubelte, hatte man im Kopf. Da sang das Hirn ohne Zutun, ob man wollte oder nicht.
Der Singlemann neben ihr säbelte immer hektischer an seinem Fleischfransen. Es bedurfte handwerkliches Geschick für dieses Gericht. Das Fleisch war genauso zäh, wie es aussah. Auf jedem, dem kleinsten Bissen, den er dem Teil mühsam abgerungen hatte, kaute er ewig herum. Messer und Gabel führte er dabei grazil und zielsicher, eine Fähigkeit, die bei der Allgemeinheit heutzutage ja inzwischen weniger zur Grundausstattung gehörte.
Susans Augen verzogen sich voll Mitgefühl. Er erwiderte ihren Blick mit Schulterzucken.
»Zweimal gestorben die Kuh!«, meinte er, zwischen zwei Bissen.
»Ja, Fleisch können sie hier nicht besonders gut. Höchstens geschmort.«
»Isst du nichts?«
»Ich hab’ gerade erst bestellt. Aber ich mag sowieso kein Fleisch.«
»Hm.« Er nickte, versuchte es mit dem nächsten Bissen. Nachdem er das Stückchen in den Mund geschoben hatte, legte er das Besteck genervt, aber akkurat auf zehn Uhr- Stellung auf den Teller.
»Braucht man gute Zähne.« Sie lachte ihn amüsiert an. Der Mann hielt sich seine Hand entschuldigend vor den Mund, nickte nur. Mit vollem Munde redet ... Selten gut erzogen!
Der Kellner kam mit dem Lassi, knallte es wort- und blicklos vor sie auf den Tisch. Singlemann und Susan tauschten Blicke und beidseitig belustigtes Schulterzucken über das unfreundliche Tun der Bedienung.
Für’s Erste ausgetanzt, kamen Sigi und Brigid zurück an den Tisch. Vor Anstrengung waren ihre Gesichter knallrot, Schweiß stand auf ihrer Stirn. Die Nacht hatte die Luft nicht wirklich abgekühlt. Die massiven Steinwände schickten die Tageswärme zurück zur Tanzfläche.
»Oh, Susan, darf ich mal?«
Mit einem Rutsch schüttete Sigi ihr Lassi in sich. Mit einer Handbewegung rief er gleichzeitig den unterkühlten Kellner heran. Als der endlich in seine Richtung blickte, hob er das Glas auf Kopfhöhe und deutete mit Zeige- und Mittelfinger darauf. Zwei Mal neu, bitte!
»Ihr habt Euch schon bekannt gemacht?«
Brigid war zu Susan und Singlemann auf die Bank gerutscht. Sie drängte sich beim Hinsetzen so eng an sie, dass Susan nichts anderes übrigblieb, als näher zu ihrem Nachbarn aufzuschließen.
»Bekanntgemacht? Äh, so gut wie, ja!?!«
Susan sah Brigid an. Der Typ neben ihr begann eben einen weiteren chancenlosen Angriff auf sein Schnitzel und hörte ihnen nicht zu.
»Nicht? Ja also: Steve, das ist Susan, Susan – Steve!«
Sie nickte dem Kauenden zu. Steve also. Hätte sich das geklärt.
Der Kellner stellte die neuen Getränke vor die beiden Frauen. Diesmal mit Blickkontakt, was hieß, er sah sie so angepisst an, als hätte er die Mangos in seiner Freizeit persönlich für sie pflücken müssen.
»Dem kneift der Sack im Frack!«, kommentierte Sigi den Blick der Frauen und tänzelte im Discofox Grundschritt von einem Fuß auf den anderen. Nicht nur einmal klaute er dabei Pommes von Steves Teller.
»Muß ja schlecht um die IT- Branche stehen ...« Ralf rutschte zu ihnen auf und beobachtete Sigi kopfschüttelnd Steves Pommes kauen.
»Komm, lass uns den tanzen!«
Brigid schmiss sich auf Ralf, um ihn sofort wieder von der Bank zu schieben. Sie war zum Tanzen hier, nicht zum Quatschen! Aus dem Soundsystem dröhnte jetzt etwas Bekanntes aus den 80ern. Duran Duran oder so. Susan erinnerte der Song daran, dass sie, als er damals ganz frisch herausgekommen war, eine furchtbare Dauerwelle gehabt hatte. Schulterpolster waren zu der Zeit der letzte Schrei gewesen. Die hatte sie aus den Oberteilen immer herausgeschnitten. Die riesigen Plastikohrringe, die einfach jede damals hatte, hatte sie geliebt. Ein paar mussten noch in einer dieser Schubladen, die man maximal zweimal im Jahr öffnete, liegen.
