Читать книгу Steinzeit - Hanna Karthé - Страница 6

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Prolog

Die Schicksale dieser Welt sind so mannigfach wie es Menschen auf der Erde gibt. Es gäbe so viel zu erzählen, dass weder ein Menschenleben noch eine ganze Literaturepoche ausreichen würde. Manchmal gleichen diese Schicksale einander, aber sie stimmen nie ganz überein, weil die Ereignisse in ihren Abläufen und ihren Verstrickungen miteinander in ihren Details so verschieden sind. Eines aber haben sie gemein: Sie beeinflussen uns. Und sie prägen uns. Ein Leben lang. Sie führen zu Entscheidungen und Handlungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt als folgerichtig betrachtet werden, im Rückblick jedoch gar nicht mehr so folgerichtig sein mögen.

Hätte … könnte … würde … allesamt konjunktive Wörter, die dann zum Einsatz kommen und die bereits in ihrer Kausalität zur Vergangenheit andeuten, dass etwas unwiderruflich ist. Man kann sich nur noch an die Gegebenheit erinnern, ohne Einfluss nehmen zu können, sie zu verändern. Man kann bedauern oder sich glücklich schätzen. Leid, empfundene Ungerechtigkeit, Freude, Glück, Unglück, Trauer … Sie kommen immer und überall vor. Ein Leben hat ein Datum am Anfang und ein Datum, das das Ende benennt. Dazwischen - man könnte sie als den Bindestrich zwischen den beiden Stichtagen bezeichnen - liegt die Spannbreite der Ereignisse. Die Zeit, in der die Erinnerungen ursprünglich entstehen. In der wir unser persönliches Tagebuch kreieren und unser ideelles Fotoalbum errichten. Zu bestimmten Anlässen, an bestimmten Orten blättern wir darin, holen die Vergangenheit in die Gegenwart. Manchmal mit einhergehendem Bedauern und mit Schmerzen, manchmal mit einem Hochgefühl. Jeder kennt die sprichwörtlichen Wechselbäder der Gefühle.

Auch die alte Dame, die allein und scheinbar aus der Wirklichkeit entrückt auf der Bank inmitten des Raumes saß, in dem sich um sie herum Anderer Leben abspulte, weiß davon zu berichten. Ihr langes Leben war wie das Auf und Ab der Bewegungen eines Ozeans gewesen. Mal schwamm sie ganz oben auf dem Wellenkamm, mal zog sie der Sog ins tiefste Wellental hinab. Sie hatte am Abgrund gestanden und in den schwarzen Schlund der Hölle geblickt, hatte kehrtgemacht und sich im Elysium wiedergefunden. An vielen solcher Plätze hatte sie gestanden und war am Ende hier gestrandet. An einem Ort, der sie seitdem immer wieder magisch anzog. Und beim Verweilen spielte die Zeit keine Rolle mehr. Ihr Druck war kaum noch spürbar, sie war nicht mehr wichtig.

So saß sie schon eine sehr geraume Weile an dieser Stätte, sie wusste nicht, wieviel Stunden bereits vergangen waren. Ich sollte jetzt aber gehen, dachte sie bei sich. Nur noch ein paar Minuten, dann mach' ich mich auf den Weg. Wie schnell sie doch dahineilt, die Zeit, sinnierte sie weiter. Es liegt wohl daran, weil es mir gut geht, wenn ich hier bin. Diese Ruhe, die ich empfinde, ist wie eine Erlösung. So vollkommen wie eine Absolution. Sie nimmt mir die Qualen der Rastlosigkeit, die mich befallen, wenn die Zweifel allzu groß werden, etwas nicht zum Abschluss gebracht zu haben. Hier fühle ich mich, als würde ich in einen tiefen weichen Sessel fallen, um dort zu verweilen bis ans Ende meiner Tage. Das ist schön. Meine Seele hat alle Freiheit der Welt. Sie ist in kein Korsett eingezwängt. Sie kann ungehindert das tun, wonach ihr im Augenblick gerade ist: weinen, trauern, lächeln … verzweifeln. Auf Wolken schweben! Ja, es stimmt, in meinem Alter sollte man mit der Ruhe sorgfältig umgehen. Alles andere nur noch wohldosiert hinnehmen. Das Leben ist ja jetzt nur noch ein klappriger Wagen, dem man nicht mehr viel zumuten kann. Er sollte gepflegt werden, damit er bis zum Ziel durchhält.

Aber ich werde mich wirklich zum Gehen bereit machen, beschloss die alte Frau. Die Aufseherin schaut schon zu mir herüber. Sicherlich ist bald Schließungszeit. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, aber es werden immer weniger Besucher, überlegte sie.

Die alte Dame war eine kleine, zierliche Person, ihre Schultern ein wenig nach vorn gebeugt, so saß sie da. Es erweckte den Eindruck, als wenn eine schwere Last auf sie drücke. Ihre Haare, zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden, waren grau, nur vereinzelt kamen ein paar andersfarbige Strähnen hervor. Sie musste früher einmal blond gewesen sein. Und schönes Haar gehabt haben. Dickes, schönes, blondes Haar. Fremde würden ihr Alter sicherlich schon über siebzig schätzen. Oder vielleicht kurz davor. Obwohl, ihre Augen strahlten immer noch etwas jugendlich Frisches aus. Aber mit dem Schätzen ist das oft so eine Sache.