»Ich hab’ Susan versprochen...«, versuchte Ralf Brigid abzuwimmeln.
Susan schüttelte rasch den Kopf. Geht nur! Sie hatte immer noch keine Lust zum Tanzen. Lieber saß sie, tief in ihre Kissen gekuschelt, und sah in die Lichter über ihr. Sie überlegte, ob es sich schickte, nun, da Brigid ihr nicht mehr so dicht auf die Pelle rückte, so nahe bei diesem Steve zu sitzen. Ihre Oberschenkel berührten sich beinahe.
Ralf versuchte weiter, Brigids Annäherung zu entkommen, stand aber auf. Eben kam der Kellner mit ihrer Portion Couscous an ihren Tisch. Die perfekte Ausrede, nicht auf die Tanzfläche zu müssen. Just in time sozusagen. Susan rieb sich grinsend die Handflächen und schlüpfte aus ihrer Polsterladung. Voll Vorfreude auf das Essen, wickelte sie die einsame Gabel aus der Papierserviette, die das Flair von Stoff täuschend echt nachbildete. Steve nickte ihr ein »Guten Appetit wenigstens für dich« zu und schob endgültig seinen Teller von sich.
Brigid hatte es schließlich doch geschafft, Ralf zum Tanzen zu überreden, und zog ihn hinter sich her unter den Spiegelball. Sigi, ihr eigentlicher Tanzpartner hatte durch die blinkenden Lichter am anderen Ende des Raumes schon wieder einen Bekannten entdeckt, dem er noch nicht die Hände geschüttelt hatte, und tigerte in dieser Richtung davon.
Susan amüsierten die drei immer wieder. Sigi, Brigid und Ralf. Diese drei Chaoten waren inzwischen ihre besten Freunde.
Sigi und Brigid waren kein Paar. Nicht außerhalb der Tanzfläche. Früher wollte Sigi einmal etwas von Brigid und noch früher sie von ihm. Irgendwie hatten sie sich zeitlich nie einigen können, mit dem Was-vom-andern-wollen, so wurde nichts aus ihnen. Manchmal stimmte das Timing einfach nicht.
Beide hatten aktuell andere Partner und lebten mit ihnen in temporär durchaus befriedigenden Beziehungen. Es traf sich äußerst gut, dass diese beiden so überhaupt nichts von Mucke, Clubs und der ›Zappelei‹ hielten, also blieben sie lieber zu Hause. Keiner war auf irgend jemanden böse und Sigi und Brigid hatten ihren Spaß auf der Tanzfläche. Manche Lösungen waren simpel.
»Und? Hast du aufgegeben? Vom Schnitzel besiegt?«
Susan lächelte Single-Steve zu.
Sie hatte sich entschlossen, doch etwas abzurücken, um ihm beim Essen nicht versehentlich den Ellenbogen in die Seite zu rammen.
»Ja, aber passt schon. Ich hatte vorher schon was Kleines.«
Sie machte sich hungrig über ihren Couscous und die Soße her. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie diesen Steve. Journalistisch. Etwas hatte ihre Trüffelschwein- Schreibernase anspringen lassen. Etwas war seltsam an diesem Kerl. Susan konnte nur noch nicht einordnen, was es war. Beim Sprechen nickte sein Kopf immer ein wenig vor und zurück und irgendwie kam er ihr fehl am Platz vor. Aber so, wie sie sich begrüßt hatten, kannte er Brigid und Sigi.
»Kommst du öfters her?«
Da! Da war es wieder: Vor und zurück. Zweimal. Er machte das in jedem Satz.
»Ab und an, letzte Zeit nicht mehr so.«
In letzter Zeit.
Mit ihrer eigenen Antwort vertrieb es schlagartig die Konzentration auf den Mann neben ihr.
Widerliches Kribbeln jagte Susan den Rücken hinab, als hätte jemand eine ganze Ladung Eiswürfel in ihren hinteren Ausschnitt geschüttet.
»Stopp!«, befahl sie ihrem Bewusstsein. So, wie es ihr Eva gezeigt hatte.
Nicht weiter erinnern oder denken! Weg mit diesen Gedanken! In diesem Moment hatten sie keine Daseinsberechtigung. Besser schnell irgendetwas sagen.
»Und du? Ich hab dich, glaube ich, noch nie hier gesehen.«
»Gut möglich. Ich gehe nicht so oft aus. Mir reichen die Leute bei meiner Arbeit.«
Pffff – ausatmen! Die Panikattacke hatte sie für den Moment abgewehrt. In der extremen Wachheit, die folgte, dämmerte es ihr, was so eigenartig an diesem Steve war!
Es war nicht dieses Vor und Zurück.
Es war sein Hals.
Er hatte einen enorm langen Hals.
Nicht giraffenartig. Irgendwie anders. Sie überlegte, an wen oder was er sie erinnerte. Irgendetwas nicht Alltägliches war es. Sie kam nur nicht darauf, was.
Steve nahm sich eine Pommes, die inzwischen sicher kalt war, mit den Fingern von seinem Teller. Als hätte er sich über sein eigenes Tun erschrocken, erstarrte er in der Bewegung und ließ den Kartoffelstreifen auf den Teller zurückfallen.
Da – jetzt fiel es Susan ein: Gottesanbeterin!
Er hatte etwas von einer Gottesanbeterin.
Nicht nur sein langer Hals, auch wie er die Hand nach vorne klappte. Das erinnerte sie an das Insekt.
Was sagte man denen gleich nochmal nach?
Dass sie die Männchen nach dem Sex auffraßen. Oder war es während? Sie wusste es nicht mehr genau.
Aber Steve war ja ein Kerl, kein herausragend männlicher, aber immerhin eindeutig ein Kerl. Taten männliche Gottesanbeterinnen, also Gottesanbeter auch was Besonderes oder hatten sie beim Liebesakt einfach das Nachsehen? Vielleicht sollte sie einmal eine Kolumne darüber schreiben: Männliche Gottesanbeterinnen und ihr Arschkarten-Sexfinale!
Susan verdrehte innerlich die Augen über sich selbst. Welche Gedanken kamen ihr an dem Abend denn noch? Es war eindeutig an der Zeit, dass sie in ein geregeltes Sozialleben zurückfand. Was hatte er gesagt? Irgendwelche Leute in seiner Arbeit.
»Was arbeitest du denn, wenn dich Leute nerven? Bei Sigi? Auch so ein Kellerbüro-Nerd oder bist du einer von den Normalsterblichen?«
Steve lächelte. War es das erste Mal, dass er das tat? Sie erinnerte sich nicht. Dabei sah er nett aus, wenn er es machte. Das mit dem Lächeln.
»Nein, nein, ich bin keiner von den Tastenheinis. Ich habe Sigi bei meinem Job kennen gelernt, das stimmt. Aber im Restaurant. Ich bin in der Gastronomie.«
Ach so, das erklärte natürlich, warum er keine große Lust hatte, in der Freizeit auch noch an so einer Location herum zu hängen. Der Abend war dann wohl eher eine Ausnahme. Er lächelte noch immer. Gepflegte Zähne.
»Und was machts Du dann, wenn du frei hast?«
Oh Gott, war sie aufdringlich. Sie fragte ihn schon wieder etwas. Vielleicht wollte er sich nicht unterhalten, wenn ihm Menschen in seiner Freizeit lästig waren. Das hatte er eben ja deutlich gesagt.
Das nervige Prickeln in ihrem Nacken nahm wieder zu. Ihr Hals schmerzte. Trotzdem nicht das Gespräch ins Stocken geraten lassen! Egal wie. Atmen! Susan, du musst atmen! Ein – aus. Immer weiter.
Sie spürte, wie sie sich entspannte. Ihr Unterbewusstsein signalisierte, dass von Steve keine Gefahr aus gehen würde. Oder doch? Die Ratio stritt noch mit ihrem Bauch darüber. Für’s erste also Atmen! Ein – aus.
»Ach, ich bin zum Beispiel gern im Majorelle, von Laurent, kennst Du die Anlage? Ich liebe das Ambiente dort. Ich hab’ eine Jahreskarte.«
Susan nickte. Ja, den Garten mit den wunderbaren blauen Kacheln, den Brunnen und anderen Wasserflächen mochte sie auch. An die zwanzig Mal war sie sicher schon dort gewesen.