Neben ihr auf der Bank hatte sie ihre Tasche abgelegt, die Hände ruhten in ihrem Schoß, eine davon zu einer Faust geballt, als wenn sie mit den Fingern etwas beschützen wollte. Vor und hinter ihr gingen die Menschen an ihr vorbei. Langsam, ohne Hektik. Es war ein ruhiger Strom, der sich um sie herum bewegte. Das rastlose Leben wurde beim Kauf der Eintrittskarte am Eingang abgegeben. Es würde erst wieder eingelöst werden, wenn der Rundgang beendet war. Vielleicht lag es daran, dass sie diesen Ort so bevorzugte. Sie war mittendrin und konnte doch so weit entfernt sein. Eine zweigeteilte Welt. Wirklichkeit und Traum. Heute und Gestern. Hier und dort.

Sie befand sich oft in ihrem Dort. Wie durch eine magische Kraft geschoben zog sie sich dorthin zurück. Wenn sie die Augen schloss, sah sie sich manchmal am Ufer eines Sees verweilen. Ihr See … gefüllt mit ihren Erinnerungen. Heute war er sanft, spiegelglatt. Die Sonnenstrahlen brachen sich auf der Oberfläche und ließen das Wasser glitzern, als wenn Millionen von Glasperlen wahllos verstreut worden waren. Funkelnde Lichtreflexe, ständiges Aufblitzen und Flimmern. Es kam aber auch vor, dass ein eisiger Wind über den See hinwegfegte, der die tobenden Wellen wie kräftige Wurfgeschosse schäumend an das Ufer warf. Die Gischt spritzte ihr ins Gesicht und vermischte sich mit den Tränen. Gischttränen. Und manchmal war der See ein Tümpel voller Morast, aus dessen schwarzer Tiefe die schweren Erinnerungen wie dunkle Blasen an die Oberfläche stiegen und dort mit einem dumpfen, blubbernden Geräusch zerplatzten.

Jetzt kommt die Aufseherin zu mir herüber, dachte die Frau. Sie wird mir wohl höflich sagen, dass sie bald schließen werden.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Geht es Ihnen gut?”, fragte die Frau im dunkelblauen Kostüm, an dem in Brusthöhe ein kleines Namensschild angebracht war. Ihre Stimme klang besorgt.

Aha, Frau Kirchner …, dachte die alte Frau.

„Ja, es ist alles gut … Mir geht es gut”, antwortete sie. Und sie fügte hinzu: „Ich bin gern hier!”

„Haben Sie etwas mit Malerei zu tun?”, fragte die Frau im dunkelblauen Kostüm, die Frau Kirchner hieß.

„Ich selbst nicht, nein … Aber ich kenne den Maler”, sagte sie und machte mit der Hand eine leichte Bewegung zu einem Bild hin, das vor ihr an der Wand angebracht war. Es war ein ziemlich großes Gemälde, vielleicht ein Meter breit und achtzig Zentimeter in der Höhe. Eine Landschaft war darauf abgebildet: viel Wiese, wildwachsende Blumen, leuchtendes Gelb und Weiß auf grünem Untergrund, zwei sitzende Kinder mittendrin, eine Koppel mit Pferden, ein Bach sacht dahinfließend, im Hintergrund ein Dorf …

„Ich kenne das Motiv des Bildes”, fügte die alte Frau hinzu.

„Der Maler muss es geliebt haben, es strahlt so viel … Anteilnahme aus”, sagte Frau Kirchner. Sie schaute bei diesen Worten mit einem Lächeln zu dem Gemälde hinüber.

„Ich möchte Sie nicht treiben, aber wir schließen in einer Viertelstunde”, fügte Frau Kirchner freundlich hinzu.

„Ja, ich werde gleich gehen, nur noch ein paar Minuten”, antwortete die alte Frau.

Frau Kirchner ging wieder zu ihrem ursprünglichen Platz an der Tür zum Nebenraum zurück.

Die Frau hatte erneut ihren Blick auf das Bild an der Wand geworfen.

Ja, es stimmt, es strahlt Hingabe aus … und Leidenschaft, Liebe und Sehnsucht, dachte sie. Und wie mir alles so vertraut vorkommt: die Wiese, die Ehle, das Dörfchen Friedensweiler …

Ein schönes Fleckchen Erde für die Ewigkeit festgehalten! Vor langer Zeit! Von einer zärtlichen und sanften Hand gemalt.

Die Frau senkte ihren Blick auf ihre Hände, die sie nach wie vor in ihrem Schoß zu liegen hatte, und öffnete die zur Faust geballte Hand. Ein kleiner Gegenstand kam zum Vorschein.

Ein Stein!

„Er sieht wirklich aus wie ein zerknautschter Stiefel”, murmelte sie leise vor sich hin, unhörbar für die Menschen um sie herum.

„Ich hebe ihn auf, solange ich lebe”, sagte sie ebenso leise und schaute auf das Landschaftsbild an der Wand.

„Ich verspreche es, Karl!”

Die alte Frau erhob sich langsam und nahm ihre Tasche von der Bank. Das lange Stillsitzen hatte ihre Glieder steif werden lassen. Sie öffnete die Tasche und holte ein kleines Pappkästchen heraus, in das sie den Stein hineintat. Langsam, sacht … ja, sanft, als müsse sie ihre ganze Sorgfalt in diese Handlung legen. Mit dem Zeigefinger schob sie ihn in seine richtige Position - gebettet auf einer weichen, dunkelblauen Samtpolsterung, dicht neben einem weiteren Stein, so groß wie ein Pfirsichkern. Man konnte die Form eines Herzens erkennen. Sie legte den Deckel darüber und hielt die verschlossene Hülle eine kurze Ewigkeit in beiden Händen und streichelte sacht mit einem Daumen darüber. Ein winziges Lächeln erschien in ihrem Gesicht. Dann legte sie das Kästchen in die Tasche zurück.

„Mach 's gut, Karl Bis bald!”, sagte die alte Frau leise. Ihr Blick ging dabei wieder auf das Gemälde an der Wand zurück.

„Ich komme wieder … Solange ich kann, komme ich wieder!”

Steinzeit

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