»Oder ins Ourika Tal, aber dann ganz früh. Wenn noch keine Touris dort sind. Da fahre ich auch gerne hin. Oder Wandern im Atlas und sowas. Ich hab’ ein Quad, da komm ich hin, wo sonst niemand ist. Sowas mach’ ich eigentlich eher, als in Clubs gehen. Lieber was mit Stille ...«
Er war also doch auf Kommunikation eingestellt. Und er lächelte wieder. Der DJ hatte die Regler auf Anschlag hochgedreht. »Hyper Hyper« brüllte Scooter durch den Raum. Susan guckte schief. Das war wieder nicht ihr Musikstil.
Stille. Lieber mehr Stille, hatte Steve gesagt. Da war sie mit ihm. Die Stille vermisste sie. Vor allem die in ihrem Kopf, ihrem Inneren. Eine Weile Ruhe, nicht mehr nachdenken müssen. Sich nicht erinnern müssen. Aber das war selten drin für sie.
Eva hatte ihr geholfen. Es lief schon entschieden besser als noch vor Monaten. Jetzt war es für sie in Ordnung, sich mit dem fremden Insekt Steve zu unterhalten. Ihr Magen krampfte sich zwar immer wieder zusammen und sie spielte nervös mit ihrer Gabel. Aber sie blieb sitzen und hatte die Panikattacke überwunden.
Brigid schwebte mit einem breiten Glas in der Hand zu ihnen herüber. Granatapfelsaft schwappte blutrot in dem Becher hin und her.
Als Brigid den ernsten Blick ihrer Freundin sah, streckte sie den Kopf zu ihr: »Alles ok? Soll ich eine Weile bei Dir bleiben?«
»Nö, nö, alles gut.« Susan smilte tapfer gegen ihre schwarzen Gedanken an, die in dem Moment die Synapsen entlangliefen und einen miesen, eiskalten Fleck im Frontallappen erzeugen wollten. Sie kannte diesen Zustand und bräuchte Ruhe – kein Hyper Hyper.
»Alles gut. Geh’ ruhig tanzen!« Susan hatte jetzt keine Nerven auf Erklärungen oder Brigids Getüttel.
Brigid stellte das Glas auf den Tisch, zuckte ergeben mit den Schultern und rammte beim Umdrehen in Sigi hinein, der sich endlich von dem Bekannten losreißen hatte können.
Die Nacht war jung, die beiden auch, die Tanzfläche schrie nach ihnen.
»Und du? Was machst du so?«
Huch, die Single-Gottesanbeterin hatte sie bei dem Anblick der roten Flüssigkeit fast vergessen.
»Ja, hm – Natur finde ich auch nicht schlecht. Wenn’s nicht zu anstrengend ist. Also nicht Wandern oder so.«
Sofort kam sie sich furchtbar plump und unsportlich vor. Stevens Frage war ja schon nicht der Bringer gewesen, aber ihre Antwort? Super, die wortgewandte Autorin versagte im Smalltalk! Der Typ musste ja sonst was von ihr denken ...
»Ach, mit einem Quad geht’s eigentlich. Das macht ja die meiste Arbeit.« Als er das Fahrzeug erneut erwähnte, leuchteten seine Augen. Das Ding musste ihm viel bedeuten.
Eine Weile sahen sie schweigend den Tänzern zu. Susan versuchte, einen Manhattan bei ihrer motivationsgebeutelten Bedienung zu ordern. Vielleicht fühlte sie sich mit etwas Alkohol im Kopf besser. Sie hoffte, dass der Sprit diese Stelle in ihrem Hirn lösen würde, die ihr so zu schaffen machte.
»Wir können ja mal eine Tour machen – also mit dem Quad meine ich.«
Steve sog irgendeinen fruchtigen Drink durch seinen Trinkhalm und sah sie dabei von unten herauf an.
Ein unterwürfiger Gottesanbeter.
Sie atmete tief ein und aus. Eben hatte sie angefangen, sich sicherer zu fühlen, und jetzt fragte er das: Eine Tour.
Sie, mit einem Fremden unterwegs?
Mit einem Quad in den Bergen.
Im Grunde reizte sie der Gedanke. Aber alleine nur mit einem Fremden? Ob sie fragen sollte, ob Brigid und ihr Freund Holger mitkommen konnten? Oder alle! War das blöd? Oder unhöflich? Und war sie überhaupt schon bereit, so ein Risiko einzugehen?
Besser sie sagte einfach nein. Ganz nebenbei. Mit irgendeiner Ausrede. Irgendwas von keiner Zeit, oder Besuch aus Deutschland, kranke Katze, Redaktionsschluss. Was Unverfängliches.
Herrschaft! Wenn sie nicht so eingerostet wäre.
Umständlich kratzte sie die letzten Reste Couscous und die geniale Soße vom Teller. Sie überwand den Impuls, ihn auch noch abzulecken. Für dieses Essen hatte sich die Überwindung, auszugehen, wirklich gelohnt.
»Wann hast du denn mal Zeit? Ich kenne ein paar super Plätze im Hohen Atlas.«
Autsch! Durch bloßes Nichtantworten konnte man ihn also nicht abwimmeln. Susan dachte angestrengt nach, zwang sich währenddessen zu einem unbefangenen Lächeln. Es fiel verkrampfter aus als geplant.
Vielleicht war es ja wirklich gar keine so schlechte Idee. Ein bisschen frische Luft und Tapetenwechsel täten ihr gut. Vielleicht fand sie Steve auch gar nicht so bedrohlich, wie ihre Ratio ihr hartnäckig eintrichtern wollte. Eigentlich sah er ganz nett aus.
»Ja, klar. Wir finden sicher einen Tag.«, hörte sie sich sagen. (Einen ganzen Tag? Tickte sie nicht mehr richtig?), »Vielleicht wollen die anderen auch mit. Kann ich die Strecke auswählen? Ich hab’ einen super Führer mit solchen Touren. Ich muss nämlich aufpassen. Mir wird leicht übel auf dem Quad.«
Wo nahm sie diesen Stuss nur plötzlich her? Übel auf einem Quad! Ging es lahmer? Das war doch komplett bescheuert. Einen Atlas-Quadtourenreiseführer gab es in ihrem Bücherregal natürlich auch nicht. Aber das Internet würde ihr sicher helfen können. Bei dem Gedanken, dass sie bestimmte und wüsste, wo es lang ging, fühlte sie sich besser. Steve schien ihre Begründung jedenfalls zu schlucken.
»Ja klar. Mach das. Wie wäre es nächsten Donnerstag? Freitag muss ich arbeiten und das ganze Wochenende danach auch. Fragen wir die anderen!«
Sie fand das ja ein bisschen aufdringlich. Mit den feinen Nuancen des Zwischenmenschlichen hatte er es nicht.
Sie dachte nach. Donnerstag klang nicht schlecht. Mittwoch war Redaktionsschluss. Wenn sie den ausnahmsweise einhielt, hätte sie den ganzen Tag danach frei. Warum also nicht Donnerstag?
Sigi und Brigid schielten auffällig unauffällig von der Tanzfläche zu ihnen herüber. Sigi hatte dabei ein dämliches Grinsen im Gesicht. Susan hob kurz den Kopf, als sie seinen Blick auf sich gerichtet spürte. Sie hatte mit Steve die Köpfe über den Handys zusammengesteckt, um ihre Kontaktdaten auszutauschen. Es war klar zu erkennen, was Sigi dachte. Jeder hätte es gesehen. Susan verdrehte die Augen und schüttelte ihren Kopf in Sigis Richtung.
Nach dem Manhattan, den sie in einem Zug in sich hineingeschüttet hatte, kaum dass die Bedienung ihn vor sie hingestellt hatte, war sie selbst für das versprochene Tänzchen mit Ralf bereit. Wieder: Eins – zwei – tapp. Irgendein Discofox. Egal – der Manhattan hatte es in sich gehabt und Susan vertrug keinen Alkohol. Die erhoffte Wirkung war deutlich überschritten. Die Einsicht kam nur etwas spät.
Kurz nach Mitternacht brachte Sigi die Drei nach Hause.
Brigid und ihr Freund Holger würden am Donnerstag mit auf Tour kommen. Sigi hatte verschwörerische Blicke ausgesandt und Brigid den Ellenbogen in die Seite gerammt, als sie für den Ausflug zusagte. Sie verstand als einzige Susans Plan. Ralf musste ab Montag für den nächsten Monat zurück nach Fes und hatte keine Zeit, so gerne er mitgekommen wäre.
Steve hatte ihr aufgeregt die Hand gedrückt, nochmals an ihren Ausflug erinnert und dabei mindestens fünf Mal mit dem Kopf vor und zurück gewippt. Susan war sich danach nicht sicher gewesen, ob sie sich auf die Tour freuen oder doch noch eine Ausrede erfinden sollte.
Vor dem Tor des schmalen Riads, in dem sie wohnte, stieg Sigi sofort aus dem Wagen. Susan umarmte Brigid zum Abschied und küsste Ralf auf beide Wangen. Er begann selig zu strahlen. Bevor sie die hintere Türe des Wagens öffnete, sah sie sich nach allen Seiten um. Sie konnte nicht anders.
Sigi wartete am Tor auf sie und lächelte ihr brüderlich entgegen. Sie kramte den Schlüsselbund aus ihrer Tasche und öffnete den obersten Riegel. Sofort begann Hasan hinter der schweren Holztüre zu bellen. Sie rief ihn, damit er verstand, dass sie es war, die nach Hause kam.
»Kommst du kurz mit zum Haus?« Sigi nickte mit verbissenem Gesicht. Susan hatte ihm die beiden Zweitschlüssel gegeben und er kannte den Türcode. Er konnte das Tor von außen wieder verriegeln.
»Klar bring ich dich rein!« Er lächelte ihr ritterlich zu, legte seinen Arm um ihre Schulter. Susan wusste um die Angst, die Sigi vor Hasan hatte. Obwohl der Hund ihn längst kannte und in Ruhe ließ. Seine Angst gegen die ihre, alleine über den dunklen Hof gehen zu müssen. Das rechnete sie ihm hoch an. Man konnte von Sigi denken, was man wollte, aber wenn man ihn brauchte, war er da. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals vor einem Freundschaftsdienst gekniffen hätte.
Zwei Schlösser und einen Riegel später waren sie im Hof. Hasan stand schwanzwedelnd direkt hinter dem Einlass. Sigi wurde augenblicklich zum Zinnsoldaten, als der Hund ihn überglücklich begrüßte. Der Anblick von Hasans Gebiss würde ihn immer erstarren lassen. Zu dritt überquerten sie im Halbdunkel den Hof. Hastig drückte Susan auf den untersten Knopf neben dem bunt gemalten Namensschild von Yasid und Dilay. Eine einzelne, nackte Glühlampe flammte auf.
»Such Hasan – such alles ab!«
Mit einer ausladenden Handbewegung schickte Susan den Hund durch den Hof. Mit der Schnauze am Boden jagte der Mastiff den Rand des Patios entlang, lief um jede Säule und kam kurz darauf hechelnd und schwanzwedelnd erwartungsvoll zu ihnen zurück. Sie klopfte ihrem Bodyguard zärtlich die Flanke. Sigi hatte die Szene still beobachtet. Wäre hier während ihrer Abwesenheit wirklich jemand eingedrungen – der Hund hätte ihn längst bemerkt und zerfetzt. Das kaum hörbare Timbre in Susans Stimme, mit dem sie Hasan um den Hof gewiesen hatte, war ihm nicht entgangen. Es machte ihn traurig, wie ohnmächtig sie nach wie vor in ihrer Angst gefangen war. Konnte er sie jetzt damit alleine lassen?
»Wirklich alles ok bei dir?« Susan nickte tapfer lächelnd.
»Wirklich?« Beruhigend nahm er sie in seine Arme. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was sie durchgemacht hatte und noch immer durchmachte. Das war ihm bewusst. Er konnte ihr nicht helfen und das tat ihm in der Seele weh. Susan war in Sigis Augen ein verdammt gutes Mädel. Auf ein leises »Woww« von Hasan, ließ er sie trotzdem sofort los und verabschiedete sich zügig.
»Kontrollierst du beim Abschließen bitte, dass alles zu ist, ja? Gute Nacht! Und: Danke!« Sigi winkte ihr im Gehen noch einmal kurz zu.
»Und du Hasan, kommst mit mir nach oben!«
Stolz trabte der Hund neben ihr zur Wohnung hinauf